ISBN: 978-3-99074-083-5
1. Auflage 2019, Marchtrenk, Österreich
© 2010 Verlag federfrei
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Umschlagabbildung: Michaela Müller, JLaub, FX Berlin, Fotolia
Lektorat: Verlag Federfrei
Die Handlung, Namen und Personen in diesem Krimi sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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Rächt euch nicht selbst, Geliebte,
sondern gebt Raum dem Zorn Gottes;
denn es steht geschrieben:
"Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr."
Römer-Briefe, Kapitel 12, Vers 19
Emmerich Schiefer blätterte in den Abrechnungen seiner Spedition. Die Zahlen begannen sich einer Katastrophe zu nähern, aber das war es nicht, was ihn im Augenblick beunruhigte. Fünfzig Jahre lang hatte er sich von solchen Kleinigkeiten nicht unterkriegen lassen, das würde auch dieses Mal nicht passieren. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf die Uhr. Über den kleinen Fernsehapparat auf dem Bord neben seinem Schreibtisch flimmerte die Übertragung eines Hallenfußball-Turniers. So wie die Dinge lagen, hatte der Verein, dessen Präsident er war, den Sieg schon in der Tasche. Doch auch das interessierte ihn im Moment nicht. Er paffte ein paar Mal an seiner Zigarre und schenkte sich noch einen Cognac ein – schon den dritten an diesem Abend. Nach Ansicht seines Hausarztes hätte der alte Mann eigentlich beides nicht dürfen. Aber sein Leben lang hatte er sich von niemandem etwas verbieten lassen, schon gar nicht von diesem Quacksalber, der außer einer kleinen Dorfpraxis nichts Bemerkenswertes vorweisen konnte, was er im Leben geleistet hätte. Emmerich Schiefer drehte sich mit seinem Sessel zur Glaswand, die hinter ihm vom Boden bis zur Decke reichte. Das Licht aus seinem Büro zeichnete ein gelbes Rechteck auf den Parkplatz vor dem Gebäude. Er hatte absolut keinen Sinn für das Schauspiel, das die dicken, am Fenster vorbeitaumelnden Flocken boten. Seit Beginn des Winters war noch kein Schnee gefallen, und seinetwegen hätte das ruhig auch so bleiben können. Ohne dieses weiße Zeug waren die Straßen sicherer und der Spritverbrauch seiner Fahrzeuge niedriger. Gut hundert dieser Lkw-Züge standen in Reih und Glied da draußen, gerade ein Fünftel der Flotte, die unter seinem Kommando und mit dem Geld der Bank auf den Straßen unterwegs war. Weiter draußen, verborgen hinter einem dichten Vorhang aus Schneeflocken und in der Dunkelheit eher zu erahnen als zu erkennen, lag noch das endlose Containerlager. An einem anderen Tag hätte ihn dieser Anblick mit Stolz erfüllt. An diesem Abend aber wartete er mit Ungeduld auf eine Ladung aus Palermo. Einer Ungeduld, die ihn in den letzten Stunden immer nervöser gemacht hatte. Emmerich Schiefer war es nicht gewohnt zu warten – auf nichts und auf niemanden. Schon gar nicht auf einen seiner Fahrer. Langsam tauchte neben der Nervosität ein anderes Gefühl auf. Der Sattelzug aus Sizilien war jetzt schon einen halben Tag lang überfällig. Weder über Funk noch über das Handy konnte er den Fahrer erreichen. Nebenan, im Büro seiner Tochter, stand ein Computer, von dem aus man das Fahrzeug mittels eines GPS-Systems lokalisieren hätte können. Aber es war Samstagabend und seine Tochter amüsierte sich wahrscheinlich mit ihren nichtsnutzigen Freunden in irgendwelchen Bars. Vielleicht hätte er sich doch mit diesem neumodischen Kram auseinandersetzen sollen. Eine Zeit lang sah er zu, wie sich die Schneedecke vor dem Gebäude aufplusterte und dicker wurde. Dieses andere, gelbe Gefühl machte sich neben der Nervosität breit und verdrängte es schließlich völlig. Hoffentlich war der Lkw bei diesem Wetter nicht verunglückt, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Der gelbe Zorn grinste ihn an und blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht. Eine viertel Stunde noch, beschloss Emmerich Schiefer, dann würde er die Warterei aufgeben und in die Stadt fahren.
