Der alte Russ

Für Marlen, die mich bei meinen Aktivitäten verständnisvoll unterstützt.

Linard Candreia

DER ALTE RUSS

Ein Bündner Auswanderer und seine Zeit

Wie dieses Buch entstand

«Kratze am Russlandbündner und du findest einen Zuckerbäcker.»

Roman Bühler (1951-2006), Historiker

Roman Bühler von Domat/Ems stellte im Jahre 1991 seine Dissertation «Bündner im Russischen Reich» (Verlag Desertina) in Chur vor. Ein monumentales Werk, akribisch recherchiert, quasi die Bibel für alle, die sich mit der Bündner Auswanderung nach Russland beschäftigen.

Reto Beer (1936-2014) von Alvaneu-Dorf, Konditor und Künstler, überreichte mir viele Jahre nach Bühlers Publikation eine Broschüre mit dem Titel «Erinnerungen aus dem Leben eines Graubündners», im Jahre 1919 verfasst von Emil Balzer, dem Enkel des «alten Russ».

Adolf Brenn von Alvaneu-Bad, pensionierter Lehrer, kennt sich sehr gut mit der Mittelbündner Geschichte aus. Er hat mich bei der vorliegenden Arbeit in zuvorkommender Weise begleitet.

Michail Schischkin, bekannter russischer Schriftsteller, der in meiner Nähe wohnt und mit dem ich gute Kontakte pflege, hat mich unter anderem auf spannende russische Werke aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Russland kam mir da näher.

Für diese vier Begegnungen bin ich dankbar. Ohne sie wäre «Der alte Russ – Ein Bündner Auswanderer und seine Zeit» wohl nicht entstanden.

«Der alte Russ» erzählt in kurzen Geschichten chronologisch das Leben und die Zeit des Protagonisten Peter Petrowitsch Balzer in Graubünden und in Russland. Auch auf andere Bündner Russlandauswanderer, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist, wird eingegangen.

Linard Candreia, im März 2019

Die Taufe

21. Mai 1797. Die Taufglocke des Kirchleins in Alvaneu-Bad war unüberhörbar.

Die kleine Taufgesellschaft machte sich auf den Weg zum Gotteshaus. Ein Kapuzinerpater aus dem weiter oben gelegenen Alvaneu-Dorf hatte sich bereit erklärt, die Taufe vorzunehmen, obschon es um seine Gesundheit in letzter Zeit nicht zum Besten stand. «Atembeschwerden», meinten die einen zu wissen. Es seien «Herzprobleme», versicherten andere.

Der Müller und Kleinbauer Peter Balzer, der Vater des Täuflings, konnte eine grosse Sorge jedoch nicht einfach wegstecken, nicht einmal im Kirchlein bei der Taufzeremonie:

Was wohl aus dem kleinen Peter später mal werden sollte?

Die Zeiten im zur Neige gehenden Jahrhundert waren alles andere als rosig. «Die Franzosen werden bald auch unsere Heimat heimsuchen und verwüsten!» So sprachen immer häufiger die älteren Männer im Albulatal. Und die mussten es doch wissen, sie, die teils sogar in fremden Diensten draussen in Frankreich gewesen waren und stets auf dem Laufenden zu sein schienen.

Die lateinischen Sätze aus dem Munde des Kapuzinerpaters hörten sich wie edle Verse an und gaben der Taufe etwas Feierliches. Deren Inhalt verstand aber niemand so richtig.

Nach der Marend mit Speck, Wein und feinem Brot im Hause von Maria Anna und Peter Balzer1 trat der Kapuziner den Rückweg hinauf zum stattlichen Pfarrhaus in Alvaneu-Dorf an.

Der Schweiss rann ihm übers Gesicht und verschwand im langen Bart. Die Kutte fühlte sich noch schwerer an als am Morgen beim Abstieg. Am Morgen war er noch in schönen Gedanken versunken gewesen und hatte den tosenden, imposanten Wasserfall auf der anderen Talseite bewundert. Der Frühling machte auch dieses Jahr alles wieder neu. Gottes Werk.

