Es gibt wohl keine Erzieherin, die ihren Beruf ergriffen hat, weil sie mit Eltern arbeiten möchte. Und daher findet man keine Erzieher, denen die Nörgelei perfektionistischer und überängstlicher Helikopter nicht auf den Keks geht. »80 Prozent der Kinder in meiner Krippe haben Helikopter-Eltern. Und es wird immer schlimmer«, berichtet uns eine Erzieherin. Leider bereitet die Ausbildung kaum auf die schwierigen Begegnungen während der Abholzeit oder beim Elternabend vor. Wie soll man mit Eltern umgehen, die ihren Kindern alles erlauben und keinerlei Grenzen setzen – stattdessen aber das Kita-Personal mit abstrusen Forderungen triezen? Was tun mit dauerbesorgten Eltern, die Angst haben, Mia-Louise könnte nicht das Beste vom Besten zukommen oder, noch schlimmer, Ben-Gustav könnte eines Tages ein Trauma erleben, weil die brutale Charlotte damit droht, ihm ein Kuschelkissen über den Scheitel zu ziehen. Daran Schuld hätten dann natürlich: die Erzieher. Und schließlich sind da noch die Chef-Eltern, denen niemand etwas sagen darf, weil sie alles besser wissen, und deren Diktatoren-Kinder die Kita-Mitarbeiter zur Weißglut treiben. In diesem Kapitel berichten Erzieher und Eltern vom täglichen Wahnsinn.
Zunächst sehen Eltern sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, einen passenden Kindergarten für ihr Superkind zu finden. Das Problem fehlender Plätze wird verschärft durch die recht wählerische Vorgehensweise mancher Eltern. Eine Nullachtfünfzehn-Kita? Kommt nicht in Frage! Aber was sonst? Tagesmütter-Vereinigung? Bilingual? Integrativ? Wald-, Waldorf- oder Musikkindergarten? Helikopter-Eltern sind überzeugt, wieder einmal vor wegweisenden Entscheidungen für die weitere Entwicklung ihres Sprösslings zu stehen.
Todesfalle Buddelkiste
»Neulich erwähnte ich meiner Hautärztin gegenüber, dass ich drei Kinder habe. Da wurde sie aufmerksam: Ob ich denn einen guten Kindergarten wisse? Ob der womöglich einen Außenbereich habe? Ich dachte zunächst, sie lege Wert darauf, dass die Kinder viel draußen spielen. Aber nein, meine Ärztin erzählte, sie habe bei der Eingewöhnung ihrer einjährigen Tochter beobachtet, dass größere Kinder im Außengelände des Kindergartens mit Steinen spielten, die sie in den Sandkasten geschleppt hatten. Dann hätten sie noch einen Plastikstuhl in den Sand gestellt, ein Kind habe darauf Platz genommen – und sei im Sandkasten umgefallen. Einer solchen Gefahr wolle sie ihre Tochter auf keinen Fall aussetzen.«
Mein Kind soll nicht laufen lernen, sondern Chinesisch!
»Selbst Eltern, die Krippenkinder bei uns anmelden, also Ein- oder Zweijährige, fragen häufig: Wie oft in der Woche findet die Vorschule statt? Welche Fächer werden angeboten? Wenn ich dann den normalen Kita-Alltag mit Spielen, Essen und Basteln schildere, fragen sie nach Fremdsprachen und Lesenlernen. Freies Spiel mögen viele Eltern gar nicht. Aber Herumtollen, Rennen, Springen und auch mal Hinfliegen ist enorm wichtig für die Entwicklung von Kindern. Die Eltern sagen nur: ›In der Zeit könnte man Zahlen oder Englisch lernen.‹ Die wollen Bildung von Anfang an und verkennen, dass Spielen Lernen ist.«
Und vermutlich macht ihnen der Begriff »Freies Spiel« auch einfach Angst. Die Vorstellung lebensgefährlicher Stürze aus bis zu 20 Zentimetern Höhe bringt Helikopter-Eltern zuverlässig um den Schlaf. Dann doch lieber kognitive Überforderung, am besten festgeschnallt im Schreibtischstühlchen.
