ISBN: 978-3-99074-082-8
1. Auflage 2019, Marchtrenk, Österreich
© 2008 Verlag federfrei
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Umschlagabbildung: „Young Girl“ by chinatiger, Fotolia
Autorenfoto: Heinz Kraml
Lektorat: Mag. Gertraud Mayr-Rosska
Die folgende Geschichte ist, genau wie alle darin vorkommenden Personen und Namen, frei erfunden. Im Gegensatz zu Kriminalgeschichten ist das wirkliche Leben aber voller Zufälle. Sollte es also in dieser Geschichte irgendwelche Ähnlichkeiten zu tatsächlich lebenden Personen geben, so können sie nur einem solchen Zufall entspringen und sind keineswegs beabsichtigt oder gar gewünscht.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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Im Donauhafen wird die Leiche einer blonden Asiatin gefunden. Major Dr. Josef Vierziger steht vor einem Rätsel. Der Kreis der Verdächtigen reicht von den Chefinnen der Ermordeten über deren Kunden bis zu ihren Kollegen. Dazu werden Vierziger von seinem Vorgesetzten Prügel zwischen die Beine geworfen, der dabei auch eine Einflussnahme hoher Politiker andeutet. Gleich zu Beginn der Mordermittlungen muss sich Vierziger auch noch an Gaby Glück, seine neue Assistentin, gewöhnen. Sie hat ihre ganz eigenen, teilweise etwas unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Gemeinsam können die beiden aber am Ende das Puzzle aus Rotlichtmilieu, Liebe, Politik, Macht und Erpressung zu einem schlüssigen Bild zusammensetzen.
Neben seiner Beschäftigung mit dem Mord, der schließlich noch ein weiteres Todesopfer zur Folge hat, muss sich Major Vierziger auch noch mit einem merkwürdigen Verkehrsunfall herumschlagen.
Zwischen all diesen Turbulenzen versucht Vierziger, die ganz private Beziehung zu seiner Freundin auf die Reihe zu kriegen.
Mein bester Sohn! Es ist nicht immer möglich,
Im Leben sich so kinderrein zu halten,
Wie‘s uns die Stimme lehrt im Innersten.
In steter Notwehr gegen arge List,
Bleibt auch das redliche Gemüt nicht wahr.
Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
Dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.
Friedrich Schiller: Wallenstein.
Der Himmel hatte sich verzogen. Eine tiefliegende, geschlossene Wolkendecke reflektierte die Lichter der Stadt und sperrte die Hitze unter ihr ein.
„Feine Sache!“, dachte Paula. Drei Uhr früh, und sie war wieder einmal die Letzte. Bei hundert Gästen gab es eben immer ein Grüppchen, das nicht wusste, wann endlich Schluss sein sollte. Aber es nützte nichts: Ihre Kunden waren die unumschränkten Herrscher. Schließlich lebte sie von ihnen! Also immer freundliche Nasenlöcher und jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch von den Augen ablesen. Der Müllsack, voll gestopft mit gebrauchten Papierservietten und welken Blumengestecken, musste noch weg, dann hatte sie es geschafft – für diese Nacht! Wenigstens war der Weg bis zum Heck des Schiffes nicht stockfinster. In der Dunkelheit zu stolpern und auf der Nase zu landen, war nicht gerade einer ihrer glühendsten Wunschträume.
Der Gestank von faulenden Küchenresten dampfte aus dem randvollen Container, als sie den Deckel zurückschob. Gott sei Dank war morgen Freitag: Müllabfuhrtag. Paula wuchtete den schwarzen Plastiksack mit aller Kraft in den Behälter und hoffte, das würde den restlichen Mist ein wenig zusammenpressen. Der Aufprall brachte einen der darunter liegenden Beutel zum Platzen und eine blassgelbe Röhre quoll heraus. Zumindest dachte Paula das beim ersten Hinsehen. Auf den zweiten Blick entpuppte sich die gelbe Röhre als ein Arm. Ein Arm plus Hand mit rot lackierten Fingernägeln.
„Welcher Idiot schmeißt mir denn da eine Schaufensterpuppe hinein!“, fluchte sie und zerrte wütend an dem Puppenarm. Was sie da in der Hand hielt, war aber nicht hart und steif, wie sie es erwartet hatte, sondern weich, warm und ein wenig schlaff. Als Paula endlich begriff, womit sie es da zu tun hatte, spreizte sie augenblicklich ihre Finger und ließ dieses Ding angewidert fallen. Sie stolperte einen Schritt zurück und begann hysterisch zu schreien. Dann blieb ihr die Luft weg, ihr Schrei erstickte in der Kehle und ihre Beine verwandelten sich in Gelee.
Vierziger stoppte sein Auto vor dem quer zur Straße stehenden Streifenwagen. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Es war halb fünf Uhr früh, aber trotzdem noch immer so heiß, dass sein Polo-Shirt schon wieder auf der Haut klebte! Seit ein paar Tagen hockte diese fast tropische Schwüle über der Stadt wie eine brütende Henne. Allerdings noch lange kein Grund, jemanden umzubringen. Obwohl – diese Hitze war imstande, selbst die friedfertigste Seele verrückt zu machen. Und hier draußen an der Donau war es nicht wirklich besser.
„’n Morgen, Herr Major!“ Der junge Uniformierte salutierte so stramm, als wäre er noch beim Bundesheer. Vierziger schaute ihn missmutig an. Frischling, dachte er sich und erwiderte den Gruß nur mit einem leichten Kopfnicken.
„Wo?“, brummte er. Wo ist denn hier ein guter Morgen zu sehen, wollte er eigentlich sagen. Der Frischling fasste es anders auf.
„Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen.“ Das wäre gar nicht nötig gewesen. Die rotierenden Lichter und die Scheinwerferbatterien weiter hinten waren nicht zu übersehen.
Schweigend gingen sie auf der Straße den dunklen Umriss des Schiffs entlang, das da scheinbar friedlich im Hafenbecken lag. Am Ende standen ein weiterer Streifenwagen und zwei Transporter. Alle mit eingeschaltetem Blaulicht, die Suchscheinwerfer der beiden Kastenwagen waren auf einen großen Müllcontainer gerichtet.
„Schon alles da?“
„Wir haben die Einsatzzentrale angerufen. Die haben den Notarzt und die Spurensicherung geschickt.“ Klar, die Einsatzzentrale, sonst läg’ ich ja noch im Bett, dachte Vierziger, schluckte es aber hinunter. Der junge Polizist konnte ja auch nichts dafür.
„Ist gut, du kannst wieder zurück.“ Der Umstand, dass noch ein paar andere aus ihren Betten gescheucht worden waren, stimmte ihn ein wenig friedlicher.
„Und schalt die Reklame ab, interessiert sowieso keinen.“
Das Hafenbecken war das erste von insgesamt sechs, die sich wie gekrümmte Finger von der Donau weg in die Industriezone krallten. Dieses hier beherbergte außer dem Reparatur-Dock der Schiffswerft noch einen Motorboot-Club, einen Ruderverein, den Stützpunkt der Wasserpolizei und eben dieses Restaurant- oder Was-auch-immer-Schiff. Auf der anderen Straßenseite, direkt neben dem Hochwasserschutzdamm, stand das Gebäude, in dem die Polizeihundeschule untergebracht war. Der Treppelweg auf der anderen Seite des Dammes und die asphaltierte Dammkrone waren beliebte Strecken von Hunde-Gassi-Gehern, Joggern und seit neuestem von Nordic-Walkern. Tagsüber eine belebte Gegend. Um diese nachtschlafene Zeit herrschte hier allerdings fast Totenstille. Die Stadt und das Stahlwerk waren zu weit weg, als dass man ihren Lärm bis hierher gehört hätte, und der Damm schirmte das Hafenbecken von der Autobahn auf der anderen Donauseite ab. Die Wellen eines einlaufenden Flussfrachters klatschten an die Granitblöcke der Uferbefestigung. Bei geschlossenen Augen hätte man fast glauben können, am Meer spazieren zu gehen. Bloß dass dort wahrscheinlich die Luft besser gewesen wäre.
Mit einem weiteren Kopfnicken ging Vierziger an den Beamten vor dem zweiten Streifenwagen vorbei. Er deutete mit zuerst kreisenden und dann verneinenden Fingern auf die sich drehenden Blaulichter. Gleich darauf gab es einen Grund weniger, nervös zu sein.
„Servus Josef!“ Das Michelin-Männchen, das Vierziger entgegenrollte, war Hans Hintringer, Chef der Spurensicherung Zwei. Wie seine Leute, hatte auch er sich in einen weißen Overall mit Kapuze gezwängt, der nur das Gesicht freiließ. Die Füße steckten in einer Art weißer Plastiksäcken mit Gummizug oben dran, die Hände in dünnen Gummihandschuhen. Schon vom bloßen Hinsehen bekam Vierziger wieder einen Schweißausbruch.
„Ich frag mich jedes Mal wieder, wie du in dieses Ganzkörperkondom hinein kommst.“, grinste Vierziger. Hintringer verdrehte die Augen: „Willst auch eins?“
Vierziger überhörte das verlockende Angebot. „Schon irgendwas gefunden?“
„Wie denn? Der Weg vom Schiff bis hierher ist asphaltiert. Alles staubtrocken, also gibt’s keine Fußspuren. Und selbst wenn – da kann jeder herumtrampeln. Den Mistkübel räumen wir erst aus, wenn die Leiche raus ist. Die Ärztin hat sie untersucht – kein Puls mehr –, also haben wir sie dringelassen.“ Hintringer deutete dabei auf den Notarztwagen. Die Türen standen offen. Hinten kauerten zwei Frauen – eine in weißer Arztuniform, die andere in einem dunklen Kleid. Die Zivilistin hatte den Oberkörper vorn übergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den offenen Handflächen vergraben. Neben dem Auto zwei Männer mit Rot-Kreuz-Montur. Das übliche Notarzt-Team.
„Die Frau hat die Leiche gefunden. Eine gewisse Paula Habringer. Ihr gehört der Dampfer da. Personalien haben die im Streifenwagen schon aufgenommen.“
„Na dann! Wenn ihr sonst fertig seid, können wir uns die Kundschaft ja einmal anschauen.“
Zwei Männer von der Spurensicherungstruppe räumten den Müllcontainer so weit aus, dass sie den Sack mit der Leiche unversehrt herausheben konnten. Eine weiße Kunststoff-Folie von etwa drei mal drei Metern wurde auf dem Boden ausgebreitet. Dann legten sie behutsam die Leiche darauf. Ihre Verpackung bestand aus zwei schwarzen Säcken, die an der Öffnung mit einem Band zugezogen werden konnten. Ein Sack für die Beine, der andere für den Oberkörper. Wo die Taille sein musste, waren die beiden Säcke miteinander verschnürt. Der eine war aufgeplatzt und ein nackter Arm hing heraus. Hintringer hatte aus seinem Gerätekoffer ein Skalpell geholt und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger auf Armeslänge vor sich hin als wäre es ein ekliges Insekt. Die Beamten der Streifenwagen und die Notarztwagen-Besatzung – mit Ausnahme der Ärztin – waren näher gekommen.
„Na, wer will?“, fragte Hintringer in die Runde. Alle wichen einen Schritt zurück. Kein Laut, nur die Verschlussgeräusche vom Fotoapparat der Spurensicherung.
„Das hab ich gern! Zuerst neugierig sein und dann doch zu feig!“, spottete Hintringer. „Was ist, Josef, du?“ Er hielt ihm das scharfe Messer hin.
„Gib schon her!“
Vorsichtig schlitzte Vierziger zuerst den oberen, dann den unteren Sack auf und klappte die Teile zur Seite. Zum Vorschein kam eine junge Frau. Sie lag da als würde sie schlafen. Einmal abgesehen von der hässlichen Blut verkrusteten Wunde an der rechten Schläfe und dem schwarzen Strumpf, der sich in ihren Hals grub. Dem Gesicht nach zu urteilen eine Asiatin. China, Thailand, Vietnam, so was in der Richtung, keine Inderin. Vielleicht an die 25 Jahre alt, möglicherweise jünger. Etwa einssechzig groß. Ihre Haare hätten eigentlich pechschwarz sein müssen, die hier hingegen waren blond gefärbt, inklusive der Augenbrauen. Sie hatte ein schwarzes Kleid an, das knapp bis über die Knie reichte. Tiefer Ausschnitt. Kurze Ärmel, die genauso wie der Kragen mit einem knapp zwei Zentimeter breiten roten Band eingefasst waren. So wie es aussah, wurde das Kleid normalerweise vorne durchgehend von einem Reißverschluss zusammengehalten. Jetzt war er allerdings ganz aufgezogen. Keinerlei Unterwäsche, weder Slip noch BH. Nur am rechten Bein das Gegenstück zu dem Strumpf um ihren Hals. Darunter, am Knöchel, ein dünnes goldenes Fußkettchen. Ein schwarzer Schuh aus Lackleder mit ziemlich hohem Absatz. Der zweite Schuh lag daneben. Einer der langen, rot lackierten Fingernägel an der rechten Hand war abgebrochen. Keine Uhr, kein Armband. Dafür ein Nabel-Piercing, eine in Gold gefasste Perle. Unter dem Strumpf am Hals eine Perlenkette. Auf den ersten Blick war sonst nichts zu sehen.
Keiner der herumstehenden Leute sagte irgendwas. Obwohl die meisten von ihnen schon öfter mit Leichen konfrontiert gewesen waren, stellte sich doch jedes Mal wieder eine seltsame Beklemmung ein. Angesichts eines gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen, noch dazu einer so jungen, zu Lebzeiten sehr attraktiven Frau, machte sich jeder seine Gedanken. Sicher, der Tod ist immer eine tragische und grausame Sache. Vielleicht etwas weniger tragisch bei jemandem, der sein Leben gelebt, all seine Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Aber dieses junge Leben auszulöschen hieß, es aller Möglichkeiten zu berauben. Ganz gleich, was diese Frau getan hatte, um so zu enden: Sie würde nie ihre Kinder im Arm halten können, nie ihre Enkelkinder am Schoß wiegen dürfen, sie würde nie mehr die Sonne aufgehen sehen. Vierziger spürte eine kalte Wut in sich aufsteigen. Die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf und trotz der Hitze fröstelte ihn. Er schwor sich, ihren Mörder zu finden und ihn wenigstens der so genannten irdischen Gerechtigkeit zuzuführen. Aber was konnte das angesichts so eines Mordes schon sein: Gerechtigkeit?
