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Für Amy
Falk Fatal
Im Sarg ist man wenigstens allein
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FALK FATAL: „Im Sarg ist man wenigstens allein“
1. Auflage, November 2019, Edition Subkultur Berlin
© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.subkultur.de
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit
mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Korrektorat: Laura Alt
Cover: Julian Weber (Webseite: www.retrocartoons.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-943412-85-7
epub ISBN: 978-3-943412-86-4
„Bock, bei einem Film mitzumachen?“, fragte mich Tommy.
Es war Mitte Mai, die Sonne schien und wir saßen am Denkmal auf dem Luisenplatz. Wir hatten zuvor eine Palette Karlskrone im benachbarten Aldi gekauft und prüften nun die Qualität der erworbenen Ware – Dose um Dose.
Bock, bei einem Film mitzumachen? Ja, warum denn eigentlich nicht? Vielleicht würde ich ja entdeckt werden und eine Karriere als Filmstar machen. Ich war gerade mit der Schule fertig, bis zum Beginn meines Zivildienstes würden noch ein paar Monate ins Land ziehen und was ich danach machen wollte, wusste ich noch nicht. Warum also nicht Filmstar werden? Eine Menge Geld zu verdienen, mit Starlets abzuhängen und am Pool zu liegen, erschien als Zukunft auf jeden Fall verlockender als ein langweiliges Studium. No Future würde warten müssen.
Lässig schnippte ich die Asche meiner selbstgedrehten Kippe auf den Boden.
„Was is’n das für’n Film?“, wollte ich wissen.
„So genau weiß ich das auch nicht“, antwortete Tommy, „aber die suchen Statisten, die wie Punks aussehen. Mich hat gestern ein Typ in der Fußgängerzone angesprochen, der für die Produktionsfirma arbeitet. Wenn ich will, kann ich gerne ein paar Kumpels mitbringen, meinte er.“
Das traf sich gut. Denn in jenem Mai 1999 sahen wir nicht nur aus wie Punks, wir waren auch welche. Tommys grüngefärbter Iro stand wie eine Eins, seinem Schleimkeim-T-Shirt fehlte der Kragen und die Nieten auf seiner Lederjacke funkelten im Sonnenlicht. Und ich? Ich trug ein Shirt, dessen Aufschrift Helmut Kohl beleidigte, meine kurzen roten Haare standen verstrubbelt in alle möglichen Richtungen ab und nur meine Springerstiefel störten mich. Für Temperaturen jenseits der 20 Grad waren sie ungeeignet. Meine Füße schwitzten darin immer so stark, dass sich kleine Seenplatten bildeten. Trotzdem trug ich sie jeden Tag. So auch diesen Frühling, den ich meist biertrinkend auf dem Luisenplatz verbrachte und am Wochenende irgendwo auf Konzerten. Ein bisschen Abwechslung konnte also nicht schaden.
„Gibt auch Geld“, schob Tommy noch hinterher, um mir die Entscheidung zu erleichtern.
„Warum eigentlich nicht?“, entgegnete ich möglichst kühl. „Leicht verdientes Geld kann man immer gebrauchen und ein Spaß wird es sowieso.“
„Geil! Das wird bestimmt super! Und wer weiß, vielleicht werden wir ja entdeckt und werden Filmstars“, sagte Tommy lachend und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierdose.
Ein paar Wochen später war es so weit. Es war Samstagmorgen und wir saßen in der S-Bahn nach Frankfurt. Der Drehort war eine der Seitengassen hinter der Hauptwache, die zur Börse führen.
„Hast du in der Zwischenzeit herausbekommen, um was es in dem Film eigentlich geht?“, wollte ich von Tommy wissen.
„Nee, nicht wirklich. Nur dass wir für eine Szene gebraucht werden, die eine Straßenschlacht zwischen Punks und Polizisten zeigt“, antwortete Tommy.
„Na, da haben sie ja die Richtigen ausgesucht“, kommentierte ich knapp.
Das stimmte so nicht ganz, denn meine Erfahrungen mit der Polizei beschränkten sich bis dato auf kleinere, harmlose Scharmützel, ein paar Platzverweise wegen Herumlungerns und unnötige Polizeikontrollen. Eine richtige Straßenschlacht, wie sie von den Bands auf den Schlachtrufe BRD-Samplern besungen wurde, hatte ich noch nicht erlebt. Die Chaostage 1995 hatte ich verpasst, da ich mit meinen Eltern den Sommerurlaub an der Ostsee verbringen musste. Aber das brauchte ja niemand zu wissen. Und die vom Film schon gar nicht. Grimmig sah ich aus dem Fenster, die Landschaft flog an uns vorbei.