***
Er war jetzt schon den dritten Tag auf der Straße. Am Donnerstag hatte er in Palermo früh am Morgen den Kühlaufleger an sein Zugfahrzeug gekoppelt und sich auf der Fähre nach Neapel eingeschifft. Von dort aus ging es auf der Autobahn weiter nach Norden. Nach zwei Nächten in der Schlafkoje seines Trucks, die letzte auf einem Rastplatz in der Nähe von Ferrara, war er jetzt auf der Höhe von Pontebba, wo die Autobahn eine Drehung nach Osten machte, um dann parallel zum Alpenhauptkamm zu verlaufen. Dort hatte bei einbrechender Dunkelheit dieser verdammte Schneefall begonnen. Zuerst nur leicht, aber je tiefer er ins Gebirge fuhr, desto dichter fielen die Flocken und nach der Grenze bei Arnoldstein artete das Ganze überhaupt in ein Chaos aus. Mit 20 Tonnen sizilianischem Käse und Oliven im Rücken tastete er sich durch die Finsternis und den Schneesturm. Schon eine Zeit lang war er keinem anderen Wagen mehr begegnet, außer zwei Räumfahrzeugen der Straßenmeisterei, die mit ihren Pflügen leider nur die Gegenfahrbahn vom Schnee befreiten. Wer begab sich auch schon freiwillig in diese kalte Hölle. Eigentlich war er ja ganz froh, dass er die Autobahn für sich alleine hatte und nicht noch auf andere Verkehrsteilnehmer achten musste. Es war auch so schon anstrengend genug, in dem schmalen Lichtkegel die Spur auf der konturlosen weißen Piste zu halten. Das Thermometer auf dem Armaturenbrett zeigte eine Außentemperatur von minus sechs Grad, was bedeutete, dass er wahrscheinlich blankes Eis unter den Rädern hatte. Das monotone Motorengeräusch, die Wärme in der Kabine und das Gedudel aus dem Radio machten in schläfrig. Von Zeit zu Zeit zwinkerte er mit den Augen und schüttelte heftig den Kopf um die beginnende Müdigkeit loszuwerden. Am liebsten hätte er den nächsten Parkplatz angelaufen, um eine Stunde zu schlafen, aber das konnte er sich nicht leisten. Durch den Schneefall hatte er ohnehin schon mindestens zwei Stunden verloren. Wenn er sein Ziel nicht noch an diesem Tag erreichte, war er seinen Job los und ihm blühte das gleiche Schicksal wie schon ein paar seiner Kollegen davor. Er drosselte die Heizung, in der Hoffnung, die aus dem Gebläse strömende kühlere Luft würde ihn erfrischen. Dann angelte er sich die Thermoskanne vom Beifahrersitz und goss sich einen Becher heißen Kaffee ein. Die Autobahn war an dieser Stelle leicht abschüssig und dieser kurze Augenblick der Unachtsamkeit genügte, um den Truck aus der Spur zu bringen. Der hastige Griff ins Lenkrad, um den Fahrfehler wieder auszugleichen, kam zu spät. Das Zugfahrzeug stellte sich quer, der Aufleger brach aus und der gesamte Lastwagenzug begann zu schleudern. Auf der glatten Fahrbahn waren alle Bemühungen, das Gespann wieder in den Griff zu bekommen, vergeblich. Er rotierte wie ein Kreisel, durchbrach die Leitplanken und schlitterte, sich ständig weiterdrehend, über die Gegenfahrbahn. Über den durchdrehenden Rädern heulte der Motor auf, Metall schrammte kreischend an Metall entlang, mit einem dumpfen Geräusch brach die hintere Doppelachse, als der Sattelzug das Brückengelände zertrümmerte. Mit einem Schlag war alles still. Die gut fünfzig Meter in die Tiefe kamen ihm endlos lang vor, obwohl der Fall allerhöchstens zwei oder drei Sekunden dauerte. Er dachte an seine Frau und die kleine Tochter, die erst gerade einmal ein Jahr alt war. Als der Hänger senkrecht auf dem Talboden aufprallte, hielt er sich noch immer krampfhaft am Lenkrad fest. Die Fahrerkabine sprang aus der Anhängerkupplung und knallte auf die gefrorene Erde. Kurz darauf neigte sich der Hänger knirschend und begrub die Zugmaschine unter sich, einen zerknitterten Klumpen Stahl zurücklassend, aus dem Öl und Blut tropfte. Ein paar Sekunden später erhellte ein greller Lichtschein die Unfallstelle, als der Aufleger des Trucks explodierte und völlig ausbrannte.