Inzwischen war es halb sechs geworden. Über den Hügeln im Osten färbte sich die Wolkendecke allmählich rosa, auf der entgegengesetzten Seite zuckte das Wetterleuchten eines fernen Gewitters. Während noch jede Menge Bilder geschossen wurden, schlurfte Vierziger zum Notarztwagen hinüber.
„Frau Habringer? Wie geht’s Ihnen denn jetzt?“ Keine Reaktion. Genau wie vor einer Stunde saß sie mit ihrem in die Hände gestützten Kopf zusammengesunken da. „Sie haben die Tote doch gefunden. Könnten Sie sich die Frau bitte kurz ansehen und mir sagen, ob Sie sie kennen?“, fragte er ruhig und leise.
„Sie hat einen schweren Schock erlitten. Ich glaub nicht, dass sie in der Lage ist, sich die Leiche anzuschauen. Ich hab ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt. Lassen Sie sie doch zufrieden!“, wies ihn die Ärztin aufgebracht zurecht.
„Ist gut, es wird schon gehen.“ Das klang zwar nicht besonders überzeugend, aber Frau Habringer stand auf und ging mit hinüber zu den Containern.
Der Polizeifotograf war inzwischen fertig und man hatte die Frau wieder zugedeckt. Alleine schon, um nicht noch im Tod ihre Blöße aller Welt auszusetzen. Vierziger zog nur ein kleines Stück des schwarzen Plastiks über dem Kopf zur Seite. Den Umstand, dass die Tote darunter praktisch nackt war, behielt er für sich. Frau Habringer zuckte mit den Mundwinkeln und wurde noch blasser, als sie es ohnehin schon war.
„Das ist …“, flüsterte sie, dann schüttelte sie nur langsam den Kopf. Ein paar ihrer dunklen Locken klebten wie aufgemalt in ihrem Gesicht.
„Frau Habringer,“, hakte Vierziger nach, „kennen Sie die Frau? Haben Sie sie schon einmal gesehen?“
„Nein, ich kenn sie nicht.“, murmelte sie heiser. Ihre Knie gaben nach und Vierziger musste sie stützen.
„So, jetzt reicht's aber! Wir bringen sie nach Hause!“ Dr. Jungbauer, die ihnen gefolgt war, nahm Frau Habringer am Arm und führte sie weg.
Was stimmt mit dieser Frau nicht, fragte sich Vierziger. Klar, mitten in der Nacht eine Ermordete zu finden, konnte einen schon aus dem Gleichgewicht bringen. Wer hat schließlich heutzutage noch mit Toten zu tun? Von Bestattungsunternehmern und vielleicht Ärzten einmal abgesehen. In unserer Gesellschaft ist es zwar völlig normal, dass junges, nacktes Fleisch von jeder zweiten Plakatwand herunter sprang, aber das Unausweichliche im Leben eines jeden haben wir schön brav in ein weit entferntes Ghetto gedrängt! Nur nicht dran denken, dass das ganze Gewusel um Sein und Schein, um Geld und Macht letztendlich für die Katz war. Trotzdem: Irgendetwas stimmte mit dieser Frau nicht. Wenn er nur darauf käme, was!
Seit fast einer Stunde marschierte Vierziger in seinem Büro auf und ab. Von der Tür zum Fenster und wieder zurück. Nicht im Kreis um die beiden Kopf an Kopf stehenden Schreibtische herum. Der Raum war, wie mit einem Lineal, peinlich genau in zwei Hälften getrennt. Die eine Seite war voll gestopft mit dem, was Vierziger sein erweitertes Wohnzimmer nannte: Bilder, Pflanzen, Radio mit CD-Player, ein Minikühlschrank, seine Espressomaschine … Auf der anderen Seite herrschte, seit sich sein Ex-Partner vor über einem Monat in die Frühpension verabschiedet hatte, fast jungfräuliche Sterilität. Das würde sich ja heute wieder ändern. Manchmal unterbrach er seine Wanderung, um in seinem Wintergarten ein angeblich welkes Blatt von einem der Zitronenbäumchen zu zupfen, die er im Laufe der Jahre hier angesammelt hatte.
Seine Gedanken kreisten um die tote Frau vom Hafen. Was wusste er bis jetzt? Ihr war der Schädel eingeschlagen worden. Rechte Schläfe. Was bedeutete, dass es sich beim Täter um einen Linkshänder handelte. Kräftig! Man glaubt gar nicht, was ein menschlicher Kopf so alles aushält. Es muss schon ein ziemlich starker Schlag sein, um jemanden zu töten. Warum hatte sie keine Unterwäsche an? Vergewaltigt? Die sonst bei so etwas üblichen, auf den ersten Blick sichtbaren Anzeichen fehlten: keine Rötungen oder Blutergüsse an den Oberschenkeln oder an den Handgelenken vom Festhalten. Der abgebrochene Fingernagel musste ja nicht unbedingt auf Gewaltanwendung hindeuten. Aber auszuschließen war das natürlich auch nicht. Hatte sie ihren Mörder gekannt? Wer war sie? Und was, um alles in der Welt, hat sie im Hafen getan? Sofern das überhaupt der Tatort war, und sie dort nicht lediglich wie ein Stück Abfall entsorgt worden war. Menschlicher Sondermüll, sozusagen! Fragen, Fragen, Fragen … Na ja, er würde es herausfinden.
Die Bürotür flog auf, als er in seiner Runde gerade wieder einmal beim Fenster angekommen war.
„Guten Morgen, Herr Vierziger! Gaby Glück, ich soll heute bei Ihnen anfangen, damit hab ich gar nicht gerechnet, dass sie um diese Zeit schon da sind, eigentlich wollte ich noch vor Ihnen da sein und Sie überraschen, weil’s ja doch mein erster Tag ist …“ Sie sprudelte fröhlich vor sich hin wie eine Gebirgsquelle im Frühling. Den Augenblick, den sie zum Luftholen brauchte, nutzte Vierziger aus.
„Herein!“, meinte er trocken und übersah geflissentlich die ihm hingehaltene Hand. Dass sie Titel und Rang weggelassen hatte, war ihm ja ganz recht. Damit hatte er es sowieso nicht wirklich. Aber dass der junge Blondschopf ohne anzuklopfen in sein Reich eingefallen war, passte ihm schon weniger. Apropos Blondschopf: Auf die Haarbürste hatte sie anscheinend auch vergessen.
„Tut mir leid, dass ich so hereingeplatzt bin. Aber ich hab mich so gefreut, dass ich bei Ihnen anfangen darf. Gerade von der Schule und gleich beim großen Herrn Vierziger!“ Sollte das vielleicht eine Anspielung sein? Als groß würde er sich ja nicht unbedingt bezeichnen. Trotzdem ging es ihm insgeheim wie Honig die Kehle hinunter. Gut, er hatte schon ein paar verzwickte Fälle gelöst, aber er war auch als Sonderling verschrien, das war ihm schon klar. Also das musste er ihr lassen: Einschmeicheln konnte sie sich.
„Pech gehabt, Frau Glück: falschen Tag ausgesucht. Übrigens, die kann frau auch wieder zumachen!“ Er wies auf die offene Tür.
