ISBN: 978-3-95428-795-6
1. Auflage 2019
© 2019 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
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Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Seit mehreren Tagen sind die Rollläden unten. Am Anfang ist noch ab und zu die Diakonie oder so aufgetaucht, aber die haben sich seit einer Ewigkeit nicht mehr blicken lassen. Ein gutes Zeichen, ja, praktisch eine Einladung. Entweder ist der alte Sack oder die Vettel krepiert oder ins Pflegeheim abgeschoben. Erben sind keine auf der Bildfläche erschienen. Klar, die wichtigen Leutchen haben keine Zeit, sich um den alten Krempel zu kümmern.
Ich habe Zeit. Und Lust sowieso. Wie immer, wenn es die kleinste Chance auf etwas zu holen gibt.
Die letzten Einstiege sind verdammt mies gewesen. Auch bei uns wird alles schwerer. Kaum mehr was zu holen und für das Kaum bekomm ich auf eBay fast keine Kohle. Eben alles nur Ramsch. Smartphones und Tablets lassen die Leute eh nicht liegen. Der Verkauf von den Dingern ist sowieso zu riskant. Dann haben alle nur noch Plastikgeld statt der guten alten Scheinchen. Und bei den Alten gibt es meistens nur billigen Schmuck oder wertloses Zinn. Schrott eben. Wo es Kohle gibt, da gibt es Hightech-Alarmanlagen. Die Buden sind besser gesichert als der Knast.
Ich schaue noch mal die Straße rauf und runter. Nichts. Wie mit der Zahnbürste leergefegt. Was für eine vergessene Seitenstraße! Von den Menschen, von der Stadt – die hat es nicht mal für nötig gehalten, Straßenlaternen aufzustellen. Zu teuer, vermute ich. Mir kommt das gerade recht. Die Seitenstraßen sind vergessene Kinder, so wie ich.
Ich ziehe die Sturmhaube über das Gesicht und die Handschuhe an und verlasse mein Versteck hinter der Hecke. Schwarz in Schwarz im Schwarz. An einem Montagabend.
Im Gegensatz zu den anderen Einsteigern halte ich den Montag für den perfekten Tag. Montags ist die feine Gesellschaft im Urlaub, auf Geschäftsreise oder – wie in diesem Fall – im Altenheim oder über den Jordan gegangen. Dem Rest sitzt der Schock vom ersten geknechteten Tag nach dem Wochenende in den Knochen. Sie sitzen vor der Glotze und keiner achtet darauf, was hinter dem eigenen Tellerrand los ist. Keiner achtet auf mich.
Wie eine Katze bewege ich mich durch den Garten, um den sich lange niemand mehr gekümmert hat. Das Gras geht mir bis zu den Knien. Auch gut.
Mein Ziel: Das Küchenfenster. Das habe ich mir vor ein paar Tagen genauer angeschaut. Typisch alte Leute. Ein einfacher Holzrahmen, ohne jegliche Sicherung. Klar, lohnt sich nicht mehr, der ist doch noch gut, der Rahmen.
18 Sekunden brauche ich für das Teil. Das ist eine gute Zeit. Eine verdammt gute sogar. Vielleicht wird das hier ja endlich mal was Großes. Ich brauche nur ein vernünftiges Ding, um mit dem Scheiß aufhören zu können. Nur ein Ding für das, was andere ein Leben nennen.
In der Küche ist alles dunkel. Ich lausche. Kein Geräusch ist zu hören, nicht einmal das alte Gebälk knackt.
Ich hole die kleine Taschenlampe aus meiner Jacke und kann in deren Licht sehen, dass die Küche nicht wirklich eine Küche ist. Ein paar Flaschen Wasser, ein paar alte schrumpelige Äpfel in einer Schale. Auch in den Schränken ist Ebbe. Keine Dosen, in denen Bares versteckt ist. Dabei denken die Alten doch, dass ihr Geld dort optimal sicher ist. Ich schaue in den Kühlschrank. Und das Gefrierfach. Das ist auch beliebt. Scheine zwischen Erbsen und Fisch. Allerdings gibt es hier keine Erbsen. Und auch keinen Fisch.
Plötzlich Licht und ein Rauschen. Reflexartig ducke ich mich, knipse die Taschenlampe aus. Doch draußen fährt nur ein Auto vorbei. Paradox, wie sehr die Leute damit prahlen, dass sie in einer ruhigen Straße wohnen. Die sind für Typen wie mich gemacht. Für solche, die die Ruhe anzieht wie Klebestreifen die Fliegen.
Nachdem mein Herz wieder einigermaßen normal schlägt, gehe ich ins Wohnzimmer, das genauso dunkel ist wie der Rest vom Haus. Aber da ist trotzdem was. Gestank! Am liebsten hätte ich die Fenster aufgerissen. Es riecht nach alt und gestorben.
Scheint, als wäre hier wirklich jemand drin verreckt. Wahrscheinlich hat der hier ’ne Weile gelegen, weil ihn niemand vermisst hat. Das kenne ich. Mich vermisst auch keine Sau.
Ich knipse die Lampe wieder an, lasse das Licht über den Schrank gleiten. Warum haben alte Leute immer so gammlige Möbel? Kein Geld ausgeben, damit die Erben mehr haben? Wenn ich Kohle hätte, dann würde ich es so richtig krachen lassen, bevor ich den Löffel abgebe.