***
Die alte Kastanie stand einen knappen halben Meter außerhalb des gelben Gevierts, das vom Licht aus dem Fenster im ersten Stock in den Schnee gezeichnet wurde. Seit Einbruch der Dunkelheit stand die schwarze Gestalt hinter dem Baum und achtete genau darauf, nicht aus dem Schatten zu treten. In den letzten Stunden war die Temperatur gefallen. Die Kälte war immer weiter durch den Skianzug und zwei Schichten aus dicker Angorawäsche gekrochen. Am Ende hatte sie sich in der Haut verbissen und nagte nun an seinen Knochen. Er versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Manchmal ballte er seine Finger in den dicken Handschuhen zu Fäusten und hob abwechselnd seine Füße vom Boden. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass die Kälte seine Gelenke steif werden ließ. Dabei war es gerade so ein kaltes Gefühl, das ihn hierher gebracht hatte. Wut! Es war eine sonderbare Sache mit dieser Wut. Am Anfang, als sie noch jung und leicht und glühend war, hatte sie ihm kalte Schauer über den Rücken gejagt. Sie streifte unstet umher, bereit und willens, alles in ihrer Umgebung anzugreifen. Mit zunehmendem Alter war sie gereift, hatte an Kraft und Stärke zugelegt und sich dabei abgekühlt. Jetzt hockte sie schwer und kalt wie ein Klumpen Eis in seinen Eingeweiden und wärmte von da aus sein Blut. Er hatte gelernt, sie zu zähmen und zu beherrschen, so wie man einen Pitbull beherrschen können sollte. Und jetzt stand er hier unter diesem Baum, hergeführt von seiner Wut, und wartete. Eine Zeit lang hatten die Äste des Baumes noch den Schnee von ihm ferngehalten. Dann konnten sie ihre feuchte Last nicht mehr tragen. Seine Schultern und die bis auf einen schmalen Schlitz vor den Augen geschlossene Mütze waren von kleinen weißen Hügeln bedeckt. Endlich verdunkelte sich das gelbe Viereck vor dem Haus. Nur noch aus der Glasfüllung des Portals fiel ein schmaler fahler Lichtstreifen. Er ballte noch einmal die Hände zu Fäusten, streckte seine Muskel durch und huschte dann in einem weiten Bogen hinter das einzige Auto auf dem verschneiten Parkplatz. Die Tür der Spedition fiel ins Schloss und verschluckte das metallische Klicken, als er seiner Waffe entsicherte.
Josef Vierziger war ein leidenschaftlicher Frühaufsteher, während er seiner Freundin taxfrei zutraute, ihm die Gurgel umzudrehen, hätte er sie auch nur eine einzige Minute vor acht geweckt. Bis dahin hatte er noch eine gute halbe Stunde. Seit sechs saß er schon in Connys kleiner Küche. In der Zeit hatte er vier Kaffee getrunken und drei Zeitungen studiert. Es war das übliche Gewäsch: Wieder eine Koalitionsregierung, deren Arbeit sich im Beschimpfen der Partner erschöpfte, wieder einmal ein Pädophilen-Ring ausgehoben, wieder ein Lastwagen, dem die Schneefahrbahn über die Alpen zum Verhängnis geworden war und wieder ein paar Skandälchen um Sternchen, die gerne Stars gewesen wären. Der Welt ging’s gut, solange sie keine anderen Sorgen hatte. Jetzt stand er vor dem Fenster und betrachtete die verschneite Stadtlandschaft unter ihm. Irgendwann in der Nacht musste der Schneefall, der am Samstagnachmittag begonnen hatte, aufgehört haben. An einem klaren Tag hätte er von der Wohnung im zwölften Stock bis ins Gebirge sehen können. An diesem Morgen aber verhinderten das die noch immer schneeschwangeren Wolken. Der Blick reichte gerade einmal vom Fluss und dem Konzerthaus am südlichen Ufer bis hinaus zu den Dampfsäulen des Stahlwerks. Von so weit oben aus wirkte alles ruhig und friedlich. Es sah aus, als hätte sich die Stadt eine Weste aus unbefleckter, weißer Unschuld zugelegt. Der Schnee dämpfte alle Geräusche und der Tag hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, diese Weste ernsthaft zu besudeln. Aber in über dreißig Jahren als Polizist hatte er, neben einigen anderen Dingen, vor allem eines gelernt: dass sich unter weißen Westen nur allzu oft schmutzige Hemden und darunter eine noch viel schmutzigere Haut verbargen.
