Über den Autor
Wolfgang Bittner lebt als Schriftsteller und Publizist in Göttingen. Der promovierte Jurist schreibt Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im PEN. Von 1996 bis 1998 gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an, von 1997 bis 2001 dem Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen. Wolfgang Bittner war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht, zuletzt das Sachbuch »Die Eroberung Europas durch die USA« und den Roman »Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen«.
Umschlagtext
Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, hat sich nach Ende des Kalten Krieges ein neuer West-Ost-Konflikt herausgebildet – die NATO gegen Russland der nun zu eskalieren droht.
Von westlichen Politikern gibt es kaum Bemühungen, zu dessen Entschärfung beizutragen, im Gegenteil. Der Konflikt ist so gewollt, meint Wolfgang Bittner und belegt dies anhand vieler Beispiele – auch ganz aktueller.
Der Nordatlantikpakt hat seine Bestimmung als Verteidigungsbündnis längst eingebüßt, so der Autor, und tritt heute als Aggressor auf: NATO-Osterweiterung, der Krieg gegen Jugoslawien, Anti-Russland-Propa- ganda, wirtschaftliche Sanktionen oder auch die drastische Erhöhung des Militärhaushalts.
Das vorliegende Werk liefert eine Chronologie des Geschehens über mehr als ein Jahrhundert, analysiert die Hintergründe und zeigt auf, wie es zu dieser unheilvollen Entwicklung kommen konnte.
Klappentext
Bereits 1961 warnte der US-Präsident und ehemalige Generalstabschef Eisenhower vor den verhängnisvollen Verflechtungen des »militärisch-industriellen Komplexes« mit der Politik der USA. »Wir dürfen«, so Eisenhower, »es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet.«
Wenn wir uns die gegenwärtige politische Weltlage ansehen, wird deutlich, was Eisenhower meinte. Doch Wolfgang Bittner beschränkt sich nicht auf die jüngere Zeit, vielmehr geht er zurück auf eine mehr als ein Jahrhundert währende britisch-amerikanische und französische Imperialpolitik, der das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zum Opfer gefallen sind, und die nach wie vor – ausgehend von Interessengruppen in den USA – Deutschland im Fadenkreuz hat.
Sein Buch bietet eine Gesamtschau der globalen politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, von Europa über Nord- und Südamerika bis nach Asien. Bittner deckt die Hintergründe der Aggressions- und Interventionspolitik einer gewissenlosen Allianz unter Führung der USA mit der von ihr dominierten NATO auf.
Der Autor stellt damit auch eine faktenreiche Argumentationshilfe in der längst fälligen Auseinandersetzung mit der akut drohenden Kriegsgefahr zur Verfügung.
1. elektronische Ausgabe: Oktober 2019
© Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019
© Wolfgang Bittner 2019
Alle Rechte vorbehalten
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Redaktionsschluss: Juni 2019
Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, durch den Autor
Satz: Hoos Mediendienstleistung, Landau
Coverdesign: Grafikfee GmbH, Bingen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book-Ausgabe: 978-3-943007-26-8
ISBN gedruckte Ausgabe: 978-3-943007-25-1
www.zeitgeist-online.de
Die Deutschen wollen keinen Krieg,
glaub’s mir, sie wolln in Frieden leben,
die Alten wissen noch vom »Endsieg«,
von Breslau, Berlin und Stalingrad,
vom Lied: Ich hatt’ ’nen Kamerad’,
von Millionen Toten, Invaliden,
von Witwen, Waisen und von Briefen,
in denen stand:
Gefallen auf dem Feld der Ehre
für Führer, Volk und Vaterland.
Sie kennen noch die Leere,
wie Stimmen nachts nach ihnen riefen
von irgendwo in »Feindesland«,
dort aus der Gräber Tiefen.
Die Russen, auch sie wolln keinen Krieg,
auch sie wolln friedlich leben,
sie brauchen weder Streit noch Sieg,
den Vätern haben sie vergeben.
Die Jungen, auch sie wolln keinen Krieg,
sie wollen keine Heuchelei,
keine Hetze, kein Hurrageschrei,
kein Morden, keine Metzelei,
keinen Krieg, sie wollen Frieden!
Glaub’s mir, sie haben sich entschieden!
Und auch die Russen wollen Frieden.
Wolfgang Bittner
»Tis the times plague,
when madmen lead the blind.«
(»Das ist die Seuche unserer Zeit:
Verrückte führen Blinde.«)
Shakespeare;
Graf Gloucester in »König Lear«
»… zu allen Zeiten stellte ich fest:
Die Zeitgenossen verlegten den Krieg
in eine unbestimmte Zukunft,
während dieser sich bereits
an der Schwelle ihrer Länder befand.«
Carl von Clausewitz
Vorbemerkung
Chaos, Kriege, Kriegsvorbereitungen
Aufrüstung
Die existenzgefährdende Politik der deutschen Regierung
»Vision« von einer europäischen Armee
Putin gibt seine abwartende Haltung auf
Kündigung des INF-Abrüstungsvertrages
Deutsche Außenpolitik
»Balancierte Partnerschaft«
Merkel und Macron
Europas Unabhängigkeit
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 2019: Der militärische Aspekt dominiert
Der Einfluss der US- und NATO-Netzwerke
Atlantik-Brücke, Münchner Sicherheitskonferenz, Atlantic Council usw.
Britische und NATO-Einflussnahme
Offene NATO-Propaganda im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
Fake News und Kriegspropaganda
Kampagnenpolitik
Der Fall Babtschenko
Krieg in Syrien
Der Fall Skripal
Politisches Kalkül und False-Flag-Operationen
Eine weitere Stufe der Eskalation
Drohungen und Warnungen
Zwischenfall am Asowschen Meer
Die westliche Front gegen Russland
Feindbild Russland
Dissens bei Nord Stream 2
Massive Aufrüstung trotz gravierender Widersprüche
Britisch-amerikanische und französische Imperialpolitik und Erster Weltkrieg
Thesen zur deutschen Schuld
Kriegsvorbereitungen in Frankreich und England
Der Mord in Sarajewo und die Folgen
Konspiration, Kriegshysterie und Krieg
Versailler Vertrag, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Alleinschuld Deutschlands und die Folgen
Das Erstarken des Nationalsozialismus
Der Weg in den zweiten großen Krieg
Bedingungslose Kapitulation
Deutschland, Kolonie der USA: In der Nachkriegszeit wurden die Weichen gestellt
Der Blick zurück
Wie die Weichen gestellt wurden
Im Zugriff der USA
Die Interventions- und Sanktionspolitik der USA
Imperialer Anspruch
Die Charta der Vereinten Nationen – nur noch eine geschichtliche Erinnerung
Das Völkerrecht außer Kraft
Nach Brasilien Venezuela
Ein Machtkampf um den ganzen Kontinent
Venezuela – Musterbeispiel interventionistischer Imperialpolitik
Umstürze, Mordanschläge und deren Bemäntelung
Psychologische Kriegsführung
Im Fadenkreuz des US-Imperiums
Einmischung und Sanktionen als verdeckte Kriegsführung
Destabilisierung, Unterwanderung, Existenzvernichtung
Gegenpositionen
Die Ukraine: destabilisiert, geplündert, zerrüttet
Zentrum des Herzlandes
Regime Change in Kiew
Ein Staat am Rande des Zusammenbruchs
Die Ukraine 2019
Die Krim-Separation von 2014
Wurde die Krim von Russland annektiert?