Und natürlich soll das einjährige Kind auch mitentscheiden, welche Einrichtung es nun wird, wie diese Erzieherin erzählt:
»Alle drei Monate können sich Eltern mit ihren Babys auf einem Info-Abend unsere Kita anschauen. Dann besprechen wir den Tagesablauf, beantworten Fragen, führen durch das Haus. Doch neuerdings reicht das den Eltern nicht mehr. Sie wollen in der Kita ›hospitieren‹, am liebsten gleich mit Mittagessen. Das geht natürlich nicht – wir müssen uns um unsere zwölf Kinder kümmern und können nicht täglich Fremde mit hinzunehmen. Darauf kommt immer die gleiche Antwort: ›Ja, stimmt schon, aber könnt ihr bei uns nicht eine Ausnahme machen? Wir möchten doch so gerne, dass unser Kind mitentscheidet, und dazu muss es alles einmal gesehen haben.‹«
Das Ziel vieler Eltern: Ihre Schätzchen dürfen niemals Hunger, Kälte, Nässe oder Müdigkeit fühlen. Und deshalb sorgen Helikopter selbstbewusst vor. Schließlich gehört man zu den oberen Zehntausend. Geschichten aus Kitas:
Ich bin hier nicht zuständig
»In der Abholsituation besprach ich noch etwas mit einer Mutter, die ihren Jungen an der Hand hielt. Der Vierjährige begann nach einer Weile, mir kraftvoll gegen das Schienbein zu treten, während die Mutter völlig ungerührt dabeistand. Als ich sie fragte, warum sie das Kind nicht zurechtweise, erwiderte sie: ›Warum? Er hat doch Sie getreten und nicht mich.‹«
Dialektik
»Mir ist aufgefallen, dass mein Sohn neuerdings schweizerdeutsche Wörter benutzt. Meine Frau und ich wollen das nicht, tun Sie was dagegen!«
Makellos statt glücklich
»Eine Mutter brachte drei Tüten voll Wechselklamotten mit in die Krippe. Sollten ihre Kinder Flecken auf der Kleidung haben, hätten wir Erzieher sie sofort umzuziehen. Sie erklärte: ›Ich will nicht, dass die anderen Eltern denken, wir wären asozial.‹«
Akademikerin (4 Jahre) und Tagesmutter
»Eines Abends habe ich mit der Tochter den Tisch gedeckt. Da sie nicht so sehr viel Lust dazu hatte, spielte ich mit ihr ›Restaurant‹. Sie war die Kellnerin und deckte selbständig den Tisch, ich reichte ihr Teller und Besteck an. Als die Mutter das mitbekam, war sie entsetzt: ›Meine Tochter ist doch keine Kellnerin! Sie hilft, weil sie der Familie helfen will!‹«
Bemerkenswert ist auch, was dieser Erzieherin widerfuhr:
»Wir hatten einen Jungen in der Einrichtung, der jeden beleidigen durfte, auch uns Erwachsene und seine Eltern. Ich sprach die Eltern darauf an. Der Vater antwortete: ›Mein Junge wird später einen Chefposten haben, da muss er auch auf niemanden hören.‹«
Dazu passt dieser Bericht einer Kollegin aus einer norddeutschen Großstadt:
»Eine Mutter erklärte mir, dass ihr Kind im Winter und Frühjahr nicht mit in den Garten dürfe. Wir sollten ihr Kind auch nicht rennen oder sich anstrengen lassen, da es davon krank werden könne und sie berufstätig sei. Als ich erklärte, dass ein Kind nicht allein im Gebäude bleiben dürfe und wir keine Kollegen für gesonderte Innenbetreuung entbehren könnten, entgegnete sie, dass wir wohl einfach zu dumm seien zu delegieren. Als eine der oberen Zehntausend der Stadt spendiere sie aber gern Kaffee für das Team, das sei doch schließlich unsere Lieblingstätigkeit: Kaffee trinken.«
Aber wie geht die Anlieferung der kostbaren Fracht vor sich, wenn das Kind seine qualifizierte Meinung eingebracht hat und eine Kita ausgewählt worden ist? Zu sehen gibt es vor allem dieses Szenario: Morgens um acht zerren solvente Großstadt-Eltern ihre kleinen Monster aus dem Porsche Cayenne, mit dem sie durch Wohnstraßen und möglichst bis in den Vorraum der Kita geprescht sind, und schieben sie in die Kita. Zumindest, wenn es gut für sie läuft und ihr Premium-Kind Lust hatte auf den Porsche. Nicht alle Kleinen haben Bock aufs Kutschiertwerden, und die flexiblen Eltern passen sich gern an.
Rückenschmerzen? Egal!
»Eine Mutter trug trotz Bandscheibenvorfall ihren Zweijährigen täglich auf dem Arm in die Kita. Dabei schob sie mit der anderen Hand den Buggy, falls Sohnemann es sich unterwegs anders überlegen sollte. Ein Wutanfall des Kleinen hatte die Mutter überzeugt, dass er ›den Kinderwagen nicht so gern‹ mag, und sie hatte zu große Angst, dass er sich vor Wut aus dem Buggy stürzte, sollte sie ihn nochmals hineinsetzen. Und nicht nur das: Die Mutter erklärte, dass auch wir Erzieherinnen ihr Kind tragen sollten, wenn es nicht im Bollerwagen zum Spielplatz fahren wollte.«
Es erübrigt sich vielleicht, aber wir erwähnen es trotzdem gern: Natürlich saß der Junge zufrieden im Bollerwagen der Erzieherinnen, wenn seine Mutter nicht da war.
Eine große Hürde ist auch das gegenseitige Loslassen beim Verabschieden. Mit den meisten Kindern klappt das ganz gut. Mit vielen Eltern leider gar nicht, wie diese Erzieherin weiß:
»Ein Elternpaar hat jeden Tag nach der Verabschiedung minutenlang an der Tür gelauscht oder durchs Schlüsselloch geguckt. Ich war immer sprachlos, dass ihnen das vor den Erziehern oder anderen Eltern nicht peinlich war. Spätestens eine halbe Stunde nach Verlassen der Kita schrieben sie mich per WhatsApp an und baten um Updates inklusive Fotos, auf denen sie das Wohlbefinden ihres Schatzes ›erkennen‹ könnten.«
Dieses Elternpaar brauchte drei Elterngespräche und ganz harte Grenzen, bis die Pädagogen schließlich sagten: »Wenn ihr uns und eurem Kind überhaupt nichts zutraut, müsst ihr kündigen.«
Während seines Vormittags im Kindergarten darf das Premium-Kind niemals kritisiert werden, berichten Erzieher immer wieder. Als etwa ein Sechsjähriger im Garten mit Steinen um sich warf und die Erzieherin der Mutter davon berichtete, antwortete diese: »Ja, ich habe mich auch schon länger gefragt, was bei Ihnen in der Gruppe nicht stimmt; denn das ist ja wohl ein Schrei nach Aufmerksamkeit!«
Wagen es die Erzieher, ein gehelikoptertes Kind zurechtzuweisen, kommen die Eltern gern mit juristischen Winkelzügen. Ein Sechsjähriger war bereits mehrmals ermahnt worden, beschädigte dann aber doch die Gitarre einer Erzieherin. So weit, nicht so schlimm. Aber:
»Ich habe es den Eltern erzählt, sie aber nicht zu Schadensersatz aufgefordert, weil unser Arbeitgeber für so etwas aufkommt. Trotzdem kam der Vater am nächsten Morgen mit einer schriftlichen Information: Sein Sohn könne mit seinen sechs Jahren nicht gerichtlich belangt werden, deshalb werde er auf keinen Fall für die Gitarre aufkommen.«
Dass die Kinder alles dürfen und Gesetze dehnbar sind wie Kaugummi, lernen sie ganz schnell. Und kontern bei Gelegenheit entsprechend. Unangenehme Erziehungsarbeit vermeiden die Glucken-Mamas trotzdem lieber. Sie wollen ja keinen Streit mit dem Kind.
Eine Erzieherin schildert ein einschlägiges Erlebnis:
»Wir gingen mit den Kindergartenkindern spazieren. Ein Junge, vier Jahre alt, ließ seine Hand im Vorbeigehen an parkenden Autos entlangstreifen. Auf den Hinweis, dass man fremde Autos nicht anfassen dürfe, entgegnete er: ›Ich darf das schon, mein Vater ist Richter.‹«
Nur mein Kind zählt, der Rest ist mir egal – so denkt offenbar auch dieser Vater eines Zweieinhalbjährigen, der erklärte:
»Ich habe Michael gesagt, dass er die anderen Kinder schlagen soll, wenn sie ihn blöd angehen. Er soll ja kein Weichei werden.«
Eine Lektion in Recht und Unrecht sollten offenbar auch die Spielkameraden eines Kindes bekommen, dessen Vater Polizist ist. Eines Tages verlor das Mädchen sein Kuscheltier in der Kita. Daraufhin passierte Folgendes, erzählt uns eine Erzieherin:
»Die Eltern brachten in unserem kleinen Kindergarten gleich drei Zettel an: eine Vermisstenanzeige mit einem Fahndungsbild des Plüschtiers, eine umfangreiche Beschreibung zum Ereignis samt einer Ermahnung, fair miteinander umzugehen – und sie lobten einen Finderlohn aus.«
Das Kuscheltier fand man später übrigens unter einem Kissenberg.
