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Scott Adlerberg

 

Graveyard

Love

 

 

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger

 

 

 

 

ars vivendi

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

Graveyard Love bei Broken River Books

 

Copyright © 2015 by Scott Adlerberg

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen deutschen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2019)

© 2019 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung © Sarah Eschbach

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0100-8

 

Inhalt

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DANKSAGUNG

DER AUTOR

DER ÜBERSETZER

 

ERSTER TEIL

 

eins

Am Sonntag ging ich, obwohl ich nüchtern war, auf den Friedhof. Ich verließ das Haus, überquerte die Straße und ging rüber. Samstagnacht hatte es geschneit, ich trug meine Wanderschuhe. Der Schnee war nicht tief, hüllte jedoch alles ein, und jenseits der weiten Fläche mit den Grüften und Grabsteinen glitzerten die Bäume im Wald weiß. Ich hatte mich für meine Observierung warm angezogen – schwarze Jeans, Pullover, pelzgefütterter Parka und eine rote Strickmütze –, aber so kalt es auch war, ich fühlte mich großartig. Ich hatte mich von meinem Kater erholt. Gestern hatte ich nichts getrunken, heute bislang auch nichts. Der späte Nachmittagshimmel war blau, die Sonne schien, kein Lüftchen wehte. Ich liebte dieses knackige, winterliche Wetter und hätte so oder so einen strammen Marsch gemacht, Friedhofsfrau hin oder her. Tägliche Spaziergänge verschafften mir die nötige Bewegung und regenerierten meine Lungen. Ich entkam dem Zigarettengestank, den meine Mutter mit ihren Marlboro Mediums produzierte. Sie rauchte zwei Packungen am Tag, und da es ihr Haus war, konnte ich sie nicht daran hindern. Nur in meinem Zimmer war ihr das Gequalme untersagt. Außerdem war der Spaziergang Balsam für meine Nerven, eine Unterbrechung von dem Druck, den sie auf mich ausübte. Meine Mutter und ihr Buch! Ihre verdammten Memoiren.

Ich dachte mir andauernd Geschichten aus, skizzierte den Handlungsablauf von Romanen und kürzeren Erzählungen. Ich versprach mir selbst, schon sehr bald meine eigenen Projekte neu zu beleben. Auf meinem Laptop befanden sich jede Menge Entwürfe und Notizen, aber ich konnte keine eigenen Sachen schreiben, solange ich mich um das Buch meiner Mutter kümmern musste. Bis das erledigt war, steckte ich bis über beide Ohren in dieser Aufgabe und war gezwungen, ihr meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Weniger war schlicht undenkbar, meine Mutter saß mir ständig im Nacken.

An den meisten Arbeitstagen diktierte sie mir, und manchmal wollte sie auf Papier Wort für Wort das festgehalten wissen, was sie gesagt hatte. Zu anderen Zeiten waren ihr Überarbeitungen lieber. »Mach’s spritziger«, sagte sie dann zum Beispiel. Oder: »Mach’s netter.« Oder: »Ein bisschen raffinierter. Gestalte es aus. Du bist der Schriftsteller.« Warum sie jedoch mich dafür ausgesucht hatte, blieb mir ein Rätsel. Ihre Meinung von mir als Schriftsteller schien eher bescheiden zu sein. Ich befolgte ihre Anweisungen so gut ich konnte, aber sie war nur selten zufrieden. Sie las die ausgedruckten Seiten, die ich ihr gab, schnaubte, verlangte weitere Überarbeitungen mit noch mehr Anweisungen, die genauso schwammig waren wie ihre ursprünglichen. »Mach’s hier noch ein bisschen intensiver«, sagte sie. »An dieser Stelle sollte es witzig sein, gleichzeitig aber auch ernst.« Es war ein Job für einen Schreiberling. Lächerlich. Und ich dachte dann: Ich muss bescheuert gewesen sein, das anzunehmen. Wie konnte ich nur? Es ist Zeit, das zu beenden.

Doch das war mein Frondienst, die Fessel, zu der ich mein Leben hatte werden lassen, und das hier jetzt, auf diesem Friedhof zu sein und auf das Eintreffen der rothaarigen Frau zu warten, das war etwas Neues, Geheimnisvolles. Ich spürte, wie mein Herz raste. Trotz der Kälte schwitzte ich unter den Achseln. Ich dachte, meine Ermittlung, der Beginn meiner Nachforschungen zu dieser Frau, und sah mich als Detektiv:

Bericht, Kurt.

