Christelle Dabos
Im Sturm der Echos
Band 4 der Spiegelreisenden-Saga
Roman
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Insel Verlag
Das Gedächtnis von Babel
Nach beinahe drei Jahren Trübsalblasens findet Ophelia endlich Thorns Spur auf der kosmopolitischen und modernen Arche Babel. Mithilfe von Gwenael, Reineke und Archibald, die seit Monaten in sämtlichen Windrosen einen Übergang nach Erdenbogen suchen, gelangt sie dorthin.
Gleich nach ihrer Ankunft auf der Arche der Zwillingsgeister Pollux und Helene tritt Ophelia unter falschem Namen in die Akademie der Guten Familie ein, um weiter nach der wahren Identität Gottes zu forschen. Dort sieht sie sich nicht nur mit den mächtigen Lords von LUX konfrontiert, sondern auch mit einem ehernen Gesetz des Schweigens, das ausgerechnet an diesem Hort des Wissens und der Information herrscht. Noch dazu werden ihre Recherchen von seltsamen Todesfällen begleitet; die Gesichter der Opfer sind in einem Ausdruck blanken Entsetzens erstarrt …
Dank ihrer Beharrlichkeit trifft Ophelia endlich Thorn im Herzen des Memorials von Babel wieder, einer gigantischen Bibliothek, die den Anspruch erhebt, das »Gedächtnis der Welt« zu sein, und wohin auch er sich zurückgezogen hat, um Gott erneut aufzuspüren. Doch wider alle Erwartungen verbirgt sich dessen Identität hinter einer Reihe von Kinderbüchern: »Gott« ist niemand anders als Eulalia Gort, ihres Zeichens Schriftstellerin. Die falsche Aussprache ihres Namens hat sie nach und nach in den Rang Gottes erhoben.
Aber wenn Gott Eulalia ist, wer ist dann der Andere, dieses zweite Ich, das Ophelia im Spiegel wahrgenommen hat und das angeblich die Archen endgültig zum Einsturz bringen soll? Und was sind die Echos, von denen Lazarus, einer der Verbündeten Gottes, behauptet, sie seien der »Schlüssel zu allem«?
Von Charlène Lefort
Ophelia stammt von der Arche Anima und hatte bereits zwei Heiratsanträge abgelehnt, ehe sie sich gezwungen sah, ihrer Verlobung mit Thorn von der Arche Pol zuzustimmen. Dank ihrer besonderen Ausprägung der animistischen Familienkraft kann sie die Vergangenheit von Gegenständen lesen und durch Spiegel reisen. Von einem Spiegelunfall in ihrer frühen Jugend hat sie ihre sagenhafte Tollpatschigkeit, eine nuschelige Aussprache und einen beispiellosen Hang zu Katastrophen zurückbehalten. Klein und schüchtern, verkriecht sie sich meist hinter einer rechteckigen Brille, deren Farbe sich ihrer jeweiligen Stimmung anpasst, und hinter einem bunten, durch ihren Animismus beseelten Schal, von dem sie sich niemals trennt. Ophelias schmucklose, altmodische Kleider sind vor allem ihrer koketten Schwester Agathe ein Graus, und die vor Nervosität angeknabberten Nähte ihrer kostbaren Leserinnen-Handschuhe lösen sich langsam auf. Als sie auf der Arche Babel ankommt, stutzt sie, um nicht erkannt zu werden, ihre dicken braunen Locken zu einem absolut unzähmbaren Kurzhaarschnitt und tauscht ihren Mantel und den Schal gegen die nachtblaue Uniform der Vorboten-Fakultät.