Nun aber schon wieder diese Atemnot. Es kam wie aus dem Nichts:

Auf einmal wurde ihm übel, hinsinkend gab er seine Seele dem Schöpfer zurück. Der Herzschlag hatte ihn getroffen. Noch stand vor wenigen Jahren ein Holzkreuz mit der Jahreszahl und den Anfangsbuchstaben des Namens jenes Paters an der Stelle dieses tragischen Endes, dem Wanderer die Unbeständigkeit alles Irdischen kündend.2

Quartier «Tschessa lunga» (lange Halde)

«Erinnerungen aus dem Leben eines Graubündners», Emil Balzer (Enkel von Peter Balzer junior), 1919. Es handelt sich um ein 36seitiges von Hand geschriebenes Dokument. Die Zitate aus der erwähnten Schrift sind kursiv.

Die Franzosen

Die Franzosen waren in den Wintermonaten 1798 in die Eidgenossenschaft einmarschiert und hatten diese zu ihrem Vasallenstaat gemacht. Die Drei Bünde (Graubünden), noch eigenständig, waren politisch heillos zerstritten: Die Mehrheit sympathisierte mit den Österreichern, andere mit den revolutionären Ideen der Franzosen. Es gab auch Teile in der Bevölkerung, die am liebsten einfach der Eidgenossenschaft beigetreten wären. Der Verlust des Veltlins im Oktober 1797 – ein paar Monate nach Peters Geburt – schmerzte sehr. Die sturen Bündner hatten es verpasst, auf Napoleons Ultimatum einzugehen und dem Untertanenland gleiche Rechte einzuräumen.

Die Drei Bünde, das Land der wichtigen Pässe, eingequetscht zwischen verfeindeten Grossmächten, wurde zum Spielball und Kriegsschauplatz fremder Interessen und war ausser Stande, dem Druck militärisch zu begegnen. Die Österreicher eilten den Bündnern vorerst einmal zu Hilfe und besetzten die Passübergänge und Grenzen. Dann kamen die Franzosen im März 1799, im Oktober sogar noch die mit den Österreichern verbündeten Russen. Es herrschten chaotische Zustände1.

Fremde Armeen müssen ernährt werden. «Die Franzosen saugen uns bis ins Mark aus», hiess es landauf, landab. Die Bevölkerung musste grosse Opfer bringen und nagte immer mehr am Hungertuch.

Auch Mittelbünden litt unter den Requisitionen, Transportausgaben, Plünderungen, Gewalttätigkeiten und Einquartierungen. Der französische General Claude-Jacques Lecourbe kam mit seiner Armee von Thusis her und bewegte sich Richtung Engadin, um dort die Österreicher zu vertreiben. Einheimische kräftige Männer wurden aufgeboten, unentgeltlich die verschneiten Pässe Julier und Albula frei zu schaufeln. Dazu kamen weitere Opfer in Form von Brot-, Butter-, Käse-, Fleisch-, Wein-, Schnaps-, Heu-, Stroh- und Holzlieferungen. Die Waffen der Jäger wurden ebenfalls eingezogen. Demjenigen, der das Gewehr versteckte, dem drohte die Todesstrafe. Die Pfarrherren schlossen ihre Kirchen und versteckten wertvolle Messgegenstände vor einem Überfall der «ungläubigen Franzosen». Im Frühling nach der Schneeschmelze sah man bald einmal die Pferde der Fremden auf den schönsten Wiesen weiden, was für die schon arg gebeutelte Bevölkerung wiederum eine kargere Ernte bedeutete.

Von den erschöpften Russen unter General Alexander Wassiljewitsch Suworow, vom wilden Panixerpass (2407m ü.M.) herkommend, erzählt man, dass dieser bei seinem Abzug durch das bündnerische Rheintal sogar Holzdächer von Häusern entfernen liess, damit seine Soldaten sich bei deren Feuer ein wenig aufwärmen konnten. Im Dörfchen Pigniu/Panix hatten ein paar schlaue Frauen ihren Hühnern den Schnabel zugebunden und sie auf den Dachböden versteckt, sodass die hungrigen, wilden Russen diese Beutetiere nicht fanden.

Mit dem Abmarsch der fremden Truppen trat wieder etwas Ruhe ein.

