Alexi Zentner

Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence

Suhrkamp

Liebe Leserinnen und Leser, als ich aufwuchs, war meine Mutter eine in unserer Gegend bekannte Aktivistin, die sich gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzte. Sie und mein Vater waren beide Sozialarbeiter, und sie hatten ein Büro in einem alten viktorianischen Haus direkt neben dem, in dem wir wohnten. Oft, wenn ich nach Hause kam, besprach sich meine Mutter gerade mit Aktivisten oder Mitarbeitern der Gemeinde. Meine Mom war sehr klein, aber voller Energie. Ich habe miterlebt, wie sie dreimal größeren Männern eine Heidenangst einjagte. Mein Dad war so unerschrocken wie sie, und beide lebten aus der Überzeugung heraus, dass man Rassisten entgegenzutreten hatte, damit alle ihre faire Chance bekamen.

Im Jahr meines achtzehnten Geburtstags – nach Jahren voller Angiffe und Drohungen – warf eine Neonazi-Gruppe eine Brandbombe in das Haus meiner Eltern. Wir bauten alles wieder auf, und meine Mutter setzte sich umso nachdrücklicher für ihre Überzeugungen ein. Dann wurde das Büro ein zweites Mal in Brand gesteckt. Verhaftet wurde nie jemand.

Was meiner Familie damals zustieß, fühlte sich extrem an, und White Supremacy war zu jener Zeit nur ein leises Pfeifen im Gegensatz zu dem offenen Gebrüll von heute. Mit diesem Roman wollte ich näher untersuchen, wie sich, während wir heranwachsen, unser Moralbewusstsein verändert und festigt. Ich wollte erkunden, wie Hass die Liebe verkompliziert, wie die Liebe uns blind machen kann für die Gefahren um uns herum und wie Rassismus und Hass auch in den Leben derer wirken, die denken, sie haben sich auf niemandes Seite geschlagen.

Praktisch mein ganzes Leben habe ich über diese Geschichte nachgedacht, und die Situation und die Zeit, in der wir mittlerweile leben, haben mich dazu getrieben, sie aufzuschreiben. Das hat mir nicht unbedingt mehr Sicherheit gebracht, aber geholfen, die Fragen zu formulieren, die mich immer schon verfolgten. Ist Hass so kompliziert wie die Liebe? Was, wenn ich ein anderer Junge gewesen wäre? Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich mit einem anderen Leitstern aufgewachsen wäre? Wäre ich in der Lage gewesen, mich von fanatischen Einflüssen zu befreien? Wer wäre ich heute, als Erwachsener? Was ist nötig, um ein guter Mensch zu sein, zu werden? Und was für Fehler machen wir, was für Narben tragen wir auf dem Weg dorthin davon?

Danke, dass Sie dieses Buch lesen.

 Alexi Zentner

Für meine Mutter, aus all den offensichtlichen Gründen – und aus ein paar weniger offensichtlichen.

T minus null Wütend reißt er am Steuer. Er kommt nicht schnell genug weg. Der Wagen stößt vor, ein von einer Tarantel gestochenes Tier. Schnee und Eis spritzen unter den Rädern weg wie der Fluch aus dem Mund eines Lehrers, wie durch die Luft sprengender Schrot, der die Brust einer aus dem Wasser auffliegenden Ente zerfetzt. Das leichte, federnde Ende des Pickup schleudert herum.

Er spürt das Geräusch des Aufpralls so sehr, wie er es hört, eine Cola-Dose, die von einem Fuß zertreten wird. Es sind zwei verschiedene Geräusche, das schwere Auftreffen des Stiefels und das dünne Knirschen des nachgebenden Metalls.

Nur, dass da niemand eine Dose zertreten hat. Er weiß sofort, was es ist, steigt mit aller Kraft auf die Bremse, und sein Pickup-Truck bleibt so abrupt stehen, wie er losgeschossen ist. Er sitzt da. Die Musikanlage schallt laut in die Stille, er stellt sie aus, aber der Scheibenwischer schabt noch über die Windschutzscheibe, und er schaltet auch ihn aus, dann den Motor.

Es ist zu still. Wenn alles wieder in Ordnung kommen sollte, müsste er etwas hören. Eine Stimme. Ein Geräusch. Irgendetwas. Aber da ist nur ein Echo, eine Erinnerung, der Unterton, der den Aufprall begleitete, das Eindrücken von Metall, die unvermeidliche Schwäche eines menschlichen Körpers. Er wünschte, es wäre nur eine leere Dose gewesen. Aber er weiß, es war ein Mensch.

Er steigt aus. Er bewegt sich so langsam, wie er nur kann.

Er hat einmal ein Reh überfahren, nicht lange nachdem er den Truck zum Laufen gebracht hatte. Aber das war anders. Das Tier lief in die Spur, blind und verzweifelt. Er hatte kaum Zeit, auf die Bremse zu treten, bevor der Kotflügel ihm den Leib aufriss. Er hielt, lief zurück zu der Stelle, wo das Reh lag, und es lebte es noch. Eine Art Wunder.

Die falsche Art Wunder. Die Innereien quollen auf den Asphalt, das schwache Natriumlicht der Laternen ließ alles verschwimmen. Der Atem des Rehs ein verzweifeltes Pfeifen. Der rechte Hinterlauf kratzte kraftlos über die Erde, das Reh versuchte aufzustehen. Ein, zwei Minuten stand er so da, dann ging er zurück zu seinem Wagen. Hätte er sein Jagdmesser dabeigehabt, hätte er Gnade walten lassen können, aber so konnte er nur nach Hause fahren und das zum Teil schon angebackene Blut vom Blech spritzen. Er brauchte eine Zange, um ein Stück Fell aus dem zerdellten Kotflügel zu lösen.

