ISBN: 978-3-99074-074-3
1. Auflage 2019, Marchtrenk, Österreich
© 2019 Verlag federfrei
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Umschlag: Wolfgang Kraml
Umschlagbild: kitsana ©fotolia
Autorenfoto: Claudia Kraml
Satz und Layout: Verlag Federfrei
Die Handlung, Namen und Personen in diesem Krimi sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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Wer an einem Tag reich werden will,
wird in einem Jahr gehängt.
Leonardo da Vinci, italienisches Universalgenie
Verzweifelt kämpfte Josef Vierziger gegen den Schlaf an. Gegen die Müdigkeit, die ihn in den letzten Stunden immer stärker umklammerte und sich bei jedem Atemzug fester um ihn legte.
Er kämpfte gegen die Übelkeit an, die aus seinen Eingeweiden aufstieg. Die sich aus der von Desinfektionsmitteln, Fäulnis und Krankheit geschwängerten Luft nährte.
Und er kämpfte gegen seine Angst, der er sich hilflos ausgeliefert sah.
Er versuchte zu begreifen, wie geschehen konnte, was geschehen war. Der Abend hatte so vergnüglich begonnen … und so friedlich. Gemeinsam mit Gaby und ihrem Freund Giovanni hatten sie in Nikos Taverne für eine tragfähige Unterlage gesorgt, bevor sie zu einer langen Tour durch die Altstadt aufgebrochen waren. Lang, fröhlich und – wie Vierziger zugeben musste – auch ein wenig feucht. Zu feucht, vielleicht.
Vielleicht hätte er doch das eine oder andere Glas weniger trinken sollen.
Vielleicht hätte er dann alles verhindern können.
Vielleicht!
Aber dafür war es jetzt zu spät.
Seit einer halben Ewigkeit saß er schon auf dieser harten Bank vor dem Operationssaal und büßte die Sünden seiner letzten zehn Jahre ab. Auf der anderen Seite des Ganges öffnete sich die metallene Schiebetür und gab dabei ein kurzes asthmatisches Pfeifen von sich. Eine Krankenschwester in voller OP-Montur kam heraus. Erwartungsvoll sprang er auf. Sie sah ihn nur kurz an, zuckte mit den Schultern und eilte davon. Enttäuscht setzte sich Vierziger wieder hin. Er senkte den Blick auf den Boden, auf die Spitzen seiner Schuhe und auf die Pfützen, in die sich der von den Sohlen schmelzende Schnee verwandelt hatte. Als ob er hoffte, in den schwarzen Untiefen dieser kleinen Seen eine Antwort zu finden.
Weit nach Mitternacht war Conny auf diese glorreiche Idee gekommen: eine Stripteasebar!
Es ließ sich nicht leugnen, dass seine Freundin zu diesem Zeitpunkt schon um mindestens ein Glas Champagner zu viel hatte … möglicherweise auch zwei.
„Mein lieber Vierziger“, hatte sie gemeint, „mit meinem Alter bin ich jetzt reif genug für so was! Jawolll!“
Tatsächlich Jawolll, mit drei »L« am Schluss. Jawolll! Vierziger war das peinlich, aber sie ließ sich die Sache nicht ausreden. Und was sollte er machen, es war schließlich ihr Geburtstag … noch dazu ein halbrunder.
„Wer weiß, vielleicht lern ich da noch was auf meine alten Tage, mein Lieber!“
Es hatte zu schneien begonnen, für Ende Februar nicht ganz ungewöhnlich. Vierziger wäre lieber nach Hause gegangen. Aber der Gedanke hatte sich in Connys Kopf festgesetzt. Nicht einmal eine bis an die Zähne bewaffnete römische Legion hätte sie davon abbringen können. „Du kannst dir ja schon einmal die Speisekarte anschauen – für später dann“, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, so laut, dass es auch für Gaby und Giovanni nicht zu überhören war.
Giovannis mit glänzenden Augen vorgebrachtes „Warum nicht!“ war von Gaby mit einem „Wir müssen früh aus den Federn!“ energisch abgeschmettert worden.
„Da könnt ihr zwei Turteltäubchen ruhig alleine hingehen!“, hatte sie gegiftet, bevor sie, Giovanni hinter sich herschleppend, abgezogen war.
Man konnte Conny bestimmt keinen übertriebenen Hang zur Prüderie nachsagen, von ihrer Reaktion auf die Darbietung der Mädchen war er dann aber doch überrascht. Schon nach einer guten halben Stunde hatte sie ihn unmissverständlich davon überzeugt, dass sie dringend und ganz schnell nach Hause mussten. Der Rest des Champagners – oder vielmehr das, was in diesem Etablissement dafür ausgegeben wurde – war auf dem Tisch stehen geblieben. Durch die frisch verschneite Gasse, die aus der Altstadt auf den Hauptplatz führte, waren sie fast gerannt. Um kurz vor vier Uhr früh war kaum noch jemand unterwegs gewesen. Lediglich ein paar Meter vor ihnen hatte sich ein Mann genau wie sie durch den schon gut zehn Zentimeter dicken, pappig-klebrigen Neuschnee gekämpft.
In einer der Pfützen vor seinen Schuhspitzen blitzte ein Lichtreflex auf. Unter der schwarzglänzenden Oberfläche des geschmolzenen Schnees setzte sich ein Film in Gang. Unwirklich verzerrt wie in der Kristallkugel einer Wahrsagerin, in bizarren Farben und quälend langsam sah Josef Vierziger noch einmal mit an, was da vor ein paar Stunden geschehen war. Der Mann vor ihnen hatte sich gerade gebückt, um an seinen Schuhbändern herumzunesteln, als dieser Lichtblitz am Ende der schmalen Gasse aufleuchtete. Unmittelbar darauf war Conny getaumelt und schließlich gestürzt. Dann der zweite Blitz. Die Mündungsfeuer einer Schusswaffe, soviel war Vierziger sofort klar gewesen, auch wenn er den Knall der beiden Schüsse nicht hören konnte. Nicht einmal jetzt, wo diese Bilder in Zeitlupe an ihm vorüberzogen, konnte er den Ablauf der Ereignisse richtig einordnen. Hatte sich der Mann vor dem ersten Schuss gebückt oder erst danach? War er wieder aufgestanden? Der Schütze musste in einer der Nischen gestanden haben, die in dieser unregelmäßig bebauten Altstadtgasse ausreichend vorhanden waren. Vierziger konnte nicht sagen, ob jemand weggelaufen war, Schritte waren ihm jedenfalls nicht aufgefallen. Und selbst wenn es welche gegeben hätte, der frische Schnee hätte sie verschluckt. Bei der Befragung, die im Laufe des Tages unvermeidlich war, würde er einen lausigen Zeugen abgeben! Der Anruf bei seiner Kollegin Gaby war das Einzige, an das er sich vage erinnern konnte. Danach hatte er sich nur mehr um Conny gekümmert. Versucht, das viele Blut zu stoppen, das ein paar Zentimeter unter ihrer linken Schulter durch den Mantel drang und sich auf dem hellen Stoff ausbreitete. Er musste wohl mit in den Rettungswagen gestiegen sein – aber auch daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
Seit einer halben Ewigkeit saß er jetzt also schon auf dieser harten Bank vor dem Operationssaal und hoffte inständig auf das medizinische Wunder, das es zweifellos bei einer Schusswunde in der Nähe des Herzens brauchte.
Vom alten Theater her kommend bog Gaby Glück auf den Hauptplatz ein. Noch immer fielen dicke Flocken vom Himmel und legten sich wie ein weißes Tuch über die Stadt. Sie hatte eine ungefähre Ahnung, was sie erwarten würde. Die Armada von blinkenden Lichtern, die in diesen frühen Morgenstunden das nördliche Ende des barocken Platzes in eine Freiluft-Disco verwandelte, ließ sie noch Schlimmeres befürchten. Ihr Chef hatte lediglich: „Komm sofort – Conny – alles voller Blut!“ gestammelt. Gerade dass sie ihm entlocken konnte, wo er zu finden war. Einer der beiden Rettungswagen setzte sich in Bewegung. Obwohl die Straße inzwischen von einer dünnen Schicht Eis und darüber gut fünfzehn Zentimetern Schnee bedeckt war, raste das Fahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht gegen die Einbahn in Richtung Fußgängerzone. Das bedeutete, wenigstens keine Toten. Bis jetzt. Vielleicht. Zumindest hoffte Gaby das.
Noch bevor sie aus dem Bett gesprungen war, hatte sie erst den Notarzt und dann das Polizeirevier im Regierungsgebäude, das höchstens dreihundert Meter vom Tatort entfernt lag, alarmiert. Zwei quer zur Straße stehende Funkstreifen blockierten daher jetzt den Weg in die Altstadt, dahinter das Auto des Notarztes und ein Rot-Kreuz-Fahrzeug. Auf ihren Dächern rotierten blaue Einsatzleuchten. Das Schloss am Ende der Hofgasse war nur mehr eine Erinnerung hinter dem dichten Vorhang aus Schnee. Gaby ließ ihren rosa Mini direkt vor den ersten beiden Streifenwagen stehen. Für den Beamten, der davor Wache hielt, war das Blaulicht auf ihrem Auto Legitimation genug, um sie unter den rot-weiß-gestreiften Bändern der Polizeiabsperrung durchschlüpfen zu lassen. Sie rannte in die Gasse hinein, auf die verbliebene Ambulanz zu. Um die uniformierten Kollegen, die weiter vorne Spuren im Schnee fotografierten, konnte sie sich später kümmern. Das Licht im Inneren des Wagens war so grell, dass sie sich für einen Moment die Hand vor ihre Augen halten musste. Zwei Männer kümmerten sich um den Patienten auf der fahrbaren Trage. Conny. Gaby erkannte den schwarzen Haarschopf mit der dunkelroten Strähne an der Stirn sofort. Und den hellen Mantel, den sie erst zwei Wochen zuvor in Venedig gekauft hatte. Oben auf der linken Seite mit Blut besudelt und auch sonst ganz verdreckt – der war ruiniert, vollkommen hinüber, ein Fall für die Mülltonne. Auch das erkannte Gaby auf den ersten Blick.
„Raus, aber schnell!“, blaffte einer der beiden Männer.
„Wie gehts ihr?“ Sie hielt dem Arzt – wenigstens nahm sie an, dass es der Arzt war – ihren Dienstausweis unter die Nase.
„Höchstens drei Zentimeter über dem Herz, wie solls ihr da schon gehen?“ Er brauchte nicht erst extra zu erwähnen, was da knapp über Connys Herz war.
„Und, warum seid ihr dann noch da und nicht schon lange im Krankenhaus?“
„Weil ich sie zuerst stabilisieren muss, damit sie überhaupt transportfähig ist! In dem Moment, wo Sie aussteigen, fahren wir los – und darum: Raus jetzt, aber ein bisschen plötzlich!“
„Was ist mit ihm?“ Ihr Chef saß apathisch auf einem Stuhl im hinteren Teil des Krankenwagens, eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht, genau wie Conny auch. Der Sanitäter neben ihm hielt in jeder Hand einen Tropfbeutel mit einer klaren Flüssigkeit. Einer der Schläuche endete in Connys Arm, die Nadel am Ende des anderen Schlauchs steckte in Vierzigers Handrücken.
„Dem ist nichts passiert. Nur der Schock, ist aber trotzdem jetzt nicht ansprechbar!“, sagte der Arzt.