1803 wurde Graubünden eidgenössisch. Das Veltlin verblieb jedoch bei der Cisalpinischen Republik unter der Herrschaft Napoleons, und auch am Wiener Kongress von 1814/15 hatten die Siegermächte kein Ohr für eine Rückgabe des ehemaligen Untertanenlandes an Graubünden.

Die Enttäuschung darüber war ein weiteres Mal gross und wirkte noch Jahrzehnte später nach: Der romanische Dichter und Historiker Giacun Hasper Muoth soll sich einmal in einer Wirtsstube wie folgt geäussert haben:

«Ich bevorzuge den Veltliner Tropfen und kaufe damit unser Veltlin tröpfchenweise zurück.»

Gemäss vertieften Recherchen des Albulataler Lokalhistorikers Gisep Angel Sigron (1894-1974) gab es für Mittelbünden vier Besetzungen durch fremde Armeen, österreichische und französische alternierend.

Reminiszenz aus der Franzosenzeit

«Als die Franzosen in unser Dorf [Alvaneu] gekommen waren, herrschte eine grosse Angst. Eine Frau aber, welche Gema zum Nachnamen hiess, brachte den Bürgern Trost. Sie sprach sehr gut Französisch und war milde gesinnt und intelligent; konsequenterweise wurde sie immer dann gerufen, wenn es Streitigkeiten oder Missverständnisse mit den Franzosen gab.

Eines Tages aber mussten die Franzosen einsehen, dass sie es in Alvaneu nicht nur mit Angsthasen zu tun hatten. Während zwei freche Franzosen einen als Spion verdächtigten Mann durchs Dorf führten, war Tante Baba mit der Wäsche am Brunnen beschäftigt. Sie sah die Szene aus nächster Nähe, reagierte sofort, sprang mit einem nassen Betttuch in der einen Hand zu den Franzosen hin und verabreichte den beiden eine solche Ohrfeige, dass diese den armen Sep laufen liessen.»1

«Cur tgi igls Franzos en vegnius en nossa vischnanca, erigl ina gronda tema. Ina femna aber, la signeura Gema, era igl confiart digls vaschoins. Ella saveva fetg bain igl franzos ed era iar fetg miaivla e perderta, per consequenza vigneva ella clamada dapertot, neua tgi deva dispetas oder malentelgienschas cugls Franzos.

In se aber egl capito, tgi igls Franzos an viu, tgi vevan betg anval da far cun tamaliars. Passond duas garmadis Franzos tras vischnanca cun in om aintan meaz tgi manavan, cartond tgi quegl seia in spieun, era l’onda Baba talla truasch tot fatschantada da lavar glischoiva. Ella vesa quegl e corra voi cugl bacleni bletsch entamaun e dat ina slafada antorn igl tgo lis Franzos, tgi en stos liads da laschiar oir igl pover Sep.»2

Freie Übersetzung (LC), aus: Rätoromanische Chrestomatie, Band X, 1. Teil (1914).

Originalfassung in Alvaneuer Romanisch

Teufelsgeschichten

Der kleine Peter musste sich immer wieder vom Vater die Geschichte vom «Gespenst zu Surava»1 anhören.

Die Erwachsenen wollten den Kindern mit schauerlichen Geschichten Angst einjagen, damit sie sich ja nicht zu nächtlicher Stunde draussen im Freien aufhielten. Denn draussen lauerten allerlei Gefahren, und nicht selten soll es zur Begegnung mit dem Teufel gekommen sein.

So erging es einmal einem Burschen von Surava, der in stockdunkler Nacht von Alvaneu herkommend auf einmal bei Proquarta ein elegantes Ross sah, das, sobald der Bursche sich ihm nähern wollte, auswich, aber ihm aus sicherer Distanz folgte. Blieb der Bursche stehen, so tat das auch das Ross. Der Bursche von Surava staunte nicht schlecht, als sich das Pferd auf einmal in einen roten Hund verwandelt hatte. Und Minuten später passierte die zweite Verwandlung: Aus dem roten Hund wurde ein Fuchs. Zu guter Letzt verwandelte sich dieser noch in ein Feuer, «das aber nur aufflackerte und in tausend Funken zerstob».2

Der Fall war so klar wie das Wasser der Albula: Der Bursche von Surava, der es gewagt hatte, so ganz alleine im Dunkeln den Heimweg anzutreten, war dem Teufel begegnet. Dieses Mal hatte der Teufel dem Nachtwanderer kein Leid zugefügt. Aber den Burschen von Surava sah man nie mehr zu nächtlicher Stunde allein unterwegs. So gross war die Angst vor einer erneuten unangenehmen Begegnung mit dem Teufel.