Die Gründe für die Abspaltung der Krim
War der Anschluss der Krim an Russland völkerrechtswidrig?
Langzeitstrategie und unipolarer Anspruch der USA
Berufen, die Welt zu beherrschen
Die rote Linie von der Ostsee zum Schwarzen Meer
Russland am Pranger
Angebliche Giftgaseinsätze
Angebliche Hackerangriffe Russlands
Ermittlungen wegen Russlandkontakten
Tendenzjournalismus und offene Russophobie
Überwachung, Inquisition, Bellizismus und Dekadenz
Der Einbruch ins Private
Politische und religiöse Fanatisierung
Hure Politik
Die Ahndung von Kriegsverbrechen
Steinmeiers Rechtsverständnis
Gauck plädierte für Menschenrechte – in China
Obama in Kuba – Verhöhnung des gesunden Menschenverstands
Die neuere Entwicklung
Europa – China – USA
Die EU und Deutschland zwischen den Stühlen
Resümee und Schlussfolgerungen
Anhang
Karl-Wilhelm Lange: Ein Brief nach Wolgograd, ehemals Stalingrad
Willy Wimmer: Brief an den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier
Albrecht Müller: 70 Jahre Bundesrepublik. Auf und ab. Und wie geht’s weiter?
Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative zum 74. Jahrestag des Atombombenabwurfes auf Hiroshima
Anmerkungen
Bildquellen
Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 hat sich der Konflikt zwischen den USA und Russland immer mehr zugespitzt. Die NATO ist entgegen allen Versprechungen bis an die Grenzen Russlands vorgerückt, in den baltischen Staaten, in Polen, Rumänien und Bulgarien wurden Raketen, Panzerdivisionen, Artillerie und Tausende Soldaten stationiert, die NATO hielt Manöver mit bis zu 50 000 Soldaten an den russischen Grenzen ab. Russland fühlt sich dadurch bedroht, hat Gegenmaßnahmen getroffen und sich zudem verstärkt in die internationale Politik eingebracht. Das führte zu weiteren Spannungen, unter anderem in der Ukraine, in Syrien und Venezuela. Um die Einkreisungspolitik der USA abzuwehren und einer Isolation zu entgehen, hat sich das Land unter Präsident Wladimir Putin mehr und mehr der dritten Weltmacht China angenähert.
Ausgelöst durch den monopolaren Anspruch der USA in einer inzwischen multipolaren Welt, ist eine brisante, die gesamte Weltgemeinschaft gefährdende, unerträgliche Situation entstanden. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Wladimir Putin bisher versucht hat, der westlichen Aggressionspolitik mäßigend entgegenzuwirken und ein zuträgliches Verhältnis zu Westeuropa, insbesondere zu Deutschland, zu bewahren. Auch in Deutschland gibt es starke Kräfte, eine Spaltung des Kontinents zu verhindern und sich den bevormundenden Vorgaben aus Washington zu entziehen. Das kann nicht bedeuten, die bestehenden vielfältigen politischen sowie wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Verbindungen zu den Vereinigten Staaten grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr muss es darum gehen, mit dem großen östlichen Nachbarn wieder ins Gespräch zu kommen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und erneut ein vernünftiges Miteinander herzustellen.
Russland, das sich bis an die Beringstraße erstreckt, ist das größte Land der Welt, und bis zum Ural ist es das größte Land Europas – das wird verdrängt und droht allmählich in Vergessenheit zu geraten. Zwischen Deutschen und Russen gab es jahrhundertelang intensive Handelsbeziehungen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Was wäre die deutsche Kultur ohne die russische Literatur, Kunst, Musik, ohne das russische Theater? Ich nenne nur die Schriftsteller und Dichter Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Gorki, Puschkin und Jewtuschenko, die Maler Jawlensky, Malewitsch und Repin (ich habe sofort die Wolgatreidler vor Augen), die Musiker Prokofjew, Schostakowitsch und Tschaikowski (ich höre die Nussknacker-Suite). Puschkin las Goethe, Goethe las Puschkin, bis heute wird in Russland Heinrich Heine verehrt, und Beethoven widmete Zarin Elisabeth seine Polonaise Op. 89, wofür ihm zum Dank eine großzügige Zuwendung gewährt wurde. Zar Peter I. arbeitete 1607 inkognito auf einer niederländischen Werft, um die Techniken des Schiffsbaues zu erlernen, und Albert Lortzing verfasste nach dieser historischen Episode das Libretto für seine Oper »Zar und Zimmermann«.
Kultur kann Brücken schlagen, sie überschreitet mühelos sämtliche Grenzen. Der historische Roman »Krieg und Frieden« von Leo Tolstoi, der in der Zeit der zaristischen Feudalherrschaft während der Napoleonischen Kriege spielt, ist eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur und wurde mehrfach verfilmt. Tschingis Aitmatow hat mit seiner Liebesgeschichte »Djamila« Millionen in aller Welt zu Tränen gerührt. Unvergessen sind die Gedichte von Jewtuschenko oder Bücher wie Scholochows »Der stille Don« und Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde«. Kunstwerke von Kandinsky, Malewitsch und Chagall sind in Galerien in Berlin, Paris oder New York zu bewundern. Literatur und Kunst eröffnen die Möglichkeit, voneinander zu erfahren, Fremdheit zu überwinden, sich näherzukommen.