Ich stecke die Taschenlampe zwischen die Zähne, ziehe Bücher vor, fasse in Vasen. Irgendwo muss doch was sein, nur ein paar Euro. Alte Leute trauen den Banken nicht. Horten alles zu Hause. Zumindest war das mal so. Ich öffne Blechdosen, in denen sich vor 100 Jahren vermutlich mal Printen oder sowas befunden haben müssen. Dabei versuche ich so leise wie möglich zu sein. In verlassenen Häusern ist die Stille erdrückend. Bei jedem kleinen Gepolter fühle ich mich automatisch ertappt. Obwohl das völliger Quatsch ist. Solange die Nachbarn nichts spitzkriegen.
Auch wenn ich total leise bin, höre ich was. Vielleicht habe ich nicht mehr alle Steine in der Schleuder, aber es kommt mir so vor, als würde der Schrank stöhnen, während ich ihn durchwühle.
»Na, Kumpel, willst du mir was erzählen?«, flüstere ich. »Lass stecken, bin nicht interessiert.«
Ich habe meine eigene Geschichte und keinen Platz für weitere Sorgen, füge ich in Gedanken dazu.
Ich öffne ein Fotoalbum mit Erinnerungen, die keinen mehr interessieren, die im Schrank weggeschlossen sind. So wie meine. Tief drinnen.
Das Stöhnen wird lauter. Ein Wort lässt sich daraus erahnen. Etwas wie »Jung«.
Ich halte inne. Lausche. Versuche zu erkennen.
»Junge!« Leise. Nur ein Hauch.
Beinah fällt mir das Fotoalbum aus der Hand. Ich kann es gerade noch halten, stelle es hektisch in den Schrank zurück.
Langsam drehe ich mich um. Erst jetzt sehe ich es: das Bett an der Wand. Ein Bett für Kranke. Für die, die den Weg aus dem Schlafzimmer nicht mehr schaffen, die im Wohnzimmer liegen, damit es danach aussieht, als würden sie am Leben teilhaben. Doch das tun sie nicht. Sie sterben auf dem Servierteller.
In dem Bett liegt eine Gestalt, die kaum noch an einen Menschen erinnert, sondern viel mehr an den Sensenmann.
»Komm her zu mir.« Auch wenn die Worte leise sind, treffen sie mich mit aller Wucht.
Ich will nicht. Aber meine Gliedmaßen ignorieren mein Nein. Denen ist völlig egal, was ich sage. So wie vielen anderen.
Ich bin nur noch einen Schritt entfernt. Es ist eine Frau, die dort liegt. Aber das erkenne ich nur an den Haaren, die lang und weiß über das Kopfkissen verteilt sind. Der Rest des Körpers: ein eingefallener Hügel unter der Bettdecke. Die Arme, die auf der Decke liegen, nicht mehr als mit Haut bespannte Knochen.
Die Frau klopft mit der Hand auf die Matratze.
Ich zögere, will weg. Weg aus diesem Haus, weg von dieser Frau.
»Setz dich.« Sie klopft erneut auf die Matratze.
Alles in mir schreit, meine Haut kribbelt. Das ist zu nah, viel zu nah. Das ist ihr Ort und ich, ich bin ein Fremder.
Wie ferngesteuert nehme ich den Stuhl, der neben dem kleinen Tischchen vor dem Fenster steht, stelle ihn neben das Bett, ziehe den Rucksack ab und setze mich. Wie beim Arzt, im Wartezimmer.
Die Frau lächelt, gerade so als wüsste sie, warum ich ihr nicht zu nahe kommen will.
»Knipst du bitte das kleine Licht auf dem Tisch an? Ich möchte dich gerne sehen.«
Nein. Das ist nicht gut. Trotzdem stehe ich auf, weil ich Angst habe, dass diese Frau, die näher am Tod als am Leben ist, zu Asche verfällt, wenn ich widerspreche. Ich mache das Licht an und meine Taschenlampe aus, bevor ich mich wieder setze.
»Nun zieh doch endlich diese Maske ab. Die juckt sicher ganz furchtbar.«
Wieder zögere ich.
»Ich werde dich nicht verraten. An wen auch?«
Ich ziehe die Handschuhe aus und die Maske vom Kopf. Erst jetzt wird mir bewusst, wie heiß es unter dem Ding ist.
»Wie heißt du, mein Junge?«
Ich reagiere nicht und sie lacht.
»Ach …« Sie streckt ihre Hand aus, berührt meine. Die Haut und die Knochen sind warm. Sie umfasst meine Hand, drückt sie, so, wie es meine Oma immer getan hatte. Um mir Wärme und Halt zu geben.
»Migg«, sage ich.
Sie nickt, mustert mich und scheint nachzudenken.
»Migg?«
Ich nicke.
»Abkürzung von was? Von Miguel? Du bist Spanier?«
»Nein. Aber meine Eltern behaupten, dass irgendein Vorfahre irgendwann im Mittelalter mal aus Spanien nach Deutschland gekommen ist. Und seitdem meinen sie, dass ein Hundertstel in uns spanisch ist. Darum bekommen alle von uns spanische Namen.«
Sie lacht. Hustet. Lacht. Nicht verächtlich, sondern amüsiert.
»Warst du denn jemals in Spanien?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nein?« Ihre eingefallenen trüben Augen weiten sich. Dann legt sich ein Hauch von Seligkeit auf ihr Gesicht. Sie sieht aus wie ein Kind, das ein Geschenk bekommt.
