Nat hat seine besten Jahre als Spion hinter sich. Gerade ist er nach London zu seiner Frau zurückgekehrt, da wird ihm ein letzter Auftrag erteilt, denn Moskau wird zunehmend zu einer Bedrohung. Zur Erholung spielt Nat Badminton, seit Neuestem gegen Ed, einen jungen Mann, der den Brexit hasst, Trump hasst, auch seine Arbeit in einer seelenlos gewordenen Medienagentur. Ausgerechnet Ed fordert Nat auch außerhalb des Spielfelds heraus und zwingt ihn, seine Haltung gegenüber dem eigenen Land und seinem bisherigen Leben infrage zu stellen. Und eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen, die für alle Konsequenzen haben wird.
Populismus, Datenmissbrauch und Fake News – was tun, wenn die Welt plötzlich in Flammen steht?
Roman
Aus dem Englischen
von
Peter Torberg
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de
ISBN 978-3-8437-2190-5
© 2019 by David Cornwell
© der deutschsprachigen Ausgabe
2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Autorenfoto: © Jillian Edelstein / Camera Press
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © gettyimages / Edward Holub
E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com
Alle Rechte vorbehalten
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Für Jane – dies ist ihr Buch
Unsere Begegnung war nicht arrangiert worden. Weder von mir noch von Ed noch von einem der unsichtbaren Mitspieler, nach deren Pfeife Ed angeblich tanzte. Man hatte mich nicht ins Visier genommen. Ed war nicht angestiftet worden. Wir wurden weder heimlich noch offen observiert. Er forderte mich sportlich heraus. Ich nahm die Herausforderung an. Wir spielten gegeneinander. Es bestand kein Plan, keine Verschwörung, keine Absprache mit irgendjemandem. Es gibt Ereignisse in meinem Leben – nur wenige dieser Tage, zugegeben –, die nur Raum für eine einzige Version lassen. Unsere Begegnung ist von dieser Sorte. Und was ich darüber sage, hat sich bei all den Gelegenheiten, bei denen ich mich wiederholen musste, nicht verändert.
Es ist Samstagabend. Ich sitze im Athleticus Club in Battersea (ich bin hier Vereinsvorsitzender, ein im Grunde bedeutungsloser Titel) auf einem gepolsterten Liegestuhl. Der Vereinsraum ist riesig und hat eine hohe Balkendecke, er ist Teil einer umgebauten Brauerei, mit einem Swimmingpool am einen Ende, einer Bar am anderen und einem Gang dazwischen, der zu den getrennten Umkleideräumen und den Duschen führt.
Ich sitze mit dem Rücken zur Bar und schaue in Richtung Pool. Hinter der Bar liegt der Zugang zum Vereinsraum, davor der Eingangsbereich, davor wiederum die Tür zur Straße. Ich war also nicht in der Lage, zu sehen, wer den Raum betrat oder wer sich davor herumtrieb, die Ankündigungen studierte, ein Spielfeld buchte oder seinen Namen auf die Turnierliste setzte. Um die Bar herum herrscht lebhaftes Treiben. Junge Frauen und ihre Verehrer planschen im Pool und plaudern.
Ich trage meine Badmintonbekleidung: Shorts, Sweatshirt und ein neues Paar knöchelschonender Sportschuhe. Die habe ich mir im Kampf gegen leichte Schmerzen im linken Knöchel gekauft, die mich seit einer Wanderung durch die estnischen Wälder im Monat zuvor plagen. Nach mehreren ausgedehnten, unmittelbar aufeinanderfolgenden Einsätzen im Ausland genieße ich eine wohlverdiente Auszeit in der Heimat. Über meinem Berufsleben liegt ein Schatten, den ich zu verdrängen versuche, so gut es geht. Ich rechne damit, am Montag rausgeworfen zu werden. Nun, dann soll es so sein, versuche ich mir einzureden. Ich werde siebenundvierzig, ich hatte eine gute Zeit, so lauteten die Bedingungen von Anfang an, also hör schon auf zu jammern.
Umso tröstlicher zu wissen, dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters und eines lästigen Knöchels weiterhin allein regierender Vereinsmeister bin, nachdem ich erst am vergangenen Samstag den Einzeltitel gegen einen talentierten jüngeren Gegner verteidigt habe. Die Einzeltitel werden gemeinhin als exklusives Vorrecht energiegeladener Spieler in ihren Zwanzigern angesehen, doch bislang habe ich mich behaupten können. Heute habe ich mich der Vereinstradition gemäß als neu gekrönter Meister in einem Freundschaftsmatch mit dem Champion unseres gegnerischen Vereins auf der anderen Seite des Flusses in Chelsea gemessen und mich gegen ihn durchgesetzt. Und nun sitzt dieser ehrgeizige und faire junge Rechtsanwalt aus Indien im Nachglanz unseres Kampfes mit einem Glas Bier in der Hand neben mir. Bis zu den letzten Aufschlägen stand ich ziemlich unter Druck, doch dann wendete sich dank meiner Erfahrung und ein wenig Glücks das Blatt doch noch zu meinen Gunsten. Vielleicht erklären diese Umstände, warum ich in dem Augenblick, als Ed mich herausforderte, Nachsicht walten ließ und ich den – wenn auch nur flüchtigen – Eindruck hatte, dass es ein Leben nach dem Rauswurf gab.