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 – das war damals noch möglich! – nannte der russische Präsident Goethe, Schiller und Kant, und er sagte, dass die Kultur immer unser gemeinsames, völkerverbindendes Gut war. Sollte das wirklich der Vergangenheit angehören? Es sieht danach aus. Obwohl nach einer Studie des forsa-Instituts für Politik und Sozialforschung 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig halten.1 Das wird von den Berliner Politikern und ihren Medien, die sich in Verkennung ihrer Aufgabe als »staatstragend« verstehen, weitgehend ignoriert.
Über das Deutsch-Russische Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften 2017/2018 wurde kaum berichtet, ebenso wenig war über das Jahr des wissenschaftlichen Austauschs 2018/2019 zu erfahren. Zur Olympiade und zur Fußballweltmeisterschaft 2018 bemühte sich Russland, ein guter Gastgeber zu sein, doch wie gewohnt berichteten die westlichen Medien – als seien sie die fünfte Kolonne Washingtons – schon vorab über Regimegegner, Doping oder die »grausame Abschlachtung« streunender Hunde: »Putin lässt WM-Städte durch ›Hunde-KGB‹ säubern«, titelte die Bild-Zeitung.2
Während der allseits beliebte amerikanische Präsident Barack Obama sieben Kriege führte, unzählige Drohnenmorde befahl und sich als Friedensnobelpreisträger feiern ließ, wurde der um Ausgleich und Annäherung bemühte russische Präsident von der Mehrzahl westlicher Politiker und den transatlantischen Medien zunehmend dämonisiert, zur Unperson erklärt und in der westlichen »Wertegemeinschaft«, die schon lange ihre Werte verraten hat, zum Synonym für das Böse an sich.
Die Diskreditierung und Diffamierung Putins kennt keine Grenzen, sie nahm groteske Formen an. »Stoppt Putin jetzt!«, lautete ein Spiegel-Titel, und im Deutschlandfunk wurde gefragt: »Ist Putin noch zu stoppen?«, oder wir erfuhren: »Russland schürt den Konflikt.« NDR-Weltbilder klärte uns über »die Psyche von Wladimir Putin« auf, der sich laut ZDF als »der neue Zar« fühlt und den Prinz Charles mit Hitler verglich. »Dem Mann fehlt Menschlichkeit«, hieß es im Tagesspiegel. Von »prorussischem Mob« (Spiegel Online, Tagesschau) in der Ostukraine war die Rede, in der Welt erinnerte »die Ruchlosigkeit der Putin-Propaganda erschreckend an die Hochzeiten des Stalinismus«, die Bild-Zeitung schrieb über »Moskaus Kriegshetze«, im ZDF wurde gefragt: »Ist die Angst vieler Menschen in den baltischen Staaten berechtigt?«
Es ging und geht darum, Russland als Machtfaktor und Regulativ in der internationalen Politik auszuschalten und das Land den westlichen Kapitalinteressen zu unterwerfen, was allerdings nicht gelungen ist. Die westliche Propaganda ignorierend, tritt Wladimir Putin weiterhin für eine Verständigung zwischen Ost und West ein, für Abrüstung sowie einen gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum von Wladiwostok bis Lissabon. Er betonte mehrmals, dass er sich ein besseres Verhältnis zu den USA wünsche und dass Russland nicht die Absicht habe, die Sowjetunion wiederherzustellen. In einem Fernsehinterview mit dem US-Sender CBS am 29. September 2015 bekräftigte er: »Bei uns gibt es keine Obsession, dass Russland eine Supermacht sein muss.«3
Vor dem Deutschen Bundestag sagte er 2001: »Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Natur-Ressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungs-Potenzialen Russlands vereinigen wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.«4
Aber die weiteren Schritte dahin haben die Strategen in den USA verhindert. Dem Kooperationsangebot des russischen Präsidenten steht der imperiale Anspruch der USA gegenüber, den Barack Obama – nicht als erster US-Präsident – am 28. Mai 2014 in einer Rede vor der US-Militärakademie Westpoint betonte: »Von Europa bis Asien sind wir der Dreh- und Angelpunkt aller Allianzen, unübertroffen in der Geschichte der Nationen … So sind und bleiben die Vereinigten Staaten die einzige unverzichtbare Nation [»the one indispensable nation«]. Dies ist für das vergangene Jahrhundert wahr gewesen und das wird für das nächste Jahrhundert gelten.«6
Wohin wir blicken: Konflikte, fortschreitende Verschärfung der sozialen Verhältnisse, Unruhen, Chaos, Gewalt, Kriege, zumeist verursacht von den USA oder unter deren maßgeblicher Beteiligung. Die USA haben ca. eintausend Militärstützpunkte weltweit,7 1999 führten sie die NATO in einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien, seit 2014 rüsten sie massiv die baltischen Staaten, Polen, Rumänien und Bulgarien gegen Russland auf, 2016 führten sie völkerrechtswidrige Kriege in Afghanistan, Syrien, Irak, Somalia, Pakistan und im Jemen, zuvor in Libyen.
Demgegenüber hat Russland zwei Militärstützpunkte in Syrien und einen in Vietnam, außerdem noch mehrere in ehemaligen Sowjetrepubliken.8 Es unterstützt nach einem Hilfeersuchen Syriens dessen legitime Regierung gegen den vom Ausland aufgezwungenen Krieg sowie die nach Autonomie strebenden Gebiete in der Ostukraine.
Auf Drängen der USA sollen die EU-Staaten aufrüsten, weil sie angeblich von Russland bedroht werden. Deswegen wird an den russischen Grenzen von den USA und der von ihr gesteuerten NATO eine gewaltige Militärmaschinerie mit Raketenstellungen, Panzerdivisionen, Kampfflugzeugen und Tausenden Soldaten aufgebaut. Die Militärausgaben der USA im Jahr 2017 betrugen nach einem Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri 610 Milliarden Dollar.9 Deutschlands Quote lag mit 44,3 Milliarden Dollar bei 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und soll auf Drängen der US-Regierung auf 2 Prozent erhöht werden.
Aber den Militärausgaben der USA und der übrigen NATO-Staaten in Höhe von insgesamt etwa 900 Milliarden Dollar für das Jahr 2017 stand der Militäretat Russlands von lediglich 66,3 Milliarden Dollar gegenüber. Im Jahr 2018 erhöhten die USA ihren Etat auf 649 Milliarden, Deutschland auf 49,5 Milliarden, Russland reduzierte auf 61,4 Milliarden Dollar.10 Die Militärausgaben der NATO-Staaten erreichten die schwindelerregende Höhe von etwa einer Billion Dollar.
