Problemgeschichte der Gegenwart
herausgegeben von Dominik Geppert
Für Ise
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1. Auflage 2019
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Umschlagbild: © istockphoto.com/Tobias Ott.
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-022011-9
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pdf: ISBN 978-3-17-032535-7
epub: ISBN 978-3-17-032536-4
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Der Weg der Westdeutschen in eine demokratische Gesellschaft nach 1949 ist häufig als eine Annäherung an den politischen Westen, genauer an die alten westlichen Demokratien Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten beschrieben worden.1 Die Tiefendemokratisierung Westdeutschlands sei demnach in den 1960ern geschehen und in den 1970ern wurde man sich dieses Gewinns bewusst. So lautet zumindest das vorherrschende Narrativ. Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte, ohne dass es eine neue Erzählung an die Stelle der alten setzen will. Die Annäherung an den Westen kann nicht bestritten werden. Die folgenden Kapitel schauen auf die westdeutsche Demokratie durch die Linse des Föderalismus. Sie beschreiben die in der deutschen föderalen Tradition liegenden Chancen und Ermöglichungen für die Demokratie. Bereits vor der Revolution von 1848 waren deutsche Demokraten begeistert von der Demokratie in den jungen Vereinigten Staaten und von ihrem föderalen Aufbau.2 Erst nach 1848 und zumal nach 1871 diente der Föderalismus dazu, die Demokratisierung und die Parlamentarisierung im Kaiserreich zu blockieren. 1949 erfand der Parlamentarische Rat den demokratischen Bundesstaat nicht neu. Die entscheidenden Zäsuren des Bundesstaates lagen im 19. Jahrhundert. Die Verfassungsgebenden Versammlungen von 1848, 1867–71 und 1919 hatten Föderalismus und Demokratie immer wieder verschieden kombiniert. Auch 1949 fügten die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese beiden Prinzipien neu zusammen. Der Föderalismus sollte jetzt anders als im Kaiserreich die Demokratie stärken. Darin liegt eine selten in den Blick genommene Traditionslinie der westdeutschen Demokratie.
Dieser Rückgriff auf ältere politische Traditionen im Moment der Krise hatte eine historische Parallele in den preußischen Reformen nach der Niederlage gegen Napoleon im Jahr 1806. Auch sie sind als Übernahme von napoleonischen Reformen und von Elementen der Französischen Revolution interpretiert worden.3 Das galt insbesondere für die Rheinbundstaaten, die unter dem direkten Einfluss Frankreichs standen. Für Preußen hat Reinhart Koselleck dagegen herausgearbeitet, dass Reformer wie Karl August von Hardenberg und Theodor von Schön nach 1806 an politische und rechtliche Traditionen aus dem 18. Jahrhundert anknüpften. Das betraf vor allem das preußische Naturrecht und die Tradition des Rechtsstