Lutz Seiler
Stern111
Roman
Suhrkamp
»Ich bin achtundzwanzig,
und es ist so gut wie nichts geschehen.«
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Meinen Eltern gewidmet
Weit vor der Einfahrt stoppte Carls Zug, begleitet von einem stählernen Stottern und Zucken, als hätte das Herz seiner Fahrt kurz vor dem Ziel plötzlich aufgehört zu schlagen. Draußen ein Meer sich überkreuzender Schienenstränge, dahinter die Klagemauer. Die Klagemauer war eine kilometerlange Ziegelwand, die das Leipziger Bahnhofsgelände zur Stadt hin begrenzte, von seltsamen, an Bienenwaben erinnernden Öffnungen durchbrochen, durch die man eine Straße und Häuser und manchmal auch Menschen sehen konnte. Aus irgendeinem Grund geschah es nicht selten, dass die Züge hier draußen, die Ankunft vor Augen, stehen blieben, für Minuten oder Stunden, es war wie eine alte Plage, ein altbekanntes Leid. Der Blick des Reisenden fiel dann unweigerlich auf diese Mauer – so hatte sie ihren Namen erworben.
Am Morgen nach dem Telegramm war Carl nach Gera aufgebrochen. Er trug saubere Jeans und seine alte schwarze Motorradjacke mit den schrägen Reißverschlüssen über der Brust, darunter ein frisch gewaschenes Hemd. Er besaß drei dieser kragenlosen Arbeitshemden, identische Hemden mit dünnen blassblauen Streifen, die noch aus der Zeit vor dem Studium stammten, aus seiner Lehrzeit auf dem Bau. Er hatte sich sogar die Haare ein Stück abgeschnitten, mühsam, mit seiner stumpfen Nagelschere – schulterlang musste genügen. Wie ein lange Verschollener kehrte er nach Hause zurück, für einen Moment sah er es so. Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr – das war das Traurige an diesen Geschichten. Die Heimkehrer fanden nicht mehr zurück ins Festlandleben. All die Klippen, Stürme, Jahre – die ganze Einsamkeit, die, wie sich herausstellen sollte, im Grunde das Beste gewesen war. Oft vertrugen sie das Festlandessen nicht oder starben an ihrem überlangen Haar, das sie auf Jahrmärkten vorführen mussten, um Geld zu verdienen, und dann, eines Nachts, im Schlaf, legte es sich wie eine Schlinge um ihren Hals …
Der Zugführer lief die Waggons ab, er fluchte und schlug mit einem Stock gegen die Scheiben: »Aussteigen, alles aussteigen!«
Es war ein altes Außengleis mit einem provisorischen Bahnsteig aus Holz. Und eigentlich war es kein Bahnsteig, eher eine Rampe, aus der Gras und seitlich ein paar junge Birken herauswuchsen, denen Altöl und Exkremente nicht viel auszumachen schienen. Ihre Blätter leuchteten gelb. Carl sah dieses Leuchten und hörte das klopfende Geräusch seiner Schritte auf dem Holz der Rampe, wie Sträflinge in einer Reihe marschierten sie Richtung Bahnhofshalle, auf einem schmalen Steg zwischen den Gleisen.
Die halbdunkle Halle war überfüllt, eine wogende Bewegung, Schreie und Gebrüll. Aus den Lautsprechern, die jedes Wort in eine dumpfe, hohle Traumsprache verwandelten, tönte ein einzelner, vollkommen unverständlicher Ruf, immer wieder, in endloser Wiederholung: »Uh-ück!«
Die Belagerung galt dem D-Zug nach Berlin, einer Reihe von acht oder neun schmutzverkrusteten Karossen mit nikotingelben Scheiben. In den Nachrichten des Vorabends war von Sonderzügen und weiteren provisorischen Grenzübergängen die Rede gewesen, verbunden mit der sich formelhaft wiederholenden Bitte um Besonnenheit. Einigen Berlinfahrern gelang es, die Oberlichter der schmierigen Waggons zu erklimmen, um sich kopfüber in die überfüllten Abteile zu stürzen. Eine Szene aus Bombay oder Kalkutta – im Bahnhof von Leipzig wirkte sie maßlos, wie Teil einer überzogenen Choreographie, falsch, aber groß angelegt.
Langsam schob sich Carl ins Gewühl. Immer wieder blieb seine Tasche stecken. Der Trageriemen schnitt in seine Schulter und drohte zu reißen. Augenblicklich bereute er es, all seine Blätter und Bücher mitgeschleppt zu haben – wie dumm, wie leichtsinnig von ihm. Ein paar Flüche kamen auf, sein Gesicht wurde in den groben Filz einer Jacke gepresst, die augenblicklich ein animalisches Geräusch von sich gab – dann rammte etwas seine Brust. Er fiel, gezogen und gedreht von der Last seiner Tasche. Jemand, der ihn sicher nur auffangen wollte, stieß ihm mit Wucht die flache Hand ins Gesicht; Carl schmeckte Schweiß und verlor die Orientierung.
»Uh-ück! Uh-ück!«
Der Ruf kam jetzt von ganz oben. Es war die Stimme eines trunkenen Riesen, der aus der rußgeschwärzten Kathedrale des Bahnhofs herunterlallte, doch seine Zwerge gehorchten nicht mehr.
»Meine Tasche!«, rief Carl, als er wieder zu sich kam.