»Du hast niemals die Alhambra gesehen?«
»Alhambra?«
Wieder drückt sie meine Hand. »Oh ja. Die rote Burg auf dem Sabikah-Hügel. Die Mauren, weißt du.«
Ich weiß gar nichts, woher auch. Aber ich höre ihr zu, sehe das eingefallene Gesicht an, den zerbrechlichen Körper. Und frage mich, warum ich und niemand sonst an ihrer Seite sitzt. Vielleicht haben alle anderen die Geschichte der Burg schon gehört. Kalli…dingsbums Verzierungen an Mauern. Von irgendwelchen Dichtern. Und wie sie in Granada Flamenco getanzt und die Liebe ihres Lebens getroffen hat.
»Ich habe sie so sehr geliebt. Diese Stadt, diesen Mann, diese Burg. Und Gazpacho. Magst du Gazpacho?«
»Was?«, frage ich und versuche aus der spanischen Welt wiederaufzutauchen.
»Kalte Gemüsesuppe.«
Wer isst bitte kalte Suppe?
»Kennst du das gar nicht?«
Ich schüttele den Kopf.
Die Frau stöhnt leise auf. »Ich würde sie so gerne noch einmal essen. Nur ein paar Löffel. Aber niemand will sie mir zubereiten.«
»Hast du keine Kinder? Was ist mit dem Pflegedienst, der immer gekommen ist?«
Die Frau lacht. Ein wissendes Lachen. Super! Eben habe ich verraten, dass ich das Haus schon länger beobachtet habe.
»Ich bin eine Vergessene. Ich lebe schon viel zu lange.« Ein Hustenanfall unterbricht sie. »Meine Kinder kommen nicht, sie sind in Amerika, Japan, China oder wo auch immer die wichtigen Termine stattfinden. Nicht in Spanien. Nicht in Aichwald.«
»Und der Pflegedienst hat keine Zeit?«
Sie antwortet nicht. Die Stille kommt zurück, macht mich nervös.
Irgendwann glaube ich, dass sie eingeschlafen ist. Ich überlege, wie ich meine Hand aus ihrer befreien kann, ohne dass sie aufwacht. Ihre Hand, die immer noch warm ist.
»Ich würde gerne eine letzte Gazpacho essen.« Es ist nicht mehr als ein Wispern. Trotzdem haben die Worte so viel Wucht, dass sie mich durchrütteln wie ein Orkan.
Wie kann sich ein Mensch am Ende seines Lebens eine kalte Suppe wünschen? Warum wünscht sie sich – ich weiß nicht mal ihren Namen – nicht einen Besuch ihrer Kinder?
»Miguel? Würdest du eine Gazpacho für mich machen?«
Ich lache. Ganz automatisch. »Ähm, ne, das kann ich nicht. Ich kann nicht kochen.«
Ihre blassblauen Augen strahlen mich an.
»Das musst du auch gar nicht. Gazpacho wird nicht gekocht, sondern eigentlich nur zusammengerührt. Und gestern habe ich den Transporter gehört. Hast du ihn nicht gesehen? Er kam erst spät am Abend. Der Mann stellt die Tüte mit meiner Bestellung jede Woche vor die Tür. Und jede Woche sind die Zutaten für meine letzte Suppe darin. Schau doch bitte nach. Und ich helfe dir dann beim Kochen.«
»Helfen?« Automatisch gleitet mein Blick über ihren Körper, doch sie reagiert nur mit einem Nicken.
Ich überlege. Warum sollte ich? Vielleicht sollte ich einfach gehen? Was will die Alte schon erzählen? Oder eher wem? Es kommt doch sowieso niemand her.
»Miguel?«
Ich brumme, weil ich noch nicht fertig überlegt habe.
»Eine Hand wäscht die andere«, sagt sie und lächelt wieder dieses Lächeln, gegen das ich mich nicht wehren kann.
»Wie meinst du das?«
»Du machst mir Gazpacho und ich gebe dir etwas dafür.«
»Ach ja? Und was soll das sein?«
»Von manchen Dingen muss man sich überraschen lassen«, sagt sie.
Es ärgert mich. Ich hasse Überraschungen. Aber zu verlieren habe ich nichts, also stehe ich auf und öffne die Haustür. Die Frau hat recht. In einer Box befindet sich eine braune Papiertüte mit dem Logo einer Supermarktkette. Ich nehme sie und trage sie zurück ins Wohnzimmer.
»In der Küche, neben dem Herd in der Schublade sind Messer und im Schrank darunter ist ein Brettchen und eine Schüssel.«
Ein bisschen komme ich mir vor wie ein Diener. Steif, mit weißen Handschuhen an den Flossen und alles machen, was man gesagt bekommt. Auch wenn mich das wurmt, hole ich das Zeug aus der Küche. Einfach, weil sie es sich wünscht.
»Es ist ganz leicht. Du musst nur das Gemüse in ganz kleine Stückchen schneiden. So klein wie möglich, hörst du. Und dann alles in die Schüssel.«
Ihre Stimme hat auf einmal wieder Kraft, sie klingt nach Befehl.
»Soll ich das Gemüse erst waschen?«, frage ich, doch sie schüttelt den Kopf.
»Nicht bei der letzten Suppe.« Ihr Blick klebt auf mir. Als ich sie anschaue, sagt sie: »Du bist ein guter Junge.«
Ha! Ich bin ein Vergessener. Ein Einbrecher. Ein Einbrecher, der Gemüse für eine kalte Suppe schneidet.
Während ich am kleinen Tisch im Wohnzimmer sitze und alles in super kleine Stücke schneide, summt die Frau. Es klingt nach Liedern einer anderen Welt.
Ich brauche eine Ewigkeit. Aber das ist nicht schlimm. Wir haben beide Zeit. Keiner wartet auf uns und keiner kommt, um uns zu stören.