Er nimmt den langen Weg vorne um den Truck, fährt mit der Hand über die Haube und betrachtet die Stelle, wo er das Reh erwischt hat und das Blech immer noch hässlich verformt ist.

Als er um das Auto herum ist, hebt er den Blick. Der Körper liegt fünf, sechs, sieben Meter hinter der Ladefläche. Er weiß, es ist ein Mensch, doch im verschatteten, falschen Licht aus dem Haus könnte es alles sein. Er will, dass es etwas anderes ist. Eine Cola-Dose. Ein Reh. Aber es ist und wird es bleiben, unerbittlich, der tote Körper eines Menschen.

Minus zehn Halloween ist vorüber. Es ist November, und kaum zu glauben: Jessup spielt immer noch Football. Zum ersten Mal in vierzig Jahren hat es die Cortaca Highschool in die Playoffs geschafft. Jessup steht kurz vorm Schulabschluss. Er ist siebzehn und ein Koloss. Er war schon athletisch, als er jünger war, aber jetzt ist er richtig in seinen Körper hineingewachsen. Hat die ganzen vier Jahre in der Schulauswahl gespielt. Vier Jahre voller Rotz und Blut. Im ersten, zweiten, dritten Jahr sind sie vor den Playoffs rausgeflogen, aber diesmal haben sie nur zwei Spiele verloren. Heute Abend geht es gegen die Kilton Valley High. Gewinnen oder einpacken.

Seine Stollen klackern und platschen über den nassen Beton, als er ins Stadion trabt. In der letzten Nacht hat es zu regnen begonnen, und es war den ganzen Tag nur knapp über null. Er hat den kommenden Schnee riechen können, noch bevor er aus dem Haus ist. In der Schule, in Mathe und Englisch, ließ die vertraute Lust auf das Spiel seine Knie auf und ab tanzen. Jessup sah aus dem Fenster und wartete auf die Entscheidung des Himmels, den Regen in Schnee zu verwandeln. Jetzt, wo die Sonne weg ist, hat der sich weder für das eine noch das andere entschieden. Eisregen. Aber Jessup spürt, wie die Temperatur weiter fällt. Bald schon wird wasserschwerer Schnee aus dem Eisregen werden.

Er läuft in der Mitte einer Meute junger Kerle ins Stadion. Vom Bürgersteig geht es auf den geteerten Parkplatz und auf eine Pfütze voller Matsch zu. Die anderen springen rüber oder tanzen drum rum, nicht Jessup. Er läuft geradeaus, macht wegen nichts einen Schlenker. Tritt mitten in den Matsch. Das eisige Wasser klatscht ihm um die Knöchel und dringt durch die Socken. Es ist ihm egal. Er wird sowieso bald klatschnass sein.

Vor ein paar Tagen war es noch warm. Die Mütter Cortacas sorgen dafür, dass die Halloween-Kostüme ihrer Kinder auch mit Winterjacken, Mützen und Handschuhen getragen werden können, und meist sehen die Monster und Kobolde ihren Atem in der Luft hängen. In diesem Jahr jedoch haben die Kürbislaternen Schatten in einen Herbstabend voller Wärme geworfen, die einfach nicht aufhören wollte. Jessups Schwester Jewel ist elf und geht in die sechste Klasse, im Februar wird sie zwölf. Alt genug, um fast zu alt fürs Klingeln an den Türen zu sein, alt genug, um allein mit ihren Freundinnen und Freunden loszuziehen, doch Jessup ist mitgekommen. Hat sie mit seinem Truck in die Stadt gefahren und ist mit ihnen gegangen, hat aber auf dem Bürgersteig gewartet, wenn sie zu einer Haustür liefen. Völlig zufrieden in seinem T-Shirt, obwohl es Ende Oktober war. Ich hab nur ein Auge auf euch, sagte er. Ich will nichts Süßes und klingle nirgends, Jewel, also brauche ich kein Kostüm. Jewel verdrehte die Augen, sie und ihre Freunde gingen als Zombies. Zombies sind nie out, dachte Jessup. Er half ihr mit der Schminke. Moms Eyeliner, Ketchup als Blut. Am Ende des Abends war sie verschwitzt von der Rennerei, aufgedreht und unerträglich vor lauter Zucker, die Schminke verschmiert. Sie schenkte Jessup all ihre Peanut-Butter-Cups.

Es blieb die ganze Woche warm. Als wäre der Winter nicht mehr als ein Gerücht. Beim Training vermischte sich der Geruch von Herbstlaub und frisch gemähtem Gras mit dem nach Schweiß. Es war warm genug, um sich wie ein Echo des Sommers anzufühlen. Training in voller Montur, aber nur mit halber Härte. Etliche Trinkpausen. Der Coach nimmt Rücksicht auf die Hitze, er will sie topfit für die Playoffs. Gestern beim Training war die nahende Kälte zum ersten Mal zu erahnen, und über Nacht änderte sich alles. Der Sommer ist vorbei, und die Frische des Herbstes gleich mit. Elender Eisregen. Die Temperatur fällt.