„Wann kann ich mit ihm reden?“
„In zwei Stunden. Vielleicht. Und jetzt raus!“
Bevor Gaby die Tür zuschlug, drehte sie sich noch einmal um: „Wo bringen Sie die beiden hin?“
„Zu den Brüdern.“
Der Rettungswagen fuhr langsam an der Funkstreife vorbei und raste dann davon, den gleichen Weg, den vorhin schon die andere Ambulanz genommen hatte – ins Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, kaum einen Steinwurf vom Neuen Dom entfernt. Hoffentlich war die Nähe zu dem Gotteshaus wenigstens ein gutes Omen. Gaby wandte sich dem uniformierten Kollegen an der Absperrung zu.
„Was war los, als ihr hergekommen seid?“
„Also, der eine ist da drüben gelegen, schwere Kopfwunde.“ Er zeigte auf einen großen dunklen Fleck im niedergetrampelten frischen Schnee, vielleicht fünfzehn Meter vom Anfang der Gasse entfernt. „Die Frau lag ein Stück weiter hinten.“ Sein Arm wies auf einen zweiten dunklen Fleck. „Der andere Mann ist auf dem Boden gesessen und hat ihren Kopf gehalten.“
„Und?“
„Nichts und. Die Notarztwagen sind nur ein paar Sekunden nach uns gekommen. Die Sanis haben sich dann um die drei gekümmert. Ich hab den Tatort gesichert und die Kollegen haben die paar Neugierigen wieder in die Lokale zurückgescheucht. War bei dem Sauwetter nicht schwer.“
Das Mitteilungsbedürfnis des jungen Beamten – Gaby schätzte ihn auf höchstens einundzwanzig, also gerade einmal der Polizeischule entkommen – hielt sich in ziemlich engen Grenzen. Vielleicht war aber auch nur sein Sprachzentrum im Sparmodus, sozusagen kältebedingt ausgefallen. Das konnte sich bei Männern, die ohnehin schon nicht für ihre Redefreudigkeit berühmt waren, zum großen Schweigen auswachsen. Da hatte sie geradezu Glück gehabt, dass ihr Exemplar überhaupt etwas von sich gab. Wo blieb bloß Franz Hintringer mit seinen Leuten? Ihm hatte ihr dritter Anruf gegolten, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte. Er hätte schon längst da sein müssen! Dieses Mal war sie ganz auf sich alleine gestellt, ihr Chef war ja selbst fast eines der Opfer. Nicht, dass sie sich so eine Ermittlung nicht zugetraut hätte … trotzdem! Scheiße!
„Übrigens, der andere Mann, wie du ihn genannt hast, der bei der Frau im Schnee gesessen hat – das ist Major Vierziger von der Mordkommission. Nur so zur Information, womit wir es hier zu tun haben: ein Anschlag auf einen Kollegen!“ Gaby wusste nicht genau, was sie damit sagen wollte, schließlich konnte der Polizist ja auch nichts dafür. Am liebsten wäre sie zu der Stelle marschiert, an der es Conny erwischt hatte. Soweit hatte sie sich aber doch im Griff, dass sie auf die Spurensicherung wartete, statt ziellos auf dem Tatort herumzutrampeln.
„Woher soll ich das wissen, der hat ja nichts gesagt.“
Der Mannschaftswagen der Spurensicherung bewahrte ihn vor der Entladung des Gewitters, das angesichts seiner Antwort hinter Frau Glücks Stirn aufgezogen war. Gaby wandte sich kopfschüttelnd und eine Verwünschung nuschelnd ab, um Franz Hintringer entgegenzugehen. Sie wunderte sich jedes Mal wieder, wie fix er seine gut hundertfünfzig Kilo Kampfgewicht zu bewegen verstand.
„Was ist mit dem Josef?“, keuchte er schon von Weitem.
„Dem Josef ist nichts passiert, aber die Conny hat eine Schusswunde knapp oberhalb vom Herz. Und da gibts einen zweiten Verletzten, über den weiß ich aber noch nichts. Sind alle drei schon im Krankenhaus.“
Ihr fiel ein, dass sie keine Ahnung hatte, wohin das zweite Opfer gebracht worden war.
