Sheila O'Flanagan
Das Haus am Orangenhain
Roman
Aus dem Englischen von Susann Urban
Insel Verlag
Die Schlange vor der Autovermietung war lang, und ich stand ganz hinten. Dabei hatte ich mir innerlich auf die Schulter geklopft, weil ich das Flugzeug als Erste verlassen hatte. Denn bestimmt würde ich bei den Mietwagen ebenfalls die Erste sein. Ich hatte ganz verdrängt, dass noch andere Flugzeuge auf dem Flughafen von Alicante landeten, deren Passagiere eventuell auch einen Wagen mieten wollten. Anscheinend stand jeder, der an diesem Abend gelandet war, vor mir. Es ging nur im Schneckentempo voran.
Direkt vor mir befand sich eine vierköpfige Familie, deren Flug fast drei Stunden Verspätung gehabt hatte und die verständlicherweise mehr als angesäuert war. Die ungefähr zweijährige Tochter umklammerte das Bein der Mutter und maunzte verdrießlich vor sich hin. Ihr etwas älterer Bruder zielte mit seiner neongrünen Plastiklaserpistole auf die anderen Wartenden und brüllte alle zwei Sekunden triumphierend: »Treffer!« Die Eltern machten ihrem Ärger Luft, indem sie abwechselnd auf die Fluggesellschaft und die Mietwagenfirma schimpften und wissen wollten, was verdammt noch mal so schwierig daran sei, zügig die Schlüssel auszuhändigen. Diese Beschwerde wurde derart laut geäußert, dass die gesamte Wartekolonne sie mitbekam, und viele nickten zustimmend, die eine oder andere geraunte »bodenlose Unverschämtheit« war zu vernehmen.
Die beiden, die gerade dran waren, standen bereits seit mindestens zwanzig Minuten am Schalter. Wenn das jedes Mal so lange dauerte, würde ich mir hier zwei Stunden lang die Beine in den Bauch stehen. Mit dem Ergebnis, dass ich erst nach Mitternacht mein Auto bekäme und anschließend noch mindestens eine Stunde zur Villa Naranja brauchte. Praktisch würde ich dann insgesamt genauso viel Zeit auf dem Boden wie in der Luft verbracht haben – sogar mehr, wenn ich mich verfuhr, was zu befürchten war.
»Du wirst dich nicht verfahren, Juno«, hatte Pilar mich beruhigt, als sie mir die Strecke auf Google Maps zeigte. »Wenn du erst mal auf der Straße bist, die zum Haus führt, ist alles in Butter. Schwierig ist nur die ziemlich scharfe Abzweigung kurz vor der Stadt, die übersieht man leicht, wenn es dunkel ist. Aber spätestens, wenn du das Stadtschild von Beniflor siehst, weißt du, dass du daran vorbeigefahren bist.«
»Falls ich mich verfahren sollte, gibt es in der Nähe ein Hotel?«
»In Beniflor selbst nicht«, antwortete sie, »aber wenn du weiterfährst, kommt nach ungefähr fünfzehn Minuten das schnucklige La Higuera. Klein, aber sehr edel. Schweineteuer, aber trotzdem ständig ausgebucht. Aber mach dir keine Sorgen, Juno, du wirst die Villa Naranja problemlos finden.«
Sorgen machte ich mir nicht direkt, aber trotz knapper Kasse wünschte ich mir, ich hätte mich für die Edelvariante entschieden, zumindest für diese eine Nacht. Notfalls könnte ich auch nach Alicante fahren, dort im erstbesten Hotel absteigen und mich am nächsten Morgen bei Tageslicht auf die Suche nach der Villa Naranja machen. Das wäre wohl die einfachste Lösung. Stell dich nicht so an, rügte ich mich sofort. Das ist ja wohl kein Hexenwerk und ich bin absolut in der Lage, ein Landhaus zu finden, sogar wenn es dunkel ist. Ich bin eine starke, kompetente Frau, jawohl! Daran bestanden in letzter Zeit zwar durchaus Zweifel, aber das ist noch lange kein Grund, sich anzustellen wie so eine … eine … unversehens überrollte mich eine Welle der Trauer und des Schmerzes, die mich buchstäblich ins Wanken brachte. Ich rempelte die Mutter vor mir an und stieß eine Entschuldigung hervor.
»Macht nichts«, meinte sie. »Reisen ist echt anstrengend. Und dieses Herumhängen raubt einem den letzten Nerv. Manchmal frage ich mich, ob ein Urlaub im Ausland diesen ganzen Ärger überhaupt wert ist und man nicht lieber daheimbleiben sollte.«
Sie plapperte weiter, ohne eine Antwort abzuwarten, was mir sehr recht war, denn ich hörte ihr gar nicht zu und hätte auch kein Wort über die Lippen gebracht. Mein Hals war wie zugeschnürt, und ich fühlte nichts als mein Unglück. Dabei hatte ich doch gar kein Recht, Unglück, Angst und Seelenpein zu empfinden. Trotzdem beutelten mich diese Gefühle, gerade, wenn ich es am wenigsten erwartete, und ließen mich nicht mehr los.