»Welche Tasche, junger Mann? Meinen Sie diese?«
Die Tasche war noch da, genau genommen lag er darauf. Für einen Moment sah Carl nichts als Gesichter, die sich über ihn beugten, angespannt, aber beherrscht. Es ist die Freude, dachte Carl, reine Freude. Aber eigentlich konnte er nicht erkennen, was sie beherrschte, ob es noch Freude war oder schon Hass.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Ein Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt, streckte ihm ein Taschentuch entgegen. Wie immer überraschte Carl das leuchtende Rot, diese frische, leicht fettige Substanz, die im Grunde nicht von ihm stammen konnte, Blut.
»Wird es gehen?« Das Mädchen berührte Carl am Arm, er sah ihr rundes Gesicht und darin ihre sehr hellen, wässrigen Augen, wie blind.
›Nein, du musst jetzt bei mir bleiben, für immer.‹
»Danke, es geht schon.«
Er ging weiter, auf einen leeren Bahnsteig hinaus. Er gab sich Mühe, nicht besonders auf das blinde Mädchen zu achten (sie war nicht blind), aber sie blieb bei ihm und hielt ihn am Arm, sie waren ein Paar, so lange, bis Carl sich endlich auf eine Bank fallen ließ.
»Wollten Sie auch nach Berlin?«
Carl legte den Kopf zurück und spürte es im Hals – ein warmer Faden, der irgendwo am Gaumen abgespult wurde und eigenartigerweise ein wenig brannte, man musste schlucken, immer wieder, bekam ihn aber nicht hinunter. Seit früher Jugend blutete ihm öfter die Nase. Als es auf diese Dinge noch angekommen war, hatte er seine Freunde damit beeindruckt, dass er die Blutung mit einem einzigen Schlag seiner Faust gegen die Stirn zum Stillstand bringen konnte. Es war ein Boxertrick. Der Handballen fuhr mit Schwung gegen die Stirn, genauer gesagt, er glitt mit einem Stoß darüber hinweg. Der Schlag musste kräftig sein; der Kopf flog dabei ruckartig nach hinten, und auf den Ruck kam es an. War man zu zögerlich, funktionierte es nicht.
»Nein, ich wollte …« Er schüttelte vorsichtig den Kopf, um die Drehbewegung vor seinen Augen zu stoppen. Eine Weile blieb das Mädchen noch bei ihm stehen. Carl überlegte, was er sie fragen könnte, aber dann war sie plötzlich gegangen, und er murmelte die Antwort:
»Nach Hause. Ich wollte nach Hause.«
Zentimeterweise löste sich der D-Zug nach Berlin vom Bahnsteig, die überfüllten Waggons glitten vorüber. Jemand brüllte: »Arrivederci, du Penner!«, und ein Chor, der sich spontan zusammengefunden hatte, stimmte das Lied an, das Carl nur in der melancholischen Tonlage seiner Großmutter kannte: »Ich möcht ja so gerne noch bleiben …« Carl sah zu, wie sich die Wagen entfernten. Der ausfahrende Chor kam an der Rampe mit den leuchtenden Birken vorbei, die zittrig und schüchtern zu winken begannen.
Das Wort Penner summte noch in seinem Schädel. Ein Penner war jemand, der mit blutender Nase auf einem Bahnsteig hockte, an dem kein Zug abfuhr. Jemand, der nicht weiß, wohin die Reise geht, dachte Carl.
Er zog das Telegramm aus seiner Tasche. Es war nur ein Zettel, handgeschrieben, darunter ein Stempel, in der rechten unteren Ecke hatte der Bote Datum und Uhrzeit notiert: 10. November, 9.20 Uhr. »wir brauchen hilfe komm doch bitte sofort deine eltern.« Kein Vorwurf, nichts über sein monatelanges Schweigen, nur das, ein Hilferuf. Nur das kleine schwache Wörtchen doch, Carl konnte es hören, leise, von seiner Mutter gesprochen: »komm doch«. Er sah, wie sie den Berg hinuntereilte in den Ort, mit ihren kurzen, kräftigen Schritten, er sah, wie sie die Adresse diktierte, wie sie das Telegrammformular ausfüllte, sorgfältig, aber auch angespannt, nervös, weshalb sie die Anrede versäumte, und er sah, wie Frau Bethmann, die Frau am Schalter, die Silben zählte. Selbst in diesen Tagen, in denen die unvorstellbarsten Dinge geschahen, funktionierte »das Drahtwort«, wie sie es nannten in den Schalterstuben der Post.
Carl musste zugeben, dass er sich bis dahin keine besonderen Sorgen gemacht hatte – Eltern waren sicherer Boden, unanfechtbar, ureigenes Gebiet, auf das man sich zurückziehen konnte in der Not. Vermisst, ja, seltsam, er hatte seine Eltern vermisst, nicht nur im vergangenen Jahr, in dem er sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, nein, auch schon zuvor, und eigentlich immer, immer vermisst.
