Die Autorin

Nicki Fleischer – Foto © privat

Nicki Fleischer wurde in den 1970er Jahren geboren und hat in Essen und Bamberg Informatik studiert. Ihre Masterarbeit zum Thema IT-Forensik hat sie der Polizeiarbeit näher gebracht, dies war der Anstoß für ihre Romane. Heute arbeitet sie für ein Beratungsunternehmen der Umweltbranche und als Autorin. In ihrer Freizeit tanzt sie - auch auf der Bühne. Sie lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt am Main und schreibt Allgäukrimis, Thriller und Sience-Fiction.

Das Buch

Das Highlight des Jahres steht in Oberstdorf an: Der Alpabtrieb und die Kür der schönsten Kuh im Allgäu. Das lässt sich die Familie Huber, inklusive PHK Egi Huber, natürlich nicht entgehen. Doch plötzlich nimmt das Spektakel eine so kuriose wie tragische Wendung. Zwei Leichen landen, an Gleitschirmen befestigt, mitten in der Menschenmenge. Egi steckt mal wieder mitten drin im nächsten Mordfall. So ein Ärger! Bei den Toten handelt es sich um die Zwillinge Bert und Gert Dampf. Doch warum die beiden sterben mussten, ist völlig unklar. Nur langsam und mit wie immer ungebetener Hilfe der Kripo Kempten kommen Egi und sein Team dahinter, was passiert sein könnte…

Von Nicki Fleischer sind bei Midnight erschienen:
Nebelhorn
Breitachklamm
Klausentod
Seealpmord

Nicki Fleischer

Seealpmord

Ein Allgäukrimi

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95819-270-6

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Prolog

»Verdammte Scheiße, du solltest ihnen nur kurz die Luft abdrehen, damit ich dran vorbeikomm, du Hornochs! Stattdessen hast du die ganze Luft rausgelassen. Sieh dir das an, Himmel, Arsch und Zwirn!«

»Du hast sie doch runtergedrückt! Ich wusste nicht, dass du sie nicht hochlässt. Und die Ventile sind auch noch kaputt, ich wollte gar nicht alles rauslassen!«

»Red dich nicht raus! Kümmer dich lieber darum, dass wir deinen Scheiß hier geregelt kriegen!«

»Das ist nicht mein Scheiß, du hast …«

»Wo sollen wir jetzt hin mit denen? Sag es mir!«

»Mmh. Ich hab’s, wir werfen sie zurück in den See, der ist vierzig Meter tief!«

»In den See, in den See! Die kommen doch bald wieder hoch. Und jeder, der hier oben vorbeikommt, sieht sofort, was Sache ist. Da können wir auch gleich ein Schild hinstellen, damit alle sehen, wo und wen sie suchen müssen.«

»Nein, bloß nicht, dann wissen die ja, dass wir es waren! Was sollen wir denn jetzt nur machen?«

»Du hast wirklich von gar nix einen Plan!«

»Jetzt weiß ich, wir tragen sie runter und vergraben sie irgendwo im Wald.«

»Stopp! Hör auf, an denen rumzufuchteln. Die fetten Kaulquappen willst du tragen? Das schaffen wir nie! Und die Kiste ist mir grad in dem Tümpel auch noch aus der Hand gerutscht. Ich find sie nicht mehr!«

»Wir könnten noch mal rein …«

»Noch mal rein, noch mal rein. Nein, wir können jetzt nicht noch mal da rein, wir müssen hier schnellstens weg! Und wir müssen die loswerden, kapiert?«

»Aber wir wollten doch den …«

»Schnauze! Lass mich überlegen.«

Freitag, 13.09.2019: Auf zum Viehscheid

»Tommi, jetzt zieh dich endlich an! Bist mit deine fünfzehn Jahre langsamer als mit fünfe im Kindergarten. Sogar die Belli ist mit ihre zehn Lenzen fixer als du, und die isch a Mädle!«, rief Egi um 07:05 Uhr seinem Sohn zu.

Egi, der Polizeihauptkommissar (PHK) Egon Huber, war heute sehr nervös. Ihn plagten seit Wochen schlimme Albträume, da der diesjährige Termin für den Alpabtrieb der Kühe (im Allgäu: Viehscheid) für Oberstdorf auf einen Freitag den 13. gelegt worden war. Heute war es also so weit, und Egi hoffte inständig, dass nichts passieren würde.

Seinen Sohn Tommi hingegen plagten andere Sorgen. Er kramte immer noch in seinem Kleiderschrank, er musste wie alle heute Tracht tragen. Und das hieß: eine Bundlederhose samt Hosenträgern mit aufgestickten Edelweißen, ein weißes Leinenhemd, dazu Haferlschuhe, Kniestrümpfe und ein Plüschhut mit Gamsbart. Als er dieses Outfit das letzte Mal vor Monaten getragen hatte, war er noch fünf Zentimeter kleiner gewesen, und genau das war an diesem Morgen sein Problem.

»Er kommt schon gleich runter, Brummerle. Räum doch schon einmal Lillis Buggy in den Kofferraum«, hörte Egi die Stimme seiner Angetrauten aus dem Treppenhaus.

Egis Golden Retriever Bruno lag beleidigt hinter dem Schirmständer neben der Haustür. Wenn es um den Abtrieb der Kühe von den Alpen ging, durfte er aus verständlichen Gründen nicht mit. Lilli, das Nesthäkchen von Egi und dessen Frau Elisabeth, der Elli, war mittlerweile anderthalb Jahre alt und lief aufgeregt in der Diele ihres Mehrgenerationenhäusles am Moorweiher herum. Sie hockte sich auf den Boden, klappte den abgewetzten Läufer vom Opa hoch, zog kleine Kieselsteine hervor, die sie gerade erst aus Langeweile in der Einfahrt aufgesammelt und in der Rocktasche ihres rosafarbenen Dirndls deponiert hatte, legte sie unter den Teppich und brabbelte fröhlich vor sich hin. Ihr großer Bruder brauchte immer ewig, um sich zu stylen, und auf diese Weise hatte sie die lange Wartezeit zumindest sinnvoll überbrückt.

