Kapitel 11
Freitag war ein trüber, bewölkter Tag. Genau richtig um nach Sausalito zu fahren.
Ich stellte den Lincoln auf dem Platz ab und meldete mich im Büro.
»Hallo, Fremder«, sagte Madeleine.
»Ich bin einen Tag nicht da und schon ein Fremder.«
»Du fehlst sonst nie, oder?«
»Wo ist Tad?«
»Er ist auf einen Kaffee gegenüber.«
Ich verließ das Büro und ging über den Platz. Andy saß mit überkreuzten Beinen auf der Erde, eine Dose weiße Farbe und einen Pinsel neben sich, und malte Weißwandreifen, wo vorher keine gewesen waren.
»Hast du den Champion abgeholt, Andy?«
»Da steht er.« Sein Daumen zeigte in Richtung des Wagens.
»Hat dir die Lady Ärger gemacht?«
»Sie sagte, dass Sie ihn eigentlich abholen wollten.«
Ich lachte und überquerte die Van Ness. Im Coffee Shop saß Tad vor einer dampfenden Tasse Kaffee und schrieb in sein kleines schwarzes
Buch.
»Dasselbe«, rief ich der Serviererin zu, »mit Milch.«
Tad knurrte mich an. »Verdammt, wo warst du gestern? Es war die Hölle los.«
»Ich habe versucht, den Lincoln Continental zu verkaufen.«
»Dann hättest du bloß zu kommen brauchen. Er war annonciert und sechs verschiedene Leute wollten ihn
sich ansehen.«
»Wenn einer von ihnen wirklich interessiert ist, wird er zurückkommen. Es ist ein seltener Wagen.« Die Serviererin brachte den Kaffee und ich versenkte drei Teelöffel Zucker darin.
»Tad, ich muss heute nach Sausalito fahren.«
»Okay. Wann wirst du zurück sein?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll’s. Nimm ruhig noch ’n freien Tag. Was geht’s mich an.«
»Morgen bin ich sicher wieder hier.«
»Verdammt klug von dir.«
Ich trank den Kaffee aus, rutschte vom Barhocker und wies auf Tad.
»Er übernimmt das«, sagte ich der Serviererin.
»Du Bastard!« rief Tad mir nach, als ich durch die Tür ging. Ich wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte über die Straße. Ich nahm die Schlüssel eines Pontiac vom Brett im Büro und überprüfte den Benzinstand — es war genug. Ich reihte mich in den Verkehrsstrom ein, und nach ein paar
Blocks fuhr ich links ab zur Golden Gate Bridge.
Sausalito ist ein kleines Städtchen, das sich auf der anderen Seite der Brücke in Marin County an einen Felsen klammert. Angler nutzen das Dock, und an den
Piers liegen die Yachten einiger gut Betuchter aus San Francisco. Es gibt ein
paar Hotels und Motels. Die Einwohner behaupten, dass Rita Hayworth in ihrer
Stadt einmal einen Film gedreht habe.
Von Sausalito aus hat man außerdem einen tollen Blick auf Angel Island.
Meine Tante Clara betreibt dort eine Pension, die sie von ihrem zweiten Ehemann
geerbt hat. Sie ist die älteste Schwester meiner Mutter und war schon immer überaus begeistert von mir. Vielleicht erinnere ich sie an ihren zweiten Ehemann.
Ich überquerte die Brücke und nahm die Abkürzung in die Stadt. Ich fand die richtige Straße, legte den ersten Gang ein und kletterte zehn Minuten den Hügel hoch. Ich hielt vor dem Haus meiner Tante, schlug die Vorderräder Richtung Bordstein ein und stieg aus dem Wagen. Da stand Tante Clara schon
an der Fliegengittertür, um nachzusehen, wer die Nerven hatte, ihre steile Straße hochzufahren. Ich winkte und grinste sie an. Zwei alte Frauen, die auf der
Veranda schaukelten, starrten mich neugierig an.
»Ich könnte ’ne Tasse Kaffee vertragen«, rief ich.