Lieber lange herumeiern als ein paar klare Worte verlieren. Einige Eltern sind so harmoniesüchtig, dass sie einfach aufhören, ihr Kind zurechtzuweisen, erzählt ein Kita-Mitarbeiter. In einem Elterngespräch erklärten ihm Vater und Mutter eines Einzelkindes, dass »gewaltfreie Erziehung« für sie auch verbale »Gewalt« ausschließe:
»Wir würden als Eltern nie gegen unseren Luis argumentieren, denn das wäre ja unfair, ›zwei gegen einen‹. Deswegen müsste immer einer auf der Seite von Luis stehen. Also sagen wir lieber gar nichts, dann gibt es auch keinen Streit unter uns.«
Eine Nanny berichtet, dass ihre Kundin sie schriftlich anwies, nicht mit der Tochter zu schimpfen, wenn diese etwas anstelle:
»Wenn etwas passiert, wenn Rosa etwa mit Buntstiften auf Möbeln malt, solltest du dem möglichst wenig Aufmerksamkeit schenken. Du kannst sagen: ›Es gefällt mir nicht, wenn du auf Stühle malst‹, aber es ist ganz wichtig, Rosa zu zeigen, dass wir sie liebhaben. Eine gute Art, mit solchen Aktionen umzugehen, ist, sie in etwas Positives umzuleiten: ›Rosa, nächstes Mal, wenn du malen willst, frag doch bitte nach einem Blatt Papier. Wenn du auf das Papier malst, können wir deine Kunstwerke auch ganz toll verschicken.‹«
Auch Verlusterfahrungen müssen um jeden Preis vermieden werden – damit die Kinder später bloß nicht damit umgehen können. Natürlich wachsen vielen Kindern Hasi, Teddy und Schnuffeltuch sehr ans Herz. Viele wollen ohne ihren Freund nicht einschlafen, und ein Verlust ist ein tragisches Erlebnis – aber auch eine Erfahrung. Muss man sie wirklich um jeden Preis vermeiden, wie die Mutter, die dieser Vater beschreibt?
»Neulich stand ich vor dem Kindergarten mit drei anderen Eltern zusammen. Ein Kind hatte sein Kuscheltier in der Hand. Die Mutter erinnerte ihr Kind daran, gut auf das Stofftier aufzupassen, damit es nicht verlorengehe. Darauf eine andere Mutter: ›Habt ihr das denn nur einmal? Also ich habe von Milas Lieblingskuscheltieren immer gleich zwei bis drei gekauft. Dann muss sie gar nicht traurig sein, wenn sie mal eins verliert.‹«
Es gibt halt Härten des Lebens, die kleinen Kindern offenbar nicht zuzumuten sind. Oder ihnen extrem schonend beigebracht werden müssen. Für manche gehört ein Umzug innerhalb derselben Straße dazu, für andere sogar die Nachricht, dass sie kein Spielzeug mit in die Kita nehmen dürfen.