„Wo?“, fragte Hintringer.
Gaby wies auf die Stelle vor dem blauen Haus an der linken Seite der Gasse mit dem dunklen Fleck im Schnee. Das Gebäude beherbergte das älteste Wirtshaus der Stadt. Um diese Zeit war dort natürlich alles stockfinster, die Küche schloss um neun oder zehn Uhr abends, von da an rührte sich nichts mehr bis zum nächsten Vormittag. Ein breit ausgetretener Trampelpfad führte genau dorthin, die Fußspuren des Rettungsteams und ihre eigenen. Die zweite Blutlache breitete sich weiter vorne, fast genau in der Mitte der Gasse aus. Der Trampelpfad führte um die Stelle herum und wurde anschließend breiter, geradezu schon eine Trampelautobahn, die dort endete, wo die beiden Rettungswagen gestanden hatten. Der weiter anhaltende dichte Schneefall begann allerdings schon, die Spuren aufzufüllen und sie wieder zu verwischen.
„Sauber!“, räsonierte Hintringer unwirsch. „Habts ja alles total niedergestampft! Da werden wir kaum noch was finden!“
Er streckte seine linke Hand mit nach oben zeigendem Daumen von sich, das gleiche machte er mit Hand und Daumen seiner rechten, beide hob er in Augenhöhe. Dann begann er herumzuwandern.
„Da!“, sagte er, als er seine Wanderung beendet hatte. „Ungefähr da muss er gestanden haben.“ Es war völlig klar, wer gemeint war.
Franz Hintringer stand auf der rechten Seite der Hofgasse, dort wo sie in den Hauptplatz mündete. Neben ihm war eine fast mannshohe Hinweistafel im Boden verankert, die den Anfang der Fußgängerzone in der Altstadt verkündete. Direkt darüber, in einer Höhe von etwa drei Metern, zielte eine an der Wand angebrachte Videokamera in diesen Teil der Gasse. Eine zweite Kamera hatte in der entgegengesetzten Richtung den Taxistand im Visier, um diese Zeit eine unnötige Bemühung. Etwa eineinhalb Meter hinter der dunklen Stelle, die vom Blut des zweiten Opfers stammte, überwachte eine weitere Kamera die Gasse.
„Ich glaub, der hat eher hier gestanden!“ Gaby wies auf die Hinweistafel. „Die Tafel ist groß genug, dass sich ein erwachsener Mann gut dahinter verstecken kann. Von der Altstadt aus kann man ihn nicht sehen und von der anderen Seite her lehnt er ganz unauffällig an der Hauswand – für den Fall, dass da um diese Zeit noch jemand unterwegs ist. Außerdem steht er hier genau im toten Winkel der Kameras, der perfekte Platz, um sein Opfer abzupassen.“
„Hast recht! Da muss jemand gestanden haben, der Schnee ist hier ganz niedergetreten.“ Hintringer winkte einen seiner Leute herbei und deutete auf den Platz vor der Fußgängerzonentafel. Er brauchte für seine Anweisung keine Wörter. Selbst missgünstige Mitmenschen konnten ihm nicht vorhalten, sich mit unnötigen Plaudereien aufzuhalten.
„Von da brauchst dir keine Zeugen erhoffen!“, bemerkte Hintringer und wies auf den verwaisten Taxistandplatz. Fünfzehn Zentimeter frischer, jungfräulicher Neuschnee bedeckten den Platz und es war nicht einmal der Hauch einer Reifenspur zu sehen. „Da hat mindestens die letzten zwei Stunden kein Taxi mehr gestanden.“
Gaby suchte angestrengt die glatte, weiße Fläche ab. Sie wusste schon, dass in dieser Stadt um spätestens elf Uhr nachts die Gehsteige hochgeklappt wurden, besonders mitten unter der Woche, aber das konnte es doch nicht geben, dass keine Sau etwas bemerkt haben sollte!