Mein geschlagener Gegner und ich unterhalten uns freundlich. Es ging – ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen – um unsere Väter. Beide waren sie begeisterte Badmintonspieler gewesen, wie sich herausstellte. Seiner war Zweiter bei den indischen Meisterschaften geworden, meiner durfte sich eine glückliche Saison lang Meister der Britischen Armee in Singapur nennen. Während wir in beschwingter Stimmung Anekdoten austauschen, bemerke ich Alice, unsere karibische Empfangsdame und Buchhalterin, wie sie in Begleitung eines sehr großen und noch recht schlaksigen jungen Mannes auf mich zukommt. Alice ist sechzig, hat ihre Launen, ist korpulent und stets leicht außer Atem. Wir beide gehören dem Verein am längsten an, ich als Spieler, sie als Mädchen für alles. Wo immer ich auch auf der Welt im Einsatz war, haben wir es kein einziges Jahr versäumt, uns gegenseitig Weihnachtskarten zu schicken. Meine waren gewagt, ihre religiös. Wenn ich sage, dass die beiden auf mich zukommen, dann meine ich damit, dass sie sich erst von hinten nähern müssen, um sich dann umzudrehen, was sie lustigerweise synchron tun.
»Mister Sir Nat, Sir«, verkündet Alice mit feierlicher Miene. Meist bin ich Lord Nat für sie, doch heute Abend gehe ich nur als gewöhnlicher Ritter durch. »Dieser attraktive und höfliche junge Mann möchte gerne ganz persönlich mit Ihnen reden. Er wollte Sie im Augenblick Ihres Triumphs nur nicht stören. Das ist Ed. Ed, darf ich Ihnen Nat vorstellen.«
In meiner Erinnerung steht Ed, dieser über eins neunzig große, schlaksige junge Mann mit Brille, der eine gewisse Einsamkeit ausstrahlt, eine ganze Weile peinlich berührt lächelnd ein paar Schritte hinter Alice. Ich weiß noch, wie ihn zwei konkurrierende Lichtquellen trafen: die orange Lichtleiste von der Bar, die ihm einen himmlischen Glanz verleiht, und hinter ihm die Deckenstrahler des Swimmingpools, die ihn in eine übergroße Silhouette gießen.
Er tritt vor und seine Konturen werden scharf. Ein großer, unbeholfener Schritt, linker Fuß, rechter Fuß, Halt. Alice macht sich davon. Ich warte, dass er etwas sagt. Setze ein geduldiges Lächeln auf. Mindestens eins fünfundneunzig, dunkle, verwuschelte Haare, große braune wissbegierige Augen, die durch die Brille etwas Ätherisches haben, und die Art von knielanger weißer Sporthose, wie man sie meist bei Jachtbesitzern oder Söhnen aus reichem Bostoner Hause findet. Um die fünfundzwanzig, aber mit diesen Zügen des ewigen Studenten, vielleicht auch etwas jünger oder älter.
»Sir?«, sagt er schließlich, wenn auch nicht sonderlich respektvoll.
»Nat, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, korrigiere ich ihn mit einem weiteren Lächeln.
Er nimmt es in sich auf. Nat. Denkt darüber nach. Zieht seine Höckernase kraus.
»Also, ich heiße Ed«, sagt er, aus Rücksicht auf mich Alice’ Auskunft wiederholend. In dem England, in das ich erst kürzlich zurückgekehrt bin, hat niemand mehr einen Nachnamen.
»Nun, hallo, Ed«, erwidere ich fröhlich. »Was kann ich für Sie tun?«
Wieder eine Pause, in der er nachdenkt. Dann platzt er damit heraus:
»Ich möchte gegen Sie spielen, okay? Sie sind der Meister. Das Problem ist nur, ich bin dem Verein gerade erst beigetreten. Letzte Woche. Ja. Ich habe meinen Namen eingetragen und all das, aber der Rangliste nach dauert das verfluchte Monate« – und die Wörter befreien sich aus ihrer Gefangenschaft. Dann gibt es wieder eine Pause, er schaut uns beide an, erst meinen freundlichen Gegner, dann wieder mich.
»Hören Sie«, fährt Ed fort, versucht, mich zu überzeugen, dabei habe ich nicht mal widersprochen. »Ich kenne mich mit den Regeln hier nicht aus, okay?« – die Stimme hebt sich vor Entrüstung. »Kann ich ja nichts dafür. Also habe ich Alice gefragt. Und sie meinte, fragen Sie ihn doch selbst, er beißt nicht. Also frage ich Sie.« Und für den Fall, dass es weiterer Erklärungen bedarf: »Ich hab Sie spielen sehen, okay? Und ich hab schon ein paar Leute geschlagen, die Sie auch geschlagen haben. Und ein oder zwei, die Sie geschlagen haben. Ich bin mir ziemlich sicher, wir könnten uns einen Kampf liefern. Einen ordentlichen. Ja. Einen ziemlich ordentlichen, ehrlich gesagt.«
Und die Stimme an sich, von der ich nun eine recht gute Probe erhalten habe? Bei dem altehrwürdigen britischen Brauch, unsere Landsleute aufgrund ihrer Sprechweise auf der sozialen Leiter einzuordnen, bin ich allerhöchstens ein schlechter Mitspieler, da ich zu lange im Ausland gewesen bin. Doch ich schätze, in den Ohren meiner Tochter Stephanie, einer eingeschworenen Gleichmacherin, dürfte Eds Aussprache als ganz okay durchgehen, soll heißen, es gibt keine direkten Hinweise auf eine Privatschulerziehung.
»Darf ich fragen, wo Sie spielen, Ed?«, möchte ich wissen, was unter uns Badmintonspielern eine Standardfrage ist.
