Maylis de Kerangal

Porträt eines jungen Kochs

Roman

Aus dem Französischen
von Andrea Spingler

Suhrkamp

Porträt eines jungen Kochs

1

Berlin – Döner Kebab

Ein Zug rollt auf Berlin zu. In ordentlichem Tempo durchquert er eine flache Landschaft mit dampfenden Feldern, mit Flüssen, es ist Herbst. Am Fenster eines Wagens der zweiten Klasse sitzt der junge Mann, zwanzig, schmal, spärliches Gepäck, ein Buch in der Hand – ich sitze ihm gegenüber, entziffere den Titel auf dem Umschlag, Die klassische Küche, Techniken und Grundzubereitungsarten, Kochanleitungen, erkenne drei stilisierte Kochmützen auf blau-weiß-rotem Grund, hebe dann den Hintern vom Sitz und beuge mich vor, kippe fast Kopf voraus ins Buch, auf die Tafeln, wo sich Bildchen mit kursiv gedruckten Legenden aneinanderreihen, Schritt-für-Schritt-Fotos, die kein menschliches Gesicht zeigen, keinen menschlichen Mund, aber Oberkörper und Hände, ja, Hände mit sauberen, kurzen Nägeln, Hände, die Gerätschaften aus Metall, Glas oder Plastik handhaben, Hände in Gefäßen, Hände, verlängert von Klingen, alle Hände festgehalten in einer Geste.

Der junge Mann blättert in seinem Buch, schlägt es hier und da auf, springt vom Inhaltsverzeichnis zum lexikalischen Teil, vom Vorwort zum Anhang, er hantiert mit dem Buch. Er tastet sich heran, noch ohne richtig zu lesen, als wüsste er nicht, wie er anfangen soll – tatsächlich glaube ich, er weiß eigentlich gar nichts, nicht mal, was er an diesem Tag, zu dieser Stunde in diesem Zug macht, und fragte man ihn jetzt, auf der Stelle, warum Berlin?, dann, stelle ich mir vor, würde er mit den Schultern zucken, die Augen schließen, seinen Kopf an die Lehne zurücksinken lassen und in sich gehen. Das Einzige, was er sicher weiß, ist, dass er in diesem Abteil sitzt, versunken in glänzendem Kunstleder und Messing, in dieser Atmosphäre der Abgeschiedenheit – mollige Wärme, Putzmitteldünste –, mit den Füßen auf dem Teppichboden; das Einzige, was er mit Sicherheit empfindet, ist die Stärke der Maschine, die ihn trägt und die fährt. Die graue Landschaft quer vor dem Fenster ist eine alte Matratze, der Junge klappt das Buch zu und schläft ein.

Es ist frostig in Prenzlauer Berg in jenem Oktober 2005, als Mauro, Reisetasche über der Schulter, ein paar Stunden später den Bahnhof durchmisst und zu Fuß in die Lottumstraße geht, wo die günstige Mietwohnung eines Kumpels sogar noch für die beiden zu groß sein wird. Das Treppenhaus hallt, und die Wohnungstür steht offen. Mauro tritt ein, ruft, keiner da, und setzt sich im Anzug auf den Parkettboden, in die Nähe eines gusseisernen Kohleofens, der verziert ist wie ein Brunnen. Er schaut sich um, ein paar Flohmarktmöbel gliedern die Leere, er reibt sich die Hände, er merkt, dass er Hunger hat. Er ist für drei Monate hier.