Denn hinter ihrem zurückhaltenden Auftreten verbergen sich große Entschlossenheit und Widerstandskraft. Obwohl sie anfangs von der Grausamkeit des Pols entsetzt ist, bewahrt sie sich doch ihren tief verwurzelten Sinn für Gerechtigkeit und ihre Wahrheitsliebe und ist nicht bereit, sich dem Willen der anderen zu unterwerfen, wenn dieser ihrem eigenen zuwiderläuft. Unbeirrbar verbringt sie mehr als zwei Jahre damit, selbst die kleinste Spur ihres verschwundenen Mannes Thorn zu verfolgen, und überquert schließlich die Archen, um ihm endlich ihre Gefühle zu offenbaren und ihn zu ihrem engsten Verbündeten zu machen. Immer unerschrockener und gewiefter sucht sie weiter nach der Identität Gottes und der Ursache der Katastrophe, die die alte Welt in zahlreiche Archen zerschlagen hat.
Thorn, der Intendant des Pols, ist auf den ersten Blick ein ruppiger und mürrischer Buchhalter, ebenso groß und schroff, wie Ophelia klein und taktvoll ist. Als unehelicher Nachkomme des Drachenklans, Schützling seiner Tante Berenilde, hat er neben den väterlichen Krallen die Kraft der Chronisten geerbt, der verstoßenen Familie seiner Mutter: ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen. Thorns Erscheinung entspricht seinem Charakter: kalt und starr wie das Eis, das seine Heimatarche bedeckt. Sein narbiger und versehrter Körper bildet einen scharfen Gegensatz zu seinem brillanten Geist. Einzelgänger durch und durch, respektiert er nur Zahlen und erträgt keinerlei Unordnung. Der Zeiger seiner Taschenuhr, die er stets bei sich hat, bemisst jede seiner Handlungen, und die Last einer schweren Kindheit scheint seine Mundwinkel andauernd nach unten zu ziehen. Und doch offenbart er nach und nach seine Abscheu gegen jegliche Gewalt, sein unerschütterliches Pflichtbewusstsein und seine bedingungslose Bereitschaft, die Menschen, die ihm wichtig sind, zu beschützen. Besessen von dem Wunsch, die Welt vom Gängelband eines willkürlichen Gottes zu befreien, wollte er sich Ophelias Leserinnen-Gabe zunutze machen, um das Geheimnis des Buches von Faruk, Familiengeist des Pols, zu ergründen, von dem er sich Aufschluss über die Identität jenes Gottes erhofft. Allerdings geraten die Dinge außer Kontrolle: Das Räderwerk, in das er seine Verlobte und seine Tante mit hineinzieht, ist heimtückischer als erwartet, und bringt sie immer wieder in größte Gefahr.
Um Ophelia nicht länger in die Angelegenheit zu verwickeln, verschwindet Thorn und setzt seine Suche nach Gott und dieser unerbittlichen Macht, die das Leben auf den Archen im Verborgenen zu lenken scheint, allein fort. Doch erst als er in Babel mit Ophelia zusammenarbeitet, wachsen beide über sich hinaus, als würden ihre Schwächen und Unsicherheiten durch den Blick des anderen aufgehoben.