Unwillkürlich spielte sich seit dem Moment, als ich die Nachrichten gehört hatte, immer wieder derselbe Film in meinem Kopf ab. In dem Moment, als das Foto auf dem Bildschirm auftauchte, war mein Leben auf den Kopf gestellt worden. Die Erinnerung ließ sich nicht einfach abstellen. Nur mühsam unterdrückte ich die Tränen.
Die Warteschlange schob sich wieder ein Stück vorwärts.
»Wir wohnen bei meiner Schwester«, drang die Stimme der Frau in meine Gedanken, »sie hat eine super Wohnung in Altea. Mit Meerblick und wunderschöner Terrasse. Und eigenem Swimmingpool.«
»Das hört sich toll an.« Meine Stimme war nur ein Krächzen, aber das entging ihr offenbar.
»Absolut«, meinte sie. »Leider können wir nächstes Jahr nicht mehr um diese Zeit kommen, weil Cooper dann in die Schule geht und mittlerweile muss man sogar eine Geldstrafe zahlen, wenn man die Kinder ein paar Tage vor Ferienbeginn rausnimmt, was absurd ist. Es ist doch allgemein bekannt, dass einen die Fluggesellschaften während der Ferienzeit gnadenlos abzocken.«
»Reine Bevormundung von Vater Staat«, sagte ihr Mann.
Zustimmendes Nicken meinerseits. Als Single-Frau, die gerade dreißig geworden war, spielten Schulferien in meinem Leben keine Rolle, aber ich verstand ihren Frust.
»Sind Sie allein unterwegs?« Neugierig sah sie mich an, wollte unbedingt ins Gespräch kommen.
Zu meiner großen Erleichterung wurde vorn ein zweiter Schalter geöffnet. Hastig teilte sich die Schlange, und ich wurde einer Antwort enthoben. Um weitere mögliche Gespräche zu vermeiden, holte ich mein Handy heraus. Aber mir war schon vorher klar, dass ich keine neuen Mitteilungen hatte. Die letzte war immer noch die von Pilar, kurz bevor ich in Dublin das Flugzeug bestiegen hatte.
Kleines Problem. Mum hat es heute leider nicht zum Haus geschafft, also kein Strom. Lebensmittel sind auch alle, Kaffee und Tee sind aber da. Kauf Dir am besten was am Flughafen, auch fürs Frühstück. Ich wünsch Dir eine tolle Zeit. Kuss, P.
Auf dem Flug hatte ich mir zwei süße Stückchen gekauft, die schon durchweicht und wenig appetitlich aussahen, als ich sie in meine Tasche stopfte, doch egal, ich hatte sowieso keinen Hunger. Würde auch morgen früh keinen haben. In den letzten sechs Monaten hatte ich nicht nur das Interesse am Essen verloren, sondern auch fast sechs Kilo. Mehr durften es keinesfalls werden. Ich war schon immer schlank gewesen und der Gewichtsverlust stand mir überhaupt nicht. Allerdings war mir mein Aussehen derzeit völlig egal.
Wider besseres Wissen scrollte ich mich durch meine restlichen Mitteilungen. Ich blieb bei der letzten von Brad hängen.
Hier essen wir heute Abend. Gleich treffe ich die anderen. Du fehlst mir. Ich liebe Dich. Küsse, B.
Die Trauer überrollte mich erneut. Ich biss die Zähne zusammen und umklammerte Halt suchend meinen Koffergriff.
Schließlich und endlich war ich an der Reihe. Nachdem der Papierkram erledigt war, bekam ich den Schlüssel für einen Ford Fiesta, der auf dem dritten Parkdeck stand. Ich bedankte mich und ging zum Ausgang. Die vierköpfige Familie stand immer noch am Schalter. Der Junge schlug mit seiner Plastikpistole auf das Gepäck ein, während sein Vater mit dem Mitarbeiter der Mietwagenfirma über die Höhe der Selbstbeteiligung stritt.
Im Parkhaus war viel los. Ich vergewisserte mich nochmals, welche Parkplatznummer der Fiesta hatte, und ging die entsprechende Reihe entlang. Das dunkelblaue Auto stand genau dort, wo es stehen sollte. Mit einem Seufzer der Erleichterung machte ich den Kofferraum auf und wuchtete meinen Koffer hinein. Ich öffnete die Tür und stieg ein, um gleich darauf festzustellen, dass ich auf der Beifahrerseite saß. Ich stieg wieder aus und begab mich auf die Fahrerseite.