Ihre Schwester Belli stand mit einem dunkelblauen Dirndl mit strahlend silbernen Knöpfen und gestärkter, weißer Bluse bekleidet vor ihr und manikürte sich noch schnell im Stehen die Fingernägel. Jeden in einer anderen Bonbonfarbe. Gut, dass Tommi in letzter Zeit immer so lange brauchte, da fiel ihr eigenes Herumgetrödel nicht weiter auf. Auf der Kommode neben der schweren, hölzernen Haustür standen fünf kleine Gläschen mit Nagellack: Gelb, Grün, Blau, Rot und Orange waren im Angebot. Jedes Mal, wenn Belli das zugehörige Pinselchen aus dem Fläschchen zog, tropften bunte Klekse auf Opas dunkle Fliesen.

Egi schleppte währenddessen Lillis Buggy zu seiner neuen Familienkutsche, einem Mercedes Vito Line SPORT, den er vor einigen Wochen als Gebrauchtwagen zum absoluten Schnäppchenpreis erworben hatte. Die 3,1 Tonnen schwere Rakete hatte über ein Jahr beim Mercedes-Händler in der Ausstellung verbracht, bevor Egi die allererste Probefahrt damit getätigt hatte. Der Autoverkäufer war froh, sogar regelrecht erleichtert gewesen, endlich hatte sich jemand für seine Fehlbesetzung im Schaufenster interessiert.

Egis Bruder Volker, der Chefarzt aus Immenstadt, hatte dem PHK daraufhin vorgeworfen, der größte Bachl Oberstdorfs zu sein. Den Mid-Size-Van, wie Volker das Vehikel nannte, hätte sich außer dem Egi niemand andrehen lassen, denn ihn zierten drei peinliche, breite, goldene Rallye-Streifen quer über der braunen Karosserie. Auch die Sportfelgen waren peinlich goldfarben. Egi habe sich gegen Zahlung von Unsummen einen Ladenhüter aufschwätzen lassen, behauptete Volker.

Egi hatte sich vehement gegen die üblen Verleumdungsversuche seines Bruders gewehrt und daraufhin erst recht beherzt zugeschlagen, ja, den Megadeal seines Lebens abgeschlossen. Der liebe Volker hatte einfach keine Ahnung von Autos, er selbst fuhr einen tiefgelegten Breitreifen-BMW mit elektrischem Dach in mattem Schwarz, eine Aufreißerschüssel allererster Güte. DAS war peinlich, vor allem, wenn man Chefarzt der Gynäkologie war.

Opa Joseph, der Beppi, hatte sich langsam an den schlechten Ausblick aus seinem Küchenfenster gewöhnt, wo seit neuestem Egis braunes Geschoss parkte. Opa Beppi hatte keine Ahnung davon, dass seine Enkelinnen Belli und Lilli gerade auch noch seine Diele mit Steinen und bunten Farbsprenkeln verunstalteten. Er rumpelte mit Oma Elisabeth, der Liesl, in der Küche herum. Sonst trieben sich die beiden als wohlverdiente Ruheständler tagein, tagaus in der atemberaubenden Allgäuer Bergwelt herum, aber heute waren sie ausnahmsweise einmal mit von der Partie und schufteten zum Wohle ihrer Nachkommenschaft. Es mussten schließlich für zehn Familienmitglieder Proviant und vor allem diverse alkoholfreie und alkoholische Getränke eingepackt werden. Die Hubers sahen es nicht ein, ihr sauer verdientes Geld an den Ständen und in den Festzelten am Viehscheidplatz auszugeben, sie brachten ihre Verpflegung wie jedes Jahr selbst mit. Dieses Mal sah es besonders schlecht um die Vermögensverhältnisse aus, Egi hatte erst vor Kurzem sein Erspartes in diesen hässlichen Ladenhüter gesteckt, aber sein neuer, brauner Rallye-Van bot zumindest ausreichend Platz für alle.

Brunhilde Huber, die mittlerweile achtundneunzigjährige Uroma Bruni, hockte zufrieden in ihrem Rollstuhl, beobachtete das Treiben in der Huberschen Diele und grinste schelmisch. Ihre beiden Urenkelinnen waren einfach zuckersüß in ihren Dirndln. Und wenn ihr Sohn Beppi gleich wieder einen Aufstand machen würde, würde sie den zwei feschen Mädels zur Seite stehen. Fliesen wie Teppichläufer hatten ohnehin schon über sechs Jahrzehnte auf dem Buckel. Es wäre also kein großer Verlust, wenn sie am heutigen Tage zugrunde gingen.

Uroma Bruni schaute durch die offen stehende Haustür hinaus in den Hof. Dort stand dieses neue, schäbig-braune Auto vom Egi. Ihr geliebter Enkel war ein Pfennigfuchser, und ihn schien die Optik im Gegensatz zum Rest der Familie nicht im Geringsten zu stören. Bruni sah zu, wie er vor dem geöffneten Kofferraum in gebückter Haltung an Lillis Buggy herumhantierte. Sein weißes Hemd zierten wachsende Schweißflecken am Rücken, seine Hosenträger waren ihm in die Armbeugen gerutscht und er versuchte verzweifelt das störrische Fahrgerät durch das Drücken auf unterschiedlichste Knöpfe und Hebel zusammenzuklappen.

»Kruzifix noch amal!«, schimpfte er mit hochrotem Kopf. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn auf die Kieselsteine in der Einfahrt, wo er innerhalb kürzester Zeit im gleißenden Sonnenlicht verdampfte.

Uroma Bruni grinste, ihr Egi war a Guata. Als seine Frau Elli im rauschenden hellgrünen Dirndl an ihrem Rollstuhl vorbeiging, tippte Bruni sie an den Unterarm.

»Ögi hösch ö Pöböm«, nuschelte sie Elli zu und zeigte mit ihrem krummen Zeigefinger hinaus auf den verzweifelten Familienvater, der in Uroma Brunis Sprache Ögi hieß.