»Russell!« Tante Clara öffnete die Tür, küsste mich, und zog mich dann an der Hand ins Haus und in die Küche.
Beim Kaffee sprachen wir über die Familie. Ihren Jungen ging es gut, obwohl sie selten von ihnen hörte. Ich erzählte ihr, dass — soweit ich wusste — Mutter noch immer mit dem Produzenten in Los Angeles verheiratet war.
»Das ist eine traurige Sache«, sagte sie.
»Ich glaube nicht. Sie scheint durchaus glücklich.«
»Aber in Los Angeles zu wohnen muss schrecklich sein.«
»Nun, da hast du wohl Recht.«
»Wann wirst du heiraten, Russell?« Sie wechselte das Thema.
»Sobald ich einen Produzenten gefunden habe.« Ich grinste sie an.
»Du wirst auch nicht jünger.« Sie wurde ernst. Seltsam, wie viele Sorgen Frauen sich um unverheiratete Männer machen. Jetzt war es an mir, das Thema zu wechseln.
»Wie kommst du über die Runden, Tante Clara? Hast du genug Geld?«
»Ich brauche nicht viel Geld.«
»Jeder braucht viel Geld. Deswegen komme ich dich besuchen. Drüben in der Stadt wohnt ein Freund von mir, der hat seinen Sohn verloren.
Irgendwie ist er ein bisschen durchgedreht, wegen seines Kummers und so. Ich
will ihm für ein paar Wochen eine ruhige Umgebung verschaffen, bis er sich wieder erholt
hat. Glaubst du, dass du ihn aufnehmen könntest?«
»Es würde mich freuen. Ich habe nur noch die beiden auf der Veranda. Aber wenn sie es
den Hügel herunter schafften, hätte ich wahrscheinlich nicht mal mehr sie.«
»Er kann sogar arbeiten. Es täte ihm tatsächlich gut. Nichts Schwieriges, lass ihn den Rasen mähen, Äste kürzen, Holz hacken und solche Sachen.«
»Wer dich kennt — und ich glaube, ich kenne dich —, merkt, dass du was im Schilde führst.« Sie lächelte zwar, aber es war ernst gemeint.
Ich lachte. »Überhaupt nicht. Hier.« Ich öffnete meine Brieftasche und zählte fünfzig Dollar ab. »Er lebt bei seiner Tochter, aber sie arbeitet jeden Tag und kann nicht richtig für ihn sorgen, das ist alles.«
»Ich verstehe. Aber egal, bring ihn her.« Sie stopfte das Geld in ihre Schürzentasche.
»Feines Mädchen. Du bist meine Lieblingstante.«
»Das weiß ich. Wann wirst du diesen armen, alten Mann herbringen?«
»Heute Nachmittag.« Ich küsste sie und verabschiedete mich. Als ich die Verandatreppe hinunterging, lächelte ich die beiden alten Frauen an. »Wie geht’s den jungen Damen heute morgen?« Sie kicherten. Diese Umgebung war genau richtig für Salvatore.
Ich fuhr direkt zu Miller’s Autowerkstatt. Alyce war am Empfangstresen beschäftigt. Als sie aufsah und mich entdeckte, war sie überrascht.
»Nimm den Rest des Tages frei«, sagte ich.
»Das kann ich nicht, Russell. Der Boss wird mich nicht so einfach gehen lassen.«
»Sicher wird er. Sag ihm, du musst zum Zahnarzt.«
»Er wird mir einen Tag vom Lohn abziehen.«
»Das ist es wert. Komm schon. Ich warte da drüben in dem grünen Pontiac.«
Ein paar Minuten später stieg sie zu mir in den Wagen.
Ich fuhr zu ihrer Wohnung.
»Ich habe einen Job für Salvatore gefunden«, erzählte ich ihr.
»Aber ich habe dir doch gesagt, dass das allein meine Sache ist.«
Ich erklärte ihr, dass meine Tante einen Mann brauche, der ihr zur Hand gehe und sie ihm
fünfzig Dollar pro Monat zahlen werde, inklusive Kost und Logis. Nachdem ich ihr
gesagt hatte, wie hübsch und ruhig es in Sausalito sei, begann sie Interesse zu zeigen.