Ich war schon früher auf dem europäischen Festland Auto gefahren, mit Rechtsverkehr also vertraut. Beim ersten Mal – in Frankreich mit Cleo und Saoirse, meinen besten Freundinnen – war mir anfangs zwar noch etwas mulmig gewesen, aber nach ein paar zittrigen Minuten hatte ich mich eingewöhnt. Etwas später während der Europareise mit meinem Verlobten Sean hatte meistens ich hinter dem Steuer gesessen. Nach unserem Urlaub wurde aus Sean mein Ex-Verlobter, allerdings lag das nicht an meinen Fahrkünsten, sondern daran, dass er festgestellt hatte, dass er noch nicht bereit für die Ehe war. Oder zumindest nicht mit mir. All meine Lebensträume waren ein einziger Scherbenhaufen. Natürlich hatte ich schon einige gescheiterte Beziehungen hinter mir, aber so am Boden zerstört war ich noch nie gewesen, so verletzt und verzweifelt. Und beschämt – auch wenn ich mir aufmunternd sagte, Seans Meinungsumschwung habe nichts mit mir zu tun. Und besser jetzt als nach der Hochzeit. Trotzdem waren die darauffolgenden Monate schwierig und voller Schmerz. Aber ich war darüber hinweggekommen. Ich hatte mein Leben neu strukturiert, meine Karriere verfolgt und schließlich die Trennung bewältigt. Nun war mein Herz wieder gebrochen und diesmal war es viel, viel schlimmer. Ich wusste nicht, wie ich darüber hinwegkommen sollte. Ob ich mich je von diesem Schlag erholen würde.
Ich holte tief Luft und legte den Rückwärtsgang ein. Es tat gut, sich auf etwas konzentrieren zu müssen, das vertrieb die dunklen Gedanken, die mich immer noch oft überkamen. Zudem bin ich eine begeisterte Autofahrerin, umsichtig, souverän und lasse mir nichts gefallen. Deshalb musste im Urlaub mit Cleo und Saoirse auch immer ich fahren, was mir ehrlich gesagt überhaupt nichts ausmachte. Ich habe gern das Heft in der Hand und bestimme lieber, als dass über mich bestimmt wird.
Es hatte lange keine Urlaube mehr mit den Mädels gegeben. Aber nach Brad hatte Cleo gefragt, ob ich nicht mal mit ihr wegfahren wolle. Auf ein Verwöhnwochenende in einem richtig tollen Wellnesshotel.
»Ich habe kein Verwöhnwochenende verdient«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme.
»Dich trifft überhaupt keine Schuld«, widersprach Cleo.
»Weiß ich, aber es fühlt sich an wie eine Verurteilung.«
»Du musst nachsichtiger mit dir sein, Juno«, sagte sie.
»Mit ihnen hat auch niemand Nachsicht gehabt«, hielt ich dagegen.
Danach hatte Cleo das Wellnesswochenende nicht mehr erwähnt.
»Nehmen Sie im Kreisverkehr die zweite Ausfahrt.« Glücklicherweise riss mich die Navi-Stimme aus meinen Gedanken. Ich konzentrierte mich wieder auf die Straße und folgte brav den Anweisungen. Nach Beniflor ging es hauptsächlich über die Autobahn, keine große Herausforderung also, außerdem fahre ich gern Autobahn. Aufs Gaspedal treten und den Wagen ordentlich laufen lassen!
Aber ich gab kein Vollgas, denn ich hatte Angst, zu schnell zu fahren. Es bestand nämlich durchaus die Möglichkeit, dass ich in Tränen ausbrechen würde und dann wollte ich nicht mit 120 Sachen in einem mir unbekannten Fiesta dahinbrausen. Auch wenn ein dünnes Stimmchen in meinem Kopf flüsterte, es hätte durchaus etwas für sich, wenn ich von der Straße abkäme und alles zu Ende wäre.
Starr richtete ich meinen Blick auf die Straße. Ich musste diese Gedanken verdrängen, Gedanken, die mich in der dunklen Zeit fast überwältigt hatten. Aber jetzt gehe es mir viel besser, hatte ich den anderen weisgemacht. Doch das stimmte nicht. Deshalb war ich auch hier, weil es mir keineswegs besser ging und ich im Job nicht mehr richtig funktionierte. Weil ich mich verpflichtet fühlte, meine Kündigung einzureichen, bevor ich einen wirklich gravierenden Fehler machte. Bevor ich gekündigt wurde.
Davor war ich in meinem Job richtig gut gewesen. Logisch, Selbstlob steht uns Frauen nicht gut zu Gesicht, wir sollen nicht erwähnen, dass wir gut Auto fahren, richtig gut in unserem Job sind. Vielmehr sollen wir bescheiden unsere Erfolge herunterspielen, so tun, als verdankten sie sich dem Zufall und nicht unseren Fähigkeiten. Doch in dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, gehöre ich zu den besten Röntgenassistentinnen, was mir auch bewusst ist. Weil mir das die Patienten oft sagen – und die Kollegen. Und ich gehe in meiner Arbeit auf, will immer besser werden, die Prozedur für die Patienten so angenehm wie möglich machen. Denn bei meiner Arbeit geht es um die Menschen. Wenn sie in die Radiologie kommen, sind sie aufgeregt oder haben Schmerzen oder beides. Ich versuche eine entspannte Atmosphäre zu schaffen – aber wie soll das gehen, wenn ich selbst völlig verkrampft bin? Und wie soll ich fröhlich und gutgelaunt sein, wenn es mir partout nicht gelingen will, mich aus meiner Verzweiflung herauszureißen?