Vom Bett aus gibt sie mir Anweisungen. Schritt für Schritt. Bis die Suppe fertig ist. Mit der Zeit fühlt sich das gut an, dieses Gemeinsam. Und ich bekomme tatsächlich etwas auf die Reihe, was ich noch nie gemacht habe. Als ich das Durcheinander, das sich in der Schüssel befindet, probiere, muss ich mir eingestehen, dass dieses Zeug verdammt gut schmeckt.
»Dann hol ich mal einen Suppenteller und einen Löffel«, sage ich.
»Nein!«
Da ist er wieder, der Befehlston in ihrer Stimme.
»Eine Zutat fehlt noch. Hör mir jetzt genau zu.« Ihr Blick krallt sich an mir fest. »Du gehst nach oben ins Schlafzimmer. In der Schublade des rechten Nachtschranks liegt eine Packung. Fentanyl steht drauf. Hast du das verstanden? Fentanyl!«
Ich bewege mich nicht vom Fleck.
»Miguel. Bitte.«
Das ist nicht gut. Ich spüre ganz genau, dass das nicht gut ist. Trotzdem gehe ich. Nur um einen Blick darauf zu werfen. Auf dieses Fentanyl. Um ihr dann zu sagen, dass ich nichts Verbotenes tue.
Ich mache das Licht im Flur an, gehe die Treppen nach oben, in das Schlafzimmer. Man merkt ihm an, dass es unbewohnt ist. Verödet. Noch so ein vergessener Ort.
In der Schublade finde ich Dutzende Packungen der verschiedensten Medikamente. Das Fentanyl liegt obendrauf. Ich tue noch etwas, was ich noch nie zuvor gemacht habe: Ich lese den Beipackzettel. Buccaltablette. Schmerzen. Tumor. Durchbruch. Geben Sie das Medikament nicht an Dritte weiter. Ich verstehe kein Wort.
Ich nehme die Packung, die schwer wie ein Stein in meiner Hand liegt, mit nach unten.
»Was ist das?«, frage ich.
»Nur ein Schmerzmittel.« Sie dreht den Kopf weg, schaut mich nicht an.
Sie kommt plötzlich. Die Wut. Heiß und mit aller Kraft.
»Ach, Blödsinn, was soll das –«, ich will ihren Namen schreien, aber den kenn ich nicht. »Wie heißt du überhaupt?«
Stille.
»Du kennst auch meinen Namen. Eine Hand wäscht die andere. Oder wie war das?«
»Ana Maria«, sagt sie, während sie den Kopf wieder zu mir dreht. Sie streckt ihre Hand nach mir aus.
Ich nehme sie, setze mich auf den Stuhl, halte ihr die Packung hin. »Ana Maria. Was ist das?«
»Ignazio hatte Krebs. Dieses Medikament hat seine letzten Stunden erleichtert und ihn gehen lassen. Ich bin übriggeblieben. Ich will auch gehen.«
Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. »Du willst, du willst, dass ich –«
Sie nickt. »Meine letzte Suppe. Du bist mein Erlöser. Ich habe so lange auf dich gewartet.«
Ich springe auf, der Stuhl fällt um. Ich weiche zurück, schüttle den Kopf. »Nein, nein, nein!«
»Miguel. Migg!«
»Nein! Was denkst du eigentlich? Ich bin kein Mörder!« Immer weiter weiche ich zurück. Weg von ihr. Weg von dem Gedanken.
»Nein. Das bist du nicht. Du bist mein Erlöser. Ich bin vergessen, ich habe Schmerzen. Ich möchte gehen. So lange schon. Und dann kommst du. Der Himmel hat dich geschickt. Du wirst es verstehen, wenn du am Ende deiner Tage angekommen bist, ja, dann wirst du an mich denken.«
»Nein!« Ich spüre Tränen in meinen Augen. Ich, der so gerne ein harter Hund wäre, aber einknicke wie eine Memme. Ich könnte einfach gehen. Was interessiert mich das Schicksal dieser Frau?
Drei Schritte und ich bin am Bett, schnappe meinen Rucksack und gehe zur Tür. Ich greife nach der Türklinke. Was bildet sie sich ein, diese Ana Maria?
Ich halte inne. Ana Maria. Alhambra. Granada. Und Gazpacho. Wann habe ich jemals bekommen, was ich mir gewünscht habe? Wann hat einer mal darauf geachtet, was ich wollte? Noch nie! Alle haben mich ignoriert. Immer. Und ich bin kurz davor, das Gleiche zu tun.
Ich schaue mich um, sehe sie. Ana Maria. Sie starrt an die Decke. Tränen laufen über ihre Wangen.
Mein Brustkorb zieht sich zusammen, ich kriege kaum noch Luft.
Die Suppe ist fast fertig. Die letzte Zutat fehlt.
Ich gehe zurück, stelle den Rucksack wieder neben den Stuhl. Nun bin ich es, der ihre Hand nimmt.
»Wirst du leiden?«, frage ich.
Sie lächelt. »Ich werde genießen. Deine wundervolle Gazpacho. Das Medikament werde ich nicht schmecken und irgendwann bleibt einfach mein Herz stehen. Ich werde Ignazio wiedersehen. Und Spanien.«
»Was muss ich tun?«
Sie nickt. »Hör mir jetzt genau zu. Du pulst die Tabletten aus diesen Verpackungen raus, machst sie mit einer Gabel klein und mischst sie unter meine Suppe. So viele Tabletten, wie da sind. Du musst mir beim Essen helfen. Ich schaffe das nicht allein. Dann gehst du ins Schlafzimmer. Der Schrank …« Sie hustet. Schnappt nach Luft. »Die Wand hinter den Anzügen, die kannst du verschieben. Geh nach Spanien. Andalusien ist wunderschön. Fang neu an. So wie ich damals.« Wieder zieht sie die Luft ein, drückt dabei meine Hand. Nur so fest, wie ein schwacher Mensch eine Hand drücken kann.