»Überall. Wo immer ich einen passenden Gegner finden kann. Ja.« Und dann im Nachsatz: »Dann habe ich gehört, dass Sie hier Mitglied sind. In manchen Vereinen, da zahlt man und spielt dann. Hier nicht. Hier muss man erst Mitglied werden. Reiner Beschiss, meiner Meinung nach. Also bin ich Mitglied geworden. Kostet ein verfluchtes Vermögen, aber sei’s drum.«
»Tut mir leid, dass Sie so viel haben blechen müssen, Ed«, erwidere ich freundlich und schiebe das unnötige ›Beschiss‹ auf seine Nervosität. »Aber wenn Sie gegen mich spielen wollen, dann geht das in Ordnung«, füge ich hinzu; mir fällt auf, dass die Gespräche an der Bar verstummen und sich die ersten Köpfe umdrehen. »Wir sollten mal einen Termin ausmachen. Ich freue mich darauf.«
Doch das reicht Ed noch nicht.
»Also, wann wäre es Ihnen denn recht, was meinen Sie? Jetzt mal ganz konkret. Nicht irgendwann«, sagt er unvermittelt und kassiert vereinzeltes Gelächter von der Bar, was ihn irritiert, wie ich seinem finsteren Blick entnehme.
»Nun, die nächsten ein, zwei Wochen klappt es nicht, Ed«, erwidere ich wahrheitsgemäß. »Ich habe mich um eine wichtige Angelegenheit zu kümmern. Einen lange überfälligen Urlaub mit der Familie, um genau zu sein«, füge ich hinzu, hoffe auf ein Lächeln, ernte aber nur einen starren Blick.
»Und wann sind Sie dann wieder zurück?«
»Samstag in einer Woche, wenn wir uns nichts gebrochen haben. Wir gehen Ski fahren.«
»Wo denn?«
»In Frankreich. Bei Megève. Fahren Sie auch Ski?«
»Hab ich schon mal gemacht. In Bayern allerdings. Wie wär’s mit dem Sonntag danach?«
»Ich fürchte, es geht nur unter der Woche, Ed«, erwidere ich fest, denn die Familienwochenenden sind, nun da Prue und ich sie frei gestalten können, unantastbar; heute ist eine seltene Ausnahme.
»Also unter der Woche, ab dem Montag in einer Woche, richtig? Welcher Tag? Suchen Sie sich einen aus. Ihre Wahl. Mir ist es gleich.«
»Ein Montag würde mir wahrscheinlich am besten passen«, schlage ich vor, denn an den Montagabenden bietet Prue ihre wöchentliche Pro-bono-Rechtsberatung an.
»Also Montag, in vierzehn Tagen. 18 Uhr? 19? Wann?«
»Nun, sagen Sie mir, was Ihnen am besten passt«, meine ich. »Meine Pläne hängen da noch ein wenig in der Luft« – ich könnte zum Beispiel auch bis dahin schon draußen auf der Straße sitzen.
»Manchmal werde ich montags länger festgehalten«, sagt Ed, und es klingt wie ein Vorwurf. »Wie wär’s mit 20 Uhr? Passt Ihnen 20 Uhr?«
»20 Uhr passt mir bestens.«
»Court eins, okay, wenn ich ihn kriege? Alice meint, sie geben die Felder nicht gern für Einzel her, aber bei Ihnen ist das was anderes.«
»Jedes Spielfeld ist mir recht, Ed«, versichere ich ihm unter noch lauterem Gelächter und verhaltenem Applaus von der Bar, wohl als Anerkennung für seine Hartnäckigkeit.
Wir tauschen Handynummern aus, was mich immer in Verlegenheit bringt. Ich gebe ihm meine Privatnummer und schlage vor, dass er mir eine SMS schickt, falls etwas dazwischenkommt. Er bittet mich ebenfalls darum.
»Und hey, Nat?« – mit plötzlich erheblich sanfterer Stimme.
»Was denn?«
»Haben Sie nur ja einen wirklich guten Familienurlaub, okay?« Und für den Fall, dass ich es mir nicht gemerkt habe: »Also Montag in zwei Wochen. 20 Uhr. Hier.«
Alle lachen oder klatschen, Ed macht sich mit der Andeutung eines Winkens mit dem ganzen rechten Arm in Richtung Umkleide davon.
»Kennt jemand ihn?«, frage ich.
Kopfschütteln. Tut uns leid, Mann.
»Hat ihn schon mal jemand spielen sehen?«
Leider wieder nein.
Ich begleite meinen gegnerischen Besucher in den Eingangsbereich und stecke auf dem Weg zurück zur Umkleide meinen Kopf durch die Tür der Verwaltung. Alice ist in ihren Computer vertieft.
»Ed, und wie weiter?«, frage ich sie.