Ich habe es versucht, wirklich. Aber es hat nicht funktioniert. Eines Tages, ich hatte gerade eine Ultraschalluntersuchung bei einer jungen Frau mit Unterleibsschmerzen beendet, brach ich neben ihr in Tränen aus. Verständlicherweise dachte die Patientin, ich hätte auf dem Bildschirm entdeckt, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt, und brach ebenfalls in Tränen aus. Sie war untröstlich und ließ sich nicht überzeugen, dass sie nicht demnächst sterben würde.
Kurz darauf rief mich die Leiterin der Radiologie zu sich. Drina O'Driscoll ist eine ruhige Frau Anfang fünfzig, höchst sachkundig und ein Vorbild für die gesamte Abteilung. Schweigend sah sie mich an. Ich reichte ihr mein Kündigungsschreiben, das sie vor sich auf den Schreibtisch legte.
»Ich weiß, Sie haben private Probleme, Juno.« Sie klang völlig ruhig. »Und wie ich merke, wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus.«
Ich klammerte mich mit beiden Händen an den Stuhl, um nicht die Fassung zu verlieren. Was genau wusste sie über meine persönlichen Probleme und wie hatte sie davon erfahren?
»Es tut mir so leid«, sagte ich, »mein Privatleben hätte sich nicht auf meine Arbeit auswirken dürfen.«
In Drinas grauen Augen lag Mitgefühl.
»Niemand kann sein Privatleben an der Tür abgeben, wenn er den Arbeitsplatz betritt«, sagte sie. »Das wäre zwar wünschenswert, aber nicht menschlich.«
»Die Patientin hat meinetwegen jetzt bestimmt ein Trauma«, erklärte ich. »Sie könnte uns verklagen.«
»Hoffentlich ist sie über den negativen Ultraschallbefund dermaßen erleichtert, dass sie das nicht macht.« Drina lächelte kurz. »Wenn die eigene Gesundheit in Gefahr ist, sieht man vieles plötzlich aus einem ganz anderen Blickwinkel.«
»Trotzdem war das extrem unprofessionell von mir.«
»Und jetzt, wie geht es Ihnen jetzt?«, fragte Drina.
Ich deutete auf das Kuvert mit dem Kündigungsschreiben.
»Man kann sich nicht mehr auf mich verlassen«, sagte ich. »Es wäre unverantwortlich, wenn Sie mich weiterhin beschäftigen.«
»Sie brauchen eine Auszeit, so viel ist klar.« Drina sortierte einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. »Aber ich möchte jemanden, der so außerordentlich kompetent ist, nicht verlieren.«
»Genau das ist die Krux.« Mittlerweile hatte ich mich richtiggehend in den Stuhl verkrallt. »Ich habe meine Fähigkeiten eingebüßt. Vielleicht für immer.«
»Von eingebüßt kann keine Rede sein und natürlich kommt das wieder zurück«, widersprach Drina. »Mein Vorschlag wäre, Sie nehmen ein Vierteljahr unbezahlten Urlaub und wir überbrücken diesen Zeitraum mit einer Stellvertreterin. Wenn Sie nach diesen drei Monaten noch immer meinen, dass Sie mit dem Job überfordert sind, suchen wir einen Ersatz.«
Es dauerte kurz, bis ich den Sinn ihrer Worte begriff, und schon traten mir wieder die Tränen in die Augen. Ich zwinkerte sie weg.
»Ich dachte, Sie wären mich gern los.«
»Finden Sie wieder zu sich selbst, Juno.« Sie reichte mir den ungeöffneten Umschlag zurück. »Kommen Sie gesund wieder.«
»Danke.«
Ich taumelte aus Drinas Büro und ging in die Krankenhauscafeteria, wo Cleo und Pilar, zwei meiner Kolleginnen, auf mich warteten. Wir von der Radiologie sind eine eingeschworene Gemeinschaft, und die beiden hatten in letzter Zeit meine Patzer ausgebügelt.
»Das ist eine tolle Lösung«, sagte Cleo aufmunternd. »Ganz bestimmt geht es dir nach dieser Auszeit wieder viel besser. Was willst du mit den drei Monaten anfangen?«
Ich zuckte die Schultern. »Nichts Bestimmtes. Daheimbleiben wahrscheinlich. Nachdenken.«
»Herrje, Juno, ich stehe immer hinter dir, wie du weißt, aber du kannst nicht drei Monate lang herumsitzen und vor dich hin grübeln!« Cleo sah mich entsetzt an. »Das ist der beste Weg, durchzudrehen. Du bist doch überhaupt nicht der Typ, der sich in Selbstmitleid suhlt. Du wirst deine Zeit gefälligst nicht damit verbringen, über Dinge nachzudenken, die sich nicht ändern lassen.«
»Ich werde mich nicht in Selbstmitleid suhlen«, widersprach ich, »ich werde …«
Aber Cleo hatte recht. Dieses verdammte Grübeln war an meiner misslichen Lage schuld. Ich musste einen Weg finden, damit aufzuhören und mich wieder ins Leben stürzen, statt pausenlos meine Entscheidungen kritisch zu beleuchten und mich zu fragen, wie alles hätte anders laufen können.