Der Angehörige des Gespinstklans, dessen Variation der Faruk'schen Familienkräfte zur Gedankenübertragung befähigt, ist Botschafter am Pol, obwohl man sich fragt, was er in diesem Amt eigentlich zu suchen hat. Denn schließlich würde man von einem Botschafter doch ein gewisses … diplomatisches Geschick erwarten. Archibald aber widmet sich mit Leib und Seele dem genauen Gegenteil: schlampig, ungeniert und ein Schürzenjäger, nimmt er kein Blatt vor den Mund und schert sich meist wenig um die Gefühle seines Gegenübers. Paradoxerweise wird er für seine Leichtfertigkeit zugleich geschätzt und verachtet. Vielleicht liegt es an seiner betörenden Schönheit, dass man ihm Fehltritte eher verzeiht, oder an dem Prestige, das ihm seine Position bei Hofe ebenso wie seine ehrfurchtgebietende Familie verleihen, auch wenn er alles daransetzt, sich deren unwürdig zu erweisen. Tatsächlich verbergen sich hinter Archibalds Respektlosigkeit ein scharfer Verstand und tiefe Melancholie. Ungeachtet seines sorglosen Auftretens, ist er ein nicht zu unterschätzender politischer Stratege, der zudem jedermann glauben macht, er verfolge nur seine persönlichen Interessen, während er sich in Wahrheit bemüht, Ophelia, Berenilde und selbst Thorn vor ihren Gegnern zu schützen. Infolge seiner Entführung aus dem Mondscheinpalast, dem bis dahin sichersten Ort der Himmelsburg, hat das Gespinst die Verbindung zu ihm getrennt. Derart aus seinem bisherigen Leben gerissen, ist Archibald seitdem ein Einzelgänger und fähig, Passagen zwischen den Windrosen zu finden, jenen Türen, die es ermöglichen, vom einen Ende der Welt ans andere zu reisen …
Tante Roseline hatte nicht darum gebeten, als Anstandsdame mit Ophelia zum Pol geschickt zu werden. Brummig und steif wie eine schlecht geölte Türangel, zeichnet sie sich vor allem durch ihren unerschütterlichen Pragmatismus aus.
Unter ihrem strengen Dutt verbergen sich ein ausgeprägter Beschützerinstinkt und eine unbestechliche Moral, selbst in feindlicher Umgebung. Ihrer Variante der Familienkraft verdankt sie ihr besonderes Geschick im Umgang mit Papier, daher vertreibt sie sich gerne die Zeit oder die Nervosität mit Reparaturen sämtlicher Bücher und Tapeten, die ihr zwischen die Finger kommen. Sie hasst die Eiseskälte am Pol, liebt aber ihre Patentochter Ophelia von Herzen und verehrt Berenilde, mit der sie bald eine enge und aufrichtige Freundschaft verbindet. Als sie nach Beendigung ihrer Aufgabe als Anstandsdame auf ihre Heimatarche Anima zurückkehren muss, fehlen ihr der Pol und Berenilde schrecklich, auch wenn sie eher ihre kostbarsten Papiere fressen würde, als dies zuzugeben. Und so springt Tante Roseline, kaum dass sich die Gelegenheit bietet, ohne zu zögern, in die nächste Windrose, um ihre Wahlfamilie wiederzutreffen und ihr beizustehen.
Schön und unerbittlich, das sind die ersten Worte, die einem in den Sinn kommen, um die strahlende Berenilde zu beschreiben, Tante von Thorn und einzige Überlebende des Drachenklans. Als Favoritin Faruks wird sie für ihre Anmut bewundert und wegen ihrer Machenschaften innerhalb der Himmelsburg gefürchtet. Die Hofintrigen und Zwistigkeiten der Klans haben ihr ihren Mann und ihre drei Kinder entrissen. Angetrieben von Zorn, Schmerz und dem brennenden Wunsch, noch einmal Mutter zu werden, schreckt sie vor nichts zurück, um ihre Position bei Hofe zu festigen. Dass sie von Faruk schwanger ist, macht die Sache noch pikanter, denn sie wird den ersten direkten Nachkommen eines Familiengeistes seit Jahrhunderten zur Welt bringen.