Zwei- oder dreimal wöchentlich kommt die Zielperson auf den Friedhof und sucht eine Grabstätte auf.

Irgendeine Idee, warum?

Sie ist morbid.

Nein, im Ernst.

Jemand, den sie liebt, ist gestorben.

Aber sie bringt niemals Blumen mit.

Bringt überhaupt nie etwas mit.

Weißt du, welches Grab?

Noch nicht.

Observierung fortsetzen.

Den Eingang des Friedhofs markierte ein eisernes Tor mit Schwingverschluss, das von der Straße zugänglich war und Tag und Nacht offen blieb. Ich hatte noch nie gesehen, dass es geschlossen war. Direkt hinter dem Tor stand ein weißer Schuppen, von dem aus das Personal die Pflege und Instandhaltung des Friedhofs organisierte. Und wie fleißig sie waren: Im Sommer wucherte das Unkraut, und der Rasen wurde wochenlang nicht gemäht. Die Sträucher wurden unregelmäßig geschnitten, wodurch der Friedhof recht verwildert wirkte. Gerade das gefiel mir, und anderen musste es ähnlich ergehen, denn hier herrschte durchaus Betrieb, und Beerdigungen von Leuten aus der näheren Umgebung fanden häufig statt. Kein einziges Mal hatte ich jemanden über die Pflege des Friedhofs klagen hören, und da er nicht an eine Kirche angegliedert war, schien es keine religiösen Auflagen zu geben. Hier konnte jeder beerdigt werden.

Ich bezog im Eingang einer Gruft Stellung. Von hier aus konnte ich die Straße und mein Haus sehen. Da stand es, das weiße Haus im viktorianischen Stil mit Blick auf den Friedhof. Falls die Toten sich aus den Gräbern erheben würden, dachte ich, wäre nach dem Himmel das Erste, was sie sähen, mein Haus. In einem Zombiefilm würden sie schnurstracks auf das Haus zumarschieren, und in diesem Film wäre ich der Typ, der zufällig aus einem Fenster blickt und sie sieht. Sie schlurfen über die Straße, eine Horde grauhäutiger, runzliger Bestien, die nach Menschenfleisch hungern.

Ein hoher Metallzaun aus angespitzten Pfosten umgab den Friedhof, also konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf das Eingangstor. Der Zaun hatte zwar Löcher, aber ich nahm an, dass die Frau von vorne kommen würde, höchstwahrscheinlich in einem Auto. Abgesehen von meiner Mutter und mir wohnte niemand in direkter Nähe. Äcker und Wälder beherrschten die Landschaft, und das nächste Haus lag ein gutes Stück die Straße hinunter. Bis zur Stadt waren es mehrere Meilen. Keine Frage, dachte ich: Als ich aus Brooklyn zu meiner Mutter hier in den Norden des Bundesstaats gezogen war, hatte ich mich in einem ungesunden, abgeschiedenen Leben wiedergefunden, und trotz meiner Begeisterung für diese Observierung kam ich mir schon auf makabre Art ein wenig krank vor, wie ich hier zwischen den Grabsteinen herumlümmelte.

Sonntags arbeitete niemand in dem weißen Schuppen. Der Friedhof war leer. Bewaffnet mit einer Thermosflasche Kaffee richtete ich mich aufs Warten in der Gruft ein, setzte mich auf den kalten Steinboden, lehnte mich an eine Wand des Eingangs. Allmählich setzte die Abenddämmerung ein, die untergehende Sonne verblasste und ging in Dunkelheit über. Aus dem Nichts kam eine raunende Brise auf. Ich lauschte, wie sie durch den Kiefernwald fuhr, und hörte die schrillen Rufe der Amseln, die in den kahlen Bäumen des Friedhofs saßen. Ich war geduldig. Ich hatte beschlossen, bis weit nach Einbruch der Dunkelheit zu warten. Ich hatte meinen dampfenden schwarzen Kaffee, und wenn ich das hier nicht getan hätte, dann hätte ich mir in meinem Zimmer einen Horrorfilm angesehen. Sonntagabend war Horrorfilmabend, dann lieh ich entweder zwei Horror­videos aus oder schaute zwei aus meiner eigenen Sammlung. Was nicht heißen soll, dass ich an keinem anderen Abend Horrorfilme sah, aber der Sonntagabend war ganz dem Horrorfilm gewidmet, und aus diesem Grund freute ich mich jedes Mal darauf. Zwei Vampirfilme oder Zombiefilme oder Klassiker mit Boris Karloff, oder vielleicht gönnte ich mir auch einen Dreierpack mit Filmen eines bestimmten Regisseurs – Polans­ki, Argento, Bava. Mein abgenutzter blauer Liegesessel gehörte zum festen Inventar meines Lebens, und dort saß ich dann bei geschlossener Tür, das Licht gelöscht, eine Kerze angezündet. Ich schaute die Filme, trank Wein und aß das Abendessen, das ich mir gekocht hatte. Das war mein Sonntagabend und das Ritual, das ich inzwischen richtig genoss.