»Vielleicht wäre es das Allerbeste für ihn.«
»Natürlich wäre es das«, sagte ich. »Gönne ihm frische Luft, lass ihn in einem Garten arbeiten, und er wird ein neuer
Mensch.«
Salvatore war nicht so leicht zu überzeugen.
Es war das erste Mal, dass ich sehen konnte, wie er reagierte.
Natürlich war er ein kranker Mann. Alyce hatte nur ein paar Minuten mit ihm
gesprochen, als er stotternd protestierte.
»Hör mal, Salvatore«, Alyce ignorierte seinen Protest. »Es wird dir dort gefallen. Russells Tante Clara hat Interesse an dir und wird
dir das Leben so angenehm wie möglich machen. Du kannst im Garten arbeiten und wirst eine wunderbare Zeit
verleben.«
»Ich - ich - ich - ich werde nicht gehen.«
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu und versuchte, uns zu
ignorieren. Alyce bedeutete mir, den Raum zu verlassen. Sie folgte mir in die Küche.
»Es hat keinen Sinn, Russell. Ich kann ihn nicht zwingen zu gehen, wenn er nicht
will, oder?«
»Es ist nur zu seinem Besten. Du gehst ins Schlafzimmer und lässt mich mit ihm reden.«
»Wenn er auf mich nicht hört, wird er auf dich auch nicht hören.«
»Lass es mich wenigstens versuchen.« Sie zuckte die Achseln und ging in ihr Schlafzimmer. Ich schloss die
Wohnzimmertür hinter mir. Salvatore hatte seine Augen auf eine Parade marschierender
Zigaretten geheftet. Sie vollführten auf dem Bildschirm eine komplizierte Nummer. Ich ging direkt zum Fernseher
und schaltete ihn ab.
Ich stand vor dem Apparat. Er starrte mich an, blickte mir ins Gesicht, jedoch
nicht in die Augen. Sein Blick war eher statisch, aber aufmerksam, die Augen
eines Spatzen.
»Salvatore«, begann ich, »wie hat dir das Heim gefallen?«
»Ich - ich - ich mochte es nicht.«
»Dahin willst du also nicht zurück, oder?«
Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Es war merkwürdig, zu einem Mann seines Alters wie zu einem Kind zu sprechen. Er war nicht
groß, aber seine Schultern waren breit und kräftig, seine Hände schmal und abgearbeitet, seine Finger zitterten. Er hatte furchtbare Angst.
»Schau mal, Salvatore, jeder muss arbeiten. Das ist eines der Gesetze, mit denen
wir leben.« Ich bot ihm eine Zigarette an. Er nahm sie nicht. Ich zündete eine an und blies den Rauch Richtung Decke. »Weißt du, warum sie dich gefeuert haben?« Er antwortete nicht. »Weil du verrückt bist.«
»Ich - ich - ich habe mehr gearbeitet als jeder andere«, protestierte er hastig.
»Das mag sein«, unterbrach ich ihn, »aber du bist verrückt. Niemand will mit dir arbeiten. Sie wollen, dass du zurückgehst.« Ich zeigte dramatisch in die nördliche Richtung. »Alyce und ich, wir wollen nicht, dass du zurückgehst, deshalb haben wir einen Job für dich gefunden, dort, wo dich niemand kennt. Nach ein paar Wochen, wenn sich
die Dinge beruhigt haben, werden wir dir einen anderen Job auf einer anderen
Werft verschaffen. Das würde dir doch gefallen?«
»Ich kann mehr arbeiten als irgendjemand sonst!« Wie eine Schallplatte mit Sprung.
»Natürlich kannst du das. Aber wenn du den Job bei meiner Tante nicht annimmst,
werden Männer in weißen Kitteln in dieses Haus kommen. Sie stecken dich in einen großen, schwarzen Wagen und bringen dich zurück. Dahin.« Ich zeigte mit dem Finger wieder in dieselbe Richtung.