»Ah, verstehe, Uroma Bruni«, erkannte Elli und rief hinaus: »Ich übernehme das, Brummerle. Geh du rein und mach dich noch mal frisch.«

»Nicht nötig!«, schrie Egi den zwei skeptischen Damen zu. Er sah überhaupt nicht ein, so kurz vor seinem Ziel aufzugeben, und drückte den einzigen Knopf an dem Buggy, den er bisher noch nicht ausprobiert hatte. Plötzlich fiel das Fahrgestell ineinander zusammen, die Vorder- und Hinterräder verschoben sich und verpassten Egi einen Hieb ans Schienbein, gleichzeitig klappte der Sitz hoch und schlug ihm eine Macke an die Stirn, die sofort anfing zu bluten. Bruno, der Familienhund, lag immer noch neben dem Schirmständer. Er hob kurz den Kopf, gab ein missfälliges »Wuff« von sich und rollte sich wieder zusammen.

»So a Scheißdregg!«, fluchte Egi und griff sich an das malträtierte Haupt. Er warf den hinterhältigen Buggy in den Kofferraum und begab sich ins Haus, um seine Wunden zu lecken.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir helfen kann, Brummerle«, tröstete Elli und strich ihrem Mann mit dem Handrücken über den Vollbart.

»Ja, ja. Tommi, wennst jetzt nicht hier drunten antanzt, dann bleibst daheim!«, brüllte Egi die Treppe hoch und schob Ellis Hand von sich.

Uroma Bruni zuckte dabei leicht zusammen. Endlich konnte sie die Gespräche um sich herum hören, vor einigen Tagen war ihr ein In-Ear-Hörgerät eingesetzt worden. Allerdings musste sie sich jetzt erst einmal wieder an die ganzen Störgeräusche in ihrer Umgebung gewöhnen, die sie fast zwanzig Jahre nicht mehr vernommen hatte. Und vor allem fiel ihr nun auf, wie laut ihr Enkel Egi immer schrie.

»Ögi, mösch nö schö lösch spöhe!«, rief sie ihm zu. Das Hörgerät hatte leider nichts an ihrer Aussprache retten können. Sie konnte ihre eigenen Worte zwar wieder besser verstehen, aber ihre dritten Zähne saßen locker wie eh und je. In ihrem betagten Alter reichte ihr eine grundlegende Veränderung innerhalb von vier Jahren. Mit der Anschaffung eines Hörgeräts hatte sie lange gehadert, aber ihre Beißerle wollte sie keinesfalls auch noch austauschen lassen – zumindest nicht in den nächsten zwölf Monaten. Wenn sie dann immer noch nicht unter der Erde lag, würde sie vielleicht noch einmal darüber nachdenken.

»Schon gut, Bruni, wir fahren gleich, gell?«, beruhigte Elli sie und warf ihrem Göttergatten einen strafenden Blick zu. »Wenn dich die Langeweile plagt, Brummerle, kannst du die Bruni ins Auto bringen und ihren Rollstuhl verstauen. Und klemm dir beim Zusammenklappen nicht die Finger ein!«

Freitag, 13.09.2019: Egi parkt ein

Zum Glück fuhr der Chefarzt der Gynäkologie aus Immenstadt getrennt an, den Volker und seine Gitti hätte Egi nicht auch noch herumkutschieren wollen. Es reichte ihm, dass hinter ihm Vatter Beppi, Mutter Liesl, Uroma Bruni und die Kinder Tommi, Belli und Lilli hockten und dummes Zeug über sein neues Auto schwätzten.

Seine Frau Elli saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und grinste die ganze Fahrt lang. Gut genug, um die Herrschaften inklusiv ihrer fahrbaren Untersätze, Gehhilfen und zwei Bollerwagen gefüllt mit üppigem Proviant bequem den kurzen Weg vom Moorweiher zum Viehscheid-Treffpunkt am Ried (Renksteg) am südlichen Ortseingang Oberstdorfs zu kutschieren, schien der Mid-Size-Ladenhüter trotz allem zu sein. Aber jetzt, jetzt würden sie gleich alle aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, von wegen optische Beleidigung in Kuhfladenfarbe! Egi bog ab auf den Viehscheidplatz am Ried und fuhr an den besetzten Parkbuchten entlang. Ein Auto reihte sich an das nächste.

»Verdammt, Tommi, wegen deinem Haarstyling kriegen wir keinen Parkplatz mehr!«, beschwerte Egi sich.

»Jetzt gib nicht dem armen Bub die Schuld, mach deine Polizeipeiler richtig auf!«, grunzte Vatter Beppi.

Beleidigt kniff Egi seine Augen zusammen, um zu erkennen, was der Vatter denn meinte. Da, ganz hinten, wurde er zwischen zwei Sport-Utility-Vehicles fündig. Eine winzige Nische hatten sie zwischen sich freigelassen. Aber das würde für den PHK kein Problem darstellen.

Elegant fuhr er schräg vor die beiden SUVs und schaltete gekonnt in den Rückwärtsgang. Es ertönte ein melodischer Piepser, die Videokamera an seinem Heck lieferte die ersten Bilder zum Touchscreen in der Mitte des Armaturenbretts. Egis Brust schwoll vor Stolz an und ein breites Grinsen eroberte sein Antlitz. So ein modernes Hightech-Gefährt hatte er niemals zuvor besessen. Er fühlte sich wie der erste auf dem Mond landende Raumfahrer, dessen geschickte Navigation nun von der gesamten Erdbevölkerung bestaunt werden konnte. Die kritischen Stimmen im Fond verstummten. Bis auf eine.

»So a Schnickschnack braucht’s nicht!«, urteilte Vatter Beppi, der direkt hinter Egi saß. »I kann meinen alten VW Kombi allein einparken. Was bisch nur für a Polizist! Einer der sein Schäm-Mobil nicht ohne Kamera wohin stellen kann?«

»Jetzt lass den Bub doch, Beppi«, schlichtete Mutter Liesl und legte ihm die Hand auf den prallen Oberschenkel. »Die jungen Leut benützen halt die moderne Technik.«

»Moderne Technik? Die können doch alle nix mehr selbscht. Und jung isch der Egi mit seine knapp fünfzig aah nimmer«, urteilte Vatter Beppi und verschränkte die Arme vor seiner stattlichen Brust.