„Wieso falschen Tag? Heut ist doch der Erste, oder?“ Mit einem Tritt nach hinten ließ sie die Tür ins Schloss fallen.
„Ja, ist. Aber Sie werden bald einen Haufen Arbeit haben. Kennen Sie sich mit dem Ding da aus?“
Sie warf einen Blick auf den Computer, der auf dem sonst leeren Schreibtisch seines Ex-Partners stand. Man konnte Vierziger wirklich nicht vorwerfen, dass er sich mit Sentimentalitäten aufgehalten hätte.
„Ist zwar nicht mehr das neueste Modell, aber ich werd schon damit zurechtkommen!“
Also war schon einmal klar, wer in Zukunft wieder den Schreibkram erledigen durfte. Vierziger hasste das wie die Pest. Und dieses elektrische Kastl sowieso! In der Vergangenheit hatte sich immer sein Ex darum gekümmert.
„Also dann! Versuchen Sie einmal herauszufinden, was es mit diesem Restaurant-Schiff unten im Hafen auf sich hat. Oder was immer das ist. Vielleicht spuckt das Wunderding ja was aus.“
„Sie meinen das Falstaff-Gastro-Service?“, fragte sie, während sie sich hinsetzte, um den PC anzuwerfen.
„Gibt’s jetzt seit zehn Jahren, wenn Sie das Schiff meinen, das im gleichen Hafenbecken wie die Strompolizei liegt. Gehört einer gewissen Paula Habringer. Müsste jetzt 44 sein, glaub ich. Etwa 1,65 groß, schlank, braune Augen, dunkle, gelockte Haare, schulterlang, es sei denn sie hat sich eine neue Frisur zugelegt. Zusammen mit dem Koch, Hermann Kraut-was-weiß-ich heißt der, ist aber nur Junior-Partner, wenn sie ihn überhaupt noch hat. Ist die etwa umgebracht worden?“
Vierziger war verblüfft und beunruhigt. Verblüfft über ihr Wissen, beunruhigt über ihren Redeschwall. Wenn das ihr Normalbetrieb war, konnte er sich von einem einigermaßen friedlichen Büro-Alltag verabschieden.
„Hellseherin?“, fragte er und fügte noch hinzu: „Warum umgebracht? Nein, ist sie nicht. Ich mein ja, schon, aber eine blonde Asiatin.“ Die Neue brachte ihn ganz durcheinander. „Kennen Sie die vielleicht auch? Und dann brauchen wir noch den Mörder und schon können wir uns für heute frei nehmen.“
„Eine blonde Asiatin? Die sind doch normalerweise schwarz. Das hab ich mir nur so gedacht, das mit dem Umbringen. Nein, kenn ich nicht. Die sind sicher gefärbt, die Haare mein ich.“
„No na! Ihre Naturfarbe wird’s sein! So weit war ich auch schon!“ Irgendwie ärgerte er sich, dass die Neue gleich so einen beeindruckenden Start hingelegt hatte. Und beeindruckt war er allemal. Auch wenn er das nie zugegeben hätte. Irgendwie hatte er sich ein anderes Bild von ihr gemacht, als sie da bei der Tür hereinwirbelte: ungefähr so groß wie er selbst, ein wenig pummelig, blond, weiße Capri-Hose, rosa Bluse – übrigens etwas zu offenherzig für seinen Geschmack, die Bluse. Nicht, dass er ein Dummerchen erwartet hätte. Sie hatte Jus studiert, wie er selbst auch, dann Polizeischule. Glänzender Abschluss in beiden Fällen, nicht so wie er selbst, so viel war ihm schon bekannt. Schließlich hatte ja auch er seine Hausaufgaben gemacht.
„Woher wussten Sie denn …?“
„Das war kein Kunststück. Ich hab während der Uni ein paar Mal als Aushilfskellnerin dort gejobbt.“
„Schade! Ich mein, dass Sie keine Hellseherin sind. Müssen wir doch auf Schnitzeljagd gehen. Und mit dem freien Tag wird’s auch nichts.“
„Sorry! Man kann eben nicht alles haben im Leben …“
Genau! Und im Tod auch nicht, dachte Vierziger.
Das war jetzt sein dritter Espresso an diesem Morgen. Irgendwann würde ihn das Zeug noch umbringen. Großzügigerweise hatte er auch Frau Glück eine Schale abgetreten. Die hackte seit einer Stunde auf dem Computer herum, den sie zwischendurch immer wieder mit ganz und gar nicht gesellschaftsfähigen Kosenamen bedachte. Steinzeitlich und vorsintflutlich waren dabei noch die liebevollsten.
„Also alt werd ich mit dem Miststück nicht!“, schimpfte sie vor sich hin.
Der Beamte der Spurensicherung, der gerade die Fotos vom Fundort brachte, warf ihr einen erstaunten Blick zu.
„Dicke Luft?“, fragte er und beeilte sich wieder zu verschwinden.
„Auf geht’s!“ Vierziger baute sich vor der Pinnwand neben der Tür auf. Sorgfältig befestigte er die A4-großen Hochglanz-Ausdrucke darauf.
„Sind schon eine tolle Sache, diese neuen Digitalkameras. Nicht so ein Billigzeug aus dem Supermarkt. Für so eine, wie sie unsere Pfadfinder haben, müsste ich einen Monat lang arbeiten.“
Gaby Glück hatte sich zu ihm gesellt.
„Na, was meinen Sie?“
„Die Tote vom Hafen?“
„Mmhh.“ Vierziger wartete auf die Fortsetzung. Kam aber nicht. Sie kann tatsächlich auch kurze Sätze, stellte er erstaunt fest. Nach einer langen Pause, in der sie die Fotos aufmerksam studierte, begann die Quelle dann doch noch zu sprudeln.
„Die kenn ich. Die muss zum Personal vom Falstaff gehören. Die Uniform mein ich, also die Frau auch. Wir hatten damals genau die gleichen. Müsste schon ein komischer Zufall sein.“ Der Gedanke, dass dieses Kleid eine Uniform sein könnte, war Vierziger noch nicht gekommen. Wie hatte die Habringer gesagt? „Die kenn ich nicht!“ Interessant. Er schaute die Glück von der Seite her an und stellte sie sich in so einem kurzen Fähnchen vor.
„Hallo, keine Unverschämtheiten!“ Sie grinste ihn an und zeigte auf das Bild in der Mitte, eine Großaufnahme vom Gesicht der Toten.