Obwohl Berenilde Ophelia oft vor den Kopf stößt und sie mit ihren Launen in manch heikle Situation bringt, hat sie sie in Wahrheit längst ins Herz geschlossen. Sie scheint Archibald nicht besonders zu schätzen, trotzdem vertraut sie immer wieder auf seine Loyalität und macht ihn schließlich sogar zum Paten ihrer Tochter Viktoria. Es heißt, Berenilde und Viktoria seien die einzigen Menschen, um die Faruk wirklich besorgt ist. Glücklicherweise, denn Viktorias neue Ausprägung der Familiengabe verleiht ihr die Fähigkeit, aus sich herauszutreten und einen astralen Doppelgänger von sich auf Reisen zu schicken, den nur Gott und Faruk wahrnehmen können …
Reineke, der eigentlich Reinhold heißt, war Page von Archibalds Großmutter Dame Klothilde im Mondscheinpalast. Das Temperament des rothaarigen Riesen ist ebenso feurig wie sein Haar. Als Ophelia unter falscher Identität, verkleidet als Berenildes Diener Mimo, in den Palast kommt, nimmt Reineke sie unter seine Fittiche und erklärt sich bereit, sie im Tausch gegen ihre ersten zehn grünen Sanduhren in die Geheimnisse des Hofes einzuweihen. Nach dem Tod seiner Herrin landet er aufgrund eines Verwaltungsfehlers im Verlies. Diesmal hilft Ophelia ihm aus der Patsche, indem sie ihn als ihren Berater einstellt. Reineke ist ein treuer Freund, loyaler Ratgeber und eine starke Schulter, auf die man sich stützen kann. Seit Jahren himmelt er Gwenael an, die Mechanikerin des Mondscheinpalastes.
Gwenael ist Schützling Mutter Hildegards und die letzte Überlebende des Nihilistenklans, dessen Kraft darin besteht, die der anderen aufzuheben. Um ihre Herkunft zu verschleiern, färbt sie ihre kurzen blonden Haare schwarz wie die Nacht und trägt ein dunkles Monokel vor ihrem »bösen Auge«, wie sie selbst es nennt. Zwar erwidert sie Reinekes Gefühle, allerdings ohne ihm dies jemals wirklich zu gestehen, ist sie doch sehr viel reservierter als er. Durch und durch aufrichtig, verabscheut sie die Intrigen des Hofes und unterstützt Ophelia rückhaltlos.
Die Virtuosenanwärterin Elizabeth ist verantwortlich für die Division der Vorboten, der Ophelia in Babel angehört. Groß, dünn, sommersprossig, versteht sie nichts von Humor, dafür umso mehr von Informationsverarbeitung. Schließlich ist sie auf Datenbanken spezialisiert. Als Gabenlose ist sie eine Patentochter Helenes und dieser ebenso blind ergeben wie den Lords von LUX.
Octavio hingegen ist ein Nachkomme Pollux' und gehört dem Familienzweig der Visionäre an. Wie seine Mutter Lady Septima, Professorin am Konservatorium der Guten Familie, verfügt er über eine außerordentliche Sehkraft. Auch er arbeitet hart, um Virtuosenanwärter an der Fakultät der Vorboten zu werden. Während seine Mutter beabsichtigt, ihn zum Besten seiner Division zu machen, will Octavio sich diesen Platz selbst verdienen. Nichts ahnend von Lady Septimas Machenschaften, beginnt er Ophelia zu mögen und will ihr unbedingt beweisen, dass er »ein anständiger Mensch« ist, ganz gleich ob er dadurch in gefährliche Situationen gerät, die seine Illusion der perfekten Metropole Babel ins Wanken bringen.
Als berühmter Forscher reist Lazarus von Arche zu Arche. Laut einer seiner Anekdoten sprang er einmal in einer Art Taucheranzug in die Leere zwischen den Archen, in die sich noch nie ein Lebewesen vorgewagt hatte, doch man musste ihn wieder hochziehen, ehe er etwas anderes als Wolken sehen konnte. Wenn er nicht gerade um die Welt tingelt, widmet er sich seinen Erfindungen: Ihm verdankt Babel seine zahlreichen Automaten, die der »Unterjochung des Menschen durch den Menschen« ein Ende bereiten sollen. Leider hindert ihn sein heiteres und freundliches Auftreten nicht daran, Gottes treuer Gefolgsmann zu sein. Seine Absichten sind womöglich nicht immer so rein, wie er vorgibt.