Vierziger wandte sich vom Fenster ab und machte sich daran, das Frühstück vorzubereiten. Er versprudelte vier Eier in einer Glasschüssel, gab eine Handvoll Shrimps und die klein geschnittene Hälfte einer winzigen Chilischote dazu und stellte eine Pfanne mit einem Stück Butter auf den Herd. Gerade als er die Kaffeemaschine einschalten wollte, schlug sein Handy an. Vierziger wünschte den Störenfried zum Teufel und ließ es einfach klingeln. Nach dem achten Klingelintervall verstummte das Telefon. Gewonnen! Zufrieden wandte er sich wieder der Frühstückszubereitung zu. Gerade als er die Herdplatte unter seiner Eierpfanne aufgedreht hatte, meldete sich das Handy von Neuem. Er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit des Anrufers gerechnet. Genervt drehte er die Platte wieder ab, ging in Connys Vorzimmer und fischte das Telefon aus seinem Sakko, das dort an der Garderobe hing. Nach einem Blick auf das Display drückte er die grüne Taste: „Gaby, du weißt schon, dass ich diese Woche Urlaub hab? Wenigstens diese paar Tage kannst du dich mit deinen Mördern allein herumschlagen!“, brummte er unwirsch.
Gaby Glück war seit einem guten halben Jahr seine neue Assistentin, seit sein alter Kollege sich in den Ruhestand verabschiedet hatte. Gut, sie war noch ziemlich neu in dem Geschäft, aber bei ihrem ersten gemeinsamen Fall mit der blonden Asiatin hatte sie sich ganz tapfer geschlagen.
„Tut mir leid Josef, Befehl von ganz oben. Und woher weißt du überhaupt, dass ich einen Toten hab?“
„Wegen einer entgleisten Straßenbahn wirst du mir ja hoffentlich nicht auf den Geist gehen! Also, was gibt’s?“
Nach einem zehnminütigen Wortschwall war Vierziger im Bilde. Es hatte einen dieser Großkopferten erwischt. Emmerich Schiefer: Dorfbürgermeister, Landespolitiker, Funktionär der Wirtschaftskammer, Präsident eines Fußballvereines und ganz nebenbei auch noch Besitzer einer mittelprächtigen Spedition. Vierziger kannte den Mann vom Hörensagen. Gabys Schilderungen zufolge war es eine unappetitliche Sache. Einerseits was die Bedeutung des Toten anlangte, andererseits in Bezug auf die Umstände, die ihn vom mehr oder weniger blühenden Leben ins Jenseits befördert hatten.
„… jedenfalls glaub ich, dass es gut wär, wenn du selbst herkommst – nicht nur wegen des Chefs. Den Dr. Liebmayer hab ich schon angerufen und der Hintringer ist mit seinen Leuten von der Spurensicherung auch schon unterwegs“, schloss Gaby ihren Bericht.