„Die hat’s im Liegen erwischt. Sehen Sie? Das Blut von der Wunde ist nach hinten geronnen, da in den Haaren klebt noch was davon. Im Stehen hätte es über die Wangen rinnen müssen, zum Kinn hinunter. Leider können wir jetzt nicht sagen, wie groß der Täter war. Der Abdruck geht von links oben nach rechts unten. Hätte sie gestanden, müsste der Täter kleiner gewesen sein als sie. Aber wenn sie gelegen hat, war er über sie gebeugt, und das heißt, dass wir die Größe nicht feststellen können. Muss aber ein Linkshänder gewesen sein, sonst hätte sie der Schlag auf der anderen Seite getroffen. Es sei denn, er hätte so über den Kopf ausgeholt.“ Sie demonstrierte, wie sie das meinte. „Glaub ich aber nicht. Sie hat ihn gekannt, sonst wäre er in dieser Stellung nicht so nahe an sie herangekommen. Schauen Sie sich die Oberarme an. Sie wirkt zwar zart, muss aber ganz schön kräftig gewesen sein. Aber warum der Strumpf um den Hals? Er hatte sie doch schon erschlagen! Sexualmord? Kann sein, jedenfalls muss der Täter einen ziemlichen Hass auf sie gehabt haben, sonst hätte er sie nicht gleich zweimal umgebracht. Ich mein erschlagen und erwürgt. Und er muss Zeit gehabt haben. Immerhin hat er sich die Mühe gemacht, ihr den Schuh auszuziehen, den Strumpf herunterzustreifen – halterlos – und ihr dann diese Halskrause zu verpassen. Das tut er nicht, wenn er es eilig hat oder fürchten muss, erwischt zu werden.“
Vierziger hatte zum zweiten Mal Grund, beeindruckt zu sein. Diese junge Dame war ziemlich schnell und beobachtete gut. Hätte er ihr wirklich nicht zugetraut. Alle Achtung!
„Sexualmord also, Vergewaltigung? Wieso sieht man nichts davon? Da, keine Rötungen, Blutergüsse oder so was. Und wo ist ihre Unterwäsche geblieben? Und warum immer der Täter? Kann ja auch eine Sie gewesen sein.“
Frau Glück ließ sich nicht irritieren.
„Sexualmord muss ja nicht unbedingt Vergewaltigung heißen. Aber OK. Keine Blutergüsse. Der Punkt geht an den Kandidaten!“, stellte sie respektlos fest.
„Mit Damenwäsche kennen Sie sich auch nicht besonders gut aus, stimmt’s?“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, aber Vierziger verweigerte die Aussage.
Ihr Finger tippte auf eines der Fotos, auf dem Oberschenkel, Becken und Taille der Toten zu sehen waren.
„Da! Nicht die geringsten Abdrücke. Es ist so: Die Haut von uns Frauen ist dünner als eure. Und darunter gibt es eine dickere Fettschicht als bei euch, außer natürlich bei diesen Spaghetti-Tussis von der Werbung! Auf so was steht ihr ja. Aber das sind alles Aliens, das richtige Leben schaut anders aus!“ Richtig ereifert hatte sie sich.
„Also ich muss schon sehr bitten!“ Er spielte den Empörten und dachte sich: Aha, Selbstverteidigung!
„’tschuldigung, war nicht persönlich gemeint! Was ich sagen wollte, war Folgendes: Jeder Slip schnürt in irgendeiner Form ein. So hauchdünn kann er gar nicht sein. Erst recht ein BH. Es müssten also irgendwelche Abdrücke an den Rändern da sein. Sind aber nicht. Was heißt, sie hat keine Unterwäsche getragen, wenigstens nicht die letzte Stunde, bevor sie gestorben ist.“
„Gut! Was haben wir also? Unsere Tote hat bei diesem Falstaff-Dings gearbeitet, wahrscheinlich Kellnerin. In der Küche hätte sie die Uniform nicht gebraucht. Sie hat gelegen, als sie umgebracht worden ist. Den Täter – oder die Täterin – vielleicht gekannt. Möglicherweise vergewaltigt, aber unwahrscheinlich, obwohl eines das andere ja nicht unbedingt ausschließt. Vielleicht wissen wir nach der Obduktion mehr. Und was haben wir nicht? Erstens: Warum hat die Habringer gelogen, noch dazu so blöd? Kann sie sich ja ausrechnen, dass wir dahinterkommen. Zweitens: Wer ist die Frau? Das wird uns auch die Habringer sagen müssen. Und drittens: Wer hat sie umgebracht, und warum? Na ja, zumindest stehen wir nicht mit völlig leeren Händen da. Für den Anfang ja nicht schlecht. Jetzt warten wir einmal ab, was wir von unseren Pfadfindern noch erfahren, und natürlich vom Pathologen, darauf bin ich schon besonders gespannt. Dann werden wir ja weitersehen.“
Nach dieser für seine Verhältnisse extrem langen Rede hatte sich Vierziger einen weiteren Espresso verdient. Gaby Glück schüttelte den Kopf, als er ihr auch eine Tasse hinhielt. Stattdessen nestelte sie aus ihrer riesigen Tasche einen Schokoriegel heraus und machte sich darüber her.
Das Telefon läutete mindestens fünf Mal, bevor Vierziger dranging.
„Ja? – Ah, schönen guten Morgen, gnädige Frau. – Nein, überhaupt nicht. – Natürlich, ich kann in einer halben Stunde da sein. Schon gut, danke für Ihren Anruf, Frau Habringer.“.
„Was wollte die denn?“
„Irgendwie hab ich ja damit gerechnet, dass sie ihren Fehler bemerkt. Kluge Frau! Dann werd ich mir einmal anhören, wie sie sich herausredet. Mal schauen, ob sie klug genug ist. Ich treff mich mit ihr vorm Schiff.“
Gaby Glück legte ihren Schokoriegel weg und griff nach ihrer Tasche.
„Nein, Sie nicht! Ich will unter vier Augen mit ihr reden. Wenn wir zu zweit auftauchen, fühlt sie sich womöglich in die Enge getrieben, Sie verstehen schon: zwei zu eins. Im Moment ist es besser, ich red allein mit ihr, in ihrer eigenen Höhle. Da fühlt sie sich sicher und womöglich kommt sie ins Plaudern. Außerdem kann sie sich vielleicht ja noch an Sie erinnern. Den Trumpf möcht ich momentan nicht aus der Hand geben. Wer weiß, wozu das noch gut ist!“
Gaby Glück war enttäuscht. Da passierte gleich an ihrem ersten Tag was Aufregendes, und sie durfte nicht dabei sein. Er bemerkte ihr langes Gesicht: „Sie finden mir inzwischen alles über die Habringer heraus. Alles: Das heißt, wenn’s geht, auch, wann sie zuletzt am Klo war.“
Bei Tag sah die Gegend ganz normal aus, so als ob es den Fund von heute Nacht nie gegeben hätte. Ein paar beamtete Hunde lagen scheinbar faul in ihrem Zwinger herum. Drüben, auf der anderen Seite des Hafenbeckens, gab es vier Reparaturplätze. Riesige Rampen, auf denen ein ganzes Donauschiff mit der Längsseite ins Trockene gezogen werden konnte. Nur eine davon war besetzt, aber auf dem rostigen Frachtkahn war niemand am Arbeiten. Obwohl er es dringend nötig gehabt hätte, wie Vierziger auch ohne Fachkenntnis unschwer feststellen konnte. Na ja, die Schiffswerft hatte auch schon einmal bessere Zeiten gesehen. Zwei Ruderer ließen ihr Boot zu Wasser. Ein paar Schwäne zog still ihre Runden, eine Entenmutter scheuchte ihre Jungen ins Wasser und ein Dutzend streitsüchtiger Möwen balgte sich um irgendwas Fressbares. Weiter vorne ein einsamer Angler. Kurz vor der Stelle, an der die Dammkrone endete und das Hafenbecken in den Fluss mündete, standen drei große Birken, umringt von wild wucherndem Gebüsch. Die zwei Parkbänke davor rundeten die Idylle ab. Ohne den überquellenden Mistkübel und der Ansammlung von leeren Getränkedosen, Bierflaschen, zerknüllten Zigarettenschachteln und sonstigen Papierfetzen hätte man das Ganze kitschig nennen müssen.