Er schauderte.
»Dort wirst du in ein kleines Zimmer mit vergitterten Fenstern gesteckt. Kein
Fernseher. Kein Radio. Nichts. Es wird dunkel sein dort drin. Kein Licht. Gar
nichts. Verstehst du?«
»Vor - vor - vor - vorher waren viele Männer mit mir zusammen. In - in - in einem großen Saal, und — « Er wollte mich überzeugen.
»Dieses Mal nicht. Das war früher. Dieses Mal wirst du in eine kleine Zelle gesteckt. Ganz allein.«
Während ich an meiner Zigarette zog, ließ ich ihn alles überdenken.
»Denk dran, Salvatore. Damit du nicht zurückmusst, musst du arbeiten. Du kannst nicht ohne Arbeit herumlungern. So lautet
das Gesetz. Meine Tante wird dich gut versorgen. Es wird dir gefallen.«
»K-k-kann ich meinen Fernseher mitnehmen?«
»Natürlich kannst du das. Du ziehst die Kabel heraus und ich sag es Alyce.« Ich verließ das Zimmer und schloss die Tür.
Im Schlafzimmer sagte ich Alyce, sie solle seine Sachen packen.
»Er will wirklich gehen?« Alyce war skeptisch.
»Natürlich will er. Pack seine Sachen. Er montiert gerade den Fernseher ab.«
Salvatore hatte nicht viel, das meiste war Arbeitskleidung; Jeans, T-Shirts und
Arbeitshemden. Er besaß einen guten, teuren Anzug, und Alyce sagte ihm, er solle den anziehen. Er
passte ihm nicht besonders. Als er angefertigt wurde, hatte er am Schreibtisch
gearbeitet, offensichtlich ausgestattet mit dem entsprechenden Bauch, denn die
Hose hing jetzt lose an ihm herunter und das Jackett spannte über den Schultern. Die harte Arbeit auf der Werft hatte ihm gut getan.
Sein Gehirn war von Bakterien zerfressen, physisch jedoch war er sicherlich
fitter als je zuvor.
Unten warf ich den Koffer in den Kofferraum. Umständlich setzte sich Salvatore auf den Rücksitz, den Fernseher auf dem Schoß. Er würde in Sausalito ohne Antenne keinen Empfang haben, aber das behielt ich für mich. Während der Fahrt erzählte ihm Alyce immer wieder, wie sehr es ihm bei Tante Clara gefallen werde. Sie
bemerkte nicht, dass sie im Grunde versuchte, sich selbst davon zu überzeugen. Salvatore achtete kaum auf sie. Er war mehr an der Aussicht
interessiert und zeigte auf die Schiffe, als wir die Brücke überquerten.
Als ich die 101 Richtung Sausalito verließ, fing es an zu nieseln. Nachdem ich langsam im ersten Gang zu Tante Claras Haus
hinaufgekrochen war, regnete es heftiger, und wir drei wurden nass, als wir die
kurze Entfernung vom Auto zur Veranda zurücklegten.
Tante Clara nahm sich sofort der Dinge an und verfrachtete Salvatore in ein
Schlafzimmer im ersten Stock, das nach vorn hinausging. Ich brachte Alyce so
schnell wie möglich weg, bevor Tante Clara zu viele Fragen stellen konnte.
Auf dem Weg zurück in die Stadt regnete es in Strömen und auf der Brücke blies ein kräftiger Wind. Alyce verlor die Fassung. Das war der Zusammenbruch, der der ganzen
Aufregung folgte. Sie weinte immer wieder und ich versuchte, sie zu trösten.
»Du musst zugeben, dass es das Beste ist, Alyce. Und er ist nicht zu weit weg.
Von Zeit zu Zeit kannst du hinüberfahren und ihn besuchen. Allmählich schränkst du die Besuche ein. In ein paar Monaten wird er dich nicht mehr brauchen.
Der erste Bruch ist immer hart, aber es ist zu seinem eigenen Besten und sicher
auch zu deinem.« Ich betrachtete den Sachverhalt logisch, sie aber betrachtete ihn wie eine
Frau.