Die Hitze traf uns wie ein Kinnhaken von Wladimir Klitschko, als wir rund 20 Minuten später aus dem unterirdischen S-Bahnhof ins Freie traten.
Wir hatten uns für unseren großen Tag natürlich richtig herausgeputzt. Tommy hatte seinen Iro frisch gefärbt und hochgestellt. Ach was, hochgestellt. Hochbetoniert hatte er ihn. Mit vier Dosen Haarlack. Dieser Iro würde auch in einem Jahr noch stehen, solange kein Feuer der Haarpracht zu nahe kam und für ein Inferno sorgte. Tommy hatte nicht ohne Grund ein „Leicht entzündlich“-Warnzeichen auf der Lederjacke kleben. Auch beim restlichen Erscheinungsbild hatte Tommy keine halben Sachen gemacht. Die Löcher seiner schwarzen Röhrenjeans waren mit Band-Aufnähern geflickt und die Nieten auf seiner Lederjacke glänzten in der heißen Julisonne, als hätte er sie frisch poliert.
Ich hatte nicht weniger Mühe in mein Outfit gesteckt. Meine Haare standen kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen ab. Die Lederjacke saß perfekt auf dem schwarzen Shirt. Dieses hatte ich zuvor noch mit Sprayfarbe und einem „I hate everything!“-Spruch verziert. In meinen Zwölf-Loch-Springerstiefeln steckten neue rote Schnürsenkel. Natürlich trugen wir beide ein Halstuch – damit wir uns in der Straßenschlacht auch ordentlich vermummen konnten. Für ein Punkrock-Postkarten-Model-Casting waren wir perfekt gekleidet, für 30 Grad im Hochsommer eher weniger. Unsere Schweißdrüsen arbeiteten auf Hochtouren.
Hinter der Hauptwache war schon ein großes Gewusel. Überall lagen Kabel auf dem Boden. Männer mit Knöpfen im Ohr und Funkgeräten am Hintern zogen eilig ihre Bahnen, andere trugen Kameras und Mikrofone umher und mittendrin stand ein Trupp Autonomer. Geil, die waren bestimmt auch wegen der Straßenschlacht hier. Wir waren richtig.
Nach einigem Herumirren fanden wir schließlich das „Produktionsbüro“. Es befand sich am Rande des Börsenplatzes im vorderen Teil eines Bierzelts. Der Produktionsassistent stellte sich als Daniel vor. Er dürfte Ende 20 gewesen sein, hatte dunkles kurzes Haar, das akkurat nach links gescheitelt war, und saß hinter einem Biertisch. Vor ihm lag ein Klemmbrett, auf dem eine Namensliste befestigt war.
„Hey, sieh an! Wen haben wir denn hier? Zwei ausgebildete Straßenkämpfer, wie mir scheint“, begrüßte er uns mit einem Grinsen. „Dass ihr nicht eure eigenen Klamotten hättet mitbringen müssen, hat man euch aber schon erzählt?“, fragte er und zeigte dabei auf drei Kleiderständer, die einige Meter weiter weg standen und voller schwarzer Kleidung waren.
Tommy und ich schauten uns fragend an. Dann waren die Autonomen draußen wahrscheinlich doch nicht so autonom.
„Sei’s drum“, sagte Daniel. „Lasst uns schnell die Formalitäten erledigen. Tragt euch bitte hier in die Liste ein, mit Name, Anschrift und Bankverbindung, damit wir euch hinterher eure Aufwandsentschädigung überweisen können.“
Wir trugen uns schnell ein.
Weiter hinten im Zelt standen auf einem Tisch mehrere Kannen Kaffee und etliche Flaschen Wasser samt Tassen und Gläser. Davor einige Biergarnituren.
„Kaffee und Wasser sind umsonst, ebenso die Gulaschsuppe, die es an der Kanone gibt“, erklärte Daniel und zeigte nach draußen.
In der Tat. Dort stand eine Gulaschkanone.
„Habt ihr noch Fragen?“, wollte Daniel wissen.
„Äh, ja. Eine“, entgegnete ich. „Um was geht es in dem Film eigentlich?“
„Ach, das hat man euch nicht gesagt?“
Tommy und ich schüttelten beide unseren Kopf.