Ich wartete, bis ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, wartete bis weit nach Sonnenuntergang, als die Sterne am schwarzen Himmel aufgetaucht waren, doch die rothaarige Frau kam nicht. Auch am nächsten Abend und am Abend danach tauchte sie nicht auf. Unverzagt versuchte ich es weiter, überquerte spätnachmittags die Straße, saß mit Mütze, Handschuhen und Parka in dieser Gruft, aber die Friedhofsfrau ließ sich nicht blicken. Sie kam weder durch das Eingangstor noch durch die Lücken im Zaun.

Eine Woche verstrich.

Nichts.

Die Frau schien wie vom Erdboden verschluckt.

Es war entmutigend, und ich fragte mich, was ich tun sollte. Abends saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett und grübelte über ihre Abwesenheit. Zum Fenster gedreht konnte ich den Friedhof sehen, saß im Dunkeln da und nippte am Rotwein. Es schien mir ohne Zweifel unsinnig zu sein, mit den Observierungen fortzufahren, zudem hatten mich unter der Woche an manchen Abenden Leute auf dem Friedhof gesehen. Ich hatte vom Eingang der Gruft umziehen und mich vor ein Grab stellen müssen, als würde ich jemandem die Ehre erweisen. Mit meiner Thermosflasche in der Gruft herumzuhängen sah verdächtig aus. Nachdem also eine Woche ohne eine einzige Sichtung der Friedhofsfrau vergangen war, hob ich kapitulierend die Hände und sagte, vergiss es. Sie war irgendwo anders, und es war gut möglich, dass ich sie nie wiedersah. Es wäre klug, sie mir aus dem Kopf zu schlagen.

Ich kehrte zu meinen alten Gewohnheiten zurück und nahm meine abendlichen Wanderungen durch den Wald wieder auf. Wenn die Arbeit an den Memoiren für den Tag erledigt waren, packte ich mich warm ein und ging los. Aber ich hatte neue Fragen. Warum kam die Frau nicht mehr? Wochenlang war sie zwei- oder dreimal pro Woche gekommen, meist in der Abenddämmerung und immer in ihrem glänzend schwarzen Umhang. Sie hatte einen geschmeidig fließenden Gang und dieses dunkelrote Haar, das über ihren Rücken wallte, und ich beobachtete sie von meinem Fenster aus, bis ich sie zwischen den Grüften und Grabsteinen aus den Augen verlor. Natürlich erfand ich Geschichten über sie. In einer war sie eine Mörderin, eine reuige Killerin, die kam, um am Grab ihres Opfers trauernd zu knien. Ich sah sie dort weinen und sich für das entschuldigen, was sie getan hatte. Oder vielleicht war es ein Kind, das sie verloren hatte. Diese völlige Niedergeschlagenheit, die darauf folgte. Aber warum brachte sie nie Blumen oder sonst etwas mit, das sie vor den Grabstein stellen konnte? Irgendetwas musste hinter ihren Besuchen stecken, eine Art Obsession, und doch hatte sie jetzt offensichtlich damit aufgehört. War sie krank? Auf einer Reise? War sie gestorben? Mal wieder typisch, dachte ich: In dem Moment, in dem ich beschlossen hatte, sozusagen meine Hand nach ihr auszustrecken, mich aus meinem selbst errichteten Käfig zu befreien, hatte sie sich verflüchtigt. Da hatte ich mich nun endlich zu dem Versuch entschlossen, in Kontakt zu einem anderen Menschen zu treten, und genau in diesem Augenblick hatte die Leere Anspruch auf sie erhoben. Ein schwarzes Loch hatte sie verschluckt.