Er suchte das Gleis, auf dem gewöhnlich die Züge Richtung Süden fuhren, in jene Gegend an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen, aus der seine Familie stammte – »wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, das war ein Lieblingswort seines Vaters gewesen. Als Kind hatte Carl an jedem Abend vor dem Schlafen Füchse und Hasen gesehen, wie sie nach und nach dort eintrafen am Waldrand, um sich gute Nacht zu sagen. Manchmal waren auch andere Tiere darunter, verschiedenste Tiere, und manchmal auch ein paar mit den Tieren gut befreundete Menschen. Es handelte sich um eine ganz bestimmte mondbeschienene Stelle, wo all diese sanften, klugen Wesen am Ende des Tages noch einmal zusammenkamen – ein Schattenriss mit erhobenen Schnauzen, erhobenen Köpfen, und ein einziger Chor: »Gute Nacht, ihr Hasen von Gera, ihr Füchse von Altenburg, ihr Meuselwitzer Raben, gute Nacht!«
Carl wusste nicht mehr, wer den Vorschlag gemacht hatte, zuerst »ein paar Schritte zu gehen«, sein Vater oder seine Mutter, es war nicht ungewöhnlich. Er ging hinten, seine Eltern vorn, wie immer. Sein Vater war gerade fünfzig Jahre alt geworden, seine Mutter neunundvierzig. Sein Vater war schmal geworden, die braune Lederjacke, die herabhängenden Schultern und das dünne graue Haar am Hinterkopf, so hatte Carl ihn nie gesehen. Sie gingen den Elsterdamm entlang, von Langenberg bis zur Franzosenbrücke, ihr alter Spazierweg am Fluss. Hunderte Fotos dazu im Familienalbum, von seiner Mutter sauber eingeklebt und gewissenhaft beschriftet: der Sechsjährige im Hemd und mit Fliege, sein bereitwilliges Lächeln und die großen bereitwilligen Zähne – das war Carl am ersten Schultag. Dann der Vierzehnjährige, mit Pagenschnitt und ernstem, abweisendem Blick. Daneben seine Mutter mit Dutt und Knautschlackledermantel, Herbst 77. Und so weiter auf dem Zeitstrahl durch alle Jahre und Jahreszeiten bis zu diesem Tag, den niemand fotografierte. Rechts das träge Strömen der Elster, ihr modriges Ufer und die Langenberger Weiden. Sein Vater blieb stehen und drehte sich um: »Carl.«
Schön wäre zu erzählen, wie plötzlich Wind aufkam im Elstertal, den Fluss herauf, oder ein besonderes Geräusch zu hören war, eine Art Pfeifen womöglich, ein feiner leiser Pfiff aus den Weiden, wie er nur einmal alle fünfzig oder hundert Jahre ertönt: »Carl …«
Seine Eltern wollten weg. Das Land verlassen, kurz gesagt.
Ein leiser Pfiff, zum Beispiel. Carl sah sich um, und plötzlich war es so, als hätte man diese (ihre) Welt von Fluss und Weg nur vorübergehend errichtet (nicht für ewig) und als müsse sie nun (wie alles andere) (selbstverständlich) abgebaut und beiseitegeschafft werden, als wäre sie (von einer auf die andere Sekunde) ungültig und wertlos geworden. ›So haben wir es nicht gemeint‹, hätte Carls Mutter dazwischengerufen, wäre dazu noch Gelegenheit gewesen, aber es gab keine Lücke im Ablauf, nur Verwunderung. Carls einziger Satz, unbeholfen, stotternd, wie ein hilflos erschrockenes Kind, dessen Eltern plötzlich nicht mehr erwachsen sind:
»Ich glaube, ihr unterschätzt das, das – das mit der Heimat, meine ich.« Es war seltsam, das zu sagen, es war ungewohnt, so mit den eigenen Eltern zu sprechen, etwas kehrte sich um. Schweigend gingen sie weiter flussaufwärts – Mutter, Vater, Kind zwischen all den Attrappen ihres plötzlich ausgedienten, abgepfiffenen Lebens.
Auch beim Abendbrot kam kein Gespräch in Gang. Die Stimmung war angespannt, und Carl begann, das Ganze für das Ergebnis einer unguten Hypnose zu halten, in die er nicht noch tiefer hineingezogen werden wollte. Zuerst musste gegessen werden, dann wurde abgeräumt und alles mit dem Servierwagen zurück in die Küche gefahren, ein zweistöckiges Wägelchen mit verchromtem Gestell. Sein dunkles Rollgeräusch auf dem Teppich, altvertraut, das leise Scheppern des Geschirrs, wie gewohnt und als könnte es nicht anders als für immer so bleiben – schließlich war doch alles hier nur dafür eingerichtet. Über die Schwelle in den Korridor wurde der Wagen getragen, das machte sein Vater, aber jetzt sprang Carl auf und half, behutsam, damit nichts verrutschte. ›Da ist jemand, der die Arbeit sieht‹, war das höchste Lob, das sein Vater zu vergeben hatte.
Wie zwei Kinder fuhren sie dann den kleinen Wagen zusammen durch den Flur in die Küche. Carl fühlte sich hilflos, aber er half, und augenblicklich übermannte ihn das Heimweh, die Sehnsucht nach Ankunft, Ruhe, Schlaf, Heimkehr des verlorenen Sohnes, irgendetwas davon. Sehnsucht nach jener anfallartigen Müdigkeit, wie sie ihn nur hier heimsuchte, zu Hause, auf dem Sofa seiner Kindheit: ›Ach Carl, mach dich doch ein bisschen lang. Und hier, nimm noch das Kissen, brauchst du eine Decke? Nimm doch noch die Decke …‹ Erst das Kissen und dann noch die Decke, das hieß: Abwehr jeder Anfechtung, Auslöschung aller Bedrängnis.