Morgen, weiß Jessup, ist es Winter. Morgen kommt der Schnee. Wenn er morgen jagen geht, sind die Wälder, ist die Welt eine andere als heute. Eis und Schnee und die Magie des alles einhüllenden Weiß. Das Knirschen seiner Stiefel, die gedämpfte Stille des schneebedeckten Waldes, während er auf einen Abschuss wartet, auf einen Bock mit einem Gehörn, das lohnt. Die Truhe mit Fleisch füllen, das sie nicht kaufen könnten. Seine Freundin Deanna hat gefragt, ob sie mitkommen kann, aber er hat nein gesagt. Es ist letztlich nicht der Abschuss, sondern das Warten. Die Ruhe. Allein zwischen den Bäumen zu sein. Keiner sieht ihn an und denkt über Jessups Bruder und seinen Stiefvater nach, die im Gefängnis sitzen. Es sind jetzt vier Jahre, seit Ricky die beiden Studenten totgeschlagen hat. Schwarze Studenten. Sein Stiefvater hat niemanden angerührt, aber er war dabei und hatte eine Vorgeschichte. In einer Stadt so groß wie Cortaca ist das alles, was es braucht.

Ricky hat mindestens noch sechzehn Jahre, wenn alles gut geht. Sein Stiefvater, David John, sollte fünf Jahre absitzen, aber er wird vorzeitig entlassen. Heute. Jessups Mom ist am Morgen nach Norden, um ihn zu holen. Sie hat Jewel mitgenommen, seine leibliche Tochter. Jessup meinte, Jewel sollte in die Schule, aber es war kein wirklicher Streit. Die Kleine ist erst in der Sechsten, und im Übrigen ist sie wahnsinnig schlau. Schlauer noch als Jessup, sie schafft es im Schlaf unter die Besten, da macht ein Tag Schule keinen Unterschied. Dass Jessup mitkommen würde, stand nicht zur Diskussion, selbst wenn er kein Spiel hätte. Sie sollten wieder da sein, auf der Tribüne sitzen. Sein Stiefvater, Jessups Mutter und Jewel. Sie erwarten, dass er hinterher mit ihnen essen geht. Das wird er, dann geht es zur Party und danach, und darauf freut er sich heute am allermeisten, zu seiner Freundin.

Aber morgen, morgen kann Jessup allein sein.

Minus neun Das ist morgen, heute gibt’s Football. Der Eisregen wird dichter. Es ist die Art nasser Kälte, die manche Jungs wünschen lässt, sie hätten sich einen anderen Sport ausgesucht. Die Schüler der Cortaca Highschool sind eine bunte Truppe. Arme Weiße wie Jessup wohnen außerhalb der Stadt an Landstraßen, in Senken und auf Anhöhen, direkt neben County-Highways oder versteckt an irgendwelchen Feldwegen. In ihren Wohnwagen und kaputten Häusern fehlen Fenster, eigene Anbauten werden mit Folie dicht gemacht, Monate oder Jahre bevor eine richtige Verkleidung folgt. Wer Glück hat, besitzt einen Holzofen, und das ständige Heulen der Motorsäge und Wummern der Axt sorgen dafür, dass es drinnen warm genug wird, um zu schwitzen. Wer kein Glück hat, braucht Gas, und im Winter sind es grade mal sieben, acht Grad im Haus. Da friert man unter der dünnen Decke und schläft in sämtlichen Klamotten, weil niemand, nicht einmal Treman Gas, einem den Tank auf Pump füllt. Die armen Schwarzen wohnen meist in Cortaca selbst, in einer Siedlung auf der Höhe im Osten, dem East Village. Jessup nennt es den »Dschungel«, das machen alle Schwarzen und armen Weißen, nur die reichen Weißen benutzen den richtigen Namen, weil sie zu viel Angst haben, genau hinzusehen. Der Rest der armen Schwarzen wohnt gleich beim Zentrum, in alten, früher mal stolzen Häusern, die heute in zwei, vier, acht Wohnungen unterteilt sind. Nur ein paar von den armen Schwarzen leben draußen auf dem Land wie Jessup. Aber es gibt auch genug arme Weiße in der Stadt, da werden häufig Farbgrenzen überschritten.

Die wenigen nicht armen Schüler haben irgendwie alle mit der Cortaca University und dem Drumherum zu tun, sind die Kinder von Professoren, Angestellten. Oder haben einfach Geld. Haben Moms, die Zeit für Geburtstagspartys und Schulfeiern in der Grundschule haben, Dads, die sich einen Tag frei nehmen können, um in der Mittelstufe den Schulausflug in den Hershey-Park im Frühling mit zu beaufsichtigen, Eltern, die in der Highschool auf Auszeichnungen und Vorbereitungsprogrammen fürs College bestehen und Nachhilfelehrer finden und zu bezahlen wissen, wenn ihre Lieblinge mit Mathe, Spanisch oder Chemie nicht klarkommen. Jessup ist in den von reichen Kids dominierten Kursen und kommt problemlos mit. Er gehört zu den besten zehn Prozent, ist nicht der Jahrgangsbeste, aber knapp dahinter, nicht schlecht für jemanden ohne Nachhilfe, der drei Sportarten betreibt, einen Teilzeitjob hat und seine Schwester großziehen hilft. Zu den besten zehn Prozent zu gehören, darauf kann er stolz sein, das ist sein Ticket hier raus. Weiter so und bleib dran, die Lehrer wollen nie ganz glauben, dass er es durchhält. Nicht mit der Tarnjacke und dem, was alle von seinem Bruder und seinem Stiefvater wissen. Kleinstadt, Kleinstadt, Kleinstadt. Hier ist niemand ein unbeschriebenes Blatt.