Vierziger überlegte. Er ließ sich nur ungern in seinem Urlaub stören. Was aber viel schwerer wog: Er hatte Conny versprochen, mit ihr eine Shopping-Tour zu unternehmen. Nun war es ja nicht gerade so, dass das Herumlungern in Boutiquen zu Vierzigers bevorzugten Freizeitbeschäftigungen zählte, aber versprochen war versprochen. Er war zwar erst seit einem halben Jahr mit Conny zusammen, trotzdem wusste er nur zu genau, wie sauer sie werden konnte, wenn er ein gegebenes Versprechen nicht einhielt. Andererseits – wenn sogar der Chef, sein ehemaliger Schulkamerad Helmut Zulehner, wert darauf legte, ihn dabei zuhaben … War übrigens typisch: Zulehner war wieder einmal zu feige gewesen, ihn selbst anzurufen.
„Was ist jetzt, Josef?“ Gaby wartete noch immer auf eine Antwort.
„Ja, ja, ich komm. Wird aber etwas dauern, bis ich da sein kann.“
Sein Jagdinstinkt hatte gewonnen. Gleichzeitig entging er damit – vorerst wenigstens einmal – einer Rundreise durch die Welt der Damenober-, -unter- und Fußbekleidung. Für Conny würde er sich allerdings was ganz Besonderes einfallen lassen müssen. Darüber konnte er sich aber später noch immer den Kopf zerbrechen. Er stellte die Schüssel mit den Eiern in den Kühlschrank und säuberte die Pfanne. Bevor er ging, schrieb er noch einen Zettel mit einer Erklärung und schaltete die Kaffeemaschine ein. Conny sollte wenigstens ihre morgendliche Koffeindosis bekommen, wenn sie entdeckte, dass Vierziger die Flucht ergriffen hatte. Dann schlich er sich wie ein Dieb aus der Wohnung. Nach der Tiefgarage wandte er sich nach Osten und fädelte sich in die Schlange der morgendlichen Pendler ein, um auf der Autobahnbrücke den Fluss zu überqueren. Es kam ihm vor, als würde der Verkehr heute noch langsamer fließen als sonst um diese Zeit. Teils lag das natürlich an den winterlichen Wetterverhältnissen – an den Fahrbahnrändern türmte sich eine schmutzig-graue Masse, die am frühen Morgen einmal weißer Schnee gewesen war. Andererseits lag es auch an dem Fahrzeug des Straßendienstes, dessen orange Warnleuchten Vierziger weiter vorne blinken sah. An und für sich war Vierziger ja mit einer Engelsgeduld ausgestattet, die aber das Dahinkriechen in einer Autokolonne bestimmt nicht miteinschloss. Als dann auch noch der Radiomoderator die Neuigkeit verkündete, dass es wegen der herrschenden Wetterverhältnisse auf der Autobahn „Stop-and-Go-Verkehr“ gab, war es endgültig vorbei. Vierziger ließ das Fenster herunter, stellte das Blaulicht aufs Dach und schaltete die Sirene ein. Er konnte sich lebhaft ausmalen, was die Kollegen in den anderen Autos dachten, aber darum konnte er sich im Augenblick wirklich nicht kümmern. Erst als er die Untertunnelung am Stadtrand hinter sich gelassen hatte, lichtete sich die Kolonne. Der Weg Richtung Flughafen war jetzt frei. Die Spedition Emmerich Schiefers lag dort ganz in der Nähe, knapp zwei Kilometer hinter dem letzten Shoppingcenter. Außerhalb des besiedelten Gebietes hüllte sich die Landschaft wieder in unschuldiges Weiß. Es hatte wieder ein leichter Schneefall eingesetzt. Die Gegend war hier völlig flach. Am Horizont verschmolzen Himmel und Erde zu einer fahlen blau-weiß-grauen Einheit, vor deren Hintergrund sich die Gebäude der Nord-Süd-Logistik abzeichneten. Eine Hundertschaft russischer Nebelkrähen hatte sich auf den Feldern neben der Straße eingefunden, so als ob eine größere Abordnung von Totengräbern dem Verblichenen eine letzte Referenz erweisen wollte.
Als Vierziger in die breite Einfahrt der Spedition einbog, raste ein roter Sportwagen aus dem Betriebsgelände. Nur durch eine Notbremsung konnte er einen Zusammenstoß gerade noch vermeiden. Er kam ins Schleudern, schlitterte auf dem glatten Asphalt über den Straßenrand hinaus und blieb nur wenige Zentimeter vor einer alten schneebedeckten Kastanie zum Stehen. Aufgeregt fuchtelnd kam ein Uniformierter auf das Auto zugerannt. Er riss die Tür auf: „Ist Ihnen was passiert, Herr Major?“ Vierziger musste ihn ziemlich perplex angestarrt haben.