Sein Sohn Ambrosius dagegen ist die Unschuld und Güte in Person. Von Geburt an hat dieser einen linken Arm anstelle des rechten, einen rechten anstelle des linken und ebenso vertauschte Beine. Daher sitzt er in einem Rollstuhl und möchte Rad-schi-Fahrer werden, um die Menschen quer durch Babel zu befördern. Er ist der Erste, der Ophelia nach ihrer Ankunft auf der fremden Arche bei sich aufnimmt und ihr hilft. Dabei weiß er von der Existenz Gottes und auch, dass sein Vater irgendwie in jene große Verschwörung verstrickt ist, die die Weltordnung zu bestimmen scheint. Eine Zeit lang hält er Ophelia sogar für den »Anderen«, jenes geheimnisvolle Wesen, das den Einsturz der Archen verursacht.
Man weiß nicht genau, wie die Familiengeister entstanden sind noch durch welches Unglück sie ihr Gedächtnis verloren haben. Sie sind seit Jahrhunderten da, unsterblich und allmächtig, mit ihren uralten Büchern aus einem hautähnlichen Material, verfasst in einer Sprache, die niemand versteht, als einzigem Anhaltspunkt. Doch nicht einmal die fähigsten Leser Animas waren in der Lage, das Rätsel dieser unheimlichen Werke zu entschlüsseln. Ihren menschlichen Nachkommen haben die Familiengeister besondere Kräfte vererbt, und sie herrschen, jeder auf seine Weise, über ihre jeweiligen Archen, die sie nie verlassen.
Artemis, die rothaarige, über Anima wachende Riesin, flüchtet sich in die Beobachtung der Sterne, ihre einzige wahre Leidenschaft. Sie hat kaum Kontakt zu ihren Nachkommen, die sie als guten Geist verehren. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat, scheint ihr vollkommen gleichgültig zu sein.
Faruk, der Familiengeist des Pols, ist launisch und unbeherrscht wie ein Kind. Er hat ein derart schlechtes Gedächtnis, dass er all seine Gedanken und Beschlüsse in ein Heft notiert, das sein Gedächtnishelfer stets für ihn bereithält; seine mentale Kraft dagegen ist gewaltig. Er hat sich nie wirklich darum bemüht, sie zu beherrschen, und die Energie, die ihn umgibt, kann den Menschen in seinem Umfeld heftige Kopfschmerzen bereiten. Wie die meisten Familiengeister ist Faruk wunderschön, doch von einer so kalten Schönheit, dass sie wie in Marmor gemeißelt wirkt. Er sitzt oft in sich zusammengesunken da, in einer Pose völliger Gleichgültigkeit. Ihn interessiert nur eines: das Geheimnis seines Buches und seiner Vergangenheit zu ergründen.
Auf Babel ergänzen sich die Zwillinge Pollux und Helene: Pollux repräsentiert die Anmut, Helene die Intelligenz. Im Gegensatz zu allen anderen Familiengeistern hat Helene ein missgestaltetes, unproportioniertes Äußeres und bewegt sich nur mithilfe eines Reifrocks auf Rollen und automatischer Gliedmaßen. Da sie keine eigenen Nachfahren haben kann, nimmt sie sich der Gabenlosen an, genannt die Patenkinder Helenes. Auch Pollux bringt seinen Nachkommen, den sogenannten Kindern des Pollux, ein beinahe väterliches Wohlwollen entgegen. Da beide die Gelehrsamkeit lieben, leiten sie gemeinsam das Konservatorium der Guten Familie, an dem die Elite des Landes ausgebildet wird, und stehen der Verwaltung des Memorials vor, einer gigantischen Bibliothek, die alles seit dem Riss entstandene Wissen enthält. Sie herrschen über die zugleich weltoffenste und militaristischste unter den Ophelia bekannten Archen.