»Du solltest was Neues in Angriff nehmen«, schlug Pilar vor. »Irgendwas Kreatives vielleicht. Einen Roman schreiben oder Malen lernen.«
Zum ersten Mal, seit ich Drinas Büro verlassen hatte, lächelte ich. »Was schreiben betrifft, alles außer meinen radiologischen Gutachten überfordert mich kreativ. Beim Malen bin ich ein hoffnungsloser Fall, es sei denn, es handelt sich um eine Wand.«
»Es muss ja nicht malen oder schreiben sein«, stellte Pilar klar. »Es kann auch klettern oder Wildwasserrafting sein.«
»Oder ich könnte es mir zu Hause gemütlich machen und lesen«, sagte ich. »Ganz ehrlich, was anderes will ich gar nicht. Nur allein sein und nichts tun.«
»Das ist eine wunderbare Chance«, sagte Cleo. »Wenn du schon nichts unternehmen magst, mach wenigstens eine Therapie.«
»Also bitte, ich und Therapie!«, schnaubte ich.
»Du brauchst gar nicht so die Nase zu rümpfen, das –«
»Ich hab's!«, rief Pilar begeistert. »Du könntest im Haus meiner Großmutter unterkommen. Und dort kannst du nach Herzenslust lesen, spazieren gehen und meine Heimat erkunden.«
»Wie jetzt?« Ich sah sie fragend an.
»Das Haus meiner Großmutter«, wiederholte Pilar geduldig. »Ich hab euch schon davon erzählt. Es liegt in einem kleinen Dorf im Hinterland der Costa Blanca. Etwas abseits und doch nicht völlig ab vom Schuss. Seit sie letztes Jahr gestorben ist, steht es leer, und meine Eltern werden es garantiert liebend gern vermieten. Du könntest dich dort in aller Ruhe erholen. Sonne, Meer und der Orangenhain werden dir guttun, dem Heilungsprozess auf die Sprünge helfen.«
»Meinst du wirklich?« Aber schon stellte ich mir wonnig warme Abende am Meer vor, in der Luft der Duft von Orangenblüten. Wo ich keine Bekannten treffen würde und trauern konnte, ohne vorgeben zu müssen, mein Herz wäre aus einem anderen Grund schwer.
»Klar«, sagte Pilar. »Meiner Mutter wäre es sehr recht, wenn jemand dort wohnt. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil es leer steht.«
»Wo genau liegt es denn?« Cleo, die ihr Croissant vertilgt hatte, leckte sich die Finger ab. »In den Bergen, aber nicht allzu weit weg von Benidorm«, erklärte Pilar. »Beniflor ist eher ländlich, doch es gibt etliche Ausländer, die sich dort eine Wohnung gekauft haben. Meine Großmutter hat ihr Haus meinen Eltern vererbt, aber der Verkauf gestaltet sich schwierig. Die meisten ausländischen Interessenten wollen was, das direkt am Meer liegt oder zumindest Meerblick hat. Das Haus meiner Großmutter hingegen ist eher unmodern, man schaut auf die Berge und den Orangenhain – das ist nicht besonders gefragt. Und was die Einheimischen betrifft, da gibt es zwar einige, die Interesse an den Orangenbäumen haben – einer der Bauern dort erntet die Orangen –, doch die brauchen das Haus nicht. Also steht es immer noch zum Verkauf – und leer. Gelegentlich verbringt meine Mutter das Wochenende dort, aber mittlerweile ist es etwas … etwas –«
»Verwahrlost?«, sprang Cleo ihr bei.
Pilar nickte. »Und ich weiß, das liegt meiner Mutter schwer auf der Seele, denn meiner Großmutter wegen würde sie es gern in Schuss halten, aber sie wohnt ungefähr anderthalb Stunden entfernt in Valencia und kann nicht ständig nach dem Rechten sehen.«
»Trotzdem hat sie vielleicht etwas dagegen, wenn eine ihr völlig fremde Frau für eine Weile dort wohnt«, wandte ich ein.
»Du bist keine Fremde, du bist eine Freundin«, sagte Pilar. »Sie wird begeistert sein, das garantiere ich dir.«
Der Vorschlag war verlockend, aber andererseits kam es mir auch vor, als ginge ich damit den Weg des geringsten Widerstands. Warum sollte ich ein Vierteljahr in ländlicher, wenn auch etwas heruntergekommener Idylle verbringen dürfen – zudem noch in Spanien! –, während alle anderen schufteten? Das hatte ich nicht verdient.
Das erklärte ich Saoirse, als sie an diesem Abend heimkam. Wir teilten uns eine Wohnung, die sowohl in der Nähe des Krankenhauses als auch des Wirtschaftsprüfungsunternehmens lag, bei dem sie arbeitete.