Damit stellt sich unabweisbar die Frage, warum der Westen weiter aufrüstet, wenn doch die Militärausgaben der westlichen Allianz in den Jahren 2017 und 2018 mehr als dreizehn Mal höher waren als die des potenziellen Gegners. Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Wem dient dieses Bedrohungsszenario, das der Bevölkerung vorgegaukelt und aufgeschwatzt wird? Wer profitiert davon? Doch jedenfalls nicht die Bürger in den USA und Europa, deren Staatsetats gewaltige Summen entzogen werden, die anderweitig dringend benötigt würden, zum Beispiel für die Erhaltung der Infrastruktur, für Bildung, Gesundheit, Armutsbekämpfung und so weiter. Seit dem 2014 von den USA initiierten Putsch in der Ukraine besteht akute Kriegsgefahr, das ist großen Teilen der Bevölkerung überhaupt nicht bewusst. Der Krieg in der Ostukraine kann jederzeit ausufern und sich zu einem Flächenbrand entwickeln, daran hat sich nach dem Regierungswechsel von 2017 in Washington nichts geändert. Denn die »Nebenregierung« – auch Tiefer Staat bzw. Deep State genannt – vertritt andere Interessen als der amtierende Präsident Donald Trump, der während des Wahlkampfes und in seiner Antrittsrede am 20. Januar 2017 versprochen hatte, keine Interventionskriege mehr zu führen und sich mit Russland zu verständigen.
Trump sagte: »Wir werden die Freundschaft und das Wohlwollen aller Nationen auf der Welt suchen, aber wir machen das in dem Wissen, dass es das Recht aller Nationen ist, ihre eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen … Die Bibel lehrt uns, wie schön es ist, wenn die Völker Gottes friedlich zusammenleben.«11 In einem Interview mit der New York Times am 23. November 2016 erklärte er: »Wäre es nicht schön, wenn wir gut mit Russland auskämen. Wäre es nicht schön, wenn wir gemeinsam gegen den Islamischen Staat vorgingen … Wir müssen dem Wahnsinn, der sich in Syrien abspielt, ein Ende setzen.«12
Aber die Europäer, allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, hielten trotz der veränderten Lage an der Aggressions- und Sanktionspolitik gegen Russland fest. Anlässlich des Abschiedsbesuchs Obamas am 18. November 2016 in Berlin, zu dem sich neben Merkel die vier europäischen Regierungschefs Theresa May (Vereinigtes Königreich), François Hollande (Frankreich), Matteo Renzi (Italien) und Mariano Rajoy (Spanien) trafen, wurde die Beibehaltung der Sanktionen gegen Russland beschlossen.13
Der frühere SPD-Parlamentarier und Herausgeber des einflussreichen Internetportals NachDenkSeiten, Albrecht Müller, schrieb dazu: »Jetzt haben unsere famosen Zeitgenossen in Berlin Angst, Trump könnte die Bestrafung Russlands lockern …«14 Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die deutsche Regierung die Aggressionspolitik der NATO und des kriegsbereiten US-Establishments mitträgt, dann ist er mit der Berliner Erklärung der Bundeskanzlerin vom 18. November 2016 erbracht worden.
Anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen, sich außenpolitisch unabhängig zu machen, abzurüsten und die Sanktionen gegen Russland zu beenden, folgen die europäischen Staaten, insbesondere Deutschland, trotz der Abkühlung des Verhältnisses zu den USA weiter deren militärischen Vorgaben. Es sind – trotz allem – offensichtlich Kriegsvorbereitungen, die stattfinden. Man mag noch so zerstritten sein, hinsichtlich der Aufrüstung gegen Russland ist man sich nach wie vor einig.
Beginn der Entfremdung waren von der Regierung Trump verhängte Schutzzölle, der Rücktritt der USA vom Atomvertrag mit dem Iran und ein Eklat auf dem G7-Gipfel am 9. Juni 2018 im kanadischen La Malbaie, wo Donald Trump – inzwischen auf Linie gebracht und getreu seinem Versprechen »America first« – den Verbündeten ein Ende des freien Handels androhte, weil sie sein Land angeblich »wie ein Sparschwein« ausplünderten.15 Außerdem stieß Trumps Vorschlag, Russland wieder in die G7 aufzunehmen, auf entschiedenen Widerspruch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Russland gewohnheitsmäßig für die Probleme in der Ukraine verantwortlich machte.16
Zwar betonen westliche Politiker gebetsmühlenartig, man dürfe »den Gesprächsfaden« zum Kreml nicht abreißen lassen, und Angela Merkel traf sich bereits wieder am 18. August 2018 zum soundsovielten Mal zu einem »Gedankenaustausch« mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, aber die ständigen unversöhnlichen Äußerungen deutscher Politiker sprechen eine andere Sprache und dokumentieren die von den Hardlinern in Washington abgenötigte, für Deutschland existenzgefährdende Berliner Politik. So forderte Außenminister Heiko Maas – abweichend von der Diplomatie seines Vorgängers Sigmar Gabriel – in seiner Antrittsrede eine harte Haltung gegenüber Russland: »Ein Übermaß an Verständnis gegenüber der Kreml-Politik und das Bedürfnis, gute Beziehungen zu Russland zu pflegen, herrschen in der deutschen Politik und Gesellschaft immer noch vor und überraschen stets aufs Neue. Russlands Vorgehen in der Ukraine ist in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos. Der Kreml hat mit der Krim einen Teil der Ukraine gewaltsam annektiert und ist zudem aktiv an einem Angriffskrieg in der Ostukraine beteiligt … Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die andauernde Aggression gegen die Ukraine kann man nicht hinnehmen. Die Ukraine-Krise bleibt ein Test unserer Entschlossenheit und unserer Geschlossenheit – in der Europäischen Union, aber auch mit den amerikanischen Verbündeten.«17 Das ist Originalton Washington.