Das Restaurant-Schiff war mit dem Bug zum Ende des Hafenbeckens hin am Ufer vertäut. Es war einer der alten Raddampfer, die man schon vor Jahren außer Dienst gestellt hatte. Die Schiffe, die jetzt den Linien- und Ausflugsverkehr auf der Donau versahen, waren moderner, größer und angeblich wirtschaftlicher. „Falstaff G.S.“ stand vorne in roten, verschlungenen Lettern auf dem strahlend weißen Rumpf. Daneben war ein stilisiertes Weinglas aufgemalt, gekreuzt von Messer und Gabel. Eine Art lebender Zaun aus Koniferen und Buchsbäumen schirmte das Sonnendeck gegen neugierige Blicke von außen ab. Eine Reihe bunter Wimpel, die sich mit roten und gelben Glühbirnen abwechselten, zog sich dicht gedrängt an einer Leine vom Heck über den ausgedienten Schornstein bis zum Bug hin. Der gut zwei Meter breite Landungssteg in der Mitte des Dampfers, neben dem Schaufelrad, war auf der Landseite von blühenden Rosensträuchern flankiert. In einem Bogen zogen sie sich über das geschlossene Gartentor, das den Steg versperrte. Schiffsseitig, in einem Halbbogen aus Neonschrift, noch einmal „Falstaff G.S.“. Weiter hinten gab es noch einen zweiten, unscheinbareren und schmäleren Landungssteg. Von ihm aus führte ein Weg zu den Müllcontainern.
Vierziger ließ sein Auto auf einem der asphaltierten Parkplätze neben dem mit Rosen verbrämten Haupteingang stehen. Das Gartentor war versperrt, anscheinend war noch niemand da, obwohl ein leises Summen vom Schiff zu hören war. Er wollte sich gerade auf den Weg zu den Müllcontainern machen, als ein kleines rotes Cabrio neben ihm einbog. Frau Habringer schwang sich aus dem Auto, klappte ihre Sitzlehne zurück und beförderte zwei Eimer, prall gefüllt mit weißen, roten und gelben Rosen, Efeuzweigen und Schleierkraut, heraus.
„Entschuldigung, Sie warten hoffentlich noch nicht zu lange. Ich hab noch schnell die Deko für heute Abend abholen müssen.“
„Kein Problem, gnädige Frau. Bin selbst erst vor einer Minute gekommen“, erklärte Vierziger und griff nach einem der Blumeneimer. „Wenn ich schon da bin …“ Zahnpasta-Lächeln war nichts dagegen. Vertrauensbildende Maßnahme, dachte er.
Sie hängte sich eine orangefarbene Handtasche über die Schulter, warf die Autotür zu und nahm den zweiten Eimer.
„Dankeschön! Gibt ja doch noch Kavaliere. Kommen Sie!“
Neben der Gartentür war, unter dem Rosenlaub versteckt, ein kleiner Kasten mit einer Zahlentastatur. Frau Habringer tippte eine Nummer ein und die Tür schwang lautlos nach innen auf. Die Glasschiebetüren beim Schiffseingang glitten zur Seite, als sie sich ihnen näherten. Drinnen erwartete Vierziger eine Überraschung. Er konnte nicht genau sagen, was er sich eigentlich erwartet hatte, das hier jedenfalls nicht. Es sah aus wie in einer luxuriösen Hotelhalle. Etwas kleiner, aber immerhin. Roter Teppichboden, moderne, in gebürstetem Messing gefasste Kristall-Leuchten an der Decke und an den mit hellem Holz getäfelten Wänden. In der linken Ecke eine elegante Ledergarnitur im gleichen Farbton wie die Holztäfelung. An der gegenüberliegenden Wand so etwas wie eine Rezeption. Die Bilder, in breiten Rahmen aus ebenfalls gebürstetem Messing, stellten auf luftigen Aquarellen Stillleben mit Obst, Gemüse, Gläsern und Flaschen dar. Es war angenehm kühl in diesem Raum: Klimaanlage, daher also das leise Summen, das er vorhin draußen gehört hatte. Die Habringer hatte ganz offensichtlich einen guten Geschmack und verstand es, Atmosphäre zu schaffen. Sie setzten die Blumen vor der Rezeption ab.
„Wir gehen in mein Büro.“. Sie steuerte auf eine Treppe zu, die rechts nach oben führte. Daneben befanden sich ein kurzer Gang und eine weitere Treppe nach unten. Überall der gleiche rote Teppichboden.
Im ersten Stock bot sich ein ähnliches Bild wie in der Etage darunter. Hinter der Tür, die in der Holztäfelung fast verschwand, öffnete sich ein großer, schmaler Raum. Die gleiche dezente Eleganz wie unten in der Halle. Über die gesamte Breite eine Fensterfront bis in Hüfthöhe. Offenbar war das früher die Brücke gewesen. Rechts ein großer, L-förmiger Schreibtisch, der mit dem kurzen Winkel an der Wand abschloss.
„Bitte sehr, nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen irgendwas anbieten?“ Sie deutete auf den Besprechungstisch. Die Lederpolsterung der Sessel in der gleichen Farbe wie die Garnitur unten, überall das gleiche helle Holz, nur dass der Teppich hier blau war.
„Ein Wasser bitte, wenn’s keine Umstände macht.“
Aus einer Vitrine holte sie zwei Gläser, aus dem in der Wand versenkten Kühlschrank zwei Flaschen Mineralwasser und Eis.
„Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?“, fragte er, als sie sich endlich gesetzt hatte.
Sie drehte, scheinbar gedankenverloren, ihr Glas zwischen den Fingern und starrte aus dem Fenster. Vierziger wartete. Er wollte ihre Vorstellung keinesfalls unterbrechen. Sie war eine elegante Erscheinung. Sehr schlank, das schwarze Leinenkleid ließ die Figur darunter erahnen. Die dunkle, üppige Lockenpracht passte gut zu ihrer sonnengebräunten Haut. Das Make-up konnte allerdings die Schatten unter ihren Augen nicht verdecken.
„Wissen Sie, heute Nacht …“ Sie fischte ein ledernes Zigarettenetui aus ihrer Tasche, öffnete es, schnippte von unten mit den Fingern dagegen und hielt ihm die Packung hin. Mit einem Kopfschütteln lehnte Vierziger ab. Frau Habringer zündete sich selbst eine an.
„Also, heute Nacht“, fing sie noch einmal an, „ich war den ganzen Tag auf den Beinen, ziemlich müde, immerhin war’s ja schon drei und dann … na ja, man findet schließlich nicht jeden Tag eine Leiche mitten in der Nacht.“
Normalerweise tagsüber auch nicht, meine Liebe, wollte er schon einwerfen, schluckte es aber gerade noch hinunter.
„Ich glaub, ich hab mich geirrt.“ Endlich war es heraus. „Das Mädchen ist … war eine von meinen Serviererinnen. Linh Phung Nguyen heißt sie.“ Sie nahm zwei hastige Züge aus ihrer Zigarette und dämpfte sie dann nervös aus. Vierziger sagte noch immer nichts. Sollte sie ruhig noch ein wenig schmoren.