Als Carl und sein Vater zurückkehrten aus der Küche, saß seine Mutter auf dem Sofa. Sie wirkte nervös und schlug ruckartig die Beine übereinander. Sie trug das Haar jetzt kurz und glatt wie ein Junge, was sie noch kleiner erscheinen ließ. Trotzdem war leicht zu erkennen, wie viel Kraft in ihr steckte, wie viel Zielstrebigkeit; sein Vater hielt ihn am Arm.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als spielten sie die Szene nur: plötzlicher Aufbruch, Abschied, Flucht – und die Papiere auf der Platte des Schreibschranks, parallel zur Schreibtischkante ausgerichtet. Sie reflektierten das Licht der kleinen, von einer Blende verdeckten Neonröhre, so dass Carl für einen Moment die Augen schließen musste – Grundbuchauszüge, Überschreibungen, ein Schenkungsformular, wonach das alles jetzt ihm gehören sollte. Carl Bischoff, einziges Kind von Inge und Walter Bischoff, geboren 1963 in Gera/Thüringen, »zurzeit Student«; Student war nur dünn und mit Bleistift eingetragen.
»Es wäre schön, wenn du dich darum kümmern könntest, das heißt, wir bitten dich darum.« Oder: »Könntest du dich darum kümmern, das heißt, wir möchten dich darum bitten.«
An den genauen Wortlaut erinnerte Carl sich später nicht mehr, nur an »Bitte« und »Kümmern« und dass er die Übergabe, die in diesem Moment etwas Feierliches hatte, ohne Widerstand geschehen ließ, jedenfalls ohne Erwähnung eigener Pläne. Es war die Wucht des Unbegreiflichen, die ihm die Sprache verschlug und alles in den Schatten stellte.
Das kleine Wort ›Warum?‹ bot sich an, durfte aber nicht sein, im Gegenteil, ›Warum?‹ und jede Antwort, so viel ahnte Carl, würden nur noch tiefer hineinführen in jenen Zustand der Unwirklichkeit, der vollständig wurde, als sich herausstellte, dass seine Eltern es bei ihrem Weggang (sie nannten es so) ab Gießen getrennt versuchen wollten. Vom Zentralen Notaufnahmelager aus sollte es erst einmal jeder für sich allein probieren, »um doppelte Chancen« zu haben. So hatte es seine Mutter ausgedrückt, und das war der Name: »Zentrales Notaufnahmelager«. Ihre Stimme war jetzt um Festigkeit bemüht, aber Carl konnte hören, dass ab Gießen getrennt nicht ihre Idee gewesen war.
»Wir haben uns das gut überlegt.«
Und dann: »Deine Mutter wollte schon immer weg.«
Es gab keinen Zweifel, dass Inge und Walter (seit seiner Jugend war er es gewöhnt, seine Eltern mit ihren Vornamen anzusprechen) in dieses Haus gehörten, in dieses und kein anderes Leben, weshalb Carl begann, über Gefahren und Risiken zu reden, von denen er keine genauere Vorstellung besaß. Seine Mutter sah ihn an.
»Und du, Carl? Wo bist du die ganze Zeit gewesen – ohne ein Wort? Weißt du, welche Sorgen …«
Dann die Übergabe.
Rundgang durch alle Zimmer, Besonderheiten des neuen Ofens, die Elektrik und die Sicherungen, die Verabschiedung von allem. Auf dem Schreibschrank lag ein Briefumschlag. »Fünfhundert Mark«, sagte sein Vater.
»Hast du noch Fragen?«
Es war schon spät am Abend, als sie noch einmal die Garage aufsuchten, die im Tal am Bahndamm lag. Eine Weile standen sie nebeneinander, die Hände im Kegel der Werkbanklampe, während Walter die Ordnung der Werkzeuge erklärte. Im Sommer waren ein paar wichtige, seltene Stücke hinzugekommen, darunter eine Zünduhr und ein Abstandsmesser mit zwanzig Zungen (0,01 bis 0,1 Millimeter), Dinge von unschätzbarem Wert. Es gab größere, gröbere Werkzeuge in den Eisenregalen, aber der kostbarste Teil hing an der Wand über der Werkbank, in Schlaufen aus Wäsche- oder Einweckgummis oder steckte in selbstgefertigten Halterungen aus schmalen, mit Altöl überstrichenen Leisten: Werkzeuge verschiedenster Größen, geordnet zu ansteigenden und abfallenden Linien, die im Gesamtbild eine Art Landschaft (Heimat) ergaben, glänzend und kühl.
Sein Vater trug nicht seinen Blaumann, den er gewöhnlich überzog in der Garage, nur einen Kittel, den grauen, knielangen Kittel, der für die Arbeiten im Haushalt reserviert war. Er nahm einen der neuen Steckschlüssel in die Hand und simulierte seine Funktion. Die erhobene Stimme, die Pausen, das »So« und das »Dann«, die Tonart seiner ausführlichen Erklärungen und die Botschaft, die sich seit Kindheitstagen nicht verändert hatte: Die Welt erforderte Konzentration – und Geduld. Sie war wacklig, anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit, aber reparabel.
»Du weißt, wie lange man braucht, um all das zusammenzutragen?«
»Etliche Jahre«, antwortete Carl.
»Ein Leben lang«, sagte sein Vater.