»Shannon«, antwortet sie, ohne den Kopf zu heben. »Edward Stanley. Einzelmitgliedschaft. Einzugsermächtigung, Anwohner.«
»Beruf?«
»Mr Shannon ist Rechercheur von Beruf. Wen er recherchiert, hat er nicht gesagt. Was er recherchiert, hat er nicht gesagt.«
»Anschrift?«
»Hoxton, gehört zu Hackney. Da, wo meine zwei Schwestern wohnen und meine Cousine Amy.«
»Alter?«
»Mr Shannon ist nicht berechtigt für eine Juniormitgliedschaft. Um wie viel er nicht berechtigt ist, hat er nicht gesagt. Ich weiß nur, das ist ein ziemlich unersättlicher Kerl, radelt quer durch ganz London, nur um den Meister des Südens herauszufordern. Er hat von Ihnen gehört, jetzt ist er gekommen, um Sie zu kriegen, so sicher, wie David Goliath gekriegt hat.«
»Hat er das so gesagt?«
»Was er nicht gesagt hat, habe ich in meinem eigenen Kopf vermutet. Sie sind schon zu lange der Meister hier für Ihr Alter, Nat, genau wie Goliath. Wollen Sie etwas über seine Eltern wissen? Wie hoch die Hypothek? Wie lange im Gefängnis?«
»Gute Nacht, Alice. Und danke.«
»Ich wünsche Ihnen auch eine gute Nacht, Nat. Und richten Sie Ihrer Prue liebe Grüße aus. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen dem jungen Mann. Sie werden ihn schon aus dem Weg räumen, genau wie all die anderen Grünschnäbel.«
Würde es sich hier um einen offiziellen Bericht zu seiner Klaridentität handeln, dann würde ich mit Eds vollem Namen anfangen, seinen Eltern, dem Geburtsdatum und -ort, Beruf, seiner Religionszugehörigkeit, ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung und mit all den anderen wichtigen Daten, die in Alice’ Computer fehlen. So aber fange ich mit meinen eigenen an.
Ich wurde auf den Namen Anatoly getauft, der später zu Nathaniel anglisiert und dann zu Nat verkürzt wurde. Ich bin eins achtundsiebzig, glatt rasiert, habe buschiges, immer grauer werdendes Haar, bin verheiratet mit Prudence, Partnerin in einer alteingesessenen, tendenziell barmherzigen Anwaltskanzlei in der City of London für Rechtsfragen allgemeiner, vor allem aber kostenloser Art.
Ich bin schlank gebaut, Prue sagt lieber drahtig dazu. Ich liebe jede Art von Sport. Neben Badminton jogge ich, ich laufe und trainiere einmal in der Woche in einer Sporthalle, zu der die Öffentlichkeit keinen Zutritt hat. Ich verfüge über einen rauen Charme und die offene Persönlichkeit eines Mannes von Welt. In Erscheinungsbild und Benehmen entspreche ich dem Urbild des Briten und bin spontan in der Lage, eine flüssige und überzeugende Debatte zu führen. Ich passe mich den Umständen an und habe keine unüberwindlichen moralischen Skrupel. Ich kann aufbrausend sein und bin keineswegs gegen weiblichen Charme gefeit. Ich bin von Natur aus eher nicht für Schreibtischarbeit oder ein sesshaftes Leben geeignet, was die Untertreibung des Jahrhunderts ist. Ich kann halsstarrig sein und reagiere meiner Natur gemäß nicht auf Maßregelungen. Das kann so positiv wie negativ sein.
Ich zitiere aus den jüngsten vertraulichen Berichten meines Arbeitgebers zu meinen Leistungen und meiner allgemeinen Einstellung in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Sie möchten sicherlich auch gern wissen, dass man im Ernstfall darauf vertrauen kann, dass ich die nötige Abgebrühtheit zeige, doch ist nicht angegeben, wer darauf vertraut und in welchem Umfang. Im Gegensatz dazu habe ich eine gewisse Leichtigkeit an mir und verfüge über eine freundliche Natur, die Vertrauen vermittelt.
Nüchtern betrachtet bin ich britischer Staatsangehöriger gemischter Herkunft, ein in Paris geborenes Einzelkind; mein verstorbener Vater war zum Zeitpunkt meiner Zeugung ein mittelloser Major der Scots Guards, im Einsatz beim NATO-Hauptquartier in Fontainebleau, meine Mutter die Tochter eines unbedeutenden weißrussischen Adligen, der in Paris residierte. Weißrussisch soll heißen, dass es auf der Seite ihres Vaters einen ordentlichen Schuss deutsches Blut gab, was sie je nach Laune entweder betonte oder leugnete. Der Geschichte zufolge lernte sich das Paar bei einem Empfang kennen, der von den Überbleibseln der selbst ernannten russischen Exilregierung gegeben wurde, und zwar in der Zeit, als meine Mutter sich noch Kunststudentin nannte und mein Vater fast vierzig war. Am Morgen danach waren sie verlobt; zumindest erzählte es meine Mutter so, und angesichts ihrer Lebensumstände in anderen Bereichen habe ich kaum Grund, ihre Behauptung anzuzweifeln. Nach seinem Abschied vom Militär – zwangsweise und schleunigst umgesetzt, da mein Vater zu dem Zeitpunkt bereits eine Frau und weitere Verpflichtungen hatte –, bezogen die Frischvermählten im Pariser Vorort Neuilly ein hübsches weißes Haus, zur Verfügung gestellt von den Eltern meiner Mutter. Bald wurde ich dort geboren, was meine Mutter in die Lage versetzte, sich einem neuen Zeitvertreib zu widmen.
Für den Schluss habe ich mir Madame Galina aufgehoben, meine imposante, allwissende, geliebte Sprachlehrerin, Aufpasserin und de facto Gouvernante, angeblich eine enteignete Gräfin aus der Wolgaregion Russlands, die behauptete, mit den Romanows verwandt zu sein. Wie sie jemals in unseren zänkischen Haushalt geriet, bleibt mir schleierhaft; ich vermute allerdings, dass sie die abgelegte Geliebte eines Großonkels mütterlicherseits war, der nach der Flucht aus dem damaligen Leningrad ein neues Vermögen als Kunsthändler gemacht hatte und sein Leben fortan der Aufgabe widmete, schöne Frauen zu sammeln.