Jeden Tag ist Mittwoch
»Fast alle Kinder möchten gern ihr Spielzeug mit in den Kindergarten nehmen, um es anderen zu zeigen. Mittwochs ist in unserer Einrichtung deshalb ›Mitbringtag‹. Die Kinder dürfen dann ein Spielzeug dabeihaben, nur kein elektronisches. Es gibt aber immer wieder Eltern, die sich zu Hause nicht durchsetzen können oder wollen und ihr Kind an jedem beliebigen Tag etwas mitbringen lassen. Wenn ich die Eltern dann darauf anspreche, bekomme ich immer dieselbe Antwort: ›Ach so, nur mittwochs? Hatte ich total vergessen.‹ Sie verabschieden sich dann ganz schnell und überlassen mir die Aufgabe, dem Kind das Spielzeug wegzunehmen.«
Entwurzelungsängste:
»Ein befreundetes Paar ist umgezogen. Nachdem der Umzug vorbei war, haben sie noch vier Nächte in der vollkommen leeren alten Wohnung geschlafen, weil sie glaubten, dass ein direkter Umzug ins neue Haus ihr zweieinhalb Jahre altes Kind überfordert hätte. Nach dem Umzug hat das Kind dann zu Weihnachten sein neues Zimmer geschenkt bekommen. Andere Geschenke durften nicht sein, die hätten das Kind nämlich total überfordert.«
In fast allen Kitas gibt es ein Lieblingsthema, über das sich Eltern auch untereinander herrlich streiten können und bei dem Erzieher sich die Haare raufen (denn es könnte alles so einfach sein): den Speiseplan. Im Kindergarten treffen Rohkost-Fanatiker auf Chips-und-Gummibärchen-Junkies. Unsere Überwachungshubschrauber benehmen sich dabei wie Ernährungs-Taliban.
Abgestimmte Menüpläne:
»Wir hatten kürzlich einen Vater, der jeden Tag, wenn er das Kind brachte, den ausgehängten Essensplan abfotografiert hat. Er hatte nämlich den Auftrag, die Kindesmutter per WhatsApp über die bestellten Speisen des jeweiligen Tages zu informieren. Sie wollte nicht Gefahr laufen, ihrem Anderthalbjährigen am Abend etwas Ähnliches zu kochen.«
Klar: Wer sein Kind zu einem kleinen Gourmet erziehen will, muss viel Energie in die Gestaltung eines Michelin-würdigen Speiseplans stecken. Eine Mutter war sich sicher, dass ihr Sohn in der Kita nichts essen würde, er habe nämlich einen ganz besonderen Geschmackssinn, wie die Erzieherin sich erinnert:
»Die Mutter empfahl uns, den Kindern mehrere Alternativen beim Mittagessen anzubieten. Ihr Sohn sei es gewohnt, zwischen drei Gerichten wählen zu können. Deshalb brachte sie für ihn Ersatzessen in Tupperdosen und Gläschen mit. Der Witz: Er hat davon nie etwas angerührt.«
Überbesorgte Eltern machen sich nicht nur Sorgen um die Vielfalt des Essens, sondern stellen die Ernährung ihrer Kinder auf Unverträglichkeiten ein, die diese gar nicht haben. Das heißt: Dinkel statt Weizen, Soja statt Fleisch, aus Prinzip keine Nüsse und möglichst wenig Gluten. Auf keinen Fall darf das Kind mit Weißmehl, Kuhmilch und Industriezucker in Berührung kommen. Viele Eltern scheinen nicht zu wissen, dass Gluten und Milchzucker (Laktose) seit mindestens zehntausend Jahren Bestandteil der menschlichen Ernährung sind. Sie glauben offenbar, dass es sich dabei um Giftstoffe handelt, die »die Industrie« manchen Nahrungsmitteln arglistig beimischt.
Mutter: »Mein Jakob darf keine Laktoseprodukte, Weizen oder Nüsse essen.«
Erzieherin: »Haben Sie die Allergien auch in die Essensliste eingetragen?«
Mutter: »Nee, das ist ja nicht bestätigt. Aber sicher ist sicher.«
Und es gibt sogar noch mehr Todesgefahren aus der Küche! Eine Mutter von zwei Jahre alten Zwillingen zur Erzieherin: »Lisa und Stephan dürfen kein Gemüse oder Obst mit Schale essen, sie könnten sich dabei verschlucken.«
Neues über die lebensgefährliche Wirkung von Obst erfuhr auch diese staunende Erzieherin:
»Neulich wurde ich zu unserer Kita-Leitung gerufen. Meine Chefin sagte, es liege eine Beschwerde gegen mich vor. Eine Mutter habe einen Tag lang nicht arbeiten können, weil sie mit ihrer Tochter zum Arzt musste. Diagnose: ein wunder Po. Das sei meine Schuld gewesen, schließlich habe es am Nachmittag zuvor Kiwis gegeben, deren Kerne die Mutter im Stuhl gefunden habe. Sicherlich hätte ich von dieser Frucht zu viel angeboten. Zum Glück haben meine Chefin und ich gemeinsam darüber gelacht.«