„Was hältst du davon, Franz?“ Sie zeigte auf eine vom neuen Schnee beinahe schon wieder zugedeckte Spur, die von der Tafel dicht an der Hauswand entlang Richtung Donaubrücke führte.
„Wär schon möglich. Vielleicht hat er nach der Schießerei Appetit gekriegt. Das Würstelstandl dort oben hat die ganze Nacht offen“, sagte Hintringer und setzte sich in Bewegung. So ein Würstelstand – genau genommen jegliche Einrichtung, die ihm die Chance zur Nahrungsaufnahme bot – zog ihn an wie das Licht die Motten. Von nichts kommt eben nichts! Gaby folgte ihm die leichte Steigung zum Brückenkopfgebäude hinauf. Der Würstelstand lag in einer trockenen und durch einen Glasverbau windgeschützten Ecke des Gebäudes. Hier unten konnte sie im Augenblick sowieso nichts ausrichten. Sein durch die Aussicht auf Essen gedoptes Tempo konnte sie im rutschigen Schnee nicht mithalten. Als sie Hintringer, die Hände gegen die Kälte aneinander reibend, oben einholte, hatte der schon ein Paar Frankfurter vor sich stehen.
„Geh, Traudl, mach dem Mädel einen heißen Tee! Die erfriert mir sonst noch. Und gib einen ordentlichen Schuss Rum dazu!“
Es hätte Gaby auch gewundert, wenn Franz Hintringer nicht jede Würstelfrau der Stadt persönlich gekannt hätte.
„Das Mädel kann sich ganz gut selber wärmen! Außerdem trink ich im Dienst nichts, auch nicht versteckt im Tee“, meinte Gaby mit einem Blick auf den Pappteller ihres Nachbarn.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, auch eine Wurscht muss manchmal sein!“, nuschelte Franz Hintringer mit vollem Mund als Antwort auf ihren Blick.
Mit dem letzten Zipfel seiner Frankfurter deutete er auf die Kamera an der Decke des Durchgangs, in dem diese Oase für Nachtschwärmer untergebracht war: „Sieht die was?“
„Klar, so viel wie ein Maulwurf!“, sagte Frau Traudl. Die gestandene Mittfünfzigerin setzte ein so breites Grinsen auf, dass sie sich eines ihrer Würstel glatt der Quere nach in den Mund schieben hätte können.
„Hab ich mir gedacht! Alles nur täuschen und tarnen! Nützt sie wenigstens trotzdem was?“
„Was weiß denn ich, keine Ahnung wie es ohne das Kastl wär!“
Hintringer schluckte den Rest seiner Wurst hinunter. „Ein Euro für jede Fake-Kamera in dieser Stadt und ich könnt eine Woche gratis bei dir essen“, brummte er dann und schob Frau Traudl seinen leeren Teller zu. „Geh, gib mir noch einen Einspänner.“
„Ist Ihnen in der letzten Stunde irgendwas aufgefallen?“, fragte Gaby die Würstelfrau.
„Was denn zum Beispiel?“
„Naja, laute Geräusche, die vielleicht wie Schüsse geklungen haben könnten. Oder ein Gast, der sich komisch benommen hat, sowas in der Art.“
„Nein, ihr seids die ersten seit Vier in der Früh. Bei dem Sauwetter rennt doch kein Mensch freiwillig in der Gegend herum. Und gehört hab ich auch nichts. Ich hab das Fenster zu gehabt, ich bin ja schließlich kein Eskimo. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdenk – a paar Fehlzündungen von einer Maschin waren da. Ich hab mir noch gedacht, welcher Verrückte fährt denn bei dem Wetter mit an Motorradl herum.“
„Wann war das?“
„Was weiß denn ich? Vor einer guten Stunde vielleicht. Kindchen, ich schau doch nicht bei jedem Krach auf die Uhr!“
Gaby klammerte sich an ihre Teetasse und schluckte das »Kindchen« und eine passende Antwort tapfer hinunter. Nach ein paar Minuten eisigen Schweigens sagte sie: „Ihr kommt sicher ganz gut ohne mich zurecht. Ich werd ins Krankenhaus fahren und schauen, was mit der Conny und dem Josef ist.“ Sie vermied es dabei, Hintringer anzusehen und ließ es offen, wen genau sie mit „ihr“ gemeint hatte.