Madame Galina war mindestens fünfzig, als sie in unserem Haushalt auftauchte, sehr mollig, aber mit einem koketten Lächeln. Sie trug lange Kleider aus todschickem schwarzen Samt, fertigte ihre eigenen Hüte an und wohnte mit all ihrer weltlichen Habe in den beiden Mansardenzimmern: mit ihrem Grammophon, ihren Ikonen, einem stockfinsteren Gemälde der Jungfrau Maria, von dem sie behauptete, es sei von Leonardo da Vinci, und Schachteln über Schachteln voll alter Briefe und Fotografien von großelterlichen Prinzen und Prinzessinnen, umgeben von Hunden und Bediensteten im Schnee.
Neben meinem persönlichen Wohlergehen galt Madame Galinas große Leidenschaft den Sprachen, die sie in Mehrzahl beherrschte. Kaum hatte ich die Grundlagen der englischen Rechtschreibung durchdrungen, zwang sie mir schon die kyrillische Schrift auf. Unsere Gute-Nacht-Lektüre bestand aus einer einzigen Kindergeschichte, die sie mir jeden Abend in einer anderen Sprache vorlas. Bei den Treffen der rasch dahinschwindenden Pariser Gesellschaft aus weißrussischen Nachfahren und Exilanten aus der Sowjetunion trat ich als ihr polyglottes Vorzeigekind auf. Man sagt mir nach, ich spräche Russisch mit einem französischen Akzent, Französisch mit einem russischen Akzent und das wenige Deutsch, das ich beherrsche, mit einer Mischung aus beidem. Mein Englisch wiederum ist wohl oder übel das meines Vaters. Man behauptet, ich hätte seinen schottischen Tonfall, wenn nicht sogar das ihn begleitende alkoholisierte Getöse.
Als ich zwölf war, erkrankte mein Vater an Krebs und Melancholie, und mit Madame Galinas Hilfe kümmerte ich mich um seine letzten Bedürfnisse; meine Mutter war mit dem reichsten unter ihren Verehrern anderweitig beschäftigt, einem belgischen Waffenhändler, für den ich nichts übrighatte. Innerhalb des unangenehmen Dreiecks, das nach dem Tod meines Vaters entstand, wurde ich für überflüssig erachtet, also verfrachtete man mich nach Schottland. Während der Ferien war ich bei einer mürrischen Tante väterlicherseits in den Scottish Borders einquartiert und verbrachte die Schulzeit in einem spartanischen Internat in den Highlands. Trotz aller Bemühungen der Schule, mich in keinem Fach zu unterrichten, bei dem man in einem Klassenzimmer sitzen musste, wurde ich zu einer Universität in den industrialisierten englischen Midlands zugelassen, wo ich meine ersten zaghaften Schritte auf das weibliche Geschlecht zumachte und einen gerade mal mäßigen Abschluss in Slawistik zustande brachte.
Die letzten fünfundzwanzig Jahre über war ich aktiver Mitarbeiter beim Britischen Geheimdienst, von den Eingeweihten die Behörde genannt.
Noch heute erscheint es mir wie vorherbestimmt, dass ich bei der Geheimen Flagge angeheuert habe, denn ich kann mich nicht erinnern, je eine andere Karriere in Erwägung gezogen oder mir erträumt zu haben, außer vielleicht Badmintonspielen oder Wanderungen in den Cairngorms. In dem Augenblick, als mein Dozent an der Universität mich bei einem Glas warmen Weißweins schüchtern fragte, ob ich jemals darüber nachgedacht hätte, »ein wenig Geheimniskrämerei für mein Vaterland« zu betreiben, ging mir das Herz auf bei dieser Offenbarung. Meine Gedanken kehrten zurück in eine dunkle Wohnung in Saint-Germain, die Madame Galina und ich jeden Sonntag bis zum Tod meines Vaters aufgesucht hatten. Dort war ich zum ersten Mal ganz elektrisiert gewesen angesichts all der antibolschewistischen Verschwörung, die meine Halbcousins, Stiefonkel und spinnerten Großtanten umgab, wenn sie sich Nachrichten aus der Heimat zuflüsterten, in die die wenigsten von ihnen jemals einen Fuß gesetzt hatten; und wenn sie sich dann meiner Anwesenheit bewusst wurden, verpflichteten sie mich zur Geheimhaltung, unabhängig davon, ob ich das, was ich nicht hätte mit anhören dürfen, verstanden hatte oder nicht. Dort nahm auch meine Faszination für Mütterchen Russland ihren Anfang, dessen Blut ich teile, für seine Vielfalt, Unermesslichkeit und die unerforschlichen Sitten.
Ein unauffälliger Umschlag flattert durch meinen Briefschlitz und sein Inhalt informiert mich darüber, dass ich mich an einem Gebäude mit Säulengang in der Nähe des Buckingham Palace einfinden solle. Hinter einem Schreibtisch von der Größe eines Geschützturms thront ein Admiral der Royal Navy a. D. und fragt mich, welche Sportart ich betreibe. Badminton, antworte ich, und er ist sichtlich gerührt.
»Wissen Sie, dass ich gegen Ihren lieben Vater in Singapur Badminton gespielt habe und er mich vernichtend geschlagen hat?«
Nein, Sir, antworte ich, das hätte ich nicht gewusst, und frage mich, ob ich mich im Namen meines Vaters entschuldigen soll. Wir müssen auch noch über andere Dinge gesprochen haben, aber daran erinnere ich mich nicht mehr.
»Und wo liegt er begraben, der gute Kerl?«, fragt er, als ich aufstehe, um zu gehen.