Aus dieser Berliner Periode erinnert sich Mauro an fahle, kalte, leere Tage und dunkle, heiße, übervölkerte Nächte – ein Gleichgewicht, das ihm passt. In den ersten Wochen beeindruckt ihn die verfügbare Zeit tagsüber, fasrig wie Glaswolle. Einsame Stunden in der Wohnung, wenn Joachim – der Mitbewohner – in einer angesagten Bar auf der Rosenthaler Straße arbeitet; schwebende Stunden, da die kleinste Bewegung von ihm das ganze Haus knacken lässt, so dass er die Musik auf höchste Lautstärke stellt, um nichts zu hören, und in dieser Klangmasse badet, bis er sie gegen die ganz ähnliche in der Bar eintauscht, wo er zur vereinbarten Zeit hingeht, um die anderen zu treffen. Dort hängt er an den Gesten, den Ausdrücken, den Gesichtern um ihn herum, denn er spricht kein Wort Deutsch, und tummelt sich bis zum Tagesanbruch zwischen den ausgelassenen Körpern.

Doch eines Morgens rührt er sich, schüttelt sich, ein Fohlen. Schlingt ein Stück Schwarzbrot hinunter, einen Kaffee, und los geht’s. Er macht einen Erkundungsgang, Mantel gut zugeknöpft, Kragen hochgeschlagen, weniger als zehn Euro in der Tasche, und sein Schritt ist jetzt der eines Fährtensuchers, so entschlossen wie sein Weg zufällig. Am nächsten Tag beginnt er von vorn und am übernächsten wieder. Berlin auf dem Asphalt durchdekliniert im Uhrzeigersinn: Pankow, Friedrichshain, Schöneberg, Dahlem, Charlottenburg, Tiergarten – er strapaziert seine Turnschuhe, er hat Blasen an den Fersen, und wenn ich ihn abends von meinem Fenster aus zurück in die Lottumstraße kommen sehe, fällt mir auf, dass er ein wenig hinkt, und ich erinnere mich an einen Absud aus Salbei und grünem Tee, in dem man Füße mit brennenden Sohlen baden kann.

Die Stadtwanderungen werden unterbrochen durch kurze Pausen auf ein hastiges Bier in den Cafés von Neukölln, Pausen, die sich länger hinziehen, wenn man zur Mittagszeit vor den Kebabs Schlange stehen muss – da keuchen sie in der schneidenden Kälte, treten von einem Fuß auf den andern, hüpfen mit verschränkten Armen, Hände unter den Achseln, auf der Stelle. Der Döner ist eine Berliner Institution, und es gibt mehr Kebab-Buden in der Stadt als McDonald’s – Mauro wird im Lauf seines Aufenthalts mehr als dreißig durchprobieren und schließlich seinen Lieblingsdöner küren, der in einem Wagen an der U-Bahn-Station Mehringdamm zubereitet wird. Knusprig durch die Fleischscheiben, süß durch die gegrillten Zwiebeln, knackig durch die Pommes, weich durch das Brot, sämig durch die fette Soße, von der das Ganze getränkt ist, und heiß, heiß, heiß: der perfekte Brennstoff.

Diese Märsche, dazu da, die Stadt zu erkunden, sich ein Bild von ihr zu machen, sind auch eine Art und Weise, sich einen Denkraum zu öffnen: Wenn sein Körper in der eisigen Luft dampft, wenn er sich einen Weg bahnt durch das Labyrinth einer im Wandel begriffenen Stadt, dann ist es sein Leben, das Mauro sich vorstellt und erkundet, dann ist es sein Leben, über das er sich klar wird.