In den Memoiren meiner Mutter waren wir an dem Punkt angelangt, als ihre Eltern ihr Leben in Marokko aufgaben. Davor, in den frühen Fünfzigerjahren, hatten sie in Paris gelebt. Als Kind hatte sie Tee mit Künstlern getrunken, reichen, müßiggängerischen Reisenden und heruntergekommenen Versagern. Ihre Schulausbildung erfolgte recht planlos, die sie umgebende Atmosphäre war tolerant. Dinge wie Marihuana, Mischehen und Homosexualität stellten für ihre Eltern keine Tabus dar. Als sie dann aber in die Staaten zurückkehrten und einen Laden für Kunsthandwerk und Kleidung eröffneten, in dem sie Dinge aus Nordafrika verkauften, ging meine Mutter in Manhattan auf die Highschool und musste sich anpassen. Sie gab ihr Bestes. Von Zeit zu Zeit veröffentlichte ihre Mutter einen Fotobildband oder verkaufte ihr Vater ein Gemälde. Und genau diese Zeit ihres Wechsels in die amerikanische Kultur und zu einer herkömmlichen schulischen Ausbildung, zu einem deutlich regulierteren Leben, als es ihre lässige Existenz im Ausland gewesen war, beschrieb sie mir jetzt. Ich saß am Schreibtisch im Arbeitszimmer, sie schritt in ihren weißen Laufschuhen auf und ab und diktierte. Sie trug ihr weißes Haar streng zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Meine Mutter hatte ein vogelartiges Gesicht – scharfer Blick, Habichtsnase, schmale Lippen – und den dazu passenden schmächtigen Körper. Kein Gramm Fett belastete sie, keine Cellulite. Bisweilen schritt sie so schnell über den Boden, dass es schien, als berührten ihre Füße dabei nicht den Teppich. Sie erzählte eine Geschichte, rauchte ihre Zigarette, und dabei wippte ihr Kopf auf den schmalen Schultern. Sie hielt die rechte Hand teilweise geschlossen, Daumen und Zeigefinger ausgestreckt, und stach beim Sprechen auf die Luft ein. Kurz, eine nervöse Frau, was durch die Zigaretten und ihre Sucht nach italienischem Espresso nur noch schlimmer wurde, und ich dachte, dass eines Tages, wenn sie auf die Einfahrt hinausginge, um die Zeitung zu holen, die der Botenjunge brachte, ein kräftiger Windstoß sie einfach von den Füßen heben könnte. Sie forttragen und irgendwo in den Bäumen wieder absetzen könnte. Sie würde hervorragend zu den Amseln passen, dachte ich, die Vögel sahen genauso streng aus wie sie.

Aber unsere Arbeit, die Methode, mit der wir vorgingen – es war mühsam; sie gab mir das Rohmaterial, die Anekdoten und nüchternen Details, und all das baute ich dann aus. Ich formte ihre Erinnerungen, polierte sie auf. Dann folgte ihr Gemecker, wie ich schon sagte, aber wenn sie nicht diktierte, konnte ich wenigstens allein sein.

»Wenn du im Raum bist«, hatte ich einmal zu ihr gesagt, »kann ich nicht schreiben. Lass mich einen Abschnitt schreiben, dann kannst du ihn lesen, und ich kann ihn anschließend umschreiben und so weiter. Irgendwelche Einwände?«

Woraufhin sie davonstolziert war, um sich ihrer Töpferei zu widmen.

Schon merkwürdig, vor einiger Zeit hatte sie ihre Leidenschaft fürs Töpfern entdeckt, und kurz nach dem Kauf dieses abgelegenen Hauses hatte sie sich im Keller eine Werkstatt eingerichtet. Es war alles da: Brennofen, Werkzeuge, Töpferscheibe. Ihr Interesse war bei einem Töpferkurs geweckt worden, den sie in der Stadt gemacht hatte, etwa zu der Zeit, als sie und mein Vater sich trennten, und seitdem war es ihr immer mehr ans Herz gewachsen. Sie tat es allein für sich selbst, konnte ganze Tage damit verbringen, schuf ihre Objekte und stellte sie dann in ein Zimmer oben – in den »Keramikraum«. Sie hatte eine Spüle, einen Kühlschrank und eine Espresso­maschine im Keller, und dort hielt sie sich die meiste Zeit auf, wenn sie nicht wegen ihres Buches bei mir im Arbeitszimmer war.