Die Mannschaft aus Kilton Valley hat eine Stunde Anfahrt, reiche Kids aus einer Pendlerstadt. Bei denen wird es nur wenige wie Jessup geben, die meisten leben in Häusern mit Garagen, in denen der Boden mit Epoxidharz beschichtet ist, Fünf-Zimmer-Häusern mit Gaskaminen, rein zur Dekoration, und Thermostaten, die im Winter auf zweiundzwanzig und im Sommer auf zwanzig Grad stehen, und draußen rum gibt es einen Zedernholzzaun, damit der Goldene Retriever nicht wegläuft. Jessup hat gehört, dass die Mannschaft aus Kilton Valley auf einem überdachten Feld trainiert, wenn das Wetter schlecht ist. Da wird es Spieler in der Mannschaft geben, die sich jetzt schon, bevor es überhaupt losgeht, drauf freuen, wieder nach Hause ins Warme und Trockene zu kommen, statt auf die ritualisierte Brutalität, die Jessup so mag.

Während er über den Parkplatz trabt, kommt ihm das Licht im Stadion zu hell für das Wetter vor. Er sieht Eis und Wasser fett und heftig vom Himmel herunterpeitschen. Der Wind ist stärker geworden, schneidend. Der Aufprall von Haut auf Haut, Helm auf Haut, Haut auf Rasen wird brennen. Sofort, aber schlimmer noch hinterher, unter der heißen Dusche. Die meisten anderen um ihn herum tragen lange Ärmel unter den Pads und Ellbogenschützern. Jessup nicht. Nur sein Trikot. Nackte Arme. Er will, dass die Jungs aus Kilton Valley auf der anderen Seite an die Kälte denken. Er will, dass sie drüber nachdenken, was es für Jessup bedeutet, dass er sich nicht vor dem Wetter schützt, was es bedeutet, dass es ihm nichts ausmacht. Es wird ihm nichts ausmachen. Nicht während des Spiels. Vor langer Zeit schon hat er akzeptiert, dass Footballspielen heißt, Schmerz zu verstehen, auszuteilen und einzustecken. Das ist einer der Gründe, warum er so gut ist. Weil das Geheimnis eines Linebackers nicht einfach nur in der Bereitschaft besteht, dem Gegner wehzutun und selbst was abzukriegen, sondern es zu genießen.

Minus acht Um das Stadion herum wächst richtiges Gras, und die Felder sind echt, aber sie spielen auf Kunstrasen. In der Junior-Liga hat er auf öffentlichen Plätzen gespielt. Da war das Gras im Oktober nur noch Matsch, und wenn es frisch geregnet hatte, stand das Feld stellenweise knöcheltief unter Wasser. Es war unmöglich, nicht über Rinnen und Löcher zu stolpern. Der Platz im Stadion ist dagegen makellos, das Feld völlig eben, der Plastikrasen eine glatte Matte, Rolle an Rolle unsichtbar miteinander verschweißt. Die Schulbehörde fegt regelmäßig lose Fasern auf und reinigt das Ganze, und die Gummipellets und der spezielle Sand drunter sorgen dafür, dass Regen sofort abfließt. Aber das Eis fängt an, sich festzusetzen, und es kommt heftig genug runter, dass die Kilton Valley Cougars nicht das Risiko von weiten Pässen eingehen werden. Was gut für die Cortaca High School Bears ist. Wegen verschiedener Verletzungen müssen sie sich auf einen Ersatz für den Ersatz-Quarterback verlassen. Die Bears haben das ganze Jahr aus ihrer Verteidigung heraus gewonnen. Bei einem Shootout ziehen sie den Kürzeren, so dass alles, was den Ball auf der anderen Seite unten hält, für Jessup klar ein Gewinn ist. Es wird rutschig werden. Das heißt, geradeaus stürmen. Football mit blutigen Nasen. Hässlicher Football. Jessup ist in bester Stimmung.

Der Applaus ist gedämpft, als sie ins Stadion einlaufen. Die Tribünen sind auch nicht annähernd so groß wie die in Texas. Da passen nicht mal zweitausend Leute drauf, und heute, bei dem Wetter, obwohl es ein Playoff-Spiel ist, das erste seit vierzig Jahren und das erste Heim-Playoff seit noch Längerem, sind die Plätze nur halb besetzt. Spitzenergebnisse haben hier keine Tradition. Jessups Stiefvater hat ebenfalls gespielt und hatte nur eine erfolgreiche Saison, Jessups Bruder blieb drei von vier Jahren ohne klare Siege. Ricky wie auch David John haben regelmäßig aus dem Gefängnis geschrieben und verfolgt, was die Mannschaft macht. Ricky wird’s auch weiter tun. In seinem Brief diese Woche schreibt er, wie sehr er sich wünschte, dabei zu sein und zu sehen, wie sich Jessup für das Spiel fertig macht. Super, dass Jessup seine alte Nummer trägt. Brüder. Aber wenn er schon nicht da sein kann, wird wenigstens David John Jessup heute spielen sehen. Er kann kaum glauben, dass es Cortaca in die Playoffs geschafft hat.

Jessup schon. Die Spielzeiten im ersten und zweiten Jahr an der Highschool galten bereits als erfolgreich, und zum dritten Jahr heuerte die Cortaca High Coach Diggins an, und die Mannschaft wurde noch besser. In der letzten Saison haben sie die Playoffs nur durch ein vergebenes Field Goal in der Nachspielzeit verpasst, was Jessup so schmerzte, dass er an der Außenlinie stand und ihm die Tränen herunterliefen. Dieses Mal jedoch haben sie von Beginn an klar Kurs auf die Playoffs genommen. Zwar gehören sie immer noch nicht zu den Favoriten, doch die meisten denken, dass sie durchaus eine Chance haben. Die Energie ist da, was sich aber noch nicht in einem vollen Stadion niederschlägt. Es sind vielleicht zwölfhundert Leute, was für Jessup reicht. Er hält nach seiner Mutter, nach Jewel und David John Ausschau, kann sie aber nicht entdecken.