Kilometer um Kilometer lässt er die letzten Jahre Revue passieren. Die Semester Wirtschaftswissenschaften in Censier bis zum Examen, das er schafft, weil er sich am Tag vor den Klausuren auf den Hosenboden setzt, einziger Intensitätsschub in einem transparenten, wattigen Studienjahr; kollektives Herumhängen, köstliches Versumpfen, der Rauch der Joints vernebelt die Tage, verdunkelt die Nächte, alles treibt dahin und nichts bleibt im Gedächtnis hängen – verdammt, wo sind bloß die Jahre geblieben? Das Lissaboner Intermezzo wie eine sonnengetränkte Orange, die Wirtschaftshochschule für die bourgeoisen Erben des Systems lässt er links liegen und macht lieber Erfahrungen mit dem Gemeinschaftsleben, Mitbewohner, die nur ans Essen denken, feiern Gelage von vier bis fünf Stunden, wobei ununterbrochen geredet wird, in einem Sprachengemisch aus Baskisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch – und Mias Zunge mischt sich mit seiner; Mauro kocht gigantische Aufläufe für die Runde, Zitronenpudding, Arme Ritter, Suppen und Brühen aller Art; unentwegt werden hausgemachte Marmeladen und Würste vom Bauern beschafft, in Zeitungspapier eingewickelte, auf dem Grund von Sporttaschen transportierte Schätze. Im Sommer die Rückkehr, das Erasmus-Kapitel ist abgeschlossen und der Master geschafft, bye-bye Lissabon, Ende des Liebesfests und plötzlicher Einbruch der Leere, undurchsichtige Zukunft, Grübeln und Misere, auf dem Rückweg macht das Auto schlapp im Hof eines Bauernhauses der Charente, wo sein Cousin mit Jeanne lebt. Es ist Hochsommer, das Land zirpt, träge, Mauro dreht sich zwei Monate im Kreis, planlos, aber mit einer Gewissheit: Er wird im Herbst nicht an die Uni zurückkehren.

In diesem Stadium seiner Berlinerkundung legt Mauro öfters eine Pause ein, betritt die erste Kneipe, die er auf seinem Weg findet, sichtet einen Tisch bei der Tür: Jeanne, er denkt an sie.

Strohhut auf dem Kopf, ausgefranste Jeansshorts über Sprinterinnenbeinen, kleine Füße in Lederballerinas und unermüdlich im Einsatz – Schafe, Hühner, Schweine, Gemüsegarten. Er schaut ihr nach, wenn sie über den Hof geht, einen Spaten in der Hand, konzentriert. Er hört ihr zu, wenn sie sich vor die Küchentür setzt, eine Zigarette rollt und ihn fragt: Du studierst also Wirtschaft? Da zuckt er zusammen, nickt, wie sie mit dem Rücken an die warme Wand gelehnt, ein Bier in der Hand. Jeanne interessiert sich nämlich für Ökonomie, beteiligt sich an den Debatten in den Blogs, in den Foren, liest die Theoretiker des Nullwachstums, verfolgt die neuen Trends der biologischen Landwirtschaft. Sie lächelt: Übrigens, abgesehen von Wein und Zigaretten wird das meiste, was wir hier essen, auch das Fleisch, an Ort und Stelle produziert, ist dir das eigentlich aufgefallen? Mauro schüttelt den Kopf, nein, ihm ist nichts aufgefallen.

n diesem Novembermorgen streckt Mauro in der dämmrigen Wohnung der Lottumstraße, wo das Kondenswasser über die Fenster rinnt, einen Arm unter dem Federbett hervor und greift in seine Reisetasche, wedelt mit der Hand darin herum, als prüfte er die Temperatur in einer Badewanne. Bei seinem Stöbern, mit dem er ein paar Euro zu Tage fördern will, streift er den kalten Schutzumschlag eines der Kochbücher, das er vergessen, nie aufgeschlagen hat. Er nimmt es heraus, betrachtet es erstaunt, als hätte er es aus der Tiefe der Zeit an die Oberfläche der Gegenwart gehoben, dann steht er auf und macht sich auf den Weg in die Bibliothek am Wasserturm an der Prenzlauer Allee – in welchem Augenblick, in welchem Augenblick genau stabilisiert sich der Lauf des Lebens, entscheidet sich für diese Option als mögliche oder wünschenswerte Zukunft, diese und nicht jene, diese und keine andere? Während seines Aufenthalts in Berlin, denke ich oft, von dem er allerdings nur ein Gefühl von Kälte und weiten Entfernungen zurückbehielt, hat Mauro angefangen, erwachsen zu werden, das Königreich der Jugend hinter sich zu lassen. Jetzt findet er einen Platz im Lesesaal und beginnt mit der Lektüre. Der Ort ist modern, hell, ruhig. Es ist warm.