Zum Zeichen, dass er das begriffen hatte, berührte Carl die Zungen des neuen Abstandsmessers. Der feine Stahl war leicht biegsam und etwas fettig, das Fett roch süßlich, essbar … Hier, im Halbdunkel der Garage, mit einem Werkzeug in der Hand, hätte Carl beginnen können zu reden, sich anzuvertrauen, plötzlich schien das möglich, hier war die Lücke, nur dafür vorgesehen. Er hätte erzählen können, was mit ihm geschehen war im vergangenen Jahr (widerfahren war das alte, genauere Wort). Die Trennung von H. und warum er nicht mehr zum Studium gegangen war und weshalb er sich verkrochen hatte vor der Welt.
Sicher, alles hätte er nicht erzählt. Der Versuch mit den Tabletten. Klinikum Kröllwitz. Die leeren Tage.
Er stellte es sich vor: ein besorgtes Vatergesicht, aber kein Vorwurf; ein Nicken, eine Pause –
»Zum Schluss noch eine Sache am Wagen.«
Carl legte das Werkzeug aus der Hand. Sein Vater forderte ihn auf, hinter dem Lenkrad des Shiguli Platz zu nehmen. Er schaltete die Zündung ein und deutete auf ein Lämpchen unterhalb des Tachometers, das leuchtete oder nicht leuchtete, es ging um das Motorenöl, aber Carl hörte schon nicht mehr, was er dazu erklärte.
Eine Weile saßen sie noch schweigend nebeneinander, im Halbdunkel der schmalen Betonfertigteil-Garage, ohne die sich Carl das Leben seines Vaters nicht vorstellen konnte. Walters Hand lag auf dem schwarzen Armaturenbrett mit der Lederimitation, direkt vor Carls Augen. Als wollte er ihm auch die Hand noch einmal zeigen, zum Abschied. Wie sie der Hand seines Sohnes bis aufs Haar glich, nicht nur in ihrer Gestalt, auch die Zeichnung auf den Innenseiten war identisch, in ihren Händen stand dieselbe Geschichte geschrieben.
»Man fährt nicht mit dem eigenen Wagen vor das Tor eines Flüchtlingslagers, nehme ich an«, sagte sein Vater, dann sagte er nichts mehr. Im Rückspiegel schimmerte die Werkzeuglandschaft. Carl begriff, dass der Abstand, der gewöhnlich zwischen ihnen herrschte, aufgehoben war.
»Nein, ich … Ich weiß«, stammelte Carl, das war alles.
Sein Vater schien noch nachzudenken, stieg dann aber aus, und Carl legte die Arme übers Lenkrad.
Schon als Kind hatte er stundenlang am Steuer des Shiguli gesessen und vor sich hin gebrummt; Kupplung, schalten, Gas. Im Wohnblock gegenüber war ein Licht angegangen. Dort wohnte Effi – Effi Kalász, in die er seit der achten Klasse verliebt gewesen war, ohne es ihr jemals zu sagen.
Carl schlief im Kinderzimmer, auf der sogenannten Jugendliege, einer orange und grün gestreiften Ausziehcouch. Damals, kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, hatten seine Eltern das Zimmer neu eingerichtet. Überraschend war das kommentarlose Verschwinden seines Klappbetts gewesen, ein Bett, das sich tagsüber mit wenigen Handgriffen in einen Schrank verwandeln ließ und von seiner Mutter bei jeder Gelegenheit als »sehr praktisch und vor allem platzsparend« bezeichnet worden war. Tatsächlich blieb zwischen den Möbeln nur ein schmaler Pfad, um von der Tür zum Fenster zu gelangen, unter dem Carls Schreibtisch stand. Das Verschwinden des Klappbetts und das Auftauchen der Jugendliege bewiesen (noch immer) das Ende seiner Kindheit.
Carl sah sich um. Die einzigen Bücher, die sich im Haushalt seiner Eltern befanden (von den Fachbüchern seines Vaters über Rechenmaschinen und Programmiersprachen abgesehen), standen jetzt im Regal über der Jugendliege: Meyers Lexikon in neun Bänden plus Ergänzungsband, ein Duden, ein Fremdwörterbuch und zwei kleine Enzyklopädien (eine zur Natur und eine zur Geschichte). Alles andere war unverändert geblieben. Unverändert auch das nächtliche Licht-und-Schatten-Spiel an der Zimmerdecke, die Geräusche der Straße, die Stimmen aus den Hauseingängen. »Die Revolution wird siegen«, hatte jemand mit roter Farbe an den Sockel des Wohnblocks gegenüber gesprüht.