»Wenn der Papi mal die moderne Technik bedienen könnt«, fügte Egis Sohn Tommi hinzu. Seine Stimme erzeugte ein Potpourri aus extrem hohen und tiefen Tönen, die hin und wieder gar in einem einzigen Krächzen endeten. Alle lachten lauthals los.

»Ögi, dü mö pöhö!«, rief Uroma Bruni nach vorne, als es wieder ruhiger auf den billigen Plätzen wurde.

»Jetzt haltets mal allen den Mund und lasst mich einparken«, brummte Egi und gab Gas.

Alle starrten gebannt auf den Touchscreen, der einen bedenklich nahen Holzpfosten zeigte, an dem ein grünes Drahtgeflecht zur Abgrenzung der Parkbuchten von der dahinterliegenden Buschreihe angebracht war. Die Fauna wurde so vor den wild parkenden Touristen geschützt.

Der Bildschirm zeigte nun einen regelrechten Einpark-Thriller. Mit jedem Zentimeter, den Egi weiterfuhr, nahm der Pfosten einen immer größeren Anteil des Bildausschnittes ein. Kleine Fruchtfliegen liefen darauf hin und her und lutschten an den Resten eines abgestürzten Eises.

Egi fuhr weiter rückwärts und lenkte mal links und mal rechts, um einen hinreichenden Abstand zu den beiden schwergewichtigen Geländewagen auf den nebenliegenden Parkbuchten zu halten. Die seitlichen Einparkhilfen piepsten wild, das Display zeigte rot blinkende Balken rund um das Auto herum. Egi ließen die Warnmeldungen unberührt, er fuhr seine Seitenscheibe herunter und streckte den Kopf aus dem Fenster, um eine bessere Sicht nach hinten zu haben. Er musste sichergehen, dass er nach seinem genialen Einparkmanöver auch noch die Türen öffnen konnte.

»Papi, pass auf!«, kreischte Tommi am Zenit seines Stimmbruches angelangt. Seine Augen weiteten sich, er krallte die Finger in den weißen Ledersitz und richtete seinen Blick wie gebannt auf den Bildschirm am Armaturenbrett.

Ein quietschendes, kratzendes Knirschen war zu hören. Der Touchscreen zeigte flüchtende Fruchtfliegen. In der Nahaufnahme erkannte man die Risse, die der kleine Rumpler dem angefahrenen Holzpfosten beigebracht hatte. Egi bremste abrupt, im Kofferraum klimperte es durch den plötzlichen Ruck. Die Insassen wurden leicht durchgeschüttelt.

»Du bisch so a Pfeifa, Egi!«, brüllte Vatter Beppi.

Eine Gestalt näherte sich dem braunen Mid-Size-Van mit Sportoptik, baute sich neben Egis offenem Fenster auf, beugte den Kopf hinein und schaute auf den Bildschirm.

»Gute Auflösung«, meinte der Mann. »Aber wenn du den Abstand nicht richtig peilen kannst, nützt deine Hightech-Ausstattung absolut gar nichts. Aber wie ich sehe, bist du hier nicht das erste Mal angeeckt, hast auch eine Macke an der Denkerstirn, Bruderherz!«

»Volker, kannst nicht einfach mal deine Klappe halten?«, brummte Egi. Wäre er doch heute lieber mit seinem Hund Bruno daheim geblieben.

»Brummerle, jetzt reg dich nicht so auf. Der Volker kann doch nichts dafür, dass du jetzt trotz Rückfahrkamera vor den Pfosten gefahren bist«, maßregelte Elli.

»Daaa, daaa, daaa!«, plapperte die kleine Lilli plötzlich los und zeigte zappelnd mit ihrem winzigen Zeigefinger zum Seitenfenster hinaus.

Mit großen Augen blickte sie hoch und wunderte sich über die riesigen, bunten Vögel mit den dicken schwarzen Würmern in den Krallen, die ihre Kreise am Himmel zogen. Aber niemand schien sie zu verstehen.

»Ja, der Papi, der hat eine Beule ins neue Schäm-Mobil gefahren, das ist nicht so schlimm«, erklärte ihre große Schwester Belli, die neben ihr saß und sie abschnallte.

»Daaa, daaa, daaa!«, schrie Lilli noch lauter, damit endlich jemand nach oben sah und das unglaubliche Szenario am Firmament erkannte.

»Ist ja schon gut, Lilli«, tröstete Belli ihr aufgeregtes Schwesterchen, hob sie aus dem Kindersitz und stellte sie zwischen den Sitzen wieder ab, damit sie aus dem Unfallwagen herauskrabbeln konnte.

»Bähähäha!«, fing Lilli nun an zu heulen.

Dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie stampfte wütend mit ihren kleinen Schühchen auf den Boden. Niemand wollte nach oben zu den bunten Vögeln mit den schwarzen Würmern schauen.

»Hast recht, kleines Schätzle! So a scheiß Technik kann man sich auch spare, wenn der Fahrer zu bleede isch«, hörte Egi wiederholt die Stimme vom Vatter hinter sich.

»Ruhe jetzt! Alle aussteigen«, schrie Egi und fuhr noch einmal ein bissle vor, um wieder etwas Abstand von dem Holzpfosten zu bekommen.

Freitag, 13.09.2019: Der Kuhstall bricht

Einen der riesigen, bunten Vögel mit dickem Wurm in den Krallen schien die Kraft verlassen zu haben. In fünfzig Metern Höhe geriet er ins Trudeln, pendelte sich in einen kreisförmigen Sinkflug ein und schraubte sich wie ein Korkenzieher durch die Luft nach unten. Mit einem beachtlichen, rauschenden Schwung zielte er direkt auf die Huberschen Felder, die Vatter Beppi bereits seit über fünf Jahren an Milchbauern verpachtet hatte, und zwar an die Busch-Beier-Wolf-Sippe.