Wenn das Leben auf Anima unkompliziert ist, das des Pols ausschweifend und intrigant, so ist es auf Babel geprägt von strengen Regeln und dem Streben nach Wissen. Insgeheim jedoch scheinen die Lords von LUX die Fäden in der Hand zu halten, und wehe dem, der sich etwas zu sehr in ihre Angelegenheiten einmischt!
Er kann das Aussehen und die Kräfte jedes Menschen annehmen, dem er sich nähert.
Er will sich die letzte Gabe aneignen, die ihm noch fehlt: die Fähigkeit der Bogianer, den Raum zu beherrschen.
Er war ursprünglich einmal eine kleine babelische Schriftstellerin.
Sein wahrer Name ist Eulalia Gort.
Er hat kein Spiegelbild.
Er sucht den Anderen.
Niemand außer Gott weiß, wer er wirklich ist und wie er aussieht.
Ophelia hat ihn befreit, als sie das erste Mal durch einen Spiegel ging.
Er hat die alte Welt beinahe vollkommen zerstört.
Und jetzt fängt er wieder damit an.
Für dich, Mama.
Dein Mut macht mir Mut.
C. D.
»Du bist unmöglich.«
»Unmöglich?«
»Unwahrscheinlich, wenn dir das lieber ist.«
»…«
»Bist du noch da?«
»Noch da.«
»Zum Glück. Ich fühle mich ein bisschen einsam.«
»Ein bisschen?«
»Eigentlich sehr. Meine Vorgestrigen … Vorgesetzten … sie kommen nicht oft hier herunter. Ich habe ihnen noch nicht von dir erzählt.«
»Von dir?«
»Nein, nicht von mir. Von dir.«
»Von mir.«
»Genau. Ich weiß nicht, ob sie dich verdrehen … verstehen würden. Ich selbst bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich verstehe. Es fällt mir schon schwer genug, mich selbst zu verstehen.«
»…«
»Du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt.«
»Noch nicht.«
»Dabei denke ich, dass wir anprangern … anfangen, uns ganz gut zu kennen. Ich bin jedenfalls Eulalia.«
»Ich bin ich.«
»Das ist eine interessante Antwort. Von wo gehst du aus?«
»…«
»Na gut, meine Frage war etwas kompliziert. Wo bist du jetzt gerade?«
»Hier.«
»Wo, hier?«
»Dahinter.«
»Dahinter? Aber wohinter?«
»Hinter dahinter.«
Er betrachtet den Spiegel; er sieht sich nicht darin. Doch das ist unwichtig, was zählt, ist allein der Spiegel: schlicht, nicht besonders groß und etwas schief an der Wand. Ein bisschen wie Ophelia.
Sein Finger gleitet über das Glas, ohne eine Spur zu hinterlassen. Hier, an diesem Ort, hat alles angefangen oder, je nach Blickwinkel, aufgehört. Jedenfalls wurde es hier erst wirklich interessant. Er erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre, an Ophelias erste Spiegelreise in jener denkwürdigen Nacht.
Er macht ein paar Schritte durchs Zimmer, streift mit dem Blick die vertrauten alten Spielsachen, die auf den Regalen herumzappeln, und bleibt vor dem Etagenbett stehen. Ophelia hat es zuerst mit ihrer großen Schwester und später mit ihrem kleinen Bruder geteilt, ehe sie Anima Hals über Kopf verließ. Wer wüsste das besser als er – schließlich beobachtet er sie nun schon seit Jahren aus dem Hintergrund. Sie hat immer lieber unten geschlafen. Ihre Familie hat die zerwühlten Laken und das eingedrückte Kopfkissen nicht angerührt, als erwarteten sie alle, dass sie im nächsten Moment nach Hause zurückkehrt.
Er bückt sich und betrachtet amüsiert die Karten der einundzwanzig Hauptarchen, die unter das obere Bett gepinnt sind. Während die Doyennen sie hier festhielten, hat Ophelia lange nach ihrem verschwundenen Ehemann gesucht.