Aufgewärmt haben sie sich bereits, sind dann noch mal in die Kabine, um ein paar letzte Sachen zu besprechen, die Leute an ihre Aufgaben zu erinnern, und wer musste, konnte noch mal pinkeln. Einige der Jungs kotzen vor jedem Spiel. Aber jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis zum Anpfiff. Jessup rennt ein paarmal das Feld rauf und runter, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie rutschig es ist. Er sieht Coach Diggins mit einem der Schiedsrichter reden.

Diggins hätte Jessup als einen der vier Captains auswählen sollen, hat er aber nicht. Mike Crean, den er stattdessen genommen hat, ein Freund von Jessup, ist ein guter Spieler, aber nicht so gut wie er. Diggins hat Jessup in der Woche vor dem ersten Spiel der Saison in sein Büro gerufen und gesagt, dass es nicht allein darum geht, wie gut er auf dem Feld ist. Es genügt nicht, der beste Spieler der Mannschaft zu sein. Jessup redet nicht genug, sagt Diggins. Einzelgänger sind keine guten Führer. Andererseits, während des Spiels redet Jessup schon, sagt Aufstellungen an und ändert die Verteidigung.

Seit der spielfreien Zeit vor der Saison gehört Jessup zu den Spielern, die Diggins sonntagnachmittags zu sich nach Hause holt, um Videos zu studieren, damit sie das Spiel besser verstehen. Das gefällt ihm. Im letzten Jahr war er gut, aber in dieser Saison ist er eine Granate. Es hat erst spät angefangen, aber jetzt melden sich die Colleges bei ihm. Zum Teil liegt es daran, dass er massig und schnell ist, doch da ist noch mehr. Die Zeit unter Diggins hat dazu geführt, dass das Spiel für ihn langsamer geworden ist. Ob er nun auf der starken oder der schwachen Seite spielt, er dirigiert die Abwehr. Eigentlich sollte es der mittlere Linebacker sein, der die Anweisungen gibt, doch auch wenn Damian Greene ein solider Spieler ist, er liest die Situation nicht schnell genug, und damit ist es Jessups Job, den Verkehrspolizisten zu geben. Aber obwohl Diggins gelegentlich schon Spieler zu zusätzlichen Captains für ein Spiel ernannt hat, was eine Auszeichnung ist, Jessup hat er noch nie ausgesucht.

»Ich hoffe, du verstehst das, mein Sohn«, sagte er in seinem gedehnten Mississippi-Tonfall.

Minus sieben Jessup widerspricht Diggins in keiner Hinsicht. Es stimmt. In der Gruppe redet er nicht viel und auch im Unterricht nicht mehr, als er muss. Er gibt Antworten, aber hält sie kurz. Bleibt zu sehr für sich, das weiß er. Er rennt keinem hinterher, ist aber auch kein Anführer. Er ist einfach Jessup. Trotzdem, es geht ihm unter die Haut, dass er kein Captain ist. Dazu kommt, dass die College-Coaches, die sich für ihn interessieren, dass die fragen, warum er keine führende Rolle einnimmt. Wie kommt es, dass der beste Verteidiger auf dem Feld, der beste Spieler der Mannschaft, nicht vortritt, um die Seitenwahl zu bestimmen?

Was soll Jessup denen sagen? Dass Diggins schwarz ist und er Jessup schon deswegen nicht zum Captain machen wird? Dass Diggins nie auf Jessups Bruder, seinen Stiefvater oder ihre Kirche zu sprechen gekommen ist, dass er immer so getan hat, als täte das nichts zur Sache, aber dass es das natürlich tut?

Diggins ist ein massiger Kerl, aber nicht so ein Kaliber, wie es Jessup von einem erwartet hätte, der in der NFL gespielt hat. Auch wenn der Coach ständig drauf hinweist, dass er seine ganzen acht Jahre als Profi immer nur vorn in der zweiten Reihe stand. »Der einzige Grund, warum ich mich so lange in der Liga gehalten habe, bestand darin, dass ich clever war«, sagt er gerne. »Ich konnte mich nicht schneller machen, als ich war, aber ich konnte das Spiel begreifen und es schneller erkennen. Egal«, und dabei grinst er jedes Mal, »ob du der Beste oder der Schlechteste der Mannschaft bist, den Ring kriegst du genauso.« Die nationale Meisterschaft gewann er in seinem vorletzten College-Jahr in Alabama, als er einer der besseren Spieler der Mannschaft war, den Super-Bowl-Ring in seinem letzten Jahr bei den Profis. Da kam er erst aufs Feld, als seine Mannschaft bereits mit vier Touchdowns in Führung lag. Er ist ein guter Coach, für Highschool-Niveau sogar ein sehr guter, aber keiner, der wahnsinnig aus sich herausgeht. Er hebt die Stimme nur, um gehört zu werden. Arbeite hart, mach deinen Job, versteh das Spiel besser als dein Gegenspieler auf der anderen Seite.

Jessup sieht zu, wie Diggins dem Schiedsrichter die Hand schüttelt und dann zur Seite trottet, wo der Zaun die Tribüne vom Feld trennt. Seine Frau Melissa lehnt sich rüber, um ihm einen Kuss zu geben. Diggins ist in Mississippi geboren und aufgewachsen, hat am College in Alabama gespielt und war als Profi mal hier, mal da. Melissa hat er kennengelernt, als er in San Francisco spielte. Der Coach ist Ende vierzig, Mrs Diggins ein paar Jahre jünger, sieht aber erst aus wie Mitte dreißig. Sie ist die typische Kalifornierin, weiß, blond und auf athletische Art dünn, als wäre es ihr Job, sich fit zu halten, dabei arbeitet sie irgendwas an der Cortaca University. Jessup weiß nicht, was es ist, nur dass sie der Grund ist, dass die Familie Diggins hergezogen ist, und auch der Grund dafür, dass Coach Diggins eingewilligt hat, die Footballmannschaft der Cortaca High auf Vordermann zu bringen.