Diese weitverzweigte Familie bestand im Kern aus folgenden Mitgliedern: Hubertus Wolf, seiner Frau Tilli, seinem Schwager Gerti Beier mit Frau Hanni (Tillis Schwester) und deren Mutter Ursula Busch, allesamt gerade auf dem Weg zum Viehscheid. Für gewöhnlich bürsteten sie ihre Kühe, molken sie mehrmals täglich, sammelten die Kuhfladen ein, schoben den angehäuften Naturdünger auf Schubkarren zu Anhängern, die an ihren grünen Traktoren hingen, und luden den Mist mit Spaten auf, um ihn später als Dünger zu verwenden oder als solchen verkaufen zu können. In den letzten Monaten hatten sie das jedoch nicht getan, da Anfang Juni zum Alpauftrieb geblasen worden war und das Vieh von da an ungefähr einhundert Tage auf den Bergwiesen hatte verweilen dürfen.

Diese sogenannte Sommerfrische kräftigte das Jungvieh, und die Kühe genossen ihr Leben in relativer Freiheit auf schmackhaften Kräuterwiesen, um sich für die härteren Monate des Jahres zu wappnen. Aber auch die Bauern kamen während dieser Zeit nicht zu kurz. Sie konnten es über drei Monate lang locker angehen lassen, da sie das Vieh nicht füttern und die Ställe nicht ausmisten mussten.

Jedes Jahr war dieses Allgäuer Happening am Sommeranfang zu beobachten, was sich auch die interessierten Touristenmassen nicht entgehen ließen. Genauso wenig wie den Viehscheid, den Abtrieb im September. Auf den gepachteten, sattgrünen Wiesen der Busch-Beier-Wolf-Sippe stand heute ein verlassener hölzerner Kuhstall, der am Abend wieder vom Braunvieh bezogen werden sollte. Deshalb war er in den letzten Tagen anständig gewienert und mit prächtig blühenden Blumengirlanden geschmückt worden.

Jedoch ahnte die Busch-Beier-Wolf-Sippe zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, dass all ihre Mühen umsonst gewesen waren und ihre Kühe sich in einigen Stunden einen neuen Unterschlupf suchen mussten, da just in diesem Moment eine Windböe aufkam, die dem großen, bunten Vogel mit dem dicken, schwarzen Wurm in den Fängen einen Linksdrall verpasste. Er driftete ab. Nur noch zehn Meter hoch flog er.

Was seinen Landeplatz anging, schien er nicht gerade wählerisch zu sein. Ziellos flatterte er rum und num, bis er direkt über dem Kuhstall schwebte. Der Aufwind fand ein abruptes Ende, die bunten Flügel fielen plötzlich in sich zusammen. Der dicke, schwarze Wurm hing immer noch an dem gescheiterten bunten Vogel und stürzte zusammen mit ihm senkrecht auf das Dach zu.

Freitag, 13.09.2019: Die Hubers kommen

Nachdem Egi seinen verbeulten Van ausgeladen hatte, stand ihm zum zweiten Male am heutigen Tag der Schweiß auf der Stirn. Er hatte Lillis Buggy, Uroma Brunis Rollstuhl und zwei Bollerwagen mit je circa zwanzig Kilo Proviant und Getränken aus dem Kofferraum gehievt und die diversen Transporthilfen für das bevorstehende Ereignis bereitgestellt.

Bis auf Tommi waren alle ausgestiegen. Lilli hockte abfahrbereit in ihrem Buggy, Uroma Bruni saß grinsend in ihrem Rollstuhl, Egis Schwägerin Gitti tuschelte mit Oma Liesl, Elli und seiner Tochter Belli über Egis Einparkversuch. Egis Bruder Volker und Vatter Beppi loteten aus, wer denn die zwei Bollerwagen ziehen könnte.

»I hab seit zwei Wochen Rücken«, jammerte Beppi und umklammerte demonstrativ seinen mit unzähligen Plaketten behauenen Wanderstock, der einen guten Einblick in das Lotterleben eines Allgäuer Rentners gab.

»Also, ich habe seit Monaten einen Tennisarm. Ich muss mal etwas kürzer treten, das waren einfach zu viele Turniere diesen Sommer«, lamentierte Volker, zog seinen rechten Hemdärmel hoch und gab damit freie Sicht auf seinen mit blauem Kinesio-Tape umwickelten Ellenbogen.

Vatter Beppi grunzte ablehnend und stützte sich gequält auf seine hölzerne Gehhilfe. Als Volker auch von den Umstehenden kein bedauerndes Raunen vernahm, drehte er sich herum und warf einen prüfenden Blick auf seine Familienmitglieder. Liesl, Gitti und Elli flüsterten sich Heimlichkeiten zu und kicherten hin und wieder hinter vorgehaltener Hand. Belli betrachtete ihre perfekt manikürten Fingernägel. Lilli brabbelte in ihrem Buggy vor sich hin und zeigte mit ihren kleinen Fingerchen in die Luft. Uroma Bruni war in ihrem Rollstuhl in einen leichten Dämmerschlaf gefallen. Egi wischte sich gerade mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht.

»Mit meinem Tennisarm kann ich auf keinen Fall die zwei Bollerwagen ziehen, Leute!«, rief er in die Runde. »Egi, alter Gaul, das wird dein Part.«

»Du hasts ja nimmer alle beisamme!«, protestiert Egi und sah sich nach seinem Sohn Tommi um. »Tommi, jetzat steig mal endlich aus!«

»Warte, Egi, ich schaue mir den Bub einmal an. Vielleicht gab es ja doch Verletzte bei dem Crash«, meinte Volker seinem hippokratischen Eid entsprechend und lief zurück zu dem braunen Mid-Size-Van.

»Nicht nötig, alles okay«, piepste Tommi. Seine Stimme gehorchte ihm seit einigen Wochen überhaupt nicht mehr.

Endlich stieg er aus und schob die Autotür hinter sich zu. Als Volker vor ihm stand, musste er zu Tommi aufsehen, der mittlerweile einen halben Kopf größer als der Chefarzt war. Volkers Blick glitt an Tommi hinab und seine Augen blieben an dessen kneifend sitzender Tracht hängen.