»Er sah bemitleidenswert aus, wie er vom Fenster aus winkte.« Diese Bemerkung erzeugte eine neue Flut von Tränen. Ich war froh, als wir vor ihrem Haus ankamen.
Ruthie war zu Hause. Sie machte Kaffee, und wir tranken ihn im Wohnzimmer. Dabei
erklärte ich ihr die Sache. Sie war entzückt.
»Das ist das Klügste, das du je getan hast, Alyce«, sagte sie. »Es wird Zeit, dass du ein eigenes Leben lebst. Ich muss Ihnen gratulieren,
Russell. Sie haben ein bisschen Vernunft in ihren Kopf gebracht.« Sie wippte mit ihren rot gefärbten Locken.
Ich schwieg. Alyce hatte sich beruhigt.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, dass es das Beste ist. Es ging alles so
schnell. Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Alyce starrte in ihre Tasse, als hätte sie dort eine Fliege entdeckt.
»Warum überlässt du nicht Russell das Denken?« sagte Ruthie. »Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass eine Frau einen Mann
braucht, der ein paar Dinge für sie in die Hand nimmt.«
Ich sprang auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.« Angesichts des emotionalen Zustandes, in dem Alyce sich befand, war es das Klügste, sie allein zu lassen. So konnte sie über alles nachdenken. Mit Ruthie als Unterstützung musste ich mir keine Sorgen machen.
Alyce begleitete mich nach unten. Ich küsste sie. Sie lächelte tapfer.
»Kann ich dir zumuten, das Leben für mich in die Hand zu nehmen? «
»Für immer. Du weißt, dass du dich darauf verlassen kannst.«
»Eigentlich müsste ich das Gefühl haben, eine Last wäre von meinen Schultern gefallen. Aber irgendwie fühlt es sich schwerer an denn je.«
»Du bist einfach nur erschöpft, das ist alles. Schlaf ein bisschen. Iss was Vernünftiges, hör dir ein paar Platten an und grübel nicht. Geh früh ins Bett, und morgen, nach der Arbeit, besuche ich dich. Denk immer nur daran:
Du fängst dein Leben noch mal von vorn an. Ganz von vorn.«
»Ich werd’s versuchen.«
»Na also.«
Ich küsste sie wieder, zärtlich.
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sie versuchte zu antworten. Zumindest war sie entspannt.
Als ich in den Regen fuhr, stand sie im Türrahmen und winkte.
Kapitel 12
Zu Hause setzte ich mich in den Sessel am Fenster. Ich sah dem Regen zu, der auf
den vernachlässigten Hinterhof prasselte. Das Apartment sah ordentlich aus. Mrs. Wren hatte
ganze Arbeit geleistet. Mit etwas Glück würde alles ein, zwei Wochen so bleiben. So allein, war das Leben sehr nett. Es
gab keinen Ärger. Das Leben war so einfach.
Ich rief meinen Lebensmittelhändler an und bestellte ein paar Sachen. Während ich auf den Botenjungen wartete, schlüpfte ich in Pyjama und Hausmantel. Ich stopfte meine Pfeife, stellte einen
Stapel Oscar-Peterson-Platten zusammen und legte sie auf den Plattenwechsler.
Ich lauschte dem wunderbaren Klavier, rauchte meine Pfeife und war eins mit mir
und der Welt. Alles lief nach Wunsch.
Der Botenjunge klingelte. Er war völlig durchnässt.
»Wohin möchten Sie es haben, Mr. Haxby?«
»Bring die Kiste einfach in die Küche.« Er stellte den feuchten Pappkarton mit Lebensmitteln auf den Frühstückstisch.
»Es gießt in Strömen, Mr. Haxby«, sagte er.
»Hast du keine Mütze?« Sein dickes, bräunliches Haar sah aus wie ein Wischmop.
»Nein, Sir.«
Ich ging ins Schlafzimmer, nahm fünf Dollar aus meiner Brieftasche und gab sie ihm.