Wie schon Merkel wandte sich Maas gegen eine Rückkehr Russlands in die G718 und spulte des Weiteren die üblichen Verdächtigungen und Unterstellungen ab: Das am 17. Juli 2014 abgestürzte malaysische Zivilflugzeug MH17 sei von Russland abgeschossen worden, wiederholte Hackerangriffe auf politische Einrichtungen der EU-Mitgliedsstaaten seien von Moskau gesteuert, für den Giftgasanschlag auf den britisch-russischen Doppelagenten Skripal in London seien die Russen verantwortlich. Das alles dürfe nicht ohne Folgen bleiben. Daher könne es »keine schnelle Rückkehr zur Partnerschaft mit Russland geben«. Dessen Verhalten sei »aggressiv, völkerrechtswidrig und nicht hinnehmbar«, der »russischen Aggression« seien »sowohl ukrainische Bürger als auch Bürger der Europäischen Union zum Opfer gefallen«, was eine »geschlossene europäische Antwort« erfordere.19 Worthülsen und Verdrehungen des politischen Geschehens. Wie scheinheilig sich der deutsche Außenminister hier verhält wird deutlich, wenn er feststellt, »dass Russland bisher nicht bereit zu sein scheint, zur Aufklärung beizutragen«, und fordert, »Moskau sollte Transparenz schaffen und Stellung nehmen«. Wie soll das geschehen? Bisher sind die Daten der ukrainischen Luftüberwachung zum Flug MH17 nicht zugänglich gemacht worden. Die Verantwortung der russischen Regierung für dubiose Hackerangriffe konnte nicht nachgewiesen werden. Und im Fall Skripal hatte Russland wiederholt seine Mitwirkung an der Aufklärung angeboten, erhielt jedoch keine Informationen aus London.
Nichts war bewiesen, und dennoch verurteilte der Jurist Maas Russland unter Missachtung des Rechtsprinzips der Unschuldsvermutung »in dubio pro reo«, während er sich zugleich vollmundig auf das Grundgesetz, »die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats« sowie auf »Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit« berief. Auch hinsichtlich des 2014 in der Ukraine durchgeführten Regime Change, der darauf folgenden angeblichen Annexion der Krim und des von dem im Westen geschätzten und geförderten Kriegsherrn Petro Poroschenko geführten Bürgerkriegs in der Ukraine20 vertritt Maas in Unkenntnis oder Verleugnung der Tatsachen die übliche antirussische Propaganda.
Obwohl der neue West-Ost-Konflikt nachweislich von den USA mit der von ihr dominierten NATO unter Gefolgschaft der westeuropäischen Staaten verursacht worden ist,21 resümierte Maas in seiner Antrittsrede: »… wenn Russland sich selbst immer mehr in Abgrenzung, ja teilweise Gegnerschaft zu vielen im Westen definiert, so mögen wir das bedauern. In jedem Fall aber verändert es die Realität unserer Außenpolitik.« Damit befand sich Maas im Einklang mit der von Angela Merkel gegenüber Russland vertretenen, wenn auch immer wieder bemäntelten Aggressionspolitik.
Die Kanzlerin warb am 13. November 2018 in einer Rede im Europäischen Parlament für eine weitere Militarisierung Europas im Rahmen der NATO: »Wir müssen eine europäische Eingreiftruppe schaffen, mit der Europa auch am Ort des Geschehens handeln kann. Wir haben große Fortschritte bei der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im militärischen Bereich erreicht … Aber wir sollten – das sage ich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre sehr bewusst – an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen … Das ist ja keine Armee gegen die NATO – ich bitte Sie –, sondern das kann eine gute Ergänzung der NATO sein … Wenn wir unser Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten.«22
Die »Vision« von einer europäischen Armee war dem französische Präsidenten Emmanuel Macron als Antwort auf eine angebliche Bedrohung durch Russland, »das an unseren Grenzen steht«, erschienen. Und ebenso wie Angela Merkel forderte er in einem ersten Schritt die Schaffung einer schlagkräftigen Interventionstruppe für Kriseneinsätze – ein geschickter Schachzug, um deutsches Militär bei Frankreichs Kolonialkriegen in Afrika einsetzen zu können.23
Dem entsprach schon länger die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die mit deutschen Aufklärungsflugzeugen in Syrien Krieg führte und deutsche Soldaten unter anderem nach Mali schickte. Vor dem NATO-Gipfel im Juli 2018 bekräftigte sie ihren Standpunkt, man müsse Russland im Dialog aus einer »Position der Stärke« begegnen, dann lasse sich besser mit Moskau sprechen. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu antwortete ihr: »Nach allem, was Deutschland unserem Land angetan hat, sollten Sie noch 200 Jahre lang nichts zu diesem Thema sagen.« Er riet den Berliner Politikern, über die jüngere Geschichte nachzudenken, und empfahl: »Fragen Sie Ihre Großväter, was es bedeutet, aus einer Position der Stärke mit Russland zu sprechen. Sie werden es Ihnen wahrscheinlich sagen können.«24 Das dürfte die Berliner Politikerkaste um Angela Merkel kaum beeindruckt haben. Im Mai 2019 kündigte die Bundeskanzlerin eine deutliche Erhöhung des deutschen »Wehretats« an und erklärte: »Ich bin zutiefst davon überzeugt: Alle politischen Bemühungen zur Entspannung sind nur dann wirksam, wenn gezeigt wird, dass wir im Falle des Falles bereit sind, uns zu verteidigen.«25 Was »im Falle des Falles« für Deutschland bedeuten kann, schien der Bundeskanzlerin nicht klar zu sein.
Noch weniger beeindruckt von russischen Vorbehalten sind die US- und NATO-Strategen. Der US-Verteidigungshaushalt für 2019 wurde auf 716 Milliarden Dollar erhöht, »die bedeutendste Investition« in das US-Militär in der neueren Geschichte, so Donald Trump. Die zusätzlichen Mittel dienen der Modernisierung der Streitkräfte und dem Aufbau einer »Weltraumarmee«. »Wie der Himmel, die Erde und das Meer ist der Weltraum zum Schlachtfeld geworden«, sagte Trump und fügte mit einem Seitenhieb gegen China hinzu: »Eine Präsenz im Weltraum reicht nicht aus, wir müssen eine Dominanz der USA im Weltraum haben.«26
Militärische Dominanz zeigten die USA mit ihren NATO-Verbündeten im Oktober 2018 an den Grenzen Russlands mit dem größten Manöver seit Ende der 1990er-Jahre unter der Bezeichnung »Trident Juncture« (Dreizackiger Verbindungspunkt). 50 000 Soldaten, darunter 10 000 deutsche, übten in Skandinavien mit Tausenden Panzern, 250 Flugzeugen und 65 Schiffen, einschließlich eines US-Flugzeugträgers, den Krieg gegen Russland. In der Frankfurter Allgemeinen hieß es dazu: »In drei Tagen sollen dann hoch im Norden die Roten angreifen. Darauf freuen sich hier die allermeisten, besonders die von der Bundeswehr … Die Soldaten sind froh, endlich zu zeigen, was sie können.«27 Als wäre alles nur ein Spiel.