Er geht die Treppe hinunter und durchs Esszimmer, wo die Suppe in den Tellern kalt wird. Niemand ist da. Sie sind alle mitten beim Abendbrot rausgelaufen – wegen des Lochs natürlich. In diesen leeren Räumen hat er beinahe das Gefühl, anwesend zu sein, wirklich hier zu sein. Selbst das Haus scheint sein Eindringen zu bemerken: Die Kronleuchter schlottern, die Möbel knarzen, die Pendeluhr lässt einen lauten, fragenden Gong ertönen. Das findet er so lustig bei den Animisten. Man weiß nie genau, wer eigentlich wem gehört: die Dinge ihren Besitzern oder umgekehrt.
Draußen schlendert er lässig die Straße entlang. Er ist nicht in Eile. Neugierig, ja, aber niemals in Eile. Dabei ist es mittlerweile höchste Zeit; für sie alle, ihn eingeschlossen.
Er gesellt sich zu den Nachbarn, die sich um das »Loch«, wie sie es nennen, versammelt haben und beunruhigte Blicke tauschen. Es erinnert an einen Gully mitten auf dem Bürgersteig, nur dass, wenn sie mit ihren Laternen hineinleuchten, kein Licht durch die Schwärze dringt. Um den Grund auszuloten, wickelt jemand eine Garnrolle ab, der bald der Faden ausgehen wird. Tagsüber war das Loch noch nicht da, eine Doyenne hat Alarm geschlagen, nachdem sie beinahe hineingestürzt wäre.
Er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das ist erst der Anfang, meine Dame.
In dem Pulk entdeckt er Ophelias Eltern; sie bemerken ihn wie üblich nicht. In ihren weit aufgerissenen Augen ist die gleiche stumme Frage zu lesen. Sie wissen nicht, wo ihre Tochter steckt – und ahnen erst recht nicht, dass sie mit schuld ist an diesem klaffenden Abgrund im Gehweg –, aber es ist unschwer zu erraten, dass die beiden sich heute Abend noch mehr um sie sorgen als sonst. Ebenso besorgt drücken sie die übrigen Kinder an sich, ohne ihre Fragen beantworten zu können. Schöne, große, vor Gesundheit strotzende Kinder, deren rotblonde Schöpfe im Laternenlicht schimmern.
Es fasziniert ihn stets aufs Neue, zu sehen, wie sehr sich Ophelia von ihnen unterscheidet, und das aus gutem Grund.
Er setzt seinen Spaziergang fort. Zwei Schritte, und er ist am anderen Ende der Welt, am Pol, irgendwo zwischen den obersten Etagen und den Arbeitervierteln der Himmelsburg, auf der Schwelle zu Berenildes Anwesen. Dieser Landsitz mit seinem ewigen Herbst ist ihm genauso vertraut wie das Haus auf Anima. Überall, wo Ophelia hingegangen ist, war auch er. Als sie für Berenilde den Pagen gab, war er dabei. Als sie Faruks Vize-Erzählerin wurde, war er dabei. Als sie nach den Verschwundenen des Mondscheinpalastes suchte, war er dabei. Mit wachsendem Interesse hat er all ihre Missgeschicke verfolgt, ohne je aus den Kulissen hervorzutreten.
Er kehrt immer wieder gern an die Schauplätze der Geschichte zurück, ihrer aller Geschichte. Was wäre aus Ophelia geworden, wenn Berenilde von sämtlichen Leserinnen Animas nicht ausgerechnet sie als Braut für ihren Neffen bestimmt hätte? Wäre sie dem, was sie »Gott« nennen, dann niemals begegnet? Sicherlich doch. Die Geschichte hätte nur einfach einen anderen Weg genommen. Jeder muss seine Rolle spielen, so, wie er die seine spielen wird.