„Ihre Kollegin hat Sie angekündigt, ich soll Sie hier abholen“, fühlte sich der Polizist bemüßigt hinzuzufügen und deutete dabei auf das noch immer eingeschaltete Blaulicht auf dem Dach von Vierzigers Wagen.
„Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Anton Peham, ich bin der Postenkommandant hier im Ort.“
„Wer war den der Verrückte da eben?“
„Die Verrückte!“, korrigierte ihn der Postenkommandant, „das war die Juniorchefin. So wie es aussieht, ab jetzt die neue Besitzerin von dem Ganzen da.“
„Fährt die immer so?“
„Na ja, manchmal müssen wir bei ihr schon beide Augen zudrücken. Aber was soll man machen – sie ist die Tochter vom Bürgermeister!“ Peham zuckte mit den Schultern.
„Eh klar, da hat sie natürlich Narrenfreiheit! Steigen Sie lieber ein und bringen Sie mich dahin, wo man den Vater dieser Unglücklichen gefunden hat!“ Bevor Peham noch etwas sagen konnte, knallte Vierziger ihm die Autotür vor der Nase zu und deutete auf die Beifahrerseite.
Sie umrundeten das Bürogebäude und passierten einige Hallen, vor denen mehrere Reihen Sattelzüge geparkt waren. Dahinter erstreckte sich ein endlos scheinendes Lager von übereinandergestapelten Containern. Alles war von fast einem halben Meter Schnee bedeckt, lediglich die Straße, die sie entlangfuhren, war anscheinend geräumt worden. Am Ende der Containertürme standen die Wagen von Hintringers Spurensicherungs-Team, die Autos von Gaby und Dr. Liebmayer und ein Rettungsfahrzeug. Ein gut zwei Meter hoher Zaun trennte hier das Speditionsgelände von einem dahinter liegenden kleinen Wäldchen. Vierziger blieb hinter der Rettung stehen und schaltete endlich auch das Blaulicht am Dach seines Wagens aus.
„Wer hat den Toten gefunden?“, wandte er sich an Peham, bevor er ausstieg.
„Der Platzwart. Er kontrolliert jeden Morgen das ganze Grundstück und bei diesem Container ist ihm was komisch vorgekommen, sagt er.“
„Diesen Platzwart will ich dann als Ersten sprechen. Sehen Sie zu, dass er da ist!“, brummte Vierziger und kletterte aus dem Auto.
Gaby kam ihm entgegen. Sie trug einen glänzenden pinkfarbenen Parka, die mit weißem Pelz besetzte Kapuze hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Dazu trug sie weiße Cordjeans und pelzbesetzte Stiefel in der gleichen Farbe wie ihr Parka.
„Willst du ihn sehen? Dr. Liebmayer ist schon drin.“ Sie zeigte auf den offen stehenden Container hinter ihr. „Ich sag’s dir aber gleich – ein schöner Anblick ist das nicht!“
„Es wird mich schon nicht gleich umbringen! Wo ist der Hintringer mit seinen Leuten?“
„Die sitzen in ihren Autos. Wer friert sich hier draußen schon freiwillig den Arsch ab?“
„Sei so gut und schick die Rettung wieder weg. Der Dorfsheriff soll lieber einen Leichenwagen herbestellen.“
Vierziger wandte sich dem Container zu, einem Quader aus Stahl mit einem Querschnitt von etwa drei mal drei Metern und einer Tiefe von vielleicht sechs Metern. Links und rechts der beiden offenen Halbtore waren Scheinwerfer platziert, deren Stromleitungen zu einem der Wagen des Spurensicherungs-Teams führten. Das Innere war völlig leer, bis auf einen umgeworfenen Holzstuhl im hinteren Teil, neben dem sich Dr. Liebmayer zu Boden beugte. Erst als Vierziger neben dem Gerichtsmediziner stand, konnte er erkennen, was sich hinter dem Stuhl verbarg. Emmerich Schiefer – Vierziger kannte ihn von diversen Zeitungsberichten – war mit Kabeln darauf festgebunden. Seine Knie waren nach hinten abgewinkelt, von ihnen führte eines der Kabel nach oben, wo es sich mit einer Schlinge tief in seinen Hals gegraben hatte. Eine dunkle Masse war um seinen Mund verschmiert, seine Augen starrten weit aufgerissen ins Leere.