»Drei Monate Sonne!«, rief Saoirse. »Du bist bescheuert, wenn du das ablehnst.«
»Trotzdem, ich weiß nicht recht. Es kommt mir vor, als würde ich belohnt für –«
»Herrschaftszeiten, Juno, das ist doch lächerlich!«
»Aber –«
»Kein Aber. Du brauchst Tapetenwechsel. Und zwar dringend.« Zweifelnd sah ich sie an.
»Ein Nein kommt nicht in die Tüte«, ordnete sie an.
Also sagte ich ja. Und so fuhr ich nun um Mitternacht auf der AP-7 zu einem mir unbekannten Haus in einem mir unbekannten Dorf. Allein.
Genau eine Stunde später riss mich Jane – so hatte ich das Navi getauft, dessen Stimme höchst oberlehrerinnenhaft klang – mit der Anweisung aus meinen Gedanken, ich solle die nächste Ausfahrt nehmen. Ich folgte den Anweisungen, die mich auf eine breite verlassene Straße führten. Mich schauderte ein klein wenig, außer mir war hier weit und breit kein Mensch. Die zwischen Wolken hervorblinkende Mondsichel bildete, abgesehen von den Autoscheinwerfern, die einzige Lichtquelle. Die Straße vor mir hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was mir Google Street View gezeigt hatte, aber das lag bestimmt nur an der Finsternis, beruhigte ich mich selbst. Ich war auf dem richtigen Weg, ich musste nur auf das Navi hören. Und dann führte mich Jane auf eine kurvenreiche, von Orangenbäumen gesäumte Landstraße. Zumindest hielt ich sie für Orangenbäume, denn der Mond war hinter einer dicken Wolke verschwunden, und so konnte ich mir nicht sicher sein.
Ich fuhr langsamer. Jane schwieg, aber laut dem kleinen Bildschirm sollte ich dem Straßenverlauf noch weitere fünf Kilometer folgen. In der Ferne schimmerte es da und dort hell, wahrscheinlich Häuser. Vielleicht die der Ausländer, von denen Pilar gesprochen hatte. Oder vielleicht die der Einheimischen, die an den Orangen ihrer Großmutter, nicht aber an ihrem Haus interessiert waren. Oder es waren Gespenster, die durch die Landschaft glitten.
Ich versuchte den Gedanken an Gespenster zu verbannen. Eigentlich bin ich rational und logisch denkend und vor langem zu dem Schluss gekommen, dass es weder ein Leben nach dem Tod gibt, noch ruhelos umherirrende Geister oder Artverwandtes. Alle, die behaupten, sie könnten mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen, sind Scharlatane, Punkt. Vorbei ist vorbei. Allerdings hatte sich meine Welt innerhalb der letzten Wochen völlig verändert und meine Überzeugungen ins Wanken geraten lassen. So ganz allein mitten in einer fremden, einsamen Gegend fand ich die Vorstellung, es könnte hier spuken, nicht mehr ganz so abwegig wie in der Geborgenheit meiner Wohnung. Und außerdem –
Jetzt reiß dich aber mal am Riemen, gute Frau, rief ich mich zur Räson. Kein Grund durchzudrehen.
Jane tat kund, ich solle bei der nächsten Möglichkeit links abbiegen, und aus lauter Sorge, vorbeizufahren, kroch ich nahezu im Schneckentempo dahin. Hoffentlich war dies die vertrackte Abzweigung, von der Pilar gesprochen hatte. Als im Scheinwerferlicht ein Schild auftauchte, das Beniflor anzeigte, seufzte ich erleichtert auf und fuhr vorsichtig weiter.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Es klang, als klopfte Jane sich selbstzufrieden auf die eigene Schulter. Ich brachte den Wagen mitten im Nichts zum Stehen, keine Scheune, kein Nebengebäude zu sehen, am allerwenigsten das zweistöckige Haus, dessen Foto Pilar mir gemailt hatte.
»Super«, grummelte ich vor mich hin. »Wie ich Navis hasse.«
Weil die Villa Naranja so abgelegen lag, hatte ich keine genaue Adresse eingeben können, deshalb hatte Jane mich wahrscheinlich irgendwo auf der Straße abgeladen, die zum Haus führte. Oder zumindest auf der Straße, die zu dieser Straße führte, denn das Haus lag an einer Art Feldweg. Auf Google Maps war er nicht verzeichnet, daher hatte Pilar ihn mir auch nicht zeigen können.
Plötzlich ein grelles Licht im Rückspiegel, ein Fahrzeug tauchte hinter mir auf. Mein Herz begann zu rasen, denn vor meinem inneren Auge spulten sich sämtliche Horrorfilme ab, die ich je gesehen hatte. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass mich ein potentieller Räuber oder ein menschenfressender Dämon (oder beides in Personalunion) in die dunkle Nacht verschleppen würde, als mit genervtem Hupen ein weißer Kleintransporter vorbeirauschte.