»Das Leben schenkt dir nichts, Miguel. Aber du schenkst mir etwas. Und ich dir. Nimm den Koffer. Niemand wird merken, dass er weg ist. Niemand wird merken, dass du weg bist.«
»Koffer?«
»Ja, den Koffer. Versprich es mir!«
Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Versprich es mir!«
Ich verspreche es, hole einen Teller voll Suppe und einen Löffel, zerkleinere die Tabletten und vermische sie mit der Suppe.
»Du bist ein guter Junge«, sagt sie wieder. »Der Himmel hat dich geschickt.« Bei jedem Löffel Suppe, der in ihrem Mund verschwindet, entspannen sich ihre Geschichtszüge mehr.
»Und ein guter Koch.«
Ich stelle den Teller zur Seite und halte ihre Hand. Ich warte. Lange. Ana Maria liegt einfach da. Ab und zu hustet sie. Ich frage mich, wie lange es dauern wird. Oder ob sie sich vielleicht mit der Wirkung von dem Medikament getäuscht hat. Wie lange braucht ein Mensch zum Sterben?
Irgendwann zieht sie die Luft immer stärker ein, stöhnt. Kämpft, ringt und ich verzweifle. Vielleicht sollte ich doch den Notarzt rufen? Ich tue es nicht. Ich weine. Bis sie aufhört zu kämpfen. Bis sie geht.
Ich falte ihre Hände auf ihrem Bauch. Spreche ein Gebet, obwohl ich nicht an Gott glaube. Aber für Ana Maria mache ich es.
Warum bin ich nur in dieses Haus eingestiegen? Ich will gehen. Der Koffer? Ich habe es versprochen.
Also kehre ich ins Schlafzimmer zurück, schiebe die Anzüge und die Rückwand des Schankes zur Seite und hole den Koffer raus. Er ist aus Leder, abgeschabtem Leder. Ich öffne ihn. Mein Körper verkrampft sich. Ich kann kaum noch atmen. Und die Tränen kommen wieder, während ich ein Bündel nach dem anderen aus dem Koffer hole. 22 Bündel. 220.000 Euro. Die verstaue ich in meinem Rucksack, räume den Koffer in das Geheimfach und gehe nach unten. Zu Ana Maria.
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich danke dir«, flüstere ich. »Der Himmel hat dich geschickt. Und zurückbekommen.«
Ich verlasse das Haus. Die Ortschaft. Das Land. Ich bin kein Einbrecher mehr. Ich bin ein Mörder. Und ein Erlöser.
Für 4 Portionen
500 g aromatische Tomaten
1/2 Salatgurke
1 grüne Paprikaschote
1 rote Paprikaschote
2 Knoblauchzehen
1 Gemüsezwiebel
750 ml passierte Tomaten
250 ml kalte Gemüsebrühe
75 ml Olivenöl
50 ml weißer Balsamico
Salz und Pfeffer
1 kleine Chilischote ohne Kerne
Zucker
Das Gemüse in feine Würfel schneiden und in eine Schüssel geben. Passierte Tomaten, Gemüsebrühe, Essig, Öl, Knoblauch und Chili vermischen und zum Gemüse geben.
Mit Salz, Pfeffer und Zucker abschmecken und (richtig) kalt servieren.
Dazu passt geröstetes Bauernbrot, mit Knoblauch abgerieben.
E-Mail an: Beste@Kochgruppe.de
Betreff: Es tut mir leid
Ihr Lieben,
es tut mir schrecklich leid, dass ich nicht zu unserem gestrigen Kochabend kommen konnte.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Der Termin war in meinem Kalender – den ihr mir zu meinem Geburtstag geschenkt hattet – eingetragen und meine Uhr war dank eurer Erinnerung auf die Sommerzeit umgestellt. Es hat auch nicht an einem leeren Tank oder wie beim letzten Mal an einem PS4-Spiel gelegen.
Wenn ihr erst gelesen habt, was mir Unglaubliches passiert ist, werdet ihr mir sicher verzeihen, dessen bin ich gewiss.
Es fing alles damit an, dass ich gestern Vormittag die Zutaten für unsere vegetarischen Spaghetti Bolognese einkaufen wollte und mir dafür einen Einkaufszettel schrieb. Kaum war die Tinte darauf getrocknet, wehte ein heftiger Wind über den Küchentisch, der den Zettel erfasste und ihn wie einen Schmetterling zum offenen Fenster flattern ließ. Ich spurtete hinterher, wollte das widerspenstige Stück Papier zu fassen bekommen, griff jedoch ins Leere. Noch ein letzter eleganter Hechtsprung und ich hatte es geschafft: Ich spießte ihn mit meinem kleinen Finger der linken Hand auf, musste aber zu meiner Bestürzung feststellen, dass ich bereits halb über dem Fenstersims im Freien hing.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Meine rechte Hand krallte sich so sehr in das Holz des Fensterrahmens, dass meine Finger wie in warmem Wachs tiefe Abdrücke in diesem hinterließen. Für einige Sekunden hing ich in der Waagerechten, in der ein Staubkörnchen gereicht hätte, das Gleichgewicht zu meinen Ungunsten aus dem Lot zu bringen.
Und da sah ich es.