Eine Erzieherin erzählt:
»Für die Faschingsfeier im Kindergarten hatte ich eine Liste ausgehängt, in die Eltern eintragen sollten, was sie für das Buffet beisteuern. Eigene Ideen waren natürlich willkommen, aber besser klappt es oft, wenn ich auf diese Listen Vorschläge schreibe. Das Übliche: Käsewürfel, geschnittenes Gemüse, Salzbrezeln, Obst, Apfelsaft, aber auch Muffins oder Kekse. Eine Mutter kam zu mir und sagte, sie ernähre ihre Tochter ohne Zucker und Weißmehl. Ob ich nicht alle Vorschläge von der Liste streichen könne, die das enthielten? Schließlich könne sie am Faschingsvormittag nicht überprüfen, was sich ihre Tochter vom Buffet nehme.«
Ein Vater ergänzt dazu passend:
»Beim Kita-Elternabend berichteten Eltern, dass ihre Tochter kein Weißmehl vertrage, und schlugen vor, dass es deshalb bei privaten Kindergeburtstagen generell keinen Kuchen mehr geben solle; der sei ja sowieso ungesund. Was mich am meisten entgeistert hat, war nicht mal die Idee dieser Eltern, das (sicherlich tragische) Problem ihrer Tochter zu lösen, indem sie allen Kindern ihre Diät verpassen wollten – sondern die Tatsache, dass über diesen Vorschlag eine halbe Stunde lang ernsthaft diskutiert wurde.«
Einer pädagogischen Beraterin geschah dies hier:
»Eine Mutter rief mich an und berichtete, ihr vier Jahre alter Sohn weigere sich, selbst etwas zu essen. Er wolle gefüttert werden. Da er einen zarten Körperbau habe, wolle sie natürlich, dass das Kind etwas esse. Ihre Frage: Soll sie ihn weiter füttern, damit er genug isst?«
Man möchte am liebsten auch die sensible Mutter füttern – zum Beispiel mit Informationen über das gesunde Aufwachsen von Kindern und die Erziehung zur Selbständigkeit …
Zugegeben: Das Leben eines Kleinkindes, das in Deutschland im 21. Jahrhundert aufwächst, ist eine gefährliche Herausforderung, die es zu meistern gilt.
Diese Erzieherin wurde genau instruiert:
»Ich bekam von einem Elternteil einen Zettel mit Handlungsanweisungen an das Garderobenfach geklebt: ›Unter 18,5 Grad Pulli anziehen, ab 22,5 Grad Sonnenschutzoberteil an. Außentemperaturen sind im Schatten zu messen.‹«
Und manchmal gehört auch der Schnuller mit zum Outfit – und zwar als Schutzschild:
»Eine Mutter sagte uns Erziehern, dass ihre anderthalbjährige Tochter bei Ausflügen auf den Spielplatz stets ihren Schnuller benutzen solle. Damit der Kleinen keine Biene in den Mund fliegt.«
Man weiß nie, wo die Gefahren überall lauern! Eine Mutter führte im Kindergarten ein Verletzungsprotokoll ein, um alle Blessuren lückenlos nachvollziehen zu können. Eine andere versuchte, im Kindergarten die Bastelscheren verbieten zu lassen, weil ihr Sohn sich daran verletzt hatte. Als die Kita-Leitung sie abwies, wandte sie sich an die anderen Eltern:
»Eine Mutter bat uns Vertreter im Elternrat, wir möchten auf die Kita einwirken, dass die Bastelscheren verboten würden. Ihr Sohn habe sich mit einer solchen Schere geschnitten, und nun sollten die Dinger schnell entfernt werden, die seien ja schließlich total gefährlich.«
Eine amüsierte Mutter berichtet:
»Auf Wunsch einer besonders besorgten Mutter wurde im Kindergarten meiner Tochter ein Protokoll eingeführt, auf dem genau vermerkt wurde, um wie viel Uhr, wo und auf welche Art sich ein Kind weh getan hatte. Wurde ein betroffenes Kind abgeholt, mussten die Eltern unterschreiben. So auch bei meiner Tochter, die ein heruntergefallenes Puzzleteil unter dem Tisch aufgehoben und sich dabei den Kopf gestoßen hatte. Als ich sie nach dem Vorfall fragte, konnte sie sich nicht mal daran erinnern.«
Ein klarer Fall von lebenslanger Amnesie infolge schwerster Schädigung im Schädel-Hirn-Bereich.
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