Kurz zuvor fand bereits das NATO-Manöver »Saber Strike« (Säbelhieb) mit 18 000 Soldaten im Baltikum statt.28 Zeitgleich drohten die USA mit der Kündigung des INF-Vertrages29, wonach den USA und Russland verboten ist, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, die Atomsprengköpfe tragen können, zu entwickeln, zu bauen und zu stationieren. Eine insbesondere für Deutschland und Europa hochgefährliche Entwicklung, weil die geringen Vorwarnzeiten bei Fehlalarm keine Verständigung mehr zulassen und ein Einsatz dieser Raketen – ob gezielt oder versehentlich – Mitteleuropa auslöschen würde. Das Abrüstungsabkommen von 1988 hatte zur Verschrottung von etwa 2700 nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie zum Abzug aller taktischen Atomwaffen von US-Kriegsschiffen und zur Verringerung der in Europa gelagerten Atombomben geführt. Jetzt bezichtigte Washington Russland, entgegen dem INF-Vertrag ein neues Mittelstreckensystem zu entwickeln, was von Moskau dementiert wurde.
Deutschland ist nach wie vor Frontstaat und Brückenkopf der USA. Abgesehen von der Stationierung amerikanischer Atomraketen in Büchel/Eifel und der Drohneneinsatzzentrale in Ramstein/Pfalz wird in Ulm das neue NATO-Hauptquartier für schnelle Truppen- und Materialtransporte eingerichtet. Die bestehende »NATO-Speerspitze«, also die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), die NATO Response Force (NRF) und die enhanced Forward Presence (eFP), sollen für den Konfliktfall durch weitere Truppen verstärkt werden, und zwar mit zusätzlich 30 000 Soldaten, also 30 Bataillonen, 30 Flugzeugstaffeln (das sind 360 Flugzeuge) und 30 Schiffen. Deutschland hat für diese Bereitschaftstruppe eine besondere Verantwortung übernommen. Des Weiteren ist im Gespräch, Raketenabwehrsysteme des Typs THAAD nach Deutschland zu verlegen. Hinzu kommen Pläne für Neuaufnahmen in die NATO. Etwaige Kandidaten sind Georgien, die Ukraine, Makedonien, eventuell auch Schweden, Finnland, Irland, Serbien und Moldawien.30
Ende 2017 wurde von 23 der 28 EU-Staaten ein europäisches Militärbündnis für »permanente strukturierte Zusammenarbeit«, das sich PESCO nennt, gegründet.31 Unter anderem ist geplant, Westeuropa unabhängig von staatlichen Grenzen durchgängig zu machen für die schnelle Verlegung von schwerem militärischem Gerät und Soldaten an die östlichen Grenzen. Die NATO braucht neue Straßen, Brücken und Infrastrukturen, um effektiver Krieg führen zu können. Und Ex-Verteidigungsministerin von der Leyen erklärte begeistert: »Europa muss handlungsfähiger und effizienter werden.«32 Was daraus folgt, scheint den Berliner Politikern noch nicht klar zu sein, nämlich eine Auflösung deutscher Souveränität, die im Übrigen durch die fortdauernde Stationierung ausländischer Truppen mit Sonderbefugnissen ohnehin nicht vollständig gegeben ist, wie sich aus dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut von 1993 ergibt.33
Weiter folgt daraus die Festigung der Bindung – man kann auch sagen: der Unterwerfung – an die USA und die NATO sowie der Ausschluss Russlands aus Europa. Damit wird nicht nur der wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Austausch zunehmend erschwert, wenn nicht verhindert, damit wird auch die Gefahr eines Krieges mit Russland virulent, wobei große Teile Europas und insbesondere Deutschland ausgelöscht würden.
Dazu hatte sich der russische Präsident Wladimir Putin in den vergangenen Jahren eher abwartend verhalten, von den »Partnern« im Westen gesprochen und mehrfach für Kooperation geworben. In seiner Rede an die Nation am 1. März 2018 sagte er jedoch – und das waren völlig neue Töne –: »Obwohl wir die zweitgrößte Nuklearmacht geblieben sind, wollte niemand uns hören. Mit uns wollte niemand sprechen. Hören Sie uns jetzt zu!« Und er fügte noch hinzu: »Das ist kein Bluff.«34 Zuvor hatte er Videos einblenden lassen, mit denen er eine Reihe neuer, angeblich nicht abfangbarer Nuklearwaffen zeigte, die entwickelt und bereits getestet wurden, unter anderem die mehr als 200 Tonnen schwere Interkontinentalrakete Sarmat und die Hyperschallrakete Kinschal sowie einen nuklear bestückbaren Torpedo.
Das ist die Antwort auf die von den USA ausgehende Einkreisung Russlands und die in Osteuropa stationierten US-Systeme zur Raketenabwehr, die auch offensiv genutzt werden könnten und somit einen Verstoß gegen den INF-Vertrag darstellen. Wie US-Militärstrategen zugeben, dient die Entwicklung neuer Waffensysteme und deren Stationierung in Europa nicht der Verteidigung, vielmehr könnte es dem Präsidenten die Entscheidung für einen atomaren Erstschlag gegen Russland erleichtern.35
Diese unfassbaren strategischen Überlegungen werden umso glaubwürdiger, wenn man in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückschaut. Wie der Publizist Wolfgang Effenberger, ehemals Offizier der Bundeswehr, in seinem Buch »Europas Verhängnis 14/18 – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht« schreibt, verabschiedete die NATO im Dezember 1949 den Kriegsplan »Dropshot«, »mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte«. Effenberger führt dazu aus: »Es sollte wie immer so aussehen, als sei der Gegner der Aggressor. Die ›Grundannahme‹, so heißt es in dem streng geheimen Papier wörtlich, sei: ›Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.‹ Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29 000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele in einhundert Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten.«36 Effenberger geht davon aus, dass der Zeitpunkt auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt gewesen sei. Der Aufbau der Bundeswehr habe sich dann wegen der Gegner einer Wiederbewaffnung Deutschlands um einige Jahre verzögert, außerdem habe die französische Nationalversammlung 1954 die Verträge über die sogenannte »Europäische Verteidigungsgemeinschaft« abgelehnt, sodass der Zeitpunkt für »Dropshot« vertagt wurde.