Wenigstens sagt das Deanne. Deanne steht im vorletzten Jahr und ist die Tochter der beiden. Der Coach ist dunkel, Mrs Diggins nicht, und Deanne ist irgendwo dazwischen. Sie dreht durch, wenn Jessup ihre Haut mit was zu essen vergleicht, und sagt, sie ist nichts Exotisches, aber es ist längst ein Witz zwischen den beiden. Zumindest denkt er das. Sie sind jetzt seit vier Monaten zusammen. Jessup hat den Sommer über sechs Tage auf dem Golfplatz gearbeitet, die Anlage gepflegt, abends hatte er einen Job im Multiplex, ebenfalls sechs Tage die Woche. Die Arbeit auf dem Golfplatz hat er aufgegeben, als es mit dem Football wieder losging, im Multiplex ist er immer noch, samstags und manchmal sonntags nach den Videostunden beim Coach zu Hause. Er braucht das Geld. Deanne hat im Sommer ebenfalls im Multiplex gearbeitet und macht auch während des Schuljahres weiter, samstags und manchmal sonntags. Sie stimmen sich ab. Sie hatten sich davor schon kennengelernt, aber nie wirklich Zeit miteinander verbracht. Er kann nicht genau sagen, wann es was Engeres wurde. Wie auch immer, sie behalten es für sich. Natürlich hat Deanne es ihren Freundinnen erzählt, und in der Schule ging es auch rum. Trotzdem, Jessup hält den Mund, er ist nicht irgendwer, und Deanne ist schwarz. Das bedeutet schon was, angesichts seiner Familiengeschichte. Mrs Diggins weiß, dass sie sich treffen, aber er ist ziemlich sicher, dass der Coach es nicht weiß. Jedenfalls hat er es Jessup noch nicht merken lassen.

Er sieht, wie sich auch Deanne vorbeugt, ihren Dad auf die Wange küsst und sich wieder aufrichtet. Sie sieht zu ihm herüber und schenkt ihm so etwas wie ein Lächeln. Sie werden sich später sehen, auf der Party, und haben vor, sich frühzeitig wegzuschleichen und irgendwo zu parken. Zum ersten Mal miteinander geschlafen haben sie vor etwa zwei Wochen, und er denkt, dass er sie vielleicht liebt, aber das ist wieder was, worüber Jessup in diesem Moment nicht nachdenken sollte.

Hinter Mrs Diggins und Deanne, zwei Reihen höher, entdeckt er einen Hilfstrainer von der Syracuse University. Das ist jetzt das zweite Spiel, zu dem er kommt, und ein Angebot für ein Stipendium ist angekündigt. So hat Jessup es gehört. Er ist nicht gut genug für die großen Football-Unis, aber doch so gut, Angebote aus der nachgeordneten Reihe zu kriegen, die Leute in die erste Division einspeist. Wichtiger aber ist, dass seine Noten zusammen mit seinen Fähigkeiten auf dem Feld dazu geführt haben, dass auch die Ivies anrufen. Heute Abend ist ein Scout von der Brown University da, und Yale und Princeton haben sich ebenfalls gemeldet. Wenn er nicht Football spielte, wäre er nicht sicher, ob er es aus eigener Kraft in eine der Ivy-League-Unis schaffen würde, aber er spielt nun mal, und den Trainern da läuft das Wasser im Mund zusammen. Seine Noten und seine Ergebnisse in den standardisierten Aufnahmetests sind so gut, dass er den Verwaltungen leicht zu verkaufen ist. Die Ivies bieten keine Sportstipendien, aber er ist so bettelarm, dass es auch so das volle Programm gäbe. Seine Mom will, dass er zu Hause bleibt und für die Cortaca University spielt. Syracuse wäre für sie auch okay, das ist nur eine Stunde entfernt, wenn die ihn überhaupt wollen. Oder Buffalo, die haben ihm bereits ein Angebot gemacht. Aber Jessup will ein paar Meilen mehr zwischen sich und Cortaca bringen.

Er weiß, der Coach von der Cortaca University denkt, er hat ihn bereits im Sack, und ist ziemlich sicher, der in Syracuse auch. Ein Junge aus der Gegend? Warum sollte der nicht bleiben wollen? Aber genau das ist es. Er will nicht bleiben. Er will so weit weg von Cortaca, wie er nur kann, und dafür sorgen, dass er nie zurück muss. Laut hat er das noch nicht gesagt. Seine Mom weiß nicht, dass er sich ganz früh in Yale beworben hat. Er wird Anfang Dezember von denen hören, und wenn es da nicht klappt, hat er noch Bewerbungen für Dartmouth, Brown und Princeton laufen. Gerade erst letzte Woche ist ihm von der Duke ein Stipendium angeboten worden. Bye-bye Upstate New York.

Er lässt den Blick noch mal schnell über die Tribüne gleiten. Seine Mom sitzt gewöhnlich rechts in der Mitte, oben, mit dem Rücken an der hinteren Einfassung, aber da hockt schon ein Trupp Highschool-Kids.