Vor dem Einschlafen hörte Carl Schritte von oben, schwere Schritte, keine Mädchenschritte: Kerstin Schenkendorff, die Tochter des Hausbuchführers, der in der Wohnung über ihnen wohnte, war einige bedeutsame Jahre älter gewesen als Carl, was mochte aus ihr geworden sein? Die Nacht mit der Geschichte fiel ihm ein. Inge und Walter waren ausgegangen, was selten vorkam. Eigentlich galt Carl als ein Kind, das stolze Eltern einen »sicheren Schläfer« nennen, aber diesmal hatte es ein Monster gegeben, einen Drachen, der ihn unerbittlich und voller Fresslust verfolgte. Carl schrie und erwachte, schweißgebadet. Er rannte ins Schlafzimmer, aber es war niemand da. Er lief durch die Wohnung: niemand. Nur der Drache, der sich noch irgendwo verbarg, weshalb Carl fliehen musste, aber die Wohnungstür war verschlossen. Er hatte gegen die Tür gehämmert und gerufen, vielleicht auch gebrüllt, und dann, irgendwann, war draußen auf der Treppe die Stimme Kerstin Schenkendorffs gewesen. Sie sprach ihm gut zu, sie beruhigte Carl und fragte, »ob es nicht schön wäre mit einer Geschichte«. Carl hockte drinnen, wimmernd, im Schlafanzug, er presste das Ohr an die Tür, er schmiegte sich an (liebe Tür) und hörte das leise Rauschen des Hauses und dann, dahinter, die Geschichte, die ihm Kerstin zu erzählen begann und immer weitererzählte, so lange, bis er eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen fuhr Carl seine Eltern zur Grenze. Noch vor Sonnenaufgang hatte sein Vater das Auto aus der Garage rangiert und ihm den Schlüssel neben den Teller gelegt. Carl sah den Schlüssel, und auf gewisse Weise machte ihn das stolz, obwohl er wusste, dass das, was hier geschah, eigentlich nur falsch sein konnte. Waren das nicht seine Eltern? Mit einem stillen, bis ins Letzte geregelten Alltag und darin mit einer speziellen Liebe zu Ordnung und Wiederholung? Ein paar Sprachhülsen aus seiner Schulzeit flogen vorüber: »Die historische Situation, der historische Moment …« Der historische Moment hat euch den Kopf verdreht, so sah es Carl, aber das sagte er nicht. Er fühlte sich nicht überlegen, eher ratlos.
Eine Möglichkeit war, sich weiterhin als ihr Kind zu begreifen. Eltern wussten, was sie taten, und die Weisheit ihrer Entschlüsse würde sich früher oder später noch erweisen. Sie würde sich herausstellen, so, wie es immer gewesen war. Und schließlich konnte man das alles auch ganz anders sehen: Auf ihre Weise trugen Inge und Walter zum Umsturz bei, der überall im Gange war. Sie erschienen nicht mehr auf ihrer Arbeit, sie verließen ihren Platz und rüsteten zur Flucht, wenn man es so nennen wollte. Seine Eltern! Sie waren die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen konnte.
Beunruhigend war die Sache mit dem Akkordeon. Sein Vater hatte den alten schwarzen Kasten mit dem Instrument aus dem Keller geholt. Er hatte Riemen angepasst, die es erlaubten, das sperrige Ungetüm auf dem Rücken zu tragen; er wollte es mitnehmen, so viel war klar, aber wozu? Carl wusste, dass das Instrument seinem Vater gehörte, aber er hatte ihn niemals spielen sehen. Wie so vieles im Keller stammte es aus einer Vorzeit, die im Dunkeln lag.
»Warum willst du das mitschleppen, Walter?« Es berührte Carl unangenehm, diese Frage stellen zu müssen. Geradeso, als halte er einem Kind den Spiegel vor und riskiere, es mit einem Schlag unglücklich zu machen.
»Um darauf zu spielen, ab und zu«, antwortete sein Vater. »Ich denke, ich fange wieder damit an.«
Das Frühstück wie üblich: Rahmbutter, Schnittkäse und aufgebackene Brötchen aus dem Backwarenkombinat Gera, wo seine Mutter (bis zum Vortag) gearbeitet hatte, in einer kleinen vierköpfigen Abteilung, die verantwortlich war für die Erfindung neuer Rezepte. Vier Feinschmecker, wie seine Mutter betonte, darunter zwei Konditoren (es klang wie Doktoren, wenn seine Mutter es aussprach), Meister ihres Fachs, mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Ihr Auftrag war, kostbare Rohstoffe einzusparen und dafür einen »Ersatz« zu kalkulieren. Statt Mandeln zum Beispiel Apfelkerne. Und grüne Tomaten statt Zitronat und so weiter. Im vergangenen Jahr hatte man auch den Begriff »Ersatz« ersetzt, jetzt hieß es »Austausch«. Wenn das kleine Kollektiv beieinandersaß und sich den Kopf darüber zerbrach, was wogegen ausgetauscht werden könnte, machte Inge die Notizen, seine Mutter war die Schriftführerin, sie schrieb alles mit, jeden noch so abwegigen Vorschlag. Oft wurde sehr lange und ernsthaft diskutiert und schließlich die »Austausch-Kalkulation« vorbereitet. Am Tag der Verkostung traf man sich wieder. Natürlich habe man dann keine übergroßen Erwartungen gehabt (so hatte es seine Mutter ausgedrückt), aber doch eine gewisse Hoffnung (utopisch, schwer begründbar, vielleicht wie sie Alchemisten hegen, wenn sie am Ende ihres Experiments den Deckel heben), immerhin hatten alle sich bemüht, lange nachgedacht und etwas gewagt.
»Man schaut dann irgendwohin und kaut«, so erzählte es Inge. »Man kaut und kann sich nicht mehr in die Augen sehen, und keiner möchte etwas sagen.«
Carls Mutter litt darunter. Sie hatte das Handwerk auf dem Bauernhof erlernt, bei ihrer eigenen Mutter. Sie hatte schon als Mädchen viel und gern gebacken – zwanzig Sorten Kuchen zu jedem Fest, die dann auf wagenradgroßen Kuchenbrettern im Gewölbe standen, im sogenannten Kuchenregal. Carl erinnerte sich gut daran – der seltsame Huckelkuchen (auch Kamelkuchen genannt), der sagenumwobene Käsekuchen (ein Mythos, über den immer alle sprachen am Tisch) und die Suche nach der Etage mit dem Schokoladenstreuselkuchen, der für Carl-das-Kind der wichtigste war.