Es war also alles wieder zur Routine zurückgekehrt, und die Memoiren wuchsen Seite um Seite an. Ich war dermaßen enttäuscht vom Verschwinden der Friedhofsfrau, dass mir die Kraft fehlte, bei meiner Mutter aufzuhören. Die Tage verbrachte ich mit Schreiben, am frühen Abend ging ich wandern. Später am Abend trank ich, las ich und sah Filme. Steckst immer noch fest, sagte ich mir in der Geborgenheit meines blauen Sessels, aber ich konnte nicht gehen. Der Gedanke, in die Welt zurückzukehren, machte mir Angst. Denn das würde bedeuten, dass ich mich der Einsamkeit stellen müsste, meinem alten Feind. Ich würde dort draußen wieder ganz allein sein, konfrontiert mit der Formlosigkeit des Lebens. Meine Welt hier in diesem Haus, das vollgestopft war mit marokkanischen Lampen und arabischen Teppichen und fluiden, von meinem Großvater gemalten Landschaften, kannte ich in- und auswendig. Und auch wenn meine Mutter ziemlich ausfallend werden konnte, ich war daran gewöhnt. Es gab eine Vertraulichkeit zwischen uns; immerhin schrieb ich ihr Buch, teilte die Geheimnisse und Leidenschaften ihres Lebens. Durch sie hatte ich eine Beziehung zu jemandem, und draußen in der Welt würde ich, wenn ich nach meiner bisherigen Erfolgsbilanz ging, nichts haben. Ich konnte mich einfach nicht mit jemandem vorstellen. Von meinen verflossenen Freundinnen, so wenige es waren, war Charlotte ein Glückstreffer gewesen, sagte ich mir, und das mit Maria war schon sehr lange her. Ich sah mich dort draußen in einem grauen Raum, als alleiniger Bewohner eines Apartments, der urtypische alleinstehende Kerl, der Nacht für Nacht durch die Bars zieht.

Hier konnte ich die Natur genießen und in einem geräumigen Haus leben. Ich bekam keine Platzangst. Und allein zu trinken war nichts, wofür man sich schämen musste.

Genau …

Wenn jedoch die Friedhofsfrau käme, dachte ich, würde das nicht auch Hoffnung auf etwas bedeuten? Vor einiger Zeit hatte ich das noch gedacht, jetzt nicht mehr. Sie war mit dem Wind verschwunden, und ich fühlte mich erleichtert. Was hätte ich denn getan, wenn sie gekommen wäre? Mich vorgestellt? Hätte ich versucht, mit ihr Smalltalk zu machen? Sie hätte nur den Kopf geschüttelt, mich als Widerling abgetan und den Friedhof verlassen.

Komm nicht, dachte ich nun. Wo immer du bist, bleib dort. Denn nachdem ich sie auf ein Phantasiebild reduziert hatte, konnte ich mir eine wunderbare Begegnung vorstellen. Ich konnte sie lächeln, ihr rotes Haar zurückwerfen sehen, und wie sie mich mit neugierigen Augen anstarrte. Ich sagte ihr irgendwas Bedeutungsvolles, und sie schmolz nur so dahin. Die Realität würde dem überhaupt nicht gerecht werden können.

 

zwei

Aber dann, eines Abends, kam sie. Gerade als ich sie schon abgeschrieben hatte, sah ich sie.

An diesem Morgen hatte es geschneit, und die Luft hing schwer und kalt in den Bäumen. Ich befand mich nach meiner üblichen Wanderung auf dem Heimweg, und der silberblaue Mond des frühen Abends tauchte alles in ein kristallenes Licht. Der Schnee war kompakt und knöchelhoch, und ich mochte das Knirschen unter meinen Schritten. In meinen Stiefeln, den Handschuhen und mit der Mütze war mir angenehm warm, und ich blieb hier und da stehen, um einen Schneeball zu rollen und dann in den weiten Raum abzufeuern.

Ich verließ den Wald, trat auf eine Lichtung und erblickte direkt vor mir den Friedhof, als ich sah, wie sich dort jemand bewegte. Nicht der Rede wert, dachte ich, ein ganz normaler Besucher, aber dennoch beschleunigte ich zuerst meinen Schritt, dann lief ich los. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein komisches Gefühl. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich. Ich rannte über die Lichtung hinüber zum Zaun, der eine Seite des Friedhofs begrenzte, und dort bestätigte sich mein Bauchgefühl.

Der schwarze Umhang, die schwarzen Handschuhe, das lange, unverhüllte rote Haar …

Ich blieb atemlos stehen.