»Hier. Kauf dir um Himmels Willen eine Mütze.«
»Vielen Dank, Mr. Haxby.«
»Möchtest du einen Drink?«
»Lieber nicht, Mr. Haxby. Aber trotzdem vielen Dank.« Er verschwand, Tropfen auf der Treppe hinterlassend. Es ist hart, jung zu sein.
Ich war froh, dreiunddreißig zu sein und mich nicht mehr durch diese elenden Jahre kämpfen zu müssen.
Ich räumte die Lebensmittel weg. Es war wirklich zu früh zum Essen, also ließ ich mir viel Zeit mit der Zubereitung. Unter den bestellten Sachen waren auch
gefrorene Erdbeeren. Ich machte einen Erdbeer-Pie. Das Dinner gelang mir großartig. Schweineschnitzel, Hafergrütze mit Bratensoße, danach den Pie und jede Menge Schlagsahne.
Nach dem Essen nahm ich Ulysses zur Hand und las noch einmal die Penelope-Episode. Ich las das Kapitel zu Ende
und warf das Buch dann genervt auf den Boden. Joyce ist so verdammt clever,
dass es mich manchmal ärgert, Ulysses zu lesen. Diese brillant gewählten Worte, verdreht und gewendet, bahnen sie sich ihren Weg unaufhaltsam in
unser Bewusstsein und winden sich hinein wie Schlangen.
Ich trank einen doppelten Gin und ging ins Bett.
Zuerst dachte ich, es sei der Wecker, dann begriff ich, dass es das Telefon war.
Ich ließ es eine Weile klingeln, in der Hoffnung, es würde aufhören, aber es klingelte hartnäckig weiter. Es war Alyce.
Auf meiner Uhr sah ich, dass es fünf war.
»Ja, Alyce. Was ist los?«
»Salvatore ist wieder da.« Sie klang völlig aufgelöst.
»Wie konnte er aus Sausalito weg?«
»Die Polizei hat ihn gerade hergebracht.«
»Erzähl mir alles von vorn.« Ich versuchte, nicht genervt zu klingen.
»Er ist den ganzen Weg zu Fuß gegangen. In diesem Regen. Offenbar hat er gewartet, bis deine Tante
eingeschlafen ist, dann hat er das Haus verlassen, mit dem Fernseher. Er hat
seinen Mantel über den Fernseher ge-legt, damit er nicht nass wird. Die ganze Zeit hat er ihn
getragen, den ganzen Weg über die Brücke. An der Mautstelle haben sie ihn angehalten, und natürlich hatte er kein Geld dabei. Ich nehme an, dass Salvatore dem Beamten verdächtig vorgekommen ist. Sie haben ihn festgehalten, bis die Polizei gekommen ist.«
»Geht’s ihm gut?«
»Seine Nase läuft und er hustet. Er war völlig durchnässt. Ich habe ihm eine heiße Zitrone gemacht und eine Codein-Tablette gegeben, dann habe ich ihn ins Bett
gesteckt.«
»Ich komme vorbei und hole ihn. Wenn ich ihn nicht nach Sausalito zurückbringe, wird sich meine Tante Sorgen machen.«
»Oh nein. Nicht sofort. Es ist besser, er bleibt. Ich gehe morgen auch nicht zur
Arbeit. Möglich, dass er noch eine Lungenentzündung bekommt.«
»Ich bin in ein paar Minuten da.« Ich legte auf.
Manchmal laufen die Dinge eben so. Tante Clara hatte kein Telefon, also rief ich
die Western Union an und telegraphierte ihr, Salvatore Vitale gehe es gut,
unterzeichnet: In Liebe, Russell.«
Ich zog mich an, warf den Trenchcoat über und setzte einen alten Filzhut auf. Ich jagte den Pontiac durch die nassen
Straßen zu Alyces Wohnung.
Ruthie öffnete und ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Stanley saß im Sessel, bereits angezogen, und trank Kaffee. Alyce ging nervös auf und ab. Sie trug kein Make-up und sah verheult aus. Ihre Oberlippe war
ziemlich schmal. Merkwürdig, dass mir das nie aufgefallen war. Ruthie ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen.