„Also, der Film ist eine Mischung aus Liebesgeschichte und Sozialdrama. Der Vater einer jungen Iranerin soll abgeschoben werden. Der Mann ist ein alter Regimekritiker und ihm würde in seiner Heimat Zuchthaus oder Schlimmeres drohen. Deshalb formiert sich vor allem in der linken Szene Widerstand gegen die Abschiebung. Eine Demonstration eskaliert schließlich und endet in einer großen Straßenschlacht zwischen linken Demonstranten – also euch – und der Polizei. Bei dieser Straßenschlacht wird der Vater von einem Pflasterstein getroffen und verletzt. Blutend sinkt er zu Boden. Seine Tochter stürmt zu ihm, um sich um ihn zu kümmern. Doch nicht nur sie ist um seine Gesundheit besorgt, sondern auch ein junger Polizist, der sieht, wie der alte Mann von dem Pflasterstein getroffen wird. Schließlich knien beide vor dem Vater, blicken sich in die Augen und Bäm – Liebe auf den ersten Blick. Danach entwickelt sich eine klassische Liebesgeschichte, die nicht nur mit interkulturellen Vorurteilen, sondern auch mit der drohenden Gefahr der Abschiebung zu kämpfen hat.“
„Klingt nicht sehr realistisch“, murmelte ich und bereute es sofort.
Kritik an der künstlerischen Vision des Regisseurs war hier bestimmt nicht gerne gesehen. Ich hoffte, das würde meine Filmkarriere nicht beeinträchtigen. Obwohl. Wo, wenn nicht in der Kunst, fanden kritische Geister sonst ihren Platz? Und Film war ja eine Form der Kunst. Ich fuhr fort:
„Das glaubt doch kein Mensch! Als ob sich ein Bulle in eine Demonstrantin verlieben würde! Der zieht ihr doch eher den Knüppel übern Kopf, wirft sie mit dem Alten in die Wanne, fährt die beiden direkt zum Flughafen und setzt sie in den nächsten Abschiebeflieger!“
Tommy schüttelte nur den Kopf. Wahrscheinlich sah er gerade seine Filmkarriere über den Jordan gehen.
„Na ja, was erwartest du? Wir machen Unterhaltung. Wir verkaufen Träume. Die Realität will an einem Samstagabend doch niemand sehen. Da gibt es ‚Wetten das …‘, ‚Verstehen Sie Spaß?‘ oder eben eine leichte Liebesschmonzette“, sagte Daniel erstaunlich abgeklärt.
Noch einer, dem Hollywood die Träume abgekauft hatte.
„Jaja“, murmelte ich.
„Ihr seid echt, oder?“, fragte Daniel.
„Wie meinst’n das?“, antwortete Tommy.
„Na, ob ihr echte Punks seid?“
„Ähm, ja“, stammelte Tommy.
Vielleicht war die Filmkarriere doch noch nicht zu Ende.
„Na, dann kommt mal mit!“, sagte Daniel.
Wir liefen ein paar Meter in Richtung Schillerstraße auf einen Container zu.
„Es wird euch vielleicht freuen … die Polizisten, mit denen ihr gleich die Straßenschlacht drehen werdet, sind ebenfalls echt.“
Tommy und ich schauten uns grinsend an.
„Na ja, fast echt. Das sind Polizeischüler“, schob Daniel hinterher.
„Ähm, Daniel? Du meintest ja, der Vater würde von einem Pflasterstein getroffen. Werfen wir hier wirklich mit Pflastersteinen?“, fragte ich und versuchte, dabei so neutral wie möglich zu klingen.
Die Vorstellung, völlig legal angehende Knüppelbullen mit Pflastersteinen bewerfen zu dürfen, ließ mich innerlich vor Glück platzen. Sicherlich würde es eine Anweisung geben, dass wir die Steine nicht direkt auf die Bullen werfen sollten, sondern nur so weit, dass sie vor ihnen auf den Boden fielen. Aber hey, wer würde einem schon einen Strick daraus drehen, wenn der eine oder andere Pflasterstein etwas weiter flog als beabsichtigt? Ich sah schon blutende Bullen am Boden liegen, mit dem eigenen Schicksal hadernd und um Gnade winselnd. Diese Vorstellung trieb mir ein Grinsen ins Gesicht, das doch Abgeklärtheit suggerieren sollte.