Sie musste ihren Besuch bereits gemacht haben, denn sie ging gerade durchs Tor hinaus. Ein weißes, zweitüriges Auto parkte am Straßenrand. Hinter dem Zaun kauernd beobachtete ich sie von schräg hinten, hörte sie Selbstgespräche führen. Die Worte konnte ich nicht verstehen. Dann stieg sie ins Auto und drehte den Zündschlüssel, verließ den Schotterstreifen und fuhr die Straße hinunter. Sie war fort, und ich hatte sie ganze dreißig Sekunden gesehen, aber zu wissen, dass sie zurück war und wieder auf den Friedhof ging, rettete meinen Tag.

An diesem Abend schaffte es nicht mal meine Mutter, mich beim Essen auf die Palme zu bringen. Sie meckerte über die letzten Seiten, die ich ausgedruckt hatte, und ich fiel ihr ins Wort, indem ich anfing, wie eine Ente zu quaken.

Ihre Augen waren grauer Stahl.

»Ich werde sie mir morgen ansehen«, sagte ich. »Heute Abend hab ich gute Laune.«

»Ist das so, ja?«

»Ausnahmsweise, ja.«

»Ausnahmsweise? Mach mich nicht für deine Depression verantwortlich. Was macht dich denn so glücklich?«

»So eine Sache. Würde dich nicht interessieren.«

»Mich interessiert die Verbesserung dieses Abschnitts hier. Der Kerl war mein erster fester Freund, und du hast das einfach nicht gut beschrieben. Du hast nicht rübergebracht, was ich für ihn empfunden habe.«

»Morgen«, sagte ich. »Gib mir deine Anmerkungen.«

»Mache ich.«

»Da bin ich sicher.«

Und morgen, dachte ich, bin ich wieder auf meinem Posten, bereit, hinüberzugehen und sie anzusprechen. Sie wird vielleicht vor Abscheu knurren, aber ich muss es einfach versuchen.

Während der Nacht zog ein Sturm über uns hinweg, und als ich aufwachte, sah ich draußen Schneeverwehungen. Die am Haus vorbeiführende Straße war unter einer weißen Schicht begraben. Die Schneepflüge räumten sie erst später am Tag frei, als der Himmel bereits wieder dunkel war, also rechnete ich an diesem Abend nicht mehr mit ihr. Egal, sie würde schon zurückkommen, und ich wusste, was ich dann tun würde. Statt auf dem Friedhof herumzuschleichen, würde ich nun jeden Tag vor Sonnenuntergang auf mein Zimmer flitzen und mich mit Lesestoff aufs Bett legen. Durchs Fenster konnte ich den Verkehr hören und jedes Auto, das auf der anderen Straßenseite parkte. Wenn jemand anhielte, würde ich hinübersehen und herausfinden, wer es war. Mantel, Stiefel und Mütze lagen neben meinem Bett bereit.

Zwei aufeinanderfolgende Abende saß ich dort vergebens. Ich schmökerte in alten Ausgaben von Video Watchdog, las über Kultfilme des Horrorgenres und die Vampirfilme von Jean Rollin. Bei Einbruch der Dunkelheit machte ich einen abgekürzten Spaziergang die Straße hinunter. Aber am dritten Abend kam sie dann, stellte ihren Wagen vor dem Friedhofstor ab, und ich vergeudete keine Zeit und eilte nach unten, obwohl ich keinen Schimmer hatte, was ich sagen würde.

Nachdem die Schneepflüge ihre Arbeit getan hatten, war die Straße jetzt von weißen Haufen eingefasst. Neben dem Wagen der Frau lag hoher Schnee, auf dem Friedhof war er jedoch niedriger, und durch ein Fenster im Wohnzimmer beobachtete ich, wie sie ihre Tür schloss, das Hindernis betrachtete und dann beherzt ansetzte, in ihrem Umhang und den schwarzen Lederstiefeln darüber zu klettern. Sie war gewandt, stolperte nicht, stürzte nicht, und entglitt auf der anderen Seite meinem Blickfeld. Dann tauchte sie hinter dem Friedhofstor wieder auf und stapfte durch fast kniehohen Schnee. Sie war gekommen, um zu tun, was immer sie tat, und kein noch so hoher Schnee würde sie aufhalten.

Draußen herrschte arktische Kälte, aber es war windstill. Als ich die Straße überquerte, spürte ich, wie sich die Haut auf meinem Gesicht straffte. Kondensierter Atem kam mir aus Mund und Nase, und selbst jetzt, in der Abenddämmerung bei weichender Sonne und schiefergrauem Himmel, stach mir das Weiß ringsum noch grell in die Augen. Die Felder in der Nähe wirkten wie mit Zuckerguss überzogen, in den Wäldern dahinter schimmerten die Eiszapfen. In der Stadt, dachte ich, ist es nicht so.