Überhaupt wurden Dinge oder Phänomene, die die Erwachsenen nicht erklären konnten, schnell einmal als «Teufelswerk» bezeichnet. So wollte doch Peter einmal vom Vater wissen, wie der Piz Ela oberhalb von Bergün zu seinem durchgehenden Loch gekommen sei. Auch auf diese Frage hatte der Vater eine Antwort:

«Vor vielen, vielen Jahren lebte auf dem Piz Toissa oberhalb von Mon der Teufel. Dieser Berg, den wir von Alvaneu sehr gut sehen, fällt etwas aus der Reihe, steht er doch alleine und quer in der Landschaft, ein richtiger Bündner Dickkopf!

Mehrere Male hatte ein schlauer Mensch aus der Gegend den Teufel hinters Licht geführt und diesen somit sehr wütend gemacht. Der Teufel vom Piz Toissa griff eines Tages nach einem mächtigen Stein und wollte seinen Widersacher damit töten, verfehlte jedoch das Ziel: Seither hat der Piz Ela ein Loch von West nach Ost, das wir «Fora digl Ela» nennen. Zweimal im Jahr, im Oktober und im Februar, scheint die Sonne durch das Loch auf das Dorf Bergün.»

Nachbardorf

Quelle: «Volksthümliches aus Graubünden», Sprecher/Eggerling & Co., 1916.

Der Schulunterricht

Peter bekam das Wort «Napoleon» sehr häufig zu hören, vor allem daheim und in der Schule. Der französische Kaiser Napoleon Bonaparte schien dem Knaben omnipräsent zu sein.

Es waren schlimme Jahre mit vielen Entbehrungen. Und man wusste nicht, wie der ganze Schlamassel enden würde. Die einen meinten, die Franzosen, mit Napoleon an der Spitze, würden am Ende siegen, andere glaubten eher an die Stärke der Österreicher, Preussen, Russen und Engländer. Achttausend Eidgenossen mussten auf Frankreichs Seite am Russlandfeldzug teilnehmen.

Die Kinder wurden daheim erst recht als willkommene Arbeitskraft im Stall und auf dem Feld gebraucht. Peter half dem Vater auch häufig in der Mühle. Der Schulunterricht war zweitrangig. Von Zeit zu Zeit durfte er aber doch seinen Wissensdurst stillen. Dann eilte er die Voia (Weg) hinauf ins Dorf zu den strengen Kapuzinern, die für den Schulunterricht verantwortlich waren.

Die Fächer Katechismus, Rechnen, Schreiben und Sprachen sollten die Kinder fürs Leben vorbereiten. Die aus Italien stammenden Kapuziner beherrschten schnell einmal die verwandte romanische Sprache, konnten aber kaum Deutsch. Deswegen hatten sie einen aus Preussen heimgekehrten körperlich behinderten Söldner damit beauftragt, den Kindern die deutsche Schriftsprache und etwas Französisch beizubringen.

Unterricht hiess aber immer Drill. Einzelne Abschnitte im Katechismus mussten auswendig gelernt werden. So zum Beispiel die Werke der «Misericortgia» (Barmherzigkeit) aus dem Büchlein «Cuorta doctregna, o mussamaint»1:

«Dar da magliear a quels tge hon fom.

Den Hungernden zu essen geben.

Dar da bever a quels tge hon seigt.

Den Dürstenden zu trinken geben.

Veschtgeir ilgs Niefs.

Die Nackten bekleiden.

Dar Albiergt ailgs Easters.

Die Fremden aufnehmen.

Visitar ilgs malsangs.

Die Kranken besuchen.

Spindrar ilgs Parschaniers.