Nach allem kann es nicht verwundern, dass der Kremlsprecher Peskow die USA im Oktober 2018 davor warnte, nach einem Ausstieg aus dem INF-Vertrag genau die Waffensysteme zu entwickeln, die durch das Abkommen verboten werden. Die USA verletzten das Abkommen schon seit Längerem mit der Entwicklung raketenbestückter Drohnen, so Peskow. Sollten sie es kündigen, sehe sich Russland genötigt, »Maßnahmen« zu ergreifen, die seine Sicherheit garantieren. Dazu erklärte Außenminister Sergej Lawrow, Moskau sei noch immer zu einem Dialog mit Washington bereit.37
Auch die chinesische Regierung äußerte Besorgnis über die neuerliche Konfrontationspolitik der USA. Eine Aufkündigung des INF-Abkommens würde das strategische Gleichgewicht verletzen, so die Sprecherin des Außenministeriums Hua Chunyin. Sie wies zugleich die amerikanische Darstellung einer vermeintlichen Bedrohung der USA durch China zurück und forderte die US-Regierung zu einem vorsichtigen Umgang mit dem Vertrag auf, dessen einseitige Kündigung »viele negative Auswirkungen« haben würde.38
Außenminister Maas bedauerte in einer Erklärung vom 21. Oktober 2018 scheinheilig die Entwicklung, die »uns und Europa vor schwierige Fragen« stelle: »Wir haben Russland in der Vergangenheit bereits mehrfach aufgefordert, die schwerwiegenden Vorwürfe der Verletzung des INF-Vertrags auszuräumen. Bisher hat Russland dies nicht getan. Wir werben auch gegenüber den USA dafür, mögliche Konsequenzen zu bedenken.«39
Indem er die Fakten ignoriert, »wirbt« Maas also um die Gunst der USA, die über verbotene Waffensysteme verfügen, während er Russland »auffordert«, schwerwiegende Vorwürfe auszuräumen. Ein solches Verhalten kennzeichnet die deutsche Außenpolitik schon seit Langem und gilt auch für den amtierenden Außenminister, der die Konsequenzen seines Handelns offensichtlich nicht bedenkt. Er und andere westliche Politiker rügten den von Donald Trump am 19. Dezember 2018 angekündigten Abzug der US-Truppen aus Syrien, die dort nach dem Völkerrecht gar nicht sein dürften.40
Am 1. Februar 2019 kündigten die USA schließlich erwartungsgemäß den INF-Vertrag. US-Präsident Donald Trump erklärte, Russland habe geheime Raketensysteme entwickelt, die »eine direkte Bedrohung für unsere Partner und unsere Truppen im Ausland darstellen«. Binnen sechs Monaten, so Trump, werde der komplette Rückzug aus dem Vertrag vollzogen, »sollte Russland nicht zurück zur Einhaltung kommen, indem es all seine den Vertrag verletzenden Raketen, Abschussrampen und dazugehöriges Gerät zerstört«.41
Auch US-Außenminister Mike Pompeo, ehemals CIA-Direktor, verbreitete die Nachricht, Russland habe Schuld an der Vertragsaufkündigung durch die USA, wodurch Millionen Europäer und Amerikaner einer großen Gefahr ausgesetzt seien. Russland sei schon im Dezember 2018 gewarnt worden und habe genügend Zeit gehabt, noch einzulenken.42
Die russische Regierung sah keine Veranlassung, ein sechzigtägiges Ultimatum Washingtons einzuhalten, zumal sie gegenseitige Inspektionen der Mittelstreckenraketen vorgeschlagen hatte.43 Darauf waren die Amerikaner jedoch mit fadenscheiniger Begründung nicht eingegangen.
Am 2. Februar 2019 antwortete Wladimir Putin der US-Regierung: »Unsere amerikanischen Partner haben angekündigt, ihre Teilnahme an dem Abkommen auszusetzen, und wir setzen unsere Teilnahme auch aus … Wir wollen warten, bis unsere Partner reif genug sind, um mit uns einen gleichwertigen und sinnvollen Dialog über dieses wichtige Thema zu führen.«44 Russland wolle nicht in ein teures Wettrüsten hineingezogen werden und neue Mittelstreckenraketen nur aufstellen, wenn Washington das tue. Außenminister Sergej Lawrow erklärte zum Vorgehen der USA, sie hätten den Vertrag schon seit 1999 verletzt, unter anderem durch die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Europa. Russland habe alles unternommen, um den Vertrag zu retten und den Dialog mit den USA mehrfach gesucht, aber die Amerikaner hätten »jegliches Interesse verloren«45.
Dazu nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel in gewohnt doppelzüngiger Weise Stellung: »Russland hat den INF-Vertrag verletzt«, sagte sie, aber sie wolle »alles daran setzen«, die sechsmonatige Frist nach der Kündigung für weitere Gespräche zu nutzen. Außenminister Heiko Maas schloss sich ihr sogleich an und verkündete, Moskau habe den INF-Vertrag durch Verstöße »faktisch außer Kraft gesetzt«46. Auch Merkel und Maas gingen nicht darauf ein, dass Russland eine Inspektion der beanstandeten Raketen vorgeschlagen hatte.