„Ja, mach das! Wenn wir was finden, leg ich es dir auf den Tisch. Und einen schönen Gruß an die beiden!“
„Mmhh“, murmelte Gaby und stellte ihre Tasse ab. „Und danke für den Tee, trotzdem!“ Angesichts der Wärme, die sich in ihrem Inneren ausbreitete, war sie doch ganz froh über den gehörigen Schuss Rum, den Frau Traudl trotzdem in den Tee gekippt hatte.
Der junge Polizist bewachte mittlerweile vom beheizten Inneren des Streifenwagens aus den Tatort. Gaby konnte es ihm nicht verdenken, schließlich hatte sie ja auch nicht die reine Freude daran, sich da heraußen den Hintern abzufrieren und sich langsam in eine Schneefrau zu verwandeln. Trotzdem erfuhr sie von ihm, dass man das zweite Attentatsopfer ins Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern gebracht hatte. Für sie war das praktisch, lagen doch die beiden Häuser direkt nebeneinander, sie hatten sogar einen gemeinsamen Eingangsbereich. Als sie vom Hauptplatz auf die Brücke zufuhr, konnte sie gerade noch beobachten, wie Franz Hintringer wieder zu seinen Leuten zurückkehrte. Dieses Mal – gesättigt und gestärkt – in einem besser zu ihm passenden, eher gemächlichen Tempo. Dann bog sie nach rechts ab, auf Höhe des auch in der Nacht pink beleuchteten Quaders des Kunstmuseums nahm sie die Einbahn Richtung Zentrum. Die Straßen waren noch immer nicht geräumt. Gaby Glück kam es so vor, als würde die Stadt unter der frischen, kühlen Decke friedlich und arglos schlafen. Obwohl – arglos mochte ja vielleicht sein, aber von friedlich konnte angesichts der Ereignisse an diesem Morgen wohl kaum die Rede sein.
Eine fast voll besetzte Straßenbahn an der letzten Kreuzung vor den beiden Krankenhäusern zerstörte auch die andere Illusion. Sie musste sich eingestehen, dass der Anschein einer schlafenden Stadt eine Täuschung war, so wie vieles andere, dem sie Tag für Tag begegnete. Zwei Minuten später bugsierte sie ihren Mini in eine Parklücke vor den beiden Krankenhäusern und stellte den Motor ab. Noch immer fielen dichte Flocken vom Himmel und es kam ihr vor, als ob sie immer größer wurden. Sie konnte sich nicht entschließen, das bisschen Wärme, das sich in ihrem Auto während der kurzen Fahrt angesammelt hatte, zu verlassen. Zuerst schmolz der Schnee an der Scheibe, aber das Glas kühlte schnell wieder ab. In dieser Höhle aus Blech und Glas und Schnee, in die nur spärliches Licht drang, fühlte sie sich geborgen. Abgeschottet gegen die Welt da draußen.
Am liebsten wäre sie noch Stunden sitzengeblieben.
Am liebsten hätte sie überhaupt die Ereignisse dieses frühen Morgens vergessen. Ja, natürlich hatte man ihr auf der Polizeischule eingetrichtert, die Fälle nicht an sich herankommen zu lassen. Und natürlich war sie damals davon überzeugt gewesen, dass ihr so etwas nicht passieren würde. Trotzdem waren ihr aber schon die toten Kinder bei den letzten Ermittlungen mehr zu Herzen gegangen, als sie jemals zugegeben hätte. Nicht vor sich selbst, und schon gar nicht vor ihrem Chef.