»In Paris, Sir.«
»Ah, na dann. Alles Gute.«
Mir wird aufgetragen, mich mit einem Exemplar des Spectator von der vergangenen Woche am Bahnhof Bodmin Parkway einzufinden. Nachdem ich festgestellt habe, dass alle unverkauften Exemplare an den Grossisten zurückgegangen sind, stehle ich das Magazin aus einer örtlichen Bücherei. Ein Mann mit einem grünen Trilby fragt mich, wann der nächste Zug nach Camborne gehe. Ich erwidere, dass ich ihm leider nicht helfen könne, da ich auf dem Weg nach Didcot sei. Ich folge ihm in einiger Entfernung zum Parkplatz, wo ein weißer Van wartet. Nach drei Tagen voller rätselhafter Fragen und gestelzter Dinner, bei denen meine gesellschaftlichen Fähigkeiten und meine Trinkfestigkeit geprüft werden, ruft man mich vor den Ausschuss.
»Also, Nat«, spricht eine grauhaarige Dame, die in der Mitte am Tisch sitzt. »Nachdem wir die ganze Zeit Sie befragt haben – gibt es zur Abwechslung etwas, das Sie uns fragen wollen?«
»Nun, um ehrlich zu sein, ja«, erwidere ich, nachdem ich zunächst eine Miene ernsthaften Nachdenkens aufgesetzt habe. »Sie haben mich gefragt, ob Sie sich auf meine Loyalität verlassen könnten, aber kann ich mich denn auch auf Ihre verlassen?«
Sie lächelt, und gleich darauf tun es ihr alle am Tisch gleich: dieses traurige, listige, nach innen gerichtete Lächeln, die größte Anerkennung, die man beim Dienst jemals erhalten wird.
Schlagfertig. Latente Angriffslust vorhanden. Zur Aufnahme empfohlen.
In dem Monat, als ich die Grundkurse zu den dunklen Künsten abgeschlossen hatte, war mir auch das Glück beschieden, meine spätere Frau Prudence kennenzulernen. Unsere erste Begegnung war nicht vielversprechend. Nach dem Tod meines Vaters war ein ganzes Regiment an Leichen aus dem Familienkeller aufgetaucht. Halbbrüder und -schwestern, von denen ich noch nie gehört hatte, erhoben Ansprüche auf ein Vermögen, das von seinen schottischen Treuhändern schon fein säuberlich geplündert worden war. Ein Freund empfahl mir eine Kanzlei. Nachdem er sich meine Sorgen fünf Minuten lang angehört hatte, drückte der dortige Seniorpartner auf einen Knopf.
»Eine unserer besten jungen Anwältinnen«, versicherte er mir.
Die Tür ging auf, und eine Frau in meinem Alter kam hereinmarschiert. Sie trug ein schwarzes Kostüm von der Art, wie ihn der Advokatenstand klassischerweise bevorzugt, eine strenge Lehrerinnenbrille und schwere schwarze Militärstiefel an sehr kleinen Füßen. Wir gaben uns die Hand. Sie würdigte mich keines zweiten Blickes. Unter dem Knallen ihrer Stiefel führte sie mich in ein kleines Büro, auf der Milchglastür stand Ms P. Stoneway LLB.
Wir sitzen uns gegenüber, sie schiebt sich streng die kastanienbraunen Haare hinter die Ohren und zieht einen gelben Schreibblock aus einer Schublade.
»Und Sie sind von Beruf?«, will sie wissen.
»Mitglied des Auslandsgeheimdienstes«, antworte ich und werde aus irgendeinem unerfindlichen Grund rot.
Danach erinnere ich mich vor allem an ihren kerzengeraden Rücken, an das vorgereckte Kinn und einen Streifen aus Sonnenlicht, wie er über die kleinen Härchen an ihrer Wange tanzt, während ich ihr eine erbärmliche Einzelheit unserer Familiensaga nach der anderen vorlege.
»Darf ich Sie Nat nennen?«, fragt sie am Ende unserer ersten Beratung.
Sie darf.
»Ich werde Prue genannt«, sagt sie, dann legen wir ein Datum in vierzehn Tagen fest, an dem sie mir mit derselben teilnahmslosen Stimme die Ergebnisse ihrer Recherchen mitteilt:
»Ich muss Sie leider darüber informieren, Nat, selbst wenn Sie morgen über alle strittigen Vermögenswerte aus dem Besitz Ihres Vaters verfügen würden, wäre die Summe zu gering, um auch nur meine Beratungskosten zu bezahlen, geschweige denn, um alle Ansprüche gegen Sie zu regeln. Allerdings«, fährt sie fort, bevor ich Gelegenheit habe zu erklären, dass ich sie nicht weiter belästigen würde, »haben wir Partner dieser Kanzlei eine Regelung getroffen, nach der wir bedürftige Mandanten in lohnenden Fällen pro bono vertreten. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass Ihr Fall in diese Kategorie fällt.«
Sie möchte eine Woche später noch einen weiteren Beratungstermin ansetzen, doch muss ich den leider verschieben. Ein lettischer Agent soll in eine Nachrichtenaufklärungseinheit der Roten Armee in Weißrussland eingeschleust werden. Nach meiner Rückkehr nach Großbritannien rufe ich Prue an und lade sie zum Essen ein, doch werde ich barsch darauf hingewiesen, dass es zu den Regeln ihrer Kanzlei gehöre, rein professionelle Beziehungen zu Mandanten zu pflegen. Allerdings freut sie sich, mir sagen zu können, dass infolge der Vertretung meiner Interessen durch ihre Kanzlei alle Ansprüche an mich zurückgezogen worden seien. Ich bedanke mich herzlich bei ihr und frage sie, ob in diesem Falle nicht doch der Weg für sie frei sei, mit mir zu essen. Das ist er.