Weitaus mehr Vernunft bewies der Grünen-Politiker und Ex-Umweltminister Jürgen Trittin, der in einem Interview mit dem Deutschlandfunk davor warnte, neue Atomraketen zu stationieren, also in eine neue Runde des Wettrüstens einzutreten: »Das ist alles nicht im Interesse Europas, und mich wundert ein bisschen, dass die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten diesen einseitigen Aktionen schlicht und ergreifend einfach die Hacken zusammenschlagen und sagen, wir sind geschlossen hinter den USA … John Bolton47 will raus aus diesen ganzen Abkommen, er will wieder rein in ein Wettrüsten, der hat seine ganze Welt sozusagen im Kalten Krieg geprägt. Aber nichtsdestotrotz, es ist nicht in unserem Interesse, und deswegen muss man aufhören, aus so einer Logik zu agieren, ihr, die anderen, seid schuld. Das hat noch nie zu irgendeiner Form von Abrüstung geführt.« Das waren erstaunliche Töne aus dem Deutschlandfunk, dem noch erstaunlichere folgten: »Was hindert uns eigentlich daran, diese Raketenabwehr aus Osteuropa abzuziehen? … Was hindert uns daran, endlich den Schritt zu tun, die taktischen Atomwaffen, die in Büchel lagern, also Waffen, die eigentlich nur dazu dienen, in einem konventionellen Konflikt nuklearen Selbstmord zu begehen, endlich aus Deutschland abzuziehen und den Russen zu sagen: Hört mal zu, wir sind bereit, uns an diesen beiden Stellen zu bewegen, wenn ihr die Iskander-Raketen in Kaliningrad, wenn ihr diese neuen Marschflugkörper aus Europa abzieht … Aber man kann doch als Europäer nicht zusehen, wie getrieben von einer Politik, die ja jedes multilaterale Abkommen ablehnt in den USA, wie blind in eine neue Runde des Wettrüstens in Europa zu stolpern. Hier gibt es eine originäre europäische Verantwortung, und dieser Verantwortung kommt der Bundesaußenminister, kommt die Bundeskanzlerin nicht nach.«48
Wiederum verdreht wurden die Fakten US-konform in der Bild-Zeitung unter der Headline »Putin zündet die nächste Eskalationsstufe«: »Wladimir Putin heizt den Konflikt mit den USA und der Nato weiter an … Er will nicht einmal mehr mit Washington darüber reden … Damit will es Putin so aussehen lassen, als liege die Schuld für das Scheitern des INF-Vertrages nicht bei ihm. Aber die USA und die Nato-Länder haben bereits deutlich gemacht, wen sie für den eigentlichen Verursacher der Krise halten: nämlich Putin und seinen neuen Marschflugkörper …«49
Noch niederträchtiger erwies sich der Chefkommentator der Welt, Jacques Schuster: »Die einzige Antwort auf ein solches Berserkertum ist, dem Gleichgewicht des Schreckens neue Kraft zu verleihen. Sollten Gespräche mit Moskau scheitern, bleibt dem Westen nichts anderes übrig, als die amerikanischen Atomwaffen auf europäischem Nato-Gebiet zu modernisieren und zusätzlich ebenfalls neue Mittelstreckensysteme zu errichten … Die Kündigung des INF-Vertrags durch die Amerikaner ist der erste so unangenehme wie nötige Schritt dazu. Nicht US-Präsident Donald Trump ist dafür verantwortlich, es ist sein russischer Kollege Wladimir Putin. Seit Jahren schon stellt er die Nachkriegsordnung des Kalten Krieges infrage und setzt auf die Schwäche des Westens.« Besonders perfide und heuchlerisch ist die Berufung auf Helmut Schmidt: »Putin setzt darauf, dass eine solche Debatte angesichts der moskaufreundlichen Rechts- wie Linkspopulisten dieses Mal zugunsten Russlands ausgehen werde. Wichtig ist nun, ihm mit der Geschlossenheit der Volksparteien eine Helmut Schmidt würdige Antwort zu geben.«50
Aus dieser wie aus vielen weiteren Stellungnahmen und Kommentaren zur Aussetzung des INF-Vertrages durch die USA und in der Folge durch Russland tritt wieder einmal schlaglichtartig die Bösartigkeit und Kriegswilligkeit westlicher Politiker und Journalisten hervor. Die westliche Politik wird zunehmend von Aggression und Aufrüstung bestimmt. Deutlich wird vor allem, dass die Bellizisten in den USA das erreicht haben, worauf sie seit Beginn des neuen Kalten Krieges hinarbeiten: die Militarisierung und atomare Aufrüstung Westeuropas gegen Russland.
Sowohl Michail Gorbatschow als auch Wladimir Putin warnten mehrmals davor, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommen könnte, wenn angesichts der aufgeheizten Stimmung jemand die Nerven verlöre oder einen Fehler begehe. Das aber würde das Ende der Menschheit bedeuten. Dessen ungeachtet ist statt des Abzugs von Atomwaffen aus Deutschland schon länger wieder eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Rahmen der sogenannten Abschreckungspolitik der NATO im Gespräch. Mitte 2018 vertrat der Politologe Christian Hacke, ehemals Lehrender an der Universität der Bundeswehr Hamburg, die These, Landesverteidigung erfordere künftig eine »eigene nukleare Abschreckungskapazität«, nachdem US-Präsident Donald Trump den Schutz der NATO für Europa infrage gestellt habe. Deutschland sei sonst »im extremen Krisenfall heute schutzlos«, jeder potenzielle Angreifer müsse »nuklear abgeschreckt werden«.51 Dem stimmte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff im Grundsatz zu und forderte eine Diskussion darüber: »Denn mit dem Ende des Kalten Krieges endete keineswegs das Zeitalter der Atomwaffen – man kann das bedauern, aber die Realität ist nun einmal so.«52
Anfang 2019 griff der in England lehrende Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle das Thema erneut auf und plädierte für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, wenn Deutschland nicht »zur leichten Beute Russlands werden wolle«. Deswegen müsse man »gemeinsame Nuklearanstrengungen« mit Frankreich in Erwägung ziehen.53
Das geschieht offensichtlich hinter verschlossenen Türen. Wie weit die Pläne des Verteidigungsministeriums zur atomaren Bewaffnung der Bundesluftwaffe bereits fortgeschritten sind, wurde Ende Januar 2019 durch einen »Prüfauftrag« bekannt, den Ursula von der Leyen erteilt hatte. Sie ließ untersuchen, welches Kampfflugzeug sich als Atomwaffenträger eignet.54 Damit scheint der Weg in die »nukleare Teilhabe« Deutschlands beschlossene Sache zu sein. Davon geht man jedenfalls bei der Initiative »Abrüsten statt aufrüsten«, die eine Unterschriftensammlung für Abrüstung gestartet hat, aus. Nach deren Berechnungen kosten neue Atomwaffen und die Modernisierung der bestehenden Waffensysteme den Staat und damit die Steuerzahler in den nächsten zehn Jahren mindestens eine Billion Euro – Geld, das für Soziales, Bildung, Kultur, Infrastrukturmaßnahmen usw. verloren geht.55 Aber anstatt Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen zu thematisieren, beschäftigen sich Talkshows, Politikerdebatten und Medien mit Banalitäten und gehen damit der Existenzfrage aus dem Wege.
Noch Mitte 2018 schlug Außenminister Heiko Maas neue, ungewöhnliche Töne hinsichtlich einer Stärkung der europäischen Autonomie gegenüber den USA an. In einem im Handelsblatt am 21. August 2018 veröffentlichten Kommentar schrieb er, dass die USA und Europa seit Jahren auseinanderdriften.56»neu zu vermessendes«»wir ein Gegengewicht bilden, wo die USA rote Linien überschreiten«.»über unsere Köpfe hinweg zu unseren Lasten handeln«.