„Sonst weiß ich nichts! Ehrlich! Keine Ahnung, wie sie da hingekommen ist oder wer sie …“
„Aber Sie werden doch wenigstens wissen, wo sie gewohnt hat?“
„Tut mir Leid, aber sie war ja nicht fix angestellt bei mir. Ich hab sie, wie die anderen Mädchen auch, von einem Personal-Leasing-Büro. Das hilft Kosten sparen, und ich kann mich darauf verlassen, dass ich qualifizierte Leute krieg.“ Sie zündete sich eine neue Zigarette an und nahm dann einen Schluck aus ihrem Glas, das sie bis dahin nur in den Händen gedreht hatte. Langsam kehrte ihre Selbstsicherheit wieder zurück.
„Gut, Frau Habringer.“ Vierziger beschloss, die Komödie zu beenden, für dieses Mal. Mehr schaute jetzt nicht heraus. Ende der Plauderstunde.
„Ich kann schon verstehen, dass Sie heute Nacht ziemlich durcheinander waren. Gott sei Dank haben Sie das ja jetzt in Ordnung gebracht. Ich mein, irgendwann wären wir sowieso darauf gestoßen. Trotzdem, danke, dass Sie von sich aus gekommen sind.“
Er ließ sich Name, Adresse und Telefonnummer des Personal-Leasing-Büros geben.
„Ach ja, noch etwas! Ich brauche eine vollständige Liste von allen Personen, die gestern Nacht hier auf dem Schiff waren. Gäste und Personal. Faxen Sie die Liste bis heute Nachmittag in mein Büro.“ Er schob seine Visitenkarte mit Telefon- und Fax-Nummer über den Tisch.
„Das Personal ist kein Problem. Die Gästeliste müssen Sie sich von meinem Kunden besorgen. Die Lebens- und Freizeit Versicherungs-Union. Kennen Sie sicher. Die hatten gestern einen Incenventiv-Abend für ihre Vertreter. Ich schreib Ihnen die Nummer vom Gebietsleiter auf, mit dem hab ich den Vertrag abgeschlossen.“
Er war schon im Aufstehen begriffen, sein Wasser hatte er unberührt stehen gelassen, als ihm noch etwas einfiel.
„Ich hätte da noch ein privates Anliegen, Frau Habringer.“
„Ja?“
„Es ist rein persönliche Neugier und natürlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt.“ Vierziger kam sich vor wie im großen Schauspielhaus.
„Wenn ich kann, gerne! Um meine Zeit machen Sie sich keine Gedanken, wir haben erst heute Abend wieder eine Veranstaltung. Also, was kann ich für Sie tun?“
„Ich war noch nie auf so einem Schiff wie dem Ihren da. Wenn’s Ihnen keine allzu großen Umstände macht, würd ich mir das gerne einmal anschauen.“
„Das ist alles? Mach ich gerne, kommen Sie mit.“
Sie kritzelte noch etwas auf einen der Notizblöcke, die am Tisch lagen, und hielt ihm den abgerissenen Zettel hin: „Die Telefonnummer der Versicherung.“
Wie Vierziger vermutet hatte, war das Büro früher einmal die Brücke gewesen. Auf der freien Fläche hinter dem Treppenaufgang stand, von zwei Fici Benjaminen eingerahmt, eine weitere Ledergarnitur, davor ein niedriger Glastisch mit einigen Zeitschriften darauf, Kochjournale, soweit er sehen konnte. Dahinter befanden sich Aufenthaltsraum und Toiletten fürs Personal, Lagerräume für Tischtücher, Servietten, Dekorationsmaterial und ähnlichen Kram. Sozusagen im Erdgeschoß war zwischen den beiden Treppen ein kurzer Durchgang, der in einen großen Saal mündete. Die runden Tische boten einen chaotischen Anblick.
„Die Reste der Schlacht von gestern, ich hab in der Nacht nur mehr die Blumen weggeräumt. Wenn gedeckt ist, bringen wir da 200 Leute unter. Ohne Tische noch einmal 100 mehr. Da drüben haben wir eine Schank und den Speisenlift. Und hier geht’s auf die Terrasse.“
Sie durchquerten die Reihen der verwüsteten Tische und gingen durch eine Glasschiebetür nach draußen. Vierziger fand sich in einem lauschigen Gastgarten wieder. Der lebende Zaun, den er schon vorher gesehen hatte, schirmte das Plätzchen vollkommen von der Außenwelt ab. Topfpflanzen trennten gemütliche kleine Nischen voneinander, auf dem Boden ein grüner Teppich, der wohl einen Rasen vortäuschen sollte. Am Bug eine etwas erhöhte Bühne, davor eine kleine, aus Parkett bestehende Tanzfläche. Über dem Ganzen spannte sich ein weißes Zeltdach.
„Im Sommer bringen wir hier noch einmal 100 Personen unter.“ Frau Habringer war unüberhörbar stolz auf ihr Reich.
Bevor sie von der Eingangshalle ins Untergeschoß stiegen, wies sie noch auf den Gang neben der Rezeption.
„Da gibt es noch zwei kleinere Seminar-Räume und dahinter eine zweite Terrasse.“
Unten befanden sich links und rechts Gästetoiletten, dahinter Lagerräume für Geschirr und Putzmittel. Am meisten beeindruckte Vierziger die Küche. Er vergriff sich selbst gerne hin und wieder an den Kochtöpfen, nur so zum Hausgebrauch natürlich. Gar kein Vergleich mit einem Arbeitsplatz, von dem aus ein paar hundert Leute verpflegt werden konnten. Dazu Kühl- und Gefrierräume, klimatisiertes Weinlager und was sonst noch alles dazugehörte. Alles in keimfreiem Edelstahl.
„Und was gibt’s da drüben?“, wollte er noch wissen, als sie aus seinem Wunschtraum wieder auftauchten.
„Da sind die alten Kabinen. Wir haben sie gelassen, wie sie waren. Nur etwas modernisiert. Für den Fall, dass sich jemand von unseren Gästen einmal …“, sie machte eine fast unmerkliche Pause, „zurückziehen möchte.“
Ohne lange zu fragen, betrat Vierziger den dunklen Gang. Die Deckenbeleuchtung flammte automatisch auf. Er zählte sieben Kabinen auf jeder Seite. Insgesamt vierzehn. Die Türen hatten keine normalen Schlösser, sondern solche, wie man sie sonst an Toilettentüren fand. Vierziger öffnete die erste auf der rechten Seite des Ganges. Sie war innen dick gepolstert, wie die Tür einer Arztordination. Er betrat ein geräumiges, luxuriös eingerichtetes Zimmer. Dicker ockerfarbener Teppichboden, vor dem Fenster ein kleiner Schreibtisch mit Sessel. Daneben ein kurzes Sideboard, mit integrierter Minibar, oben standen auf einem Tablett ein paar Gläser. Eine Couch, ein Fauteuil, gegenüber eine Fernseh-Video-Kombination. Das große Doppelbett war unbenutzt, auf dem Nachtkästchen daneben eine schwere Kristallvase mit Trockengesteck. Hinten im Eck eine schmale Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Das nächste Zimmer bot den gleichen Anblick. Ebenso das dritte. Alle waren gleich eingerichtet, wenn auch spiegelverkehrt zueinander.