Die Rücklichter verschwanden in der Dunkelheit. Mit einem erleichterten Seufzer und zitternder Hand umfasste ich den Steuerknüppel, ließ den Fiesta anrollen. Nach ungefähr einem Kilometer erspähte ich eine schmale Schotterpiste und bog ein, in der Hoffnung, dass sich dies nicht als großer Fehler herausstellen würde. Der Richtungspfeil des Navis zeigte an, dass ich mitten durch ein Feld fuhr – und genauso fühlte es sich auch an.
Schon begann ich meine Entscheidung zu bereuen, da zeichneten sich in der Ferne unvermittelt zwei weiße Säulen ab, dazwischen ein riesiges Eisentor. Den Bogen darüber, ebenfalls aus Schmiedeeisen, zierten die Worte Villa Naranja. Neben der rechten Säule befand sich ein kleines Tor für Fußgänger. Aufatmend hielt ich an, nahm den elektrischen Türöffner, den Pilar mir gegeben hatte, und drückte. Nichts rührte sich. Ich richtete ihn genau auf das Tor und drückte nochmals, diesmal energischer, und siehe da, auf der linken Säule blinkte ein gelbes Licht auf und das Tor rollte langsam zurück. Zum Glück war die Sicherung für den Strom außen nicht herausgedreht worden.
Nachdem ich hindurchgefahren war, drückte ich ein drittes Mal und das Tor schloss sich hinter mir. Die Mondsichel, die kurz hinter einer Wolke hervorgelinst hatte, verschwand wieder. Mich überlief ein leiser Schauder. Egal, wie gern ich den Gedanken an Gespenster abgetan hätte, das Ganze hier hatte etwas Gruseliges an sich.
Ich fuhr den Schotterweg hoch zum Haus, das teilweise von hohen Kiefern verdeckt war. Vor dem weiß getünchten Gebäude brachte ich den Wagen zum Stehen. Obwohl mir Pilar etliche Fotos gezeigt hatte, war das Haus größer als erwartet. Es war rechteckig, hatte zwei Stockwerke und ein Terrakottadach, an dessen beiden Enden sich Kamine befanden. In der oberen Etage gab es drei bodentiefe Fenster sowie eine breite Tür, die hüben und drüben von zwei kleinen Fenstern eingerahmt wurde. Davor erstreckte sich über die gesamte Hausbreite ein schmaler Balkon. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert, bei den oberen waren die Fensterläden zugeklappt. Im Scheinwerferlicht konnte ich vor der rauen Hausmauer, deren Farbe stellenweise abgeblättert war, Sträucher mit rosa- und lilafarbenen Blüten erkennen.
Alles wirkte vernachlässigt, wie Pilar gesagt hatte, doch das konnte genauso gut am gespenstischen Scheinwerferlicht liegen. Ich stellte den Motor ab, ließ jedoch das Licht an und nahm den Schlüsselbund, an dem neben dem Toröffner mehrere Schlüssel hingen.
Ich suchte den passenden heraus (markiert mit einem neonpinkfarbenen Nagellacktupfer) und öffnete das Gitter vor der Haustür, wobei ich mir wie eine Einbrecherin vorkam. Dann schloss ich die Haustür auf, die mit einem leisen Quietschen aufschwang.
Sofort hüllte mich warme, abgestandene Luft ein und abermals geisterten mir Szenen aus alten Horrorfilmen durch den Kopf, in denen Mädchen, die sich törichterweise allein ins Dunkel gewagt hatten, gar Schreckliches zustieß. Für eine Frau, der ständig vorgehalten wurde, sie sei komplett phantasielos, benahm ich mich mehr als kindisch. Jetzt reiß dich aber mal zusammen, befahl ich mir, während sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnten.
Die Hauptsicherung befinde sich gleich neben der Tür, hatte Pilar mir erklärt. Als ich Umrisse unterscheiden konnte, entdeckte ich die Plastikabdeckung. Ich zog daran, sie löste sich von der Wand und mir entfuhr ein kleiner Schrei. Meine Überraschung hallte durchs leere Haus. Ich legte die Abdeckung in das Regal daneben, sah mir die Schalter an und klappte den gelben hoch. Ein dumpfes Surren ertönte, und nach einem raschen Blick ringsum stellte ich fest, dass das Brummen von einem riesigen Kühlschrank kam. Zumindest gab es Strom. Mit zusammengekniffenen Augen fahndete ich nach dem Lichtschalter, der sich an der gegenüberliegenden Wand befand. Knisternd und blinkend erwachte an der Decke eine Leuchtstoffröhre zum Leben. Das grelle Licht sorgte nicht unbedingt für heimelige Atmosphäre, verscheuchte aber die Gedanken an Gespenster.
Ich ging nach draußen zum Auto und schaltete die Scheinwerfer aus. Hier in der Abgeschiedenheit mit leerer Batterie festzusitzen, hätte mir gerade noch gefehlt. Ich holte meinen Koffer heraus, wuchtete ihn ins Haus und schloss die Tür hinter mir.