Nach Ansicht seines Vaters musste es zuallererst darum gehen, schnellstmöglich die Grenze zu überschreiten. Er sprach vom Auftritt Willy Brandts vor dem Schöneberger Rathaus, es war in allen Nachrichten gewesen. Etwas in der Rede hatte ihm mitgeteilt, dass die Öffnung der Grenze nur von kurzer Dauer sein würde. Er erklärte es Carl nach den Gesetzen der Strömungslehre, »da brauchst du nur ein bisschen Physik, ein simpler Trick, um Druck abzubauen«. Und die Russen seien schließlich auch noch da. Das war sein stärkstes Argument.
Für den Grenzübertritt hatte er Herleshausen ausgewählt. Von dort würden dann Busse fahren, einen Bahnhof in der Nähe gab es auch. Schon in der Nacht hatte es zu regnen begonnen, inzwischen goss es in Strömen. Carls Mutter sagte: »Der Himmel weint«, sie sah darin ein Zeichen – wofür genau, blieb ihr Geheimnis.
Während der Fahrt wurde wenig geredet, es herrschte Fluchtdisziplin, Konzentration auf das Wesentliche. Carl war der Fluchtwagenfahrer, im Wagen zwei Flüchtlinge, die Richtung Westen geschleust werden mussten. Eigenartig: Es handelte sich um seinen Vater auf dem Beifahrersitz. Und die Frau auf der Rückbank war seine Mutter, die jetzt noch einmal alle Unterlagen kontrollierte, verpackt in einen Plastikbeutel, um den ein Haushaltsgummi gewickelt war.
›Du fährst zu weit rechts. Du fährst wieder sehr mittig, Carl. Nicht so schnell, bitte …‹ Nichts, keine einzige Bemerkung. Carl wartete darauf, ab Hermsdorfer Kreuz wünschte er es sich.
Das sanfte Ziehen der thüringischen Hügel links und rechts der Autobahn. Der Blick auf die Straße, die mit Teer geflickten Risse im Beton, ihre Spinnengestalt. Der Shiguli überrollte große schwarze Spinnen, dazu die Absätze zwischen den Platten, das rhythmische Schlagen der Reifen – ein Urwaldgeräusch und ein seltsamer Gedanke: Vielleicht war das, was er bisher getan hatte in seinem Leben, doch nicht so falsch und vergeblich gewesen. Es ist nur meine eigene Fahrweise gewesen, dachte Carl, sehr grob und vereinfacht gesagt.
Zu ihrem gedanklichen Vorlauf, wie Carls Mutter es nannte, gehörte, sich beim Optiker Wunderlich auf der Sorge (Sorge hieß der zentrale Boulevard von Gera) eine neue, bessere Brille machen zu lassen, für das Kleingedruckte in den Formularen, die sie drüben, wie sie glaubte, in Unmengen würden ausfüllen müssen. »Bärbel, ich bekomme eine Kur und brauche eine Brille«, so erklärte es Inge ihrer Optikerin, die ihr diesen Wunsch dann praktisch über Nacht erfüllt hatte. Zudem hatte Inge zwei stabile Rucksäcke gekauft, sogenannte Jägerrucksäcke, »um, was wichtig ist, immer eine Hand frei zu haben unterwegs, verstehst du, Carl?« Sie war aufgeregt und wiederholte den Satz: »Man muss immer eine Hand frei haben.« Sie hatte Listen gemacht und sich Situationen vorgestellt. Dazu gehörte, dass sie »im Lager«, wie sie es nannte, nachts einen Schlafanzug tragen würde und kein Nachthemd wie gewöhnlich; die Toiletten befänden sich sicher auf dem Flur, am Ende irgendeines Korridors, eventuell sogar auf dem Hof, den man dann zu überqueren hätte in der Nacht, vielleicht unter den Augen einer Lagerwache oder anderer Flüchtlinge, die allein von der Aufregung reihenweise dorthin getrieben würden, und ja: Schlangen würde es ohnehin überall geben, beim Essen, bei den Pässen, für jeden Stempel, jede Bescheinigung: »Aber da müssen wir jetzt durch, entweder oder, verstehst du, Carl?«
Ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre Formulierungsgabe. Carl wusste, dass seine Mutter keine Berührungsängste hatte, wenn es darum ging, ein von ihr anvisiertes Ziel zu erreichen. Bei den Nachbarn war sie beliebt, sogar bei Schenkendorff. Ach, all die Freunde, Kollegen, Nachbarn, die nun, nach Jahrzehnten erprobter Gemeinschaft, wortlos zurückgelassen werden mussten, ohne Abschied, ohne Gruß, ohne Zettel und selbstgebackene Plätzchen in der Serviette, wie sie seine Mutter immer gern verteilt hatte an Haustüren und Schreibtischen, »als kleine Aufmerksamkeit«, wie sie es nannte.
Alles aufgeben, weggehen.
Obwohl die Dinge, die geschahen, schwerwiegend und einschneidend waren, erinnerte sich Carl später nur sehr ungenau an ihre Gespräche; vielleicht stand er doch unter Schock. Er akzeptierte ihre Entscheidung, er respektierte sie, was sonst? Und letztlich: Wer konnte schon wissen, was einmal richtig oder falsch sein würde?