»Ich kann die Bullen einfach nicht ausstehen«, sagte Stanley. »Es ist nun mal beunruhigend, wenn man um halbfünf am Morgen die Polizei sieht.«
»Warum?« fragte ich. »Was haben Sie verbrochen?«
»Vergessen Sie nicht: Ich bin ein verheirateter Mann.«
Er schüttelte traurig den Kopf.
Alyce krallte sich in die Aufschläge meines Trenchcoats und blickte mir in die Augen.
»Oh Russell, was sollen wir jetzt tun?«
»Setz dich. Es wird alles wieder gut.« Ich schob sie in einen Sessel und zog den Mantel aus. Ruthie brachte mir den
Kaffee und lachte.
»Sie hätten hier sein sollen, Russell. Stanley sollte sich bei der Feuerwehr bewerben.
Ich hab noch nie im Leben gesehen, dass ein Mann sich so schnell angezogen hat.« Sie lachte wieder.
»Daran ist überhaupt nichts komisch«, rief Stanley.
»Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen«, riet ich ihm.
»Ich glaube auch, es wäre besser.« Er war dankbar für den Ausweg. Stanley und Ruthie verließen das Zimmer. Ich schlürfte den Kaffee, stellte die Tasse auf dem Kaminsims ab und setzte mich Alyce
gegenüber auf einen Stuhl.
»Was ist los, Baby?«
»Es war ein großer Fehler. Ich weiß, du hast es gut gemeint, Russell, aber es ging alles zu schnell. Bei einer so
wichtigen Entscheidung will alles gut überlegt sein. Ich hätte es nicht zulassen sollen, dass du mich so drängst. Mir blieb überhaupt keine Zeit zum Nachdenken. Du kannst es nicht nachvollziehen, das ist
es. Er ist ein kranker Mann.«
»Er wird keinerlei Fortschritte machen, wenn er in der Wohnung bleibt und wie ein
Baby behandelt wird. Wie, stellst du dir vor, soll er wieder auf die Beine
kommen?«
»Schon möglich, dass es gut für ihn ist, bei deiner Tante zu sein, aber wir dürfen es nicht so überstürzen. Wenn wir uns einige Wochen Zeit nehmen, um ihn auf die Veränderung vorzubereiten, ihn überzeugen, wäre es vielleicht eine andere Geschichte. Gerade jetzt ist Sicherheit für ihn das Wichtigste auf der Welt.«
»Ich sag dir jetzt etwas, was ich mir eigentlich für später aufgehoben habe, Alyce. Auch mir ist Sicherheit wichtig. Ich will, dass wir
heiraten — und zwar so bald wie möglich.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Glaubst du, ich könnte dich glücklich machen?«
»Du bist alles, wonach ich gesucht habe, Alyce. Ich will dich heiraten, will dich
aus dieser verdammten Autowerkstatt rausholen, dich in eine Schürze stecken und sehen, wie du mich mit diesem süßen, tragischen Lächeln begrüßt, wenn ich von der Arbeit komme.«
Sie zeigte mir dieses tragische Lächeln.
»Das klingt wunderbar.« Sie wandte den Kopf ab. »Aber ich sehe nicht, wie wir ...« Ihre Stimme verlor sich im Nichts.
»Uns stehen alle Möglichkeiten offen.«
Ruthie trat ein.
»So, Stanley ist zu seiner Frau nach Hause gegangen«, kam es bitter.
»Ruthie«, sagte ich, »bringen Sie Salvatore herein.«
»Was hast du vor?« fragte Alyce.
»Ich rede mit ihm und dann wird er noch heute nach Sausalito zurückkehren, nicht erst in drei Monaten.«
»Russell, ich kann nicht zulassen, dass du das tust. Du weißt nicht, wie man mit ihm umgehen muss. Lass es mich bitte auf meine Weise
machen.«
»Besser, du lässt es Russell auf seine Weise machen«, schnarrte Ruthie. Sie verließ das Zimmer.