Wir gehen zu Bianchi. Prue trägt ein tief ausgeschnittenes Sommerkleid, ihre Haare stecken nicht mehr hinter den Ohren, und alle im Raum glotzen sie an. Mir wird schnell klar, dass ich mit meinen üblichen Sprüchen nicht weit kommen werde. Wir haben kaum den Hauptgang erreicht, als sie mir ein Referat über die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit hält. Sobald der Kellner kommt, schnappt sie sich die Rechnung, teilt sie auf den Penny genau, rechnet zehn Prozent Trinkgeld hinzu und zieht das Bargeld aus ihrer Handtasche. Ich tue entrüstet, sage, dass mir noch nie eine derart unverfrorene Rechtschaffenheit untergekommen sei, und sie fällt vor Lachen fast vom Stuhl.
Sechs Monate später frage ich sie, nach vorheriger Zustimmung meines Arbeitgebers, ob sie in Erwägung ziehen würde, einen Spion zu heiraten. Das würde sie. Nun ist es am Dienst, sie zum Essen einzuladen. Zwei Wochen später teilt sie mir mit, dass sie beschlossen hat, ihre Karriere als Anwältin ruhen zu lassen und die Schulung des Büros für Ehepartner von Mitarbeitern, die in nächster Zeit in feindlicher Umgebung eingesetzt werden, zu absolvieren. Ich müsse wissen, sagt sie, dass sie die Entscheidung aus eigenem Willen getroffen habe, nicht aus Liebe zu mir. Sie sei hin- und hergerissen gewesen, habe sich aber von ihrem Pflichtgefühl dem Land gegenüber überzeugen lassen.
Sie schließt die Schulung mit fliegenden Fahnen ab. Eine Woche später werde ich als Zweiter Sekretär (Wirtschaft) an die Britische Botschaft in Moskau versetzt, begleitet von meiner Frau Prudence. Letztlich war Moskau der einzige Posten, an dem wir gemeinsam waren. Die Gründe dafür gereichen Prue nicht zur Schande. Dazu komme ich aber später noch einmal.
Zwei Jahrzehnte lang, erst zusammen mit Prue, dann ohne sie, habe ich der Queen unter diplomatischer oder konsularischer Tarnung in Moskau, Prag, Bukarest, Budapest, Tiflis, Triest, Helsinki und in jüngster Zeit in Tallinn gedient und Quellen jeglicher Couleur angeworben und geführt. Ich bin niemals in die oberen Ausschüsse der Strategieplanung geladen worden, und darüber bin ich froh. Der geborene Quellenführer ist sein eigener Herr. Er mag seine Befehle aus London erhalten, aber in der Praxis wacht er über sein eigenes Schicksal und das seiner Quellen. Und wenn seine aktiven Jahre vorüber sind, gibt es nicht allzu viele Ankerplätze für einen Wandergesellen auf dem Gebiet der Spionage von Ende vierzig, der Schreibtischarbeit hasst und über den Lebenslauf eines Diplomaten im mittleren Dienst verfügt, der es nicht sonderlich weit gebracht hat.
Weihnachten steht vor der Tür. Mein Tag der Abrechnung ist gekommen. Tief in den Katakomben der Zentrale meines Dienstes an der Themse werde ich in einen kleinen, sauerstoffarmen Befragungsraum geführt, wo mich eine lächelnde, intelligente Frau unbestimmten Alters erwartet. Es handelt sich um Moira aus der Personalabteilung. An den Moiras im Dienst ist schon immer etwas Fremdartiges gewesen. Sie wissen mehr über einen als man selbst, verraten aber nicht, um was es sich dabei handelt oder ob es ihnen missfällt.
»Also, Ihre Prue«, fragt Moira eifrig, »hat sie die jüngste Fusion ihrer Kanzlei überlebt? Das war doch bestimmt hart für sie.«
Danke der Nachfrage, Moira, nein, es war überhaupt nicht hart, und Glückwunsch, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich erwarte nichts anderes von Ihnen.
»Und geht es ihr gut? Geht es Ihnen beiden gut?« – dies mit einem Unterton der Sorge, den ich geflissentlich überhöre. »Jetzt, wo Sie zu Hause und außer Gefahr sind.«
»Absolut bestens, Moira. Wir sind sehr glücklich wiedervereint, danke der Nachfrage.«
Und jetzt lesen Sie mir freundlicherweise mein Todesurteil vor, damit wir das hinter uns hätten. Aber Moira verfolgt ihre eigenen Methoden. Als Nächste auf ihrer Liste steht unsere Tochter Stephanie.
»Und keine Wachstumswehwehchen mehr, hoffe ich doch, jetzt, wo sie auf der Universität ist?«
»Nichts dergleichen, Moira, danke der Nachfrage. Ihre Dozenten sind sehr angetan von ihr«, erwidere ich.
Doch ich kann nichts anderes denken als: Jetzt sag schon, dass für meinen Abschiedstrunk ein Donnerstagabend festgelegt wurde, denn an Freitagen mag niemand kommen, und ob ich nicht meinen kalten Kaffee drei Türen weiter den Flur hinunter bei der Abteilung für Wiedereingliederung einnehmen möchte. Dort wird man mir verlockende Angebote in der Waffenindustrie, auf dem freien Markt oder anderen Abstellgleisen für alte Spione unterbreiten, beim National Trust, im Automobilclub, an Privatschulen auf der Suche nach stellvertretenden Schatzmeistern. Es kommt daher ziemlich überraschend, als sie freudig verkündet:
»Also, wir haben einen weiteren Job für Sie, Nat, wenn Sie bereit dafür sind.«
Bereit? Moira, ich bin so bereit wie sonst niemand auf der Welt. Aber auch sehr misstrauisch, denn ich glaube, ich weiß, was Sie mir anbieten werden: ein Verdacht, der zur Gewissheit wird, als sie mir einen Anfängerkurs in Sachen aktuelle russische Bedrohung erteilt.
»Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, dass das Moskauer Hauptquartier uns hier und überall sonst völlig fertigmacht, Nat.«
Nein, Moira, das brauchen Sie mir nicht zu erzählen. Genau das erzähle ich der Zentrale schon seit Jahren.
»Sie werden dort immer fieser, frecher, vorwitziger, und sie werden immer mehr. Würden Sie das für eine angemessene Beschreibung halten?«
Das würde ich, Moira, ganz bestimmt. Lesen Sie dazu mal meinen Abschlussbericht aus dem sonnigen Estland.
»Und seit wir die offiziellen Mitarbeiter in Scharen des Landes verwiesen haben« – womit sie die Spione mit diplomatischem Schutz meint, also meine Sorte –, »überschwemmen sie uns mit inoffiziellen«, fährt sie empört fort, »und das sind, wie Sie mir sicher zustimmen werden, die lästigsten und am schwierigsten aufzuspürenden ihrer Art. Sie haben eine Frage.«
Einen Versuch ist es ja wert. Also los. Ich habe ja nichts zu verlieren.
»Nun, bevor Sie fortfahren, Moira.«
»Ja?«
»Mir kam gerade in den Sinn, es könne vielleicht in der Russlandabteilung ein Plätzchen für mich geben. Die stecken ja bis obenhin voller hochqualifizierter junger Schreibtischmenschen, wir wir alle wissen. Aber was ist, wenn mal ein erfahrener Feuerwehrmann vorbeischaut, ein gestandener russischer Muttersprachler wie ich, der in null Komma nichts irgendwohin fliegen und sich einen ersten Eindruck von möglichen russischen Überläufern oder Agenten verschaffen kann, die bei irgendeinem Außenposten auftauchen, wo niemand auch nur ein Wort der Sprache spricht?«
Moira schüttelt bereits den Kopf.
»Keine Chance, tut mir leid, Nat. Ich habe Sie bei Bryn ins Gespräch gebracht. Er lässt nicht mit sich reden.«
Es gibt nur einen Bryn in der Behörde: Bryn Sykes-Jordan mit vollem Namen, im Alltagsgebrauch verkürzt zu Bryn Jordan, Herrscher auf Lebenszeit in der Russlandabteilung und der damalige Leiter der Außenstelle in Moskau.
»Und warum nicht?«, hake ich nach.
»Sie wissen selbst, warum. Weil das Durchschnittsalter in der Russlandabteilung dreiunddreißig ist, Bryn mitgerechnet. Die meisten haben promoviert, alle haben unverbrauchte Gehirne, alle verfügen über umfassende Computerkenntnisse. So perfekt Sie in vielerlei Hinsicht sind, aber in diesen Punkten hinken Sie hinterher. Nicht wahr, Nat?«
»Bryn ist nicht zufällig in der Nähe?«, frage ich in einem letzten verzweifelten Versuch.
»Bryn Jordan steckt in diesem Augenblick bis zur Halskrause in Washington, D. C., und tut, was nur Bryn tun kann, um für unsere Special Relationship zu Präsident Trumps Geheimdiensten in Zeiten nach dem Brexit zu kämpfen, und er darf auf keinen Fall gestört werden, auch nicht von Ihnen. Herzliche Grüße, und er spricht Ihnen sein Bedauern aus. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Allerdings«, fährt sie strahlend fort, »gibt es eine offene Stelle, für die Sie besonders qualifiziert sind. Ja, sogar überqualifiziert.«
Jetzt kommt es. Das Albtraumangebot, das ich schon von Anfang an befürchtet hatte.
»Tut mir leid, Moira«, unterbreche ich sie. »Wenn es um die Ausbildungsabteilung geht, dann hänge ich meinen Hut an den Nagel. Sehr freundlich von Ihnen, sehr rücksichtsvoll, und so weiter.«
Ich habe sie offenbar beleidigt, also entschuldige ich mich erneut, ich hätte das den herausragenden Männern und Frauen in der Ausbildungsabteilung gegenüber nicht respektlos gemeint, trotzdem danke, aber nein danke, woraufhin sie ein unerwartet freundliches, aber mitleidsvolles Lächeln aufsetzt.
»Nein, es geht nicht um die Ausbildung, Nat, obwohl ich mir sicher bin, dass Sie sich dort sehr gut machen würden. Dom möchte gern kurz mit Ihnen reden. Oder soll ich ihm mitteilen, dass Sie den Hut an den Nagel gehängt haben?«
»Dom?«
»Dominic Trench, unser neu ernannter Leiter des Großraums London. Ihr ehemaliger Außenstellenleiter in Budapest. Er meint, Sie beide hätten sich blendend verstanden. Ich bin sicher, das wird jetzt nicht anders sein. Warum schauen Sie mich so komisch an?«
»Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, dass Dom Trench der Leiter des Großraums London ist?«
»Ich würde es nicht wagen, Sie anzulügen, Nat.«
»Wann ist das denn passiert?«
»Vor einem Monat. Während Sie in Tallinn vor sich hin gedöst und unsere Mitteilungen nicht gelesen haben. Dom möchte Sie morgen pünktlich um 10 Uhr sprechen. Melden Sie sich vorher bei Viv.«
»Viv?«
»Seiner Assistentin.«
»Ach ja.«