Wir erreichten den Container, zu dem Daniel uns geführt hatte.
„Na, beantwortet das deine Frage?“, wollte Daniel von mir wissen.
„Oh ja!“, sagte ich deutlich fröhlicher als beabsichtigt.
Der Container war voll mit Pflastersteinen. Hunderte, wenn nicht Tausende lagen darin. Das würde reichen, um den Polizeischülern eine Lektion zu erteilen, die sie so schnell nicht vergessen würden.
„Na los, greif zu! Nimm dir einen. Mach dich mit dem Gefühl vertraut, so einen in der Hand zu halten“, forderte mich Daniel auf.
War der bekloppt? Und wenn schon! Ich griff in den Container und schnappte mir den erstbesten Pflasterstein. Plötzlich wich meine Vorfreude der Erkenntnis, dass Hollywood wirklich ein großer Schwindel war: Die „Pflastersteine“ waren täuschend echt aussehende Schaumstoffnachbildungen.
Tommy schien meine Enttäuschung zu spüren.
„Was ist los, Falk?“
„Nix“, antwortete ich.
„Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, wir würden die Polizisten hier mit echten Pflastersteinen bewerfen?“, fragte Daniel lachend.
„Nee, natürlich nicht“, sagte ich.
Sehr glaubwürdig klang das anscheinend nicht. Daniel ging immer noch lachend davon.
Plötzlich blieb er stehen und drehte sich zu uns um:
„Nur damit eins klar ist: Wenn ein Polizist von einem echten Pflasterstein getroffen wird, mache ich euch dafür verantwortlich!“, rief er uns ernst zu und ging dann lachend weiter.
Das war sie also, die große Traumfabrik. Und wir zwei Idioten hatten uns gerade so richtig zum Deppen gemacht.
„Was nun?“, fragte Tommy.
Statt zu antworten, fingerte ich eine Zigarette aus der Schachtel, die sich in der Innentasche meiner Lederjacke befand.
Ich schob die Zigarette in meinen Mund, zündete sie an und blickte auf die Schillerstraße. Ein Kamerakran war mittig positioniert. Junge Männer, die Mikrofone an langen Stäben in ihren Händen hielten, suchten anscheinend ihre richtige Position. Andere liefen hektisch umher.
„Wenn wir vor dem ersten Take noch Bier wollen, müssen wir uns beeilen“, sagte ich schließlich.
Wir verschwanden für kurze Zeit im Untergrund der Hauptwache und holten uns an einem Kiosk des S-Bahnhofs jeweils ein Bier. Das kippten wir kommentarlos herunter und holten uns jeder noch eins. Als wir wieder ans Tageslicht traten, schien es langsam loszugehen. Auf Höhe der Hauptwache stand plötzlich eine Hundertschaft Robocops. Sie trugen Helm, Schutzschild und Knüppel – waren also perfekt ausgerüstet für eine Prügelorgie. Auf der anderen Seite, in Richtung Börse, standen ebenso viele schwarz gekleidete, zum Teil vermummte Personen mit Pflastersteinen in der Hand.
Uns war klar, wo wir hingehörten. Wir liefen schnell zum Pflasterstein-Container und schnappten uns so viele Requisiten, wie wir tragen konnten – ein Pflasterstein verschwand sofort als Souvenir in meiner Jackentasche. Dann reihten wir uns in den „schwarzen Block“ ein.
Der Regisseur rief: „Action!“
Wir stürmten auf die Bullen los und die auf uns. Auf halbem Weg feuerten wir unsere Requisiten. Was jetzt folgte, glich einer dieser Schlacht-Szenen aus „Braveheart“ – nur dass an der Frankfurter Hauptwache niemand Lanzen, Schwerter oder Streitäxte mit sich trug. Stattdessen liefen alle halbwegs geordnet aneinander vorbei. Nur Tommy und ich versuchten, den Bullen durch Rempler oder Ellbogenschläge in die Seite einen mitzugeben. Aber da alles so schnell ging und die Polizeischüler gut gepanzert waren, taten wir uns nur selbst weh.
„Ja, danke! Das war gut. Gleich noch mal!“, rief der Regisseur den sich zerstreuenden Herden zu.
Produktionsassistenten sammelten die Pflasterstein-Requisiten ein und warfen sie in den Container. Und dann: alles zurück auf Anfang.
Der Regisseur rief erneut: „Action!“
Und wir stürmten erneut aufeinander los. Dann wieder auf Anfangsposition und von vorn. Und noch mal. Und dann wieder und wieder.