»Hahaha!«, lachte Volker lauthals los. »Mensch, Tommi, gibt’s nichts mehr in deiner Größe im Mehrgenerationenhaus? Du siehst aus wie eine Presswurst, hahaha.«

Tommi ließ den Kopf hängen. Die Hemdärmel reichten nur bis zur Hälfte seiner Unterarme, die Hosenträger spannten sich wie Zurrgurte über seine Schultern, die Krachlederne wirkte an ihm wie eine eingelaufene Badehose.

»Jetzt lass meinen Bub in Ruh!«, ging Egi dazwischen. »Der hat schon ausreichend mit der Pubertät zu kämpfen, da braucht’s nicht noch deine Gehässigkeiten! Lasst uns jetzt mal losgehen, sonst sind die Kühe im Stall, bevor wir sie gefeiert haben.«

»Ich zieh auch einen von den Bollerwagen«, jodelte Tommi, um schnell wegzukommen. Die Tracht war einfach megapeinlich, ebenso seine Stimme, und er sehnte sich inständig nach dem Ende dieses Tages.

Endlich wanderten die Hubers los. Tommi hatte sich einen Bollerwagen geschnappt und zog ihn beidhändig hinter sich her. Für den zweiten war Egi zuständig. Belli lief neben ihnen, sie hatte bereits einen Kaminwurzen aus einer Frischhaltebox stibitzt und kaute an dem deftigen Stück Hirschfleisch. Oma Liesl schob den Rollstuhl ihrer Schwiegermutter Uroma Bruni, die mittlerweile in einen tiefen Schlaf gefallen war. Opa Beppi schlurfte mit seinem Wanderstock hinter dem Bollerwagen-Gespann und stemmte sich die linke Hand in den Rücken. Unerträglich, diese Schmerzen. Elli schob Lillis Buggy und ratschte weiter mit Schwägerin Gitti und Schwager Volker.

Egis Autokauf wurde in Endlosschleifen von ihnen durchdiskutiert, Vor- und Nachteile gegenübergestellt, die Optik kritisiert und der Preis zum x-ten Male unter die Lupe genommen. Egi konnt’s nimmer hören. Er versuchte ihnen fernzubleiben und bildete mit seinen großen Kindern Tommi und Belli die Vorhut. Sie hatten vor, einen besonders guten Platz zu ergattern, von dem aus man den Viehscheid gut beobachten konnte. Ihr Plan war, den Kühen ein Stück entgegenzulaufen, um sie dann die letzten Meter zum Viehscheidplatz begleiten zu können. Egi und Beppi brannten darauf, zu erfahren, wer heute die schönste Kuh war.

Freitag, 13.09.2019: Die Kühe kommen

Die Heiligen St. Wendelin und St. Leonhard hatten dieses Jahr überaus gute Arbeit geleistet. Unter ihren schützenden Händen war keine Kuh während der Sommerfrische auf den Alpen Bierenwang, Traufberg, Haldenwang, auf der Rappenalpe, Biberalpe und Taufersbergalpe zu Schaden gekommen. Also war zur Feier des unversehrten Viehbestandes die Kranzbinderin Herta Lenz beauftragt worden, in mühsamer Handarbeit einen Kranz für jede Alpe herzustellen.

Diese bestanden aus zusammengebundenen, farbenfrohen Blumen, die an einem Drahtgestell befestigt wurden, das dem schönsten Rind einer jeder Alpe wie eine Art Krone mit Maske aufgesetzt wurde. In das Gesteck wurden auch Spiegel eingearbeitet, deren Sinn und Zweck darin bestand, die bösen Geister zu vertreiben, die während des Viehscheids am Wegesrand lungerten. In der heutigen Zeit nahmen diese Geister meist die Form von fotowütigen Touristen an, die sich für ein Selfie mitten auf den Weg vor die schreitenden Kühe stellten, ihren Selfiestick hochhielten, um im richtigen Moment abzudrücken und fix wieder verschwinden zu können. Die Alphirten versuchten, die Schaulustigen auf ihre Plätze zu verweisen, aber das gelang ihnen oft nicht, immerhin hatten sie sich um rund tausend Rinder zu kümmern, die gesittet den Berg hinuntergeführt werden mussten. Die Hirten trugen daher lange Holzstöcke bei sich, mit denen sie Kühe wie Touristen wieder auf die richtige Spur schieben konnten.

Auch die Busch-Beier-Wolf-Sippe wartete ungeduldig am Wegesrand. Sie konnten es nicht erwarten, ihr prächtiges Braunvieh wieder daheim begrüßen zu dürfen. Vor allem die Lotte. Lotte war ein bildhübsches Exemplar mit perfekten Proportionen. Und genau darum ging es heute: Die Hirten hatten auf jeder Alpe die infrage kommenden Kühe vermessen, sie hin und her geführt, von allen Seiten kritisch betrachtet und sie interviewt, um die Schönste unter ihnen auszusuchen.

Hubertus Wolf, das Oberhaupt der Busch-Beier-Wolf-Sippe und Eigentümer von Lotte, war der unumstößlichen Meinung, dass seine Milchkuh dieses Jahr das Zeug zum Kranzrind hatte. Er wartete nun ungeduldig darauf, dass die Kühe in Sichtweite erschienen, um zu erfahren, ob seine Lotte den Titel geholt hatte. Hören konnte man das Braunvieh schon, das Läuten der Schellen und Glocken hallte bereits den Berg hinab. Es konnte sich also nur noch um wenige Minuten handeln.

Freitag, 13.09.2019: Die Schönheitskönigin

»Grüaß di, Hubi«, rief Egi dem Pächter der Huberschen Felder zu. »Bist auch schon da?«

»Sicherlich, muss doch schauen, ob die Lotte heut zum Kranzvieh ernannt worden ist!«

Familie Huber war mittlerweile an ihrem Ziel angekommen und hatte sich neben der Busch-Beier-Wolf-Sippe aufgestellt.

Das Läuten der Glocken und Schellen war noch lauter geworden. Egi schaute sich zufrieden um. Ein azurblauer Himmel spannte sich über die kräftig grünen Berghänge, vereinzelte Kumuluswolken wanderten langsam am Horizont entlang, ein leichter Wind kühlte die schwitzenden Alpabtrieb-Teilnehmer. Die Sonne strahlte, genauso wie die vielen Gesichter der Einheimischen und Touristen, die auf die Kühe warteten.