Durch das offenstehende Fenster der gegenüberliegenden Wohnung sah ich, wie das Sonnenlicht an einer schmalen Metallfläche reflektiert wurde. Ich schwöre euch, mir war, als würde mich die Klinge des Messers anblinken, bevor sie in die Eingeweide meiner Nachbarin eindrang. Der Mörder – dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war – zog das Messer aus ihrem erschlaffenden Körper heraus und sah ihr beim Fallen zu.
Ich aktivierte jede einzelne meiner Muskelfasern und schwang mich zurück in meine Küche, bevor der Mörder meiner ansichtig werden konnte. Ohne die geringsten Anzeichen einer Schockstarre robbte ich auf dem Fliesenboden bis zur Tür. Erst dann wagte ich aufzustehen, um die Polizei zu rufen. Denn eines war gewiss: Wenn dank meines Hinweises der Mörder gefasst wurde, würden sich die letzten 24 Bußgeldbescheide für das missverstandene Falschparken und die angeblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen aus Dankbarkeit in Luft auflösen.
Glücklicherweise hatte ich mein Handy schnell zur Hand. Doch leider war der Akku leer.
Was blieb mir anderes übrig, als mir meinen Rucksack über die Schultern zu schwingen, sechs Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinunter zu rennen und gleichzeitig die Sicherheitsnadel, mit der ich meinen Glücksbringer am Rucksack befestigt hatte, mit den bloßen Händen zu einem Dietrich zu formen.
Der Marktplatz war wie ausgestorben, es war, als hielte ganz Böblingen den Atem an, während ich im Affenzahn zur Eingangstür des Nachbarhauses lief. Die Tür hielt meinem Dietrich keine Zehntelsekunde stand und die Treppen lief ich genauso schnell hinauf wie die meinen zuvor hinab.
Angst? Nein, Angst hatte ich keine, denn das Adrenalin und mein Gerechtigkeitssinn stählten meinen Körper wie eine Rüstung. Gleich würde ich den Mörder zur Strecke bringen. Wie gut, dass ich am Tag zuvor einen Kung-Fu-Film gesehen und mir die Bewegungsabläufe bis ins Kleinste eingeprägt hatte.
Aber ich kam zu spät. Die offene Wohnungstür, die nach meinem gezielten Sylvester-Stallone-Tritt nur noch in einer Angel hing, offenbarte ein schaurig blutiges Bild. Innerhalb einer Sekunde überblickte ich die Situation: Vom Mörder keine Spur. Das Messer lag neben der Leiche. Schnell hob ich das Beweisstück mit zwei Fingern auf und steckte es mit der Klinge voran in das Außenfach meines Rucksacks, um die räuberischen Elstern, die in letzter Zeit vermehrt in der Gegend gesehen wurden, nicht in Versuchung zu führen, das Corpus Delicti durch das noch immer offenstehende Fenster zu entwenden.
Ein scharfer Luftzug verriet mir in der nächsten Sekunde, dass es noch einen anderen Ausgang geben müsse, durch den der Mörder geflüchtet sein musste. Und tatsächlich, durch die offene Hintertür in der Küche hörte ich polternde Schritte, die ungelenk die Treppen hinabstolperten.
Aus dem Augenwinkel sah ich auf dem Küchentisch eine Packung Spaghetti liegen. Die würden nun nicht mehr auf dem Speiseplan meiner Nachbarin stehen, also steckte ich sie in meinen Rucksack und machte mich daran, den Mörder zu verfolgen.
Doch dieser hatte sich mittlerweile wieder bewaffnet. Kaum hatte ich seinen Vorsprung am letzten Treppenabsatz fast eingeholt, warf er etwas nach mir, das im Gegenlicht der Sonne wie eine Handgranate aussah. Heldenhaft fing ich sie auf, bereit sie zu entschärfen und den Wohnblock mit den darin lebenden unschuldigen Menschen zu retten. Zu meinem Erstaunen handelte es sich jedoch um eine Dose mit passierten Tomaten. Und das nahm ich dem Mörder jetzt wirklich übel. Was bitteschön sollte ich mit nur einer Dose anfangen?
Hinzu kam, dass der Mörder ein unlauteres Mittel zu seiner Flucht einsetzte: eine BMW HP4 Race. Kurz überlegte ich, die Verfolgung mit meiner Vespa aufzunehmen. Dann fiel mir ein, dass ich sie letzte Woche aus Versehen in eine frisch geteerte Straße manövriert hatte.
Aber meine Wut nährte meine Kräfte. Ich setzte dem rasenden Motorrad nach, vorbei am Marktplatzbrunnen mit der St. Christophorus Statue.
Wieder warf der Mörder etwas nach mir. Aber er war ein miserabler Werfer. Das Objekt meiner Begierde – denn ich hatte das Geschoss als eine zweite Dose mit passierten Tomaten identifiziert – wäre viel zu hoch über mich hinweg geflogen. Ich setzte zu einem Sprung an, nach dem selbst ein Mister Jordan sich die Finger lecken würde, fing die Zutat für unsere Spaghetti auf und verstaute sie noch in der Luft im Rucksack. Gleichzeitig erfasste mich eine heftige Windböe, die mich im wahrsten Sinne des Wortes, in Windeseile quer über den Marktplatz bis hin zum Bösewicht wehte.