Er sieht sie nicht, aber sie haben auch noch nicht angefangen. Sie hat ihm geschrieben, dass im Gefängnis alles gut gelaufen ist und sie zum Spiel kommen. Er macht sich keine Sorgen. Seine Mom kommt immer. An einigen Tagen putzt sie, und manchmal sitzt sie abends bei Target an der Kasse, hat ihrem Chef aber immer klargemacht, wenn sie sich entscheiden muss, ob sie freitagabends arbeitet oder ihren Job schmeißt, nun, in einer Stadt wie Cortaca gibt es reichlich Möglichkeiten, in Teilzeit einsfünfzig mehr als den Mindestlohn zu verdienen.

Minus sechs Er sieht einen der Kilton Valley Cougars die Beine hochwerfen. Der Bursche heißt Kevin Corson, ein Runningback. Ist ein guter Spieler. Sie haben sich in verschiedenen Football-Camps getroffen, Ein-Tages-Veranstaltungen, nie was geredet, was verständlich ist, da sie für gegnerische Mannschaften spielen. Corson hat sich bereits für Syracuse entschieden. Echt dunkle Haut, so ein in der Nacht nicht zu erkennendes Schwarz, aber keiner von den armen Schwarzen. Einsdreiundachtzig, neunzig Kilo, schnell auf dem Feld, mit einem guten Antritt. Er hält sich niedrig, wenn er rennt, die Schultern unten, den Ball fest im Griff. Er läuft gezielt. Seine Mom ist Optikerin, und sein Dad arbeitet bei einer Bank oder so. Geld. Selbst aus der Entfernung kann Jessup sehen, dass er ein Paar brandneue Nike-Rasenschuhe trägt und Profihandschuhe. Die Schuhe kosten ungefähr hundertdreißig Dollar, die Handschuhe sechzig. Er muss sie extra für dieses Spiel gekauft haben. Jessup hat gehört, dass Corson seit der Mittelschule einen Personal Trainer hat. Er sieht auch so aus, muskulös, kein Gramm Fett. Könnte sein, dass der Hilfstrainer aus Syracuse auch hier ist, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen. Ein Teil von Jessup hofft, dass es so ist.

Er hat viel Filmmaterial studiert und denkt, er weiß, wie Corson tickt. Corson ist vorher anzusehen, wenn er links durchschneiden will. Jessup wird ihn halten und ihm weitgehend den Weg versperren können, und wenn er es perfekt erwischt, kriegt er ihn mindestens ein Mal richtig. Mit ein bisschen Glück nimmt er ihm den Ball ab, und selbst wenn nicht, wird es ein nicht endendes Laufduell werden. Ein paar Schüsse hat er mit Sicherheit frei. Vielleicht kann ja einer der anderen Corson stellen, und Jessup geht voll rein und holt ihm früh schon den Helm runter. Schickt ihn auf die Bank und lässt ihn zweifeln, ob er wirklich weitermachen will. So was kann ein Spiel kippen lassen.

Corson sprintet und schlägt ein paar Haken, um ein Gefühl für den Rasen zu bekommen. Er macht das schlampig, und es sieht aus, als wäre er nicht wirklich glücklich. Jetzt guckt er rüber, sieht, dass Jessup ihn beobachtet, und zwinkert ihm zu. Jessup lächelt nicht. Wendet den Blick nicht ab. Denkt, dich hau ich so was von um. Einer wie Corson spielt gerne Football, während Jessup gar nicht anders kann.

Jemand schlägt ihm kräftig aufs Schulterpolster. Derek Lemper spielt Nose Guard. Er ist ein Jahr unter Jessup. Nichts im Kopf, aber nett und ein Panzer. Einen Dad gibt es nicht, seine Mom ist Verkaufsleiterin beim Honda-Händler. Sie ist ein bisschen kräftig, aber immer noch attraktiv. Absolut nicht wie Derek. Derek hat um die hundertfünfunddreißig Kilo, der Bauch quillt ihm über die Hose, und sein Kopf gleicht einer Wassermelone. Er hat eine Freundin, die aussieht wie aus dem Kaugummiautomaten. Es gibt reichlich Witze, wie Derek sie zerquetscht, wenn er hinterher auf ihr einschläft.

»Alles klar, Jessup? Reißen wir denen den Arsch auf?« Derek hebt die Hand, und Jessup boxt dagegen.

»Und wie«, stimmt er ihm zu.

Derek grinst und wackelt mit der Hüfte, dass Jessup lachen muss. Er dreht sich um und sieht, wie Wyatt Dunn sein eigenes Tänzchen macht. Wyatt ist sein bester Freund, seit David John die Familie mit in die Kirche nahm. Da, in der Kirche, hat Jessup ihn kennengelernt, und dann waren sie in derselben Grundschule, derselben Mittelschule, gehen auf dieselbe Highschool. Wyatt ist so etwas wie ein Bruder für ihn, auch wenn sie schon lange nicht mehr gemeinsam in der Kirche waren. Seit David John und Ricky verhaftet wurden, ist Jessup nicht mehr gegangen. Wyatt dagegen, obwohl er etliche Sonntage jagen war und in der achten, neunten und zehnten Klasse lieber ausgeschlafen hat, geht jetzt wieder regelmäßig mit seinen Eltern, genau wie Jessups Mom und Jewel. Wyatt ist ein Tackler. Die UConn hat ihm ein Stipendium angeboten, und er erwartet nichts anderes mehr in der Richtung. Die Huskies der UConn haben im letzten Jahr zwar nur zwei ihrer zwölf Spiele gewonnen, und Wyatt macht sich keine Illusionen, aber er denkt, es ist besser, als fürs College zahlen zu müssen.