Es war ein herrlicher Tag für den Viehscheid. Dann jedoch fiel Egi wieder ein, dass heute Freitag der 13. war. Sein Lächeln erstarb, es bildete sich stattdessen eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen.

»Da, schauts, da, die Lotte!«, brüllte Hubertus Wolf plötzlich und zeigte zu der Wegbiegung, auf der gerade der führende Alphirte mit dem Kranzrind um die Ecke kam. »Herrschaftszeiten, das ist sie, die Lotte ist Schönheitskönigin!«

Das Kranzrind führte die Herde beim Abtrieb an, und es war eindeutig die Lotte, die heute die Poleposition innehatte! Hubertus Wolf, seine Frau Tilli, sein Schwager Gerti Beier mit Frau Hanni (Tillis Schwester) und deren Mutter Ursula Busch klatschten johlend in die Hände, machten Freudensprünge und tanzten im Kreis. Die Lotte würde heute kräftig gefeiert werden, das war sicher.

Familie Huber jubelte mit ihnen, bis auf Uroma Bruni. Sie schlummerte immer noch in ihrem Rollstuhl und hatte noch nicht mitbekommen, dass die Pächter der Huberschen Felder ihr Kranzrind begrüßt hatten. Egi hegte den leisen Verdacht, dass sie ihr Hörgerät wieder einmal ausgestellt hatte, um ihre Ruhe zu haben. Vatter Beppi legte seinen Wanderstock auf einen der Bollerwagen, bückte sich mit einer unerwarteten Leichtigkeit hinunter, zog mehrere Flaschen Weizenbier aus den Kühlboxen und ließ die Kronkorken ploppen. Seine Rückenschmerzen schien er vergessen zu haben.

»Lasst uns auf die Lotte anstoßen«, rief Beppi in die Runde und Liesl, Egi, Volker und Tommi griffen beherzt zu. Elli und Gitti öffneten lieber a Fläschle Haselnusslikör für sich, Belli und Lilli genossen alkoholfreien Kindersekt.

»Dann lasst uns mal gemeinsam mit unserer Königin zum Viehscheidplatz gehen«, entschied Hubertus Wolf, setzte seine Flasche noch einmal an und nahm einen ergiebigen Schluck.

Die Bollerwagen wurden gewendet und die Truppe machte kehrt. Gemeinsam mit vielen anderen Milchbauern und Landwirten machten sie sich auf den Weg zurück.

Nach ungefähr acht Minuten zog ein Schatten über die Wandergruppe. Irgendetwas musste den Himmel gekreuzt und kurzzeitig die Sonne verdunkelt haben. Egi hörte ein Flattern und kurz darauf ein Raunen hinter sich.

»Daaa, daaa, daaa!«, rief die kleine Lilli wieder in ihrem Buggy, beugte sich nach hinten und zeigte, wie schon anfangs auf dem Parkplatz, empor in die Lüfte. Dabei fiel ihr der Becher mit Kindersekt hinunter, Belli hob ihn schnell auf und füllte nach, damit Lilli nicht noch grantiger wurde.

Egi wollte sich umdrehen, um zu sehen, was da los war, aber Bauer Strunz, ein Nachbar der Familie Huber, legte plötzlich seinen rechten Arm um ihn, packte ihn mit seinen grobschlächtigen Pranken an der Schulter und fixierte ihn damit so, dass Egi sich ausschließlich nach vorne richten konnte. So schleifte Bauer Strunz den PHK den von Bäumen gesäumten Weg hinunter und textete ihn mit allerlei strunzigen Familienfehden zu, die sich um irgendwelche uralten Geschichten von verlorengegangenem Familienschmuck drehten. Bauer Strunz war der Meinung, dass es nun endlich an der Zeit sei, dass sich der PHK einmal um die Aufklärung der verjährten Verbrechen kümmere.

Egi hörte gar nicht zu, es interessierte ihn nun doch viel mehr, was da oben am Himmel passiert war. Die kleine Lilli war schon die ganze Zeit ungewöhnlich aufgekratzt gewesen, und er wollte jetzt und hier dem Grund ihres seltsamen Verhaltens nachgehen. Er versuchte also immer wieder, sich aus dem Klammergriff zu befreien und umzuschauen, wurde aber von Bauer Strunz dermaßen in die Zange genommen, dass selbst eine leichte Seitenwende nicht möglich war. Dann klingelte auch noch sein Diensthandy. Egi zog es umständlich aus seiner Gesäßtasche und versuchte, es sich um Bauer Strunz’ Arm herum an sein Ohr zu halten. Es gelang ihm nur mäßig.

»Huber!«

»Grüaß di, Egi! Rudi hier. Was ist denn da für ein Lärm?«, meldete sich Polizeioberwachtmeister Rudolf Ströber, Egis Kollege aus der Polizeiinspektion (PI) Oberstdorf.

»Wer ist da?«, brüllte Egi in sein Smartphone. Die läutenden Kuhglocken und die erhobenen Stimmen der angeheiterten Laufgesellschaft machten es unmöglich, etwas zu verstehen.

»Ruuudiiiiii!«

»Ach, du bist’s, Rudi. Was gibt’s denn?«

»Es ga … ei … Fall … in … stall … Tau … der ha … und i … to …!«

Egi hörte nur ein Drittel des Gesagten. Er hatte seine Mühe damit, zu kapieren, was sein Kollege ihm mit diesen zerstückelten Worten mitteilen wollte. Aber es musste etwas ungemein Wichtiges sein, sonst hätte Rudi ihn niemals an seinem freien Tag während des Viehscheids gestört.

Daher schrie Egi in sein Handy: »Rudi, ich ruf dich in ein paar Minuten zurück, ich kann gar nix verstehen!«

Freitag, 13.09.2019: Der Absturz

Die Gruppe kam wieder am Viehscheidplatz an. Hier waren Festzelte, Jahrmarktsbuden und zahlreiche Stände mit Allgäuer Genussmitteln und Schlemmereien aufgebaut worden. Eine Blasmusikkapelle hatte sich aufgestellt. Gleich würde das zünftige Volksfest starten.