Während er den Flur durchquert, dringt aus dem roten Salon eine Stimme an sein Ohr. Er späht durch die angelehnten Türflügel. In dem schmalen Blickfeld sieht er Ophelias Tante. Ruhelos läuft sie auf dem exotischen Teppich hin und her, der ebenso eine Illusion ist wie die Jagdbilder und Porzellanvasen. Sie überkreuzt die Arme, löst sie wieder, schwenkt ein Telegramm, das durch ihren Animismus ganz steif geworden ist, redet von einem »wie eine Badewanne« ausgelaufenen See, schimpft Faruk einen »Waschzuber«, Archibald ein »Stück Schmierseife«, Ophelia eine »Kuckucksuhr« und die gesamte Ärzteschaft eine »öffentliche Latrine«. Berenilde sitzt im Sessel und hört ihr nicht zu. Sie summt leise vor sich hin, während sie die langen weißen Haare ihrer Tochter kämmt, deren kleiner Körper sich schlaff an ihren schmiegt. Nichts dringt an ihre Ohren außer diesem schwachen Atem zwischen ihren Händen.
Er wendet den Blick ab. Wie jedes Mal, wenn es zu persönlich wird. Er war immer neugierig, aber nie ein Voyeur.
Erst da bemerkt er den Mann neben sich. Im dämmrigen Korridor hockt er auf dem nackten Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, und putzt energisch den Lauf eines Jagdgewehrs. Es scheint, als hätten die Damen sich einen Leibwächter gesucht.
Er setzt seinen Spaziergang fort. Mit einem einzigen großen Schritt verlässt er den Flur, das Anwesen, die Himmelsburg, den Pol und gelangt in einen anderen Teil der Welt. Jetzt ist er in Babel. Ah, Babel! Sein liebstes Studiengebiet. Die Arche, auf der die Geschichte und die Zeit enden werden, der Punkt, an dem alles zusammenläuft.
Es war Abend auf Anima, hier ist es Morgen. Dichter Regen fällt auf die Dächer.
Er durchmisst die Wandelgänge der Guten Familie, wie Ophelia es während ihrer Lehrzeit als Vorbotin getan hat. Um ein Haar hätte sie ihre Flügel behalten und wäre eine Bürgerin Babels geworden, was ihr für ihre folgenden Nachforschungen viele Türen geöffnet hätte. Sie hat es nicht geschafft, zum Glück, findet er. Das macht das Ganze für ihn nur noch reizvoller.
Er erklimmt die Treppe eines Wachturms. Von dort oben kann er trotz des Regens die benachbarten Inseln in der Ferne erkennen. Vor ihm das Memorial, hinter ihm das Beobachtungsinstitut für Abweichungen. Die beiden werden in der Geschichte noch eine entscheidende Rolle spielen.
Um diese Uhrzeit sollten die Auszubildenden der Guten Familie bereits ihre Uniformen tragen und den Radiolektionen aus ihren Kopfhörern lauschen, Kinder des Pollux auf der einen, Patenkinder Helenes auf der anderen Seite. Stattdessen drängen sie sich alle gemeinsam auf der Befestigungsmauer dieser Nebenarche. Ihre Pyjamas sind vom Regen durchweicht. Sie stoßen entsetzte Schreie aus, deuten mit den Fingern über das Wolkenmeer auf die Metropole. Selbst die Direktorin, Helene höchst persönlich, der einzige Familiengeist, der nie Nachkommen hatte, steht unter einem gigantischen Regenschirm bei ihnen und betrachtet die Anomalie mit durchdringender Aufmerksamkeit.
Von seinem idealen Beobachtungsposten aus sieht er ihnen allen zu. Oder besser, er versucht, durch ihre schreckgeweiteten Augen wie sie diese Leere zu sehen, die heute noch etwas weiter um sich gegriffen hat.
Wieder muss er unwillkürlich lächeln. Er ist lange genug im Hintergrund geblieben, nun ist es Zeit, die Bühne zu betreten.