„Und, Doktor, was sagt er Ihnen?“
„Er erzählt mir eine ziemlich hässliche Geschichte, verehrter Herr Oberkriminalrat.“
So ein Titel existierte überhaupt nicht, und selbst wenn, Vierziger hätte ihn sicher nicht geführt.
„Sehen Sie, hier: Seine Knie sind nach hinten gebogen und von den Fesseln seiner Fußknöchel führt das Kabel zu der Schlinge um seinen Hals. Diese Stellung hätte auch ein um Jahre jüngerer Mann als er nicht besonders lange halten können. Er hat sich quasi selbst erdrosselt, und das wahrscheinlich bei vollem Bewusstsein, was mit ihm passiert! Eine besonders perfide Art, jemanden in den Hades zu schicken.“
„Was schätzen Sie, wie lange ist er schon tot?“
„Das kann ich im Augenblick nur ungefähr sagen. Leider sind ja bei diesen Temperaturen unsere lieben Freunde, die Schmeißfliegen, nicht zugange. Aber schauen Sie, die Totenstarre ist noch nicht abgeklungen.“ Dr. Liebmayer demonstrierte am Kopf des Toten, wie unbeweglich die Leiche noch war. „Das bedeutet … auf keinen Fall länger als 48 Stunden. Und sehen Sie sich das an!“ Er wies mit dem Finger auf die linke Gesichtshälfte von dem, was einmal Emmerich Schiefer gewesen war. „Die Leichenflecke sind voll ausgeprägt. Das tritt nach etwa 10 bis 16 Stunden ein. Also irgendwo dazwischen, Genaueres kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich ihn am Tisch liegen habe. Nach der Lage der Flecken zu urteilen, würde ich sagen, er hat den Sessel noch selbst umgeworfen, bevor ihm die Luft zu knapp geworden ist!“
Vierziger sah sich das Gesicht des Toten näher an. Die rechte Hälfte hatte eine Farbe wie durchscheinende Eierschalen, während die linke Hälfte grau-violett verfärbt war. Ohne die vom schlagenden Herzen in Gang gehaltene Zirkulation blieb das Blut in den Gefäßen stehen, die roten Blutkörperchen folgen der Schwerkraft, sinken nach unten und beginnen sich zu zersetzen, was sich schon nach kurzer Zeit in einer Verfärbung der Haut auswirkt. Jeder Kriminalist kannte das.
„Ich ruf Sie morgen Mittag an!“ Dr. Liebmayer wusste auch ohne Worte, was Vierziger von ihm wollte.
„In der Früh wär mir lieber! Dieses schwarze Zeug da um seinen Mund, was ist das?“
„Sieht nach altem Maschinenöl aus und verbreitet auch genau so einen lieblichen Duft. Aber wie gesagt …“
„Jaja, ich weiß schon: Morgen!“, schnitt ihm Vierziger das Wort ab. „Ich werd versuchen, mich in Geduld zu üben.“
„Eine Kleinigkeit hab ich noch für Sie, mein lieber Herr Generalmajor.“ Vierziger verdrehte die Augen. Die Vorliebe des Gerichtsmediziners für absurde Titel ging ihm manchmal gewaltig auf die Nerven.
„Das hier,“, Dr. Liebmayer zeigte auf ein kleines Loch von etwa einem halben Zentimeter Durchmesser, durch welches das Sakko des Toten am rechten Oberarm beschädigt war, „das könnte ein Einschussloch sein.“
„Also mit einem Schuss gefügig gemacht?“
„Wär durchaus möglich. Allzu schlimm kann es jedenfalls nicht gewesen sein, die Kugel muss noch stecken. Zumindest kann ich kein Austrittsloch sehn. Morgen werd ich mehr wissen!“ Dr. Liebmayer richtete sich auf und streifte die dünnen Gummihandschuhe ab.