Ich kletterte einen der Schneerücken hinauf, hielt mich dann aber weiter links und mied das Friedhofstor. Wäre ich dort hineingegangen, hätte sie mich gehört und zu mir gesehen, und ich wusste immer noch nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Ich würde sie zuerst beobachten, beschloss ich, und abwarten, was sie an diesem Grab machte, das sie aufsuchte. Ich wollte zusehen, wie sie ihr Ritual durchführte, falls es so etwas in der Art war, und erst dann reden.

Ich bewegte mich außerhalb des Friedhofs Schritt für Schritt vorsichtig den Zaun entlang. Bei dieser vollkommenen Stille schien es, als ob jeder meiner Schritte laut hallte, und ich konnte mich selbst atmen hören. Doch die Frau ging zwischen zwei Reihen mit Grüften und Grabsteinen den zentralen Weg des Friedhofs hinauf und warf dabei keinen Blick nach rechts oder links. Sicherheitshalber blieb ich mehrere Meter hinter ihr. Sie hätte den Kopf weit zurückdrehen müssen, um mich zu erblicken. Und so setzten wir unseren Weg fort, zwei Menschen, allein, Punkte im Schnee, bis sie nach rechts in eine Gruft schwenkte. Ein kreideweißer Würfel. Sie war durch einen gewölbten Eingang hineingegangen, und ich blieb stehen, die Hände auf dem Zaun.

In einem metallenen Flachmann hatte ich Myers’s Rum, Brennstoff gegen die Kälte. Ich nahm einen Schluck, verstaute den Flachmann in meiner Tasche und wartete darauf, dass sie das Grabgewölbe wieder verließ. Ich hatte Zeit, die Gruft ausgiebig zu betrachten, und war von ihrer Schlichtheit beeindruckt. Obwohl sie etwa so groß wie ein Gartenschuppen war, fanden sich auf der Außenseite keine eingemeißelten Worte, keine Schnörkel, nichts. Hat das irgendetwas zu bedeuten?, fragte ich mich und wartete weiter reglos gegen den Zaun gelehnt. Meine Augen tränten, und meine Nasenspitze, meine Finger in den Handschuhen und meine Zehen begannen zu schmerzen.

Geh, dachte ich, geh rein. Es ist ein öffentlicher Friedhof. Du darfst hier sein. Sag ihr die Wahrheit, dass du sie beobachtet hast, aber versuche, sie nicht zu erschrecken … Sei freundlich … Sei ganz natürlich … Na los, mach schon …

Doch als ich es dann tat, erwartete mich eine herbe Überraschung. Ich ging den Zaun entlang, duckte mich durch ein Loch und trottete schnurstracks zu der Gruft hinüber … Nichts. Im Inneren fand ich nichts. Eine leere Kammer: schwarzer Stein und Beton. Auf einer Steinplatte brannte eine Kerze, und in ihrem Licht konnte ich genug sehen. Die Frau war nicht da.

Entmutigt nahm ich einen Schluck aus meinem Flachmann.

Der Himmel wurde inzwischen schwarz wie Tinte.

Bleiben oder gehen?, fragte ich mich und rieb eine Hand an meinem Kinn.

Ich nahm einen weiteren Schluck Rum.

Dann, als erwachte ich aus einer Art Trance, sagte ich mir: Nein! Unmöglich. Ich konnte nicht glauben, dass Menschen durch Wände gingen. Ich befahl mir, die Gruft genau zu untersuchen, denn wenn sie nicht in dieser Kammer war, musste sie auf irgendeine Weise hinausgekommen sein. Eine Tür oder ein Gang. Es musste so was geben. Und hatte diese Kammer eigentlich die gleichen Maße wie die Gruft? Von außen hatte die Gruft größer gewirkt als der Raum, den diese Kammer beanspruchte. Es konnte hier noch einen weiteren Raum geben.

Die Kerze auf der Steinplatte befand sich in einem schwarzen Halter aus Glas, und den nahm ich nun, um mich umzusehen. In meinen Stiefeln mit den Gummisohlen trat ich vorsichtig und leise wie eine Katze auf den Betonboden. Mühelos entdeckte ich die Tür in der Wand, ein Stück Metall, das an Scharnieren befestigt war, und ich sah, dass es ein Schlüsselloch gab.