Bis er irgendwann rief: „Okay, danke! Kurze Pause!“
„Puh, ein Glück. Viel länger hätte ich das nicht ausgehalten“, sagte ich zu Tommy.
Der Schweiß lief in Strömen an meinem Körper hinab. Das Außenthermometer einer Apotheke zeigte 34 Grad. Wir sanken erschöpft zu Boden.
„Ich auch nicht“, keuchte Tommy.
So geil wir auch aussahen – für das Wetter waren wir falsch angezogen. Doch das war nur der Anfang. Der Regisseur ließ den kompletten Nachmittag diese Straßenschlacht in den verschiedensten Einstellungen drehen. Immer und immer wieder rannten wir auf die Bullen zu und warfen unsere Pflasterstein-Requisiten.
Immer und immer wieder rief der Regisseur: „Vielen Dank! Da steckte schon viel Liebe drin! Und gleich noch einmal!“
Ich weiß nicht, wie oft ich mich an diesem Nachmittag dafür verflucht habe, ausgerechnet heute Lederjacke und Springerstiefel anziehen zu müssen, aber ich tat es sehr häufig.
Irgendwann dann die Erlösung: „Danke, das war es für heute!“
Für uns hieß das: endlich Feierabend! Wir verabschiedeten uns von Daniel und einigen anderen Komparsen, die wir an diesem Tag kennengelernt hatten, und stiegen völlig ausgelaugt in unsere S-Bahn zurück nach Wiesbaden. Selbst zum Biertrinken waren wir zu erschöpft. Aber wir waren auch voller Hoffnung und voller Träume. Zwar hatte uns kein Talentscout angesprochen, aber ich war mir sicher: Spätestens, wenn der Film im Fernsehen lief und man uns als entschlossene Straßenkämpfer sah, würde Hollywood sich schon melden.
Im Fernsehen war der Film dann schließlich ein knappes Jahr später zu sehen. Nicht samstags und nicht zur Primetime und nicht im Zweiten, sondern an einem Donnerstag um 22:15 Uhr auf ARTE. Ich fieberte dem Tag trotzdem mit einer gewissen Anspannung entgegen. Arthouse war eh geiler als Hollywood!
Pünktlich um 22:15 Uhr saß ich vor dem kleinen Fernseher in meinem WG-Zimmer. Zur Feier des Tages hatte ich mir ein paar Becks gegönnt.
„Ein packendes Sozialdrama und eine Liebe, die Grenzen überwindet“, erklärte der Ansager und dann ging es endlich los.
Auf dem Bildschirm: eine schwarze Meute. Sie sind wütend. Sie schreien. Sie werfen Pflastersteine. Schnitt.
Polizisten in Kampfmontur. Schnitt.
Ein alter Mann liegt blutend auf dem Boden. Eine junge Frau kniet vor ihm. Neben ihr ein junger Polizist. Sie schauen sich tief in die Augen. Schnitt.
Dann geht die eigentliche Handlung los. Die sozial-dramatische Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf.
Etwa acht Sekunden hatte es dafür gebraucht. Ich war nicht im Bild.
Vor mir lag die Pflasterstein-Requisite, die ich vom Dreh hatte mitgehen lassen. Ich nahm sie in die rechte Hand. Ich schaute sie mir genau an. Verfolgte die Wölbungen und Kanten der Oberfläche mit meinen Augen. Dann holte ich aus und warf sie gegen den Bildschirm. Mit einem leisen Plopp prallte sie ab und kullerte noch etwas über den Boden.
Der Weg nach Hollywood war weit und ich war schon an der Hauptwache gescheitert. Ich musste der Wahrheit ins Auge blicken. Hollywood hatte mir Hoffnung gegeben und mich im Gegenzug bei lebendigem Leib verspeist, nur um mich dann wie ein Stück Knorpel in den Abfluss zu spucken. Die Traumfabrik wollte mich nicht: Meine Hoffnungen waren nur ein weiterer Kiesel auf dem Boulevard der zerbrochenen Träume, eine Träne im Fluss der Verdammten, ein einsames Blatt, vom Winde verweht. Wollte ich eine Zukunft haben, musste ich etwas Vernünftiges mit meinem Leben machen. Musiker werden, zum Beispiel. Dieser Gedanke beruhigte mich.
Ich schaltete den Fernseher aus und gründete eine Band.