»Bitte, Russell«, sagte Alyce, »jag ihm keine Angst ein.«
»Ich werde ihm keine Angst einjagen, ich werde ihm nur die Sache erklären.«
»Aber er wird es nicht verstehen. Du erreichst nur, dass ...«
Ich sah ihr in die Augen. Es war ein Duell. »Geh, hilf Ruthie«, befahl ich ihr.
»Okay!« Sie stand auf und verließ das Zimmer. Ich trank meinen Kaffee aus. Er war kalt.
Ein paar Minuten später brachten sie Salvatore in Flanellpyjama und Hausschuhen herein. Er schnaufte
und stammelte Protest. Als er mich sah, hörte er auf zu stammeln und wich zurück an die Wand, starr und voller Furcht.
»Ich will allein mit ihm reden«, sagte ich. Die Frauen gingen, Alyce warf mir einen letzten, flehentlichen
Blick zu. Ich schloss die Tür hinter ihnen.
»Was war in Sausalito los, Salvatore?« Er antwortete nicht. Ich nahm mein Messer aus der Tasche, zog die Klinge heraus
und fing an, meine Fingernägel zu reinigen. »Hat’s dir dort nicht gefallen? Was war los? Hat der Fernseher nicht funktioniert?
Erinnerst du dich, was ich dir gestern gesagt habe? Gut, ich erzähl’s dir noch einmal. Du musst nicht nach Sausalito zurückkehren. Du gehst stattdessen ins Heim zurück.«
Ich lächelte ihn an. Sein Körper zitterte heftig.
»Willst du etwa nicht dorthin zurück, Salvatore?« Ich zeigte mit dem Messer in die Himmelsrichtung.
Er schüttelte unkontrolliert den Kopf, schließlich stotterte er es heraus.
»N-n-n-nein!«
Ich zeigte auf das Panoramafenster.
»Dann SPRING!« rief ich.
Stattdessen griff er mich an. Er streckte die Hände aus und langte nach meiner Kehle. Ich stach ihm in seine rechte Handfläche und trat dann zurück. Das nahm ihm allen Kampfwillen. Die verletzte Hand gegen die Brust gepresst,
beobachtete er, wie das Blut von seiner Flanelljacke aufgesogen wurde wie Tinte
von Löschpapier.
Ich wies wieder auf das Fenster.
»Spring«, schrie ich. Er hörte mich nicht. Er schlurfte zu seinem Lieblingssessel und ließ sich fallen. Schnell bewegte ich meine Hand vor seinen Augen auf und ab. Er sah
sie nicht. Ich beugte mich dicht an sein Ohr.
»Feuer!« rief ich. Er hörte es nicht. Ich fühlte seinen Puls. Etwa sechzig Schläge. Salvatore würde wahrscheinlich ewig leben, aber in einem Heim.
Ich steckte mein Messer weg, ging zum Fenster und trat die Scheibe ein. Das Glas
zersplitterte, ein Teil fiel auf die Straße, der Rest zu Boden. Alyce und Ruthie kamen ins Zimmer.
»Er wollte rausspringen«, sagte ich.
Alyce bemerkte sofort die Schnittwunde und rannte aus dem Zimmer, um den
Verbandskasten zu holen. Ich zog meinen Mantel an und setzte den Hut auf.
»Ruthie«, sagte ich, »besorgen Sie ihm um Himmels Willen einen Platz im Heim und sorgen Sie dafür, dass er diesmal dort bleibt.«
»Das hätte schon vor langer Zeit geschehen müssen.«
»Ich gehe nach Hause. Kümmern Sie sich jetzt um alles.«
»Ich weiß, was zu tun ist.«
»Okay. Bringen Sie Alyce ins Bett.«
Ich fuhr den Pontiac zurück in den Laden, und nahm ein Taxi nach Hause. Nachdem ich die Vorhänge geschlossen hatte, um die anbrechende Dämmerung auszuschließen, ging ich zu Bett. Ich konnte mindestens noch zwei Stunden schlafen, bevor
ich zur Arbeit musste.