Durch Rudis Anruf hatte Egi ganz vergessen, sich um Lilli und ihre Hirngespinste zu kümmern. Er musste sich gleich unbedingt ein ruhiges Plätzchen zum Telefonieren suchen und seinen Kollegen zurückrufen. Aber den wichtigsten Teil des diesjährigen Viehscheids wollte er auf keinen Fall verpassen, Lotte war immerhin heute Kranzrind. Rudi musste also noch einen Moment warten.

Als Erstes wurde nun damit begonnen, das Vieh zu scheiden. Das hieß, die Kühe wurden voneinander getrennt, an ihre Milchbauern und Landwirte zurückgegeben und in die jeweiligen Ställe geführt. Ganz vorne stand Lotte mit ihrem üppigen, bunten Kranz. Sie schüttelte den Kopf, um das schwere Ding endlich loszuwerden. Es war heiß darunter und sie konnte vor lauter Blumen kaum noch etwas sehen. Sie ahnte aber, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Sie hatte es auf dem Hinweg aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber nicht zuordnen können. Der Alphirte tätschelte ihr nun lobend den Hals und rief Hubertus Wolf auf, der unverzüglich mit stolz erhobener Brust als allererster Milchbauer antanzte.

»Hubi, deine Lotte ist ein prächtiges …«, begann der Alphirte mit seiner Ansprache, die jedoch jäh von dem aufkommenden Geschrei der anwesenden Gäste unterbrochen wurde.

Wieder verdunkelte sich die Sonne. Alle drehten sich herum und starrten nach oben. Lotte fing lautstark an zu muhen und schüttelte heftig den Kopf. Der Kranzschmuck kippte von rechts nach links und drohte herabzustürzen. Herabzustürzen wie dieser riesige, bunte Vogel mit dem dicken, schwarzen Wurm, der hoch über dem Viehscheidplatz schwebte.

»Daaa, daaa, daaa!«, kreischte Lilli wieder aufgeregt und zeigte auf das Ungetüm am Himmel.

Von dem Spektakel wachte Uroma Bruni auf und blickte sich verstört um. Gerade hatte sie noch neben Egis neuem Van im Rollstuhl gehockt, nun befand sie sich plötzlich zwischen Hunderten Kühen und noch mehr Menschen, und alle starrten gen Himmel und schrien.

»Ögi! Wösch ösch hö lösch?«, rief sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Alles gut, Uroma Bruni, alles gut! Der Volker bringt euch alle zurück zum Auto, dort seid ihr in Sicherheit, gell?«, beschwichtigte Egi sie und drückte Volker seinen Autoschlüssel in die Hand.

»Das Schäm-Mobil rühre ich nicht an!«, boykottierte Volker Egis Sicherheitsvorkehrungen.

»Jetzat mach schon, sonst zeig ich dich an wegen unterlassener Hilfeleistung!«, zischte Egi und verpasste ihm einen Schubser Richtung Parkplatz.

Die Hubers entfernten sich widerwillig, nur Egi blieb am Ort des Geschehens. Heute war Freitag der 13., und er hatte die ganze Zeit geahnt, dass etwas passieren würde. Nur was würde nun passieren?

Einheimische und Touristen schauten gebannt nach oben. Endlich erkannte Egi, worum es sich bei diesem Gebilde handelte. Es war ein schwarz gekleideter Fallschirmspringer, der an einem bunt gestreiften Gleitschirm hing. Seltsam daran war jedoch, dass der Fallschirmspringer keine Anstalten machte, seinen Schirm zu lenken und kontrolliert zu landen. Ziellos flatterte er hin und her, wie eine Fahne im Wind, und wurde dabei von den aufkommenden leichten Böen immer tiefer gedrückt.

Die Menschen schossen nun von ihren Bänken hoch, schrien und rannten kopflos zwischen den Biertischen und Ständen herum. Einige Stände kippten gar um, die feilgebotenen Waren landeten im Gras. Die Kühe wurden durch das Getöse unruhig und versuchten aus ihrem mit Holzlatten abgegrenzten Bereich zu entwischen. Je mehr Braunvieh an dem provisorischen Zaun drückte, desto mehr gab dieser nach und neigte sich letztendlich zu Boden. Einige der Kühe machten sich nun alleine auf den Weg zu ihren Ställen, andere verweilten noch etwas auf dem Viehscheidplatz und gönnten sich einen letzten Bissen frisches Gras, bevor auch sie sich entfernten.

Als der untätige Fallschirmspringer nur noch fünf Meter über ihren Köpfen schwebte, entschieden weitere Kühe, dass es besser wäre, sich aus dem Staub zu machen. Die Menschen hatten sich bereits unter Tischen und Bäumen in Sicherheit gebracht. Nun liefen auch die letzten Kühe davon, um die drohende Bruchlandung des seltsamen Vogels nicht am eigenen Leibe miterleben zu müssen.

Bis auf eine. Das Kranzvieh Lotte stand immer noch an ihrem Platz, da ihr Besitzer Hubertus Wolf sie bereits in Empfang genommen hatte, das am Nasenring befestigtes Seil in seinen Händen hielt und unschlüssig mit ihr auf der Wiese stand. In leicht gebückter Haltung schaute er hoch und fragte sich, wo dieser passive Fallschirmspringer herunterkommen würde. Diese Frage wurde ihm jetzt ruckzuck beantwortet, denn der Gleiter befand sich nur noch in drei Metern Höhe und flog direkt auf Hubertus und Lotte zu.

Ein Windstoß verpasste dem Fallschirm einen Ruck, sodass der schwarze Springer heruntergerissen wurde, die letzten zwei Meter nach unten taumelte und in Lottes üppigen Kuhfladen plumpste. Der Fallschirm glitt in Zeitlupentempo herab und begrub ihn, Hubertus und Lotte unter sich. Daraufhin war ein wildes Muhen zu vernehmen. Unter dem Fallschirm bewegte sich etwas, Hubertus schien wieder aufzustehen. Lotte duckte sich und streckte Hubertus den Kopf entgegen. Hoffentlich würde ihr Besitzer sie aus dieser prekären Situation befreien können.