Ich ging in die Hocke und drückte mein Auge an das Loch. Schwärze. Aber neben meinen Knöcheln sah ich ein schwaches Licht, und als ich eine hohle Hand über die Kerze hielt, erkannte ich, dass dieser Lichtschein von einer anderen Quelle kam, einer Beleuchtung hinter der Tür. Ich beugte mich tiefer hinab, um mich zu vergewissern, hatte die Kerze immer noch abgeschirmt und sah, dass, ja, der Lichtschein an meinen Füßen durch einen Schlitz unter der Tür fiel.

Sie war dort drin, in einem anderen Raum oder einer Kammer, und tat irgendetwas.

Ich legte ein Ohr an das kalte Metall der Tür. Ich lauschte auf irgendwelche Geräusche, die Augen geschlossen. Ich war versucht zu drücken, zu sehen, ob die Tür aufschwang, und zugleich argwöhnte ich, die Tür könnte geöffnet werden und die Frau mich hier erwischen. Was würde ich sagen? Aber weder das eine noch das andere geschah. Ich hielt mich zurück, drückte nicht, und sie öffnete nicht die Tür, und nach einer Weile konnte ich eine Stimme hören, vermutlich sagte die Frau etwas. Die Stimme war gedämpft. Und sie stöhnte, ein trauriges Geräusch, wenn auch mit einem ansteigenden, heiseren Ton. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Ich stellte das Kerzenglas zurück auf den Stein, schraubte meinen Flachmann auf und trank. Kniete mich wieder vor die Tür, die Ellbogen auf den Knien. Das Stöhnen mit seiner tiefen Melancholie ging weiter, und dann hörte ich Anzeichen von Bewegung, ein Scharren und einen lauten Schlag. Es klang wie eine Schranktür oder eine Schublade, die zugeschlagen wurde.

Mein Zeichen, dachte ich und schlich auf Zehenspitzen davon.

Ich wartete draußen im Dunkeln hinter einer benachbarten Gruft. Und die rothaarige Frau kam tatsächlich heraus, ihr Gang eher ein Gleiten, selbst im Schnee. Sie ging Richtung Tor. Ich konnte sie im mondlosen Sternenlicht nicht gut sehen, aber ihr Haar schien zerzauster als zuvor. Ihr Umhang war zerknittert. Etwas hielt mich davon ab, herauszuspringen und zu ihr zu gehen, um mit ihr zu reden, und ich blieb, wo ich war, bis ich hörte, wie draußen vor dem Tor der Motor ihres Wagens angelassen wurde.

Eine frische Brise war aufgekommen und wehte mir ins Gesicht. Ich muss gleich da rein, dachte ich. Aber ich rührte mich nicht. Falls sich Anzeichen von Erfrierungen bemerkbar machen sollten, würde ich mich drum kümmern. Scheiß drauf. Was machten schon ein paar Frostbeulen? Schmerzen? Ich kam mir ziemlich dämlich vor, sie nicht angesprochen zu haben, und wollte dafür Schmerzen spüren. Und zugleich wollte ich etwas nachprüfen, noch einen Blick ins Innere der Gruft werfen. Wer war dort überhaupt beigesetzt? War das Grab der Stein mit der Kerze darauf, oder befand es sich hinter der Tür in der zweiten Kammer?

Mit einem Kribbeln lief ich dorthin zurück. Die Kerze war aus, und in der Gruft war es pechschwarz. Aber in meinem Mantel war eine Taschenlampe, die ich für meine abendlichen Spaziergänge im Wald immer dabeihatte, und als ich sie anschaltete, sah ich, dass die Tür zur zweiten Kammer sperrangelweit offen stand. Ich richtete den Strahl auf die schwarze Steinplatte; da war nichts außer der erloschenen Kerze in dem schwarzen Glashalter. Keine eingemeißelten Worte, keine Symbole. Dann trat ich durch die offene Tür in die hintere Kammer, und der Strahl meiner Taschenlampe fiel auf einen Sarg. Weißer Stein. Ein Sarkophag. Ich ging näher ran, hielt die Taschenlampe ruhig und ließ den Lichtkegel und meinen Blick über die in Stein gemeißelten Zeichen wandern. Buchstaben und Ziffern. Die Zahlen waren Daten – 15. Juni 1969 bis 10. April 2011 –, die Buchstaben bildeten Worte, und unter den Worten war ein Name: June Hazzard. Es klingt bescheuert, aber das überraschte mich. Ich hatte etwas anderes erwartet.

Eine Frau war hier beigesetzt.