Wyatt legt seine fleischigen Arme um Jessup, zieht ihn an sich heran und drückt seinen Helm seitlich an den von Jessup. »Hab gesehen, wie du Corson beim Warmmachen zugeguckt hast. Nimm den Hurensohn ran, okay? Lass uns ihm eine Lehre erteilen, Mann. Zeigen wir ihm, wo er hingehört.« Wyatt drückt Jessup an sich und sagt: »Jesus liebt dich, und ich liebe dich auch, Bruder. Machen wir sie lang.«

Jessup erwidert seine Worte. Rituale. Jesus liebt dich, und ich liebe dich auch, Bruder. Machen wir sie lang. Gemeinsam schützt uns Jesus. So geht es seit dem ersten Jahr auf der Highschool.

Ein paar defensive Linemen kommen, und weiter geht es mit den Ritualen. Die Fäuste gegeneinander, mach sie lang, Mann, halt die Hütte sauber, mach hinten dicht. Die Coaches winken sie zur Bank, und so hören sie auf.

In den paar Minuten, seit sie aus der Umkleide raus sind, hat sich eine Schicht Eismatsch auf dem Platz gebildet. Wie ein Schleier liegt er auf dem Plastikgras. Jessup sieht zum Flutlicht hoch. Aus dem Eisregen ist Schnee geworden, der von Wind und Schwerkraft nach unten getrieben wird. Das Licht der Scheinwerfer macht aus jeder Flocke eine Sternschnuppe. Wenn er jetzt nicht spielen müsste, würde er gern ewig so stehen bleiben. Aber da klopfen ihm noch andere Hände auf die Schulterpolster, und so joggt er zur Seitenlinie, mit jedem Schritt sorgfältig ausprobierend, wie seine Schuhe greifen werden. Er fühlt sich gut. Locker. Gestern Abend nach dem Training hat er seiner Schwester noch mit Mathe geholfen, seine eigenen Hausaufgaben gemacht und lag um zehn im Bett. Ist eingeschlafen wie ein Betrunkener, an seine Träume kann er sich nicht erinnern. Etliche Leute würden ziemlich was zahlen, um so gut zu schlafen.

Kilton Valley kriegt den eröffnenden Kickoff. Das bedeutet, dass Cortaca die zweite Hälfte anfängt, und für den Moment, dass Jessup noch etwas Zeit hat, bevor er aufs Feld muss. Er setzt sich auf die Bank, das nasse Metall ist kalt, aber er hat eine Minute für seine Schuhe. Zu Beginn des Spiels hat er gern alles perfekt. Auch wenn er weiß, dass es sinnlos ist, gegen die Gummikügelchen im Rasen kommst du nicht an. Sobald er zurück auf dem Platz ist, hat er sie wieder in den Schuhen. Und wenn es ihn das erste Mal auf den Boden reißt, sitzen sie auch unter den Polstern, in den Strümpfen, seinen Haaren. Ihnen ist nicht zu entkommen. Ein paar stecken unter dem Wundschorf an seinem Ellbogen. Trotzdem, er zieht sich die Schuhe von den Füßen, schüttelt sie aus und hat sie rechtzeitig für den Kickoff auch schon wieder zugeschnürt.

Aber er verpasst den Kick, weil sein Blick auf seine Schwester und seine Mom am Ende des Platzes fällt, wo sie die Tribüne hochsteigen. Und bei ihnen: sein Stiefvater. David John ist aus dem Gefängnis raus.

Als es geschah Jessup war dreizehn. In der achten Klasse und immer noch nicht gewachsen. Hoffte, dass er wachsen würde. Nicht dass er ein Zwerg gewesen wäre, aber eben doch eher einer von den Kleineren. Seine Mom sagte ihm immer, sein Dad sei ein kräftiger Kerl gewesen, einsachtundachtzig und robust. Hatte an der Cortaca Ingenieurswissenschaften studiert. Aber egal, er trank (das hatten Jessups Vater und Mutter gemeinsam) und brachte sich mit dem Auto um, noch bevor Jessup geboren wurde. Nach allem, was seine Mom sagt, hatte es sowieso nicht so ausgesehen, als wenn es mit den beiden was geworden wäre. Sie stammten aus unterschiedlichen Welten, und es war nicht viel mehr als ein kurzes Abenteuer. Zusammen gefeiert hatten sie, und Jessup war das einzig Gute, was dabei rauskam. Sie hat ihm nicht viel über seinen Vater zu erzählen, und sie haben keinen Kontakt zu der Seite der Familie.

Rickys Dad, Pete Gilbert, war hin und wieder da, wobei auch er im Moment in einem Staatsgefängnis eine Strafe absitzt. In einem anderen als Ricky. Abgesehen davon war Pete als Dad okay, vergaß für gewöhnlich Rickys Geburtstag nicht, kam zu seinen Footballspielen, obwohl die Mannschaft übel war, und auch sonst alle paar Wochen. Tat sein Bestes, es richtig zu machen. Ein dürrer Typ, da kommt Ricky ganz nach seinem Dad. Pete und Jessup redeten nie viel, stritten aber auch nicht. Pete war nicht verkehrt, nur dass er noch ein Kid war, als er Jessups Mom schwängerte. Sie war erst vierzehn, am Ende ihres ersten Highschool-Jahres, als sie Ricky bekam, Pete ein Jahr älter, hatte aber bereits die Schule abgebrochen. Was als Beziehung zwischen Pete und Jessups Mom hätte durchgehen können, war, lange bevor Ricky laufen konnte, schon wieder vorbei. Als David John dann zu einem Teil der Familie wurde, war Pete nur noch einer, der gelegentlich nach seinem Sohn sah. Zoff gab es zwischen den beiden Männern nie.