Was soll denn das für ein Spruch sein, dachte Vierziger, morgen wusste man immer mehr als tags zuvor, es sei denn, man wäre tot. Und selbst dann wusste man mehr als zuvor, auch wenn man dieses Wissen mit keiner lebenden Seele mehr teilen konnte.
„Kann ich jetzt den Hintringer mit seinen Leuten hereinlassen?“, wollte Vierziger wissen.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können! Ich räum das Feld. Aber vergessen Sie nicht, mir das hier hübsch verpackt ins Institut zu schicken.“ Er deutete auf den toten Emmerich Schiefer.
„Nein, ich werd mir mit der Leiche zu Hause den Balkon dekorieren!“ Dr. Liebmayer tat ihm leider – ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten – nicht den Gefallen, darauf einzugehen. Statt dessen verabschiedete er sich wortreich von Gaby, die draußen vor dem Container stand. Fehlt gerade noch, dass er sie auch noch küsst, dachte Vierziger.
Er wandte sich wieder der Leiche zu. Welchen Hass musste der Mörder gehabt haben, um auf diese Weise zu töten. Oder sollte diese Grausamkeit ein Hinweis, irgendein Zeichen, vielleicht eine Erklärung sein? Was war das bloß für ein ekelhaftes Zeug, das dem Toten da um den Mund klebte. Vierziger nestelte ein Papiertaschentuch aus seiner Jacke und tupfte ein wenig von der Masse ab. Es roch fast ein wenig fruchtig und doch scharf, nach einer Mischung aus Diesel, altem Schmieröl und irgendetwas Chemischem. Und dieses Ölgemisch war nicht nur um den Mund verschmiert, auch die ganze Mundhöhle war innen schwarz. Im Gesicht waren ein paar halbkreisförmige schwarze Abdrücke zu erkennen. Sah aus, als ob Schiefer dieses Zeug eingeflößt worden wäre. Er ließ das Taschentuch neben der Leiche fallen und ging hinaus. Der Rettungswagen war inzwischen schon abgerückt.
„Na, fertig geturtelt?“, fauchte er Gaby an.
„Hallo, was ist denn dir für eine Laus über die Leber gelaufen?“ Gaby stampfte von einem Fuß auf den anderen und schlang dabei ihre Arme um sich selbst, um die Kälte zu vertreiben.
„Ich bin in Urlaub, mir ist kalt, wir haben da eine Promi-Leiche – ich freu mich jetzt schon auf die Predigt vom Chef – und was Conny mir erzählen wird, weil ich sie versetzt hab, möcht ich mir gar nicht vorstellen! Reicht das?“
„Du tust ja so, als ob ich diesen Menschen umgebracht hätte! Und kalt ist mir auch, deswegen brauchst du deinen Frust nicht an mir auslassen! Und Conny wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ Gaby kannte Vierzigers Freundin von der Weihnachtsfeier. Die beiden hatten sich auf Anhieb gut verstanden, aber so wie sie Conny einschätzte, ließ sich die sicher eine niedliche Gemeinheit für ihn einfallen. Bei dem Gedanken musste Gaby unwillkürlich schmunzeln.
„Brauchst gar nicht so blöd grinsen! Wo ist denn dieser Dorfpolizist hingekommen? Und ist der Platzwart schon da, der den Schiefer gefunden hat?“
„Die sitzen beide im Mannschaftswagen der Spurensicherung. Dort gibt’s eine Standheizung!“
„Schön! Schick mir den Platzwart in mein Auto und red mit dem Polizisten. Versuch einmal herauszukriegen, welchen Ruf der Schiefer da in der Gegend hatte!“ Er ließ Gaby einfach stehen und ging zu seinem Wagen. Er stieg ein und ließ in der Hoffnung auf ein bisschen Wärme den Motor an.
Auf dem Armaturenbrett blinkte sein Handy – eine Nachricht von Conny: „Rache ist süß!“
Vierziger war begeistert: Die Woche und der Tag hatten einen tollen Anfang genommen. Wenn sich das so weiter entwickelte, hatte er bis Freitag sicher die Pest am Hals!