Am Abend zuvor war dies und jenes zur Sprache gekommen, aber nichts, was Carl eingeleuchtet hätte. Ein paar nützliche Formulierungen standen bereit – ›Ein Leben lang nur eingesperrt‹ und so weiter, was allgemein zutraf, aber davon machten seine Eltern keinen Gebrauch, es war nicht der Grund. Carl hatte verstanden, dass es mehr sein musste, etwas, das noch einmal alles sprengen konnte (und sprengte), obwohl der Plan für den Rest des Lebens doch längst ausgearbeitet gewesen war und sicher irgendwo gut verwahrt bei den Dokumenten lag, auf dem Boden der Kassette im Schreibschrank oder sonst wo.
Immer deutlicher wurde, dass Carl im Grunde nicht viel über seine Eltern wusste und nur ein paar blasse, kindliche Bilder mit sich herumtrug aus dem Album seiner Schulzeit und Jugend. Hatte er je wirklich über sie nachgedacht? War es die Aufgabe von Kindern, wenn sie erwachsen wurden, über ihre Eltern nachzudenken? Und wenn, wann sollten sie damit beginnen? War Mitte zwanzig dafür schon zu spät?
Er starrte hinaus auf die Fahrbahn. Links und rechts die thüringischen Hügel. Die Eltern verlassen das Elternhaus – in diesem Moment war das ein sehr seltsamer und trauriger Satz. Früher, dachte Carl, war das Verlassen den Kindern vorbehalten gewesen. Die Kinder zogen in die Welt, nicht die Eltern. Und dann, zweitens, machten sich die Eltern Sorgen um ihre Kinder und so weiter.
Der Grenzübergang war bevölkert: Spaziergänger, Neugierige, Autoschlangen und Fußgängerströme – das Land schien sich aufzulösen in einer einzigen Wanderschaft. Darunter nicht wenige mit Rucksäcken und Koffern, junge kräftige Wanderer, die wie auf Verabredung zusammenfanden und sich unterstützten, niemand im Alter seiner Eltern. Mit dem großen schwarzen Akkordeonkasten auf dem Rücken sah sein Vater wie ein Kriegsvertriebener aus, der versuchte, ein Stück Hausrat zu retten. Dazu passend ragten die Ruinen einer unfertigen Autobahnbrücke aus dem Tal. »Die können jetzt weitermachen«, murmelte sein Vater. Das war eine seltsame Bemerkung, wenn er doch davon ausging, dass sich die Grenze bald wieder schließen würde. Im Hintergrund, am Fuß eines Wachturms, sah man Soldaten, die Maschinengewehre lässig vor der Brust, und insgeheim gab Carl seinem Vater recht: Der ganze Apparat konnte jederzeit wieder in Betrieb genommen werden.
Noch einmal schlug Carl vor, bis nach Gießen zu fahren, ins Zentrale Notaufnahmelager. Wie durch einen Tunnel sah sein Vater zu ihm herüber. Spontane Änderungen waren ausgeschlossen – wenigstens in diesem Punkt verlief alles wie gewohnt. Das Leben seiner Eltern würde sich ändern, für immer, so viel stand fest, aber der Umsturz erfolgte nach den alten Regeln. Und unklar war, ob sie sich jemals wiedersehen würden.
Dann der Abschied. Ein provisorischer Parkplatz, eigentlich war es nur ein Stück Wiese, morastiges Weideland, dunkler, trauriger Boden. Seine Eltern trugen ihre grünen Plastik-Regencapes aus den Bergurlauben in der Hohen Tatra, die sie und ihre Rucksäcke verhüllten und ihnen die Gestalt von Kosmonauten verliehen, die sich trotz widriger Umstände anschickten, einen neuen, fremden Planeten zu betreten. »Was haben wir für wunderbare Touren gemacht!« Der Satz nach jedem Urlaub. Seine Mutter trug auch die Tatra-Wanderschuhe aus rauem braunen Wildleder (die dicken Sohlen, das zackige Profil), und erst jetzt bemerkte es Carl: auch das karierte Wanderhemd unter ihrem grauen Westover, gekauft in Tatranská Lomnica, unweit der slowakischen Berghütte, wo sie sich all die Jahre eingemietet hatten, mit einem Koffer voller Tütensuppen, Käsebüchsen und hausschlachtener Leberwurst. Seine Eltern waren immer sehr sparsam gewesen. Jetzt ließen sie alles zurück. Und nahmen den Westen in Angriff. Wie eine ihrer Wandertouren.
Am Ende umarmten sie Carl: steif und etwas fremd, die feuchten, kühlen Regencapes wie eine letzte Zurückweisung, ganz ungewollt, und vielleicht hatte er deshalb mit den Tränen zu kämpfen. Als er den Wagen startete, begann das Winken, seine Eltern winkten, und als er losfuhr, winkten sie noch immer, und auch im Rückspiegel sah Carl sie noch winken, und er winkte ebenfalls, seitlich zum Fenster hinaus, mit ausgestrecktem Arm, wobei sein Pullover nass wurde vom Regen. Winken, so lange, bis der andere verschwunden ist und am besten noch ein wenig darüber hinaus – so war es Tradition in ihrer Familie. Später, im Traum, sah Carl sie alle noch einmal dort stehen, winkend, seine Eltern an ihrem und er an seinem Platz, schon weit voneinander entfernt und jeder in seinem eigenen Leben: Hier bin ich, das war ich, auf Wiedersehen, ihr Lieben.
›Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‹ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.