Der Raum, in dem ich stand, erstreckte sich über die gesamte Hausbreite, auf der einen Seite befand sich die Küche, auf der anderen der Essbereich. Die Küche war sehr einfach, es gab besagten Kühlschrank (der mittlerweile alarmierend vor sich hin gurgelte), einen Gasherd sowie einen separaten Elektrobackofen, der wahrscheinlich in den Achtzigern seinen Einzug gehalten hatte. Des Weiteren einen großen, tiefen Spülstein und mehrere Hängeschränke, die augenscheinlich ebenfalls aus der Zeit vor meiner Geburt stammten. Dann gab es noch Bodenregale mit blaukarierten Leinengardinen davor, an den Wänden maurische Fliesen mit verschlungenem blau-weißen Dekor.
Der Essbereich war ähnlich altmodisch, die Wände obendrein noch senfgelb gestrichen, ziemlich düster. An der Stirnseite befand sich ein offener, rußgeschwärzter Kamin. Um einen Tisch aus Kiefernholz standen Stühle mit aus Stroh geflochtenen Sitzflächen. In einer Ecke entdeckte ich eine Stehlampe, ihr cremefarbener Schirm hing leicht schief.
Der Boden bestand aus rustikalen Terrakottafliesen, sauber, wenn auch eingestaubt.
Zwischen dem Essbereich und dem hinteren Teil des Hauses lag eine quadratische Diele, von der eine Treppe nach oben führte. Ich betrat das nächste Zimmer, das ebenfalls die gesamte Hausbreite einnahm – eindeutig der Wohnbereich. Vor ewigen Zeiten hatte hier sicher jede Menge Mobiliar herumgestanden, doch jetzt war nur noch ein dreisitziges Sofa in absolut grauenvollem Neonorange (das sich mit dem Senfgelb der Wände biss) übrig, zwei mit dem gleichen Stoff bezogene Sessel, allerdings in verschossenem Gelb, sowie ein rechteckiger Couchtisch. Darauf befanden sich mehrere spanische Zeitungen und Illustrierte, zwei saubere Aschenbecher und ein leeres Glas. Die Zeitungen waren zwei Monate alt, bei den Illustrierten handelte es sich um Klatschmagazine, die letztes Jahr zu Weihnachten erschienen waren.
Neben einem ähnlich verrußten Kamin wie im Essbereich stand ein Korb mit Holzscheiten, etliche lagen auf dem Rost, als warteten sie nur darauf, angezündet zu werden. An der Wand hing schief eine verblichene Küstenlandschaft.
Vom Wohnzimmer führte eine Doppeltür nach draußen. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu öffnen. Auch warf ich keinen Blick aus dem Fenster. Idiotischerweise wurde mir wieder unheimlich zumute. Obwohl es mucksmäuschenstill war, hatte ich das Gefühl, als wäre jemand im Haus. Und beobachtete mich. Sei nicht kindisch, rief ich mich zur Räson und rückte das Bild gerade, überzeugte mich, dass die Tür, die von der Küche direkt nach draußen führte, verschlossen und der Riegel vorgelegt war. Ich öffnete eines der Fenster, damit frische Luft hereinkam, machte die grelle Neonröhre aus und schaltete die Stehlampe an. Sie verbreitete ein wärmeres, heimeligeres Licht, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, konnte ich trotzdem nicht ganz abschütteln.
Auf dem Weg die Treppe hoch hielt ich mir erneut vor Augen, dass ich nicht an Geister oder Gespenster glaubte, auch nicht daran, dass Gegenstände nachts lebendig wurden. Es war überhaupt kein Problem, dass ich mich mutterseelenallein in einem Haus am Ende der Welt befand.
Oben gab es vier Zimmer und zwei Bäder. Und einen alten Wäscheschrank, der auch ein buntes Sortiment an XXL-T-Shirts und Baumwollshorts enthielt, alles alt, aber sauber. Die ersten beiden Zimmer waren leer, im nächsten standen zwei abgezogene Einzelbetten und im vierten gab es ein Doppelbett, auf dessen Matratze säuberlich gefaltet die Bettwäsche lag. Als ich das Licht anknipste, kam ein Deckenventilator langsam in Schwung, der allerdings lediglich die warme Luft verteilte, kühler wurde es nicht.
Unvermittelt überkam mich die Müdigkeit. Ich öffnete das Fenster, die Läden ließ ich geschlossen. Meine Jeans warf ich auf den Cocktailsessel in der Ecke, dann entfaltete ich die Bettwäsche, die frisch nach Lavendel duftete. Nachdem ich das Bett bezogen hatte, versuchte ich das Licht auszuschalten, ohne dass der Ventilator ausging, was auch gelang.
Trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht einschlafen. Ich wälzte mich hin und her. Schließlich griff ich nach meinem Handy, drückte auf Voicemail und hörte die einzige Sprachnachricht ab, die er mir jemals hinterlassen hatte.
Wenn ich doch nur bei dir sein und dich in meinen Armen halten könnte, erklang seine Stimme klar und deutlich.