Wieder festen Boden unter mir spürend, hängte ich mich an das Carbonheck des Motorrads, stemmte meine Fersen – die in meinen Lieblingsturnschuhen steckten – in den Boden, bis der Qualm des verbrennenden Gummis uns beide umhüllte. Wie Widerhaken mussten sich die Rußpartikel an den Nasenschleimhäuten des Mörders festgesetzt haben, denn ein heftiges Niesen brachte ihn ins Schlingern. Zum Glück verfehlte er das Weingeschäft an der Ecke. Leider fuhr er mitten in einen frisch angelieferten Turm aus Weinkisten.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Im Nachhinein kann ich nur sagen, dass dies der Moment gewesen sein muss, in dem eine Rotweinflasche – die unserer Tomatensauce den perfekten Hauch an Verwegenheit verleihen wird – ihren Weg ganz von allein in meinen Rucksack gefunden haben muss.
Wie ein Kaninchen auf der Flucht schlug der Mörder auf seiner BMW Haken, als er die Pfarrgasse entlangraste, die Treppe am Zehntscheuermuseum hinunterholperte, um dann nach rechts in die Poststraße zum Unteren See einzubiegen; ich so dicht an ihm klebend, dass kaum ein Haar zwischen mich und das Hinterrad gepasst hätte.
Wir schlängelten uns um die Fressstände der Veranstaltung Schlemmen am See, bis ein Koch, der einen riesigen Parmesan trug, unseren Weg kreuzte. Als er die BMW auf sich zurasen sah, ließ er den Käse Käse sein und hechtete aus der Schusslinie, während der runde Laib in den messerscharfen Felgen der BMW zu feinen Raspeln verarbeitet wurde, die mir in hohem Bogen entgegenflogen, sodass ich sie mit meinem Tuppergefäß – ohne das ich das Haus nie verlasse – auffangen konnte. Deckel drauf und ab in den Rucksack.
Plötzlich hörte ich hinter mir gebieterische Rufe: »Stopp, stehen bleiben! Haltet sie!«
Wieso sie, schoss es in mein Hirn. »Haltet ihn!« müsste es heißen.
Ich wagte es, kurz den Blick vom Mörder, der nun zu Fuß floh, abzuwenden, um die Lage hinter mir zu peilen. Drei Polizisten rannten hinter mir her. »Achtung, sie ist bewaffnet!«, schrie einer von ihnen.
Was für ein Unsinn, dachte ich, ich bin doch nicht ... da fiel mir das blutige Messer ein. Ich legte einen Zahn zu, sprang über die Autos, die den Elbenplatz überquerten, dem Mörder, der sich unter die Menschenmassen mischen wollte, weiter auf den Fersen. Doch die Polizisten waren aus mir ebenbürtigem James-Bond-Holz geschnitzt. Sie holten auf.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Ohne jeden Zweifel steht fest, dass mir der stationäre Buchhandel in diesem entscheidenden Moment mein Leben gerettet hat. Alles, was jetzt folgte, passierte in nur zwei dreiviertel Sekunden: Die Tür zur Buchhandlung in der Bahnhofstraße aufgemacht, das neueste Yps-Heft geschnappt, den Peilsender aus der Verpackung gerissen, aus dem Augenwinkel beobachtet, wie die drei James Bonds am Laden vorbeiliefen, die Tür wieder aufgemacht, den Peilsender, unter Berücksichtigung der Windverhältnisse, der Sonneneinstrahlung, der Luftwirbel und der allgegenwärtigen elektromagnetischen Wellen, mit einem gezielten Wurf, über die Köpfe der Bond-Attrappen hinweg, an der Jacke des Mörders befestigt – ausgeatmet.
Leider hatte ich kein Handy, um die dazugehörige App laut der Anweisung im Heft runterzuladen. Zum Glück fand ein Preisausschreiben auf der gegenüberliegenden Straßenseite statt. Auf einem Schild war zu lesen: Lösen Sie das Rätsel und gewinnen Sie ein Smartphone. Welcher Spruch wird gesucht? Sieben Wörter, zweiter Buchstabe des ersten Wortes ist ein u.
Ich lächelte den Verantwortlichen an. Er lächelte zurück. Vom inhaltlichen keinesfalls überzeugt sagte ich: »Ausreden sind die kleinen Brüder der Lügen.«
Er hörte auf zu lächeln, griff unter die Theke und schob mir ein nigelnagelneues Handy rüber.
Kurz darauf zeigte mir ein pulsierender roter Punkt, wohin der Mörder floh. Zeit, mich erst einmal um unser Essen zu kümmern und die weiteren Zutaten einzukaufen. Leider hatte ich kein Geld dabei.
Wieder war Geschrei auf der Straße zu hören. Ich war auf alles gefasst, wollte schon meinen Hyper-Turbogang einlegen. Doch der Aufruhr galt nicht mir. Aus der Sparkasse an der Ecke stürmte ein maskierter Mann mit einem Sack über der Schulter. Er kam hechelnd direkt auf mich zu. Und ob ihr es glaubt oder nicht, ich stellte mich ihm gleich einer stählernen Wand in den Weg und fixierte ihn mit brutzelndem Blick. Daraufhin ließ dieser seine vier Wasserpistolen, 12 Katapulte und 36 Murmeln fallen und ergab sich.
Mit der Belohnung in der Jackentasche – vom Filialdirektor höchstpersönlich in Form von dicken Euroschein-Bündeln überreicht – ging ich erst einmal Olivenöl, Zwiebeln, Tofu, Salz, Paprika edelsüß, Oregano, Agavendicksaft und Tomatenmark einkaufen, immer einen Blick auf den roten Punkt geheftet, der umso intensiver blinkte, je später und dunkler es um mich herum wurde.