Damit sich die Gäste zurückziehen konnten! Ja, klar! Fragte sich nur wozu!
„Das ist alles legal! Ich hab eine amtliche Genehmigung dafür!“ Frau Habringer war am Anfang des Ganges wie angewurzelt stehen geblieben. Vierziger beachtete sie nicht. Er inspizierte ein Zimmer nach dem anderen. Alle boten das gleiche Bild wie die ersten paar, wenngleich er auch schon acht entdeckt hatte, bei denen die Betten benutzt waren. Und zwar heftig, so wie es aussah. Genauso wie beim zweiten Zimmer auf der linken Gangseite. Mit einem kleinen Unterschied allerdings: Das Bett war hier nur links leicht zerknittert, dafür fehlten ein Polsterüberzug und die Kristallvase mit dem Trockengesteck. Er ging in das Badezimmer. Doppelwaschbecken, darüber ein Spiegelschrank mit Leuchten auf beiden Seiten in der gleichen Art, wie er sie auch sonst schon auf dem Schiff gesehen hatte. In der Dusche standen zwar keine Wassertropfen mehr, sie war aber offensichtlich benutzt worden. Das Badetuch auf dem Gestänge zwischen Duschkabine und Waschbecken war noch ein wenig feucht. Bei dieser Schwüle trocknete eben alles schlecht. Im Spiegelschrank standen zwei Gläser mit Zahnbürsten, eine davon benutzt, die andere noch in Zellophan verpackt. Kleine Packungen mit Seife und Shampoo, die ganz normale Ausstattung von Hotelbädern. Der Inhalt der beiden Schalen daneben gehörte allerdings nicht zum üblichen Hotelstandard. In der einen befand sich eine Hand voll dieser ovalen blauen Tabletten mit dem Namen dieses amerikanischen Pharmakonzerns, in der anderen eine Auswahl verschiedener Kondome. Vierziger griff nach der noch verpackten Zahnbürste und öäüüäüä
„Frau Habringer, ich fürchte, wir haben hier ein kleines Problem!“, sagte Vierziger, als er wieder auf den Gang trat und holte sein Handy aus der Hosentasche. Arbeit für die Pfadfinder! Nach seinem Anruf bei Hintringer blieb er unschlüssig stehen und sah sich noch einmal genau um. Irgendwas war ihm entgangen, hatte er übersehen. Er ging wieder in das Zimmer zurück. Das halbzerwühlte Bett, der Polster ohne Überzug, im Bad das feuchte Badetuch, die benutzte Dusche. In der Wäschetrommel der blutige Kissenbezug, das nasse Handtuch. Nein, hier war es nicht. Bevor er das Bad wieder verließ, warf er noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Dafür, dass es noch nicht einmal Mittag war, sah er schon ziemlich ramponiert aus. Unter den Achseln zeichneten sich auf seinem Polo-Shirt dunkle Flecken ab. Kein Wunder bei den Temperaturen, die draußen herrschten. Gott sei Dank hatte er im Büro ja eins zum Wechseln. Plötzlich fiel es ihm ein! Wie konnte er nur so derart vernagelt sein!
„Frau Habringer, zeigen Sie mir doch einmal den Umkleideraum fürs Personal.“
Der Raum hinter den Lagerräumen im ersten Stock nahm die ganze Breite des Schiffes ein, genau wie Habringers Büro auf der gegenüberliegenden Seite. Hier gab es nur zwei schmale Fenster, die Vorhänge zugezogen, dazwischen eine Tür hinaus auf etwas, das aussah wie ein schmaler Balkon. Rechts an der Wand ein paar Tische mit Stühlen davor und Spiegeln dahinter. Auf dem fahrbaren Kleiderständer gleich links neben der Tür hingen ein paar dieser Uniformen, wie sie die Tote getragen hatte. Dahinter zwei Umkleidekabinen, wie man sie in Kaufhäusern findet. Neben den Kabinen eine Sitzbank über den Rest der Wand hin, darüber eine Reihe von Garderobehaken. Bis auf einen alle leer. Auf diesem einen Haken hingen eine Jean, eine weiße Bluse und ein Plastiksackerl mit dem Aufdruck einer Boutique, die Vierziger aus dem Shopping-Tempel in der Innenstadt geläufig war. Auf der Bank stand eine kleine goldfarbene Handtasche, darunter ein paar weiße Sportschuhe mit goldenen Streifen.
„Sind das die Sachen Ihrer Kellnerin?“
„Keine Ahnung. Kann schon sein, ich hab sie nicht gesehen, wie sie gestern gekommen ist.“
Vierziger ging mit der Handtasche zu den Spiegeln hinüber und leerte den Inhalt auf den Tisch. Ein Handy, eine winzige Geldbörse aus goldfarbenem Leder, Lippenstift, Eyeliner, Augenbrauenstift und eine kleine Make-up-Schatulle, eine goldene Nagelschere, ein Kamm, eine Minipackung Papiertaschentücher und ein Schlüsselbund mit drei Schlüsseln, ohne Anhänger. Das Handy war einer dieser neuen Winzlinge mit eingebauter Kamera und natürlich ebenfalls goldfarben. Auf der Tasche und an der Geldbörse war in Metall das Markenzeichen des Herstellers angebracht: GUCCI! Das kannte sogar Vierziger.
„Wenn das Zeug echt ist, dann hatte die Dame einen ziemlich erlesenen Geschmack“, sagte er zu Frau Habringer, die noch immer in der Tür stand. Und vor allem teuer. Zu teuer für eine Aushilfskellnerin, fand Vierziger. Er räumte alles wieder ein und sah sich die übrigen Stücke an. An der Jean war ein schmaler Gürtel, wie hätte es anders sein können, ebenfalls in Gold. Die Jean selbst hatte einen Einnäher in italienischer Beschriftung von Dolce & Gabbana, die Bluse stammte laut Markenzeichen von Laura Biagotti. Vierziger hatte nicht mehr den geringsten Zweifel, dass die Sachen alle echt waren. In dem Plastiksackerl befanden sich ein winziger, mit schwarzen Spitzen besetzter Damenslip und der dazugehörige BH. Bestimmt auch von exquisiter Herkunft, aber er hatte keine Lust, sich in aller Öffentlichkeit an die Untersuchung getragener Dessous zu machen. Er stopfte alles zusammen in die Plastiktasche und ging ohne ein weiteres Wort mit Frau Habringer wieder nach draußen, um vor dem Schiff auf die Leute von der Spurensicherung zu warten.
In der verwüsteten Idylle vor den Birken beim Damm saß ein alter Mann auf einer der Bänke. Sein Äußeres war ganz und gar der vergammelten Umgebung angepasst. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck aus dem Doppler mit wahrscheinlich billigstem Supermarktfusel, den er neben sich stehen hatte.
Ein Lastwagen versperrte die schmale Kurve am Ende des Hafenbeckens. Die schwere hydraulische Presse an seinem Hinterteil stopfte unter Knirschen, Ächzen und Splittern den Inhalt eines schwarzen Containers in seine Eingeweide. Müll, von dem wir allesamt solche Mengen produzierten, als würde unser Leben davon abhängen.