Die Gefangenen besuchen/mit Nahrung beglücken.

Zuttarar ilgs moarts.

Die Toten begraben.»

Peter fiel das Auswendiglernen leicht. Mit anderen, die vor Angst zitterten oder grosse Mühe bekundeten, etwas im Gedächtnis zu behalten, geschweige denn es zu verstehen, hatte er Mitleid, denn mit diesen gingen die Kapuziner und der Söldner gar nicht zimperlich um. Der Stecken liess nicht lange auf sich warten…

Indes wuchs Peter unter der Pflege seiner praktischen und verständigen Eltern auf, wurde stark an Leib und Geist.

Surmeir/Mittelbünden besass schon 1755 ein in seinem Idiom verfasstes Büchlein.

Die Alvaneuer Geisshirten

Wohl etwas vom Schlimmsten, was einem Geisshirten auf der Alp geschehen konnte, war, seine Herde zu verlieren. Das passierte am ehesten dann, wenn es gewitterte, blitzte und donnerte und die Tiere einen sicheren Unterschlupf aufsuchten, zum Beispiel eine Höhle, wo er sie nicht auf Anhieb fand.

Tauchte der Geisshirt gegen Abend ohne seine Geissen im Dorf auf, so musste er sich öffentlich schämen sowie böse Kritik einstecken, warteten doch die Bauersleute schon recht ungeduldig auf die so wichtige Ziegenmilch.

Die Herde verloren hatte einmal ein zwölfjähriger Ziegenhirte von Alvaneu-Dorf. Er wagte es nicht, am Ende eines langen Tages ohne die ihm anvertrauten Tiere nach Hause zurückzukehren. In ihm kamen deswegen grosse Ängste hoch, insbesondere fürchtete er sich vor dem rabiaten Vater. Dieser würde sicher einmal mehr zum Stecken greifen und ihn verhauen.

Was tat der unglückliche Junge in dieser misslichen Lage? Er trat die grosse Flucht an Richtung Tiefencastel, Oberhalbstein, Septimerpass, Italien, wo er nach langem Suchen in Brescia eine Arbeit als Tellerwäscher fand und später in einem Kaffeehaus in Ferrara. Hier fiel er beim strengen, aber korrekten Patron schnell einmal als arbeitsamer, tüchtiger und zuverlässiger Junge auf. Mit den Jahren stieg der Alvaneuer immer weiter die Karriereleiter hinauf. Zu guter Letzt, im Jahre 1786, ging das Kaffeehaus sowie weiteres Vermögen testamentarisch sogar an den Bündner.

Der Zeitpunkt war nun endlich gekommen, seine Eltern im fernen Bündnerland aufzusuchen, sie mit viel Geld zu beglücken und um Verzeihung zu bitten, hatte er doch damals bei seiner Flucht gegen das wichtige moralische Prinzip verstossen, die Eltern im Stich gelassen und sie somit nicht gebührend geschätzt und geehrt zu haben.1

Juli 1813. Der sechzehnjährige Peter war ebenfalls mit seinen Ziegen unterwegs. Alvaneu-Bad und das Quartier Tschessa lunga durften ihre Tiere auf der Tiefencastler Alp weiden lassen, was einem alten Recht entsprach – das Resultat jahrelanger Grenzstreitigkeiten.

Peter dachte ab und zu ernsthaft übers Auswandern nach. Wenn auch er eines Tages seine Herde verlieren würde, nein, einfach abzuhauen in die Ferne, so etwas würde er seinen lieben Eltern auch dann nie antun. Angst vor seinem Vater und der Mutter hatte er bis jetzt noch nie gehabt. Seine Eltern waren doch so gut zu ihrem einzigen Sohn. Ausserdem kam Peter auch der Kapuzinerpater in den Sinn. Dieser wurde, sei es in der Kirche oder während des Unterrichts, nicht müde zu wiederholen:

«Fasche per cumond agls genitours, respecte lour voluntad e tigne semper an onour els! – Gehorcht euren Eltern, respektiert ihren Willen und ehrt sie immer!»

Quelle: Gion Antoni Bühler, Il cavrèr d’Alvagni, Annalas, Societad Rhaeto-Romanscha, 1887.