Als mir nur noch eine Zutat fehlte, entschloss ich mich, meine Mission weiterzuverfolgen, in aller Bescheidenheit die Dankbarkeit der Behörden für die Ergreifung des Mörders entgegenzunehmen, was zwangsläufig die Verflüchtigung der letzten 24 unberechtigten Bußgeldbescheide zur Folge haben würde – anders konnte es gar nicht kommen.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Ich hätte es noch pünktlich zu unserem Kochabend schaffen können, wenn mich der rote Punkt nicht auf den Alten Friedhof im Herdweg geführt hätte.
Die Silhouetten der turmhohen Bäume sahen im Licht des Vollmondes aus, als würde eine Meute von Riesen auf mich zuwanken. Die Äste glichen langen Krallen, die gierig nach mir griffen, und die daran hängenden Blätter glichen funkelnden, mich lauernd beobachtenden Augen. Nebelschwaden schlängelten sich wie Fesseln um meine Beine, während das trockene Holz unter meinen angeschmorten Turnschuhsohlen knackte, als wollte es alle Einwohner des Friedhofs aufwecken, damit diese über mich herfielen.
Aber ihr kennt mich ja, das alles schreckte mich nicht im Mindesten ab. Mein Ziel vor Augen überlistete ich das verräterische Knacken, indem ich mich so leicht wie eine Daunenfeder machte und die gruselige Kulisse mit einem mitleidigen Lächeln strafte.
Da! Ein weiteres Geräusch hatte sich in das Heulen des Windes und das bösartige Rauschen um mich herum gemischt. Ich blieb stehen. Lauschte. Sah auf das Display des Smartphones. Der rote Punkt leuchtete jetzt durchgehend, der Mörder war also ganz nah. Ich steckte das verräterische Handy weg und lauschte einem menschlichen Wehklagen, sah, wie der Mörder an einem Grab kniete, sich hin und her wiegte und jammerte:
»Es tut mir leid, bitte glaub mir. Ich wollte das nicht. Es war das Messer –«
Eine Eule kreischte hinter mir auf, er fuhr herum und stand blitzschnell auf. Endlich standen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich stutzte, denn das von der Kapuze eingerahmte Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. In der Zeit, die einem Wimpernschlag gleichkam, ließ ich alle Gesichter, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte, vor meinem inneren Auge aufleben. Beim 5.638.307ten Gesicht rastete etwas ein. Ich kannte das Gesicht aus der Zeitung! Eine Überschrift flammte vor meinem inneren Auge auf: Urahn von Jack the Ripper metzelt halb Böblingen nieder.
Ja, ich gebe zu, das war ein Moment, in dem ich mich am liebsten unter meiner dunklen, warmen, kuschligen Bettdecke versteckt hätte. Der schwere Rucksack drückte mich plötzlich übermäßig in den weichen Erdboden. Meine Kniescheiben hüpften unkontrolliert auf und ab und mein herabrinnender Schweiß tränkte das durstige Moos unter mir.
Zum Glück fiel mir eine kampftaugliche Kung-Fu-Ausgangsstellung ein, in die ich mich sogleich bringen wollte. Leider rutschte dabei der Rucksack nach vorn, verhedderte sich in meinem linken Arm und riss meinen Oberkörper hinab, als verbeugte ich mich vor dem Mörder, der mir amüsiert dabei zusah. Aufs Schnellste wollte meine rechte Hand meinem außer Gefecht gesetzten Arm helfen, bekam aber anstatt des Rucksacks nur das Messer zu fassen. Ganz von allein, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan, richtete dieses sich auf den Mörder, während an meinem linken Unterarm noch immer der Rucksack baumelte.
Jetzt waren es die Kniescheiben des Mörders, die einen Stepptanz aufführten, während er mit aufgerissenen Augen auf das Messer starrte, an dessen Klinge sich das Mondlicht blitzend wiederspiegelte. Er taumelte rückwärts und kippte mit einem dumpfen Aufprall in das frisch ausgehobene offene Grab hinter ihm. Ein verräterisches Knacken am Zahn des zweiten Halswirbels verriet mir, dass sein Genick entzwei war.
Am Ausgang des Friedhofs schnitt ich mit dem Messer die letzte noch fehlende Zutat ab: Bärlauch.
Ob ihr es glaubt oder nicht. Jetzt kennt ihr die ganze Wahrheit.
Liebe Grüße
Eure Thea Münchhausen
PS: Morgen gehe ich zur Bußgeldstelle.
Für 4 Personen
Zutaten:
500 g Spaghetti
500 g Tofu
2 Zwiebeln
5 EL Olivenöl
8 EL Tomatenmark
300 ml trockener Rotwein
300 g passierte Tomaten
5-6 TL Agavendicksaft
4 TL getrockneter Oregano
Salz
Pfeffer
1 Bund Bärlauch
Parmesan
Zubereitung:
Die Spaghetti nach der Packungsanleitung in Salzwasser al dente kochen. Mit einer Gabel den Tofu zerkleinern. Die Zwiebel schälen und fein hacken. Olivenöl in einer Pfanne erhitzen und den Tofu unter Rühren darin gut anbraten. Erst jetzt die Zwiebeln hinzufügen und einige Minuten mitbraten. Das Tomatenmark zugeben und unter Rühren anschwitzen. Abgelöscht wird mit dem Rotwein (Achtung, die Reihenfolge ist hierbei wichtig. Erst das Tomatenmark und dann den Rotwein hinzugeben). Den Wein einige Minuten einkochen lassen. Die passierten Tomaten und Oregano zugeben und aufkochen. Mit Salz, Pfeffer und Agavendicksaft abschmecken. Den frisch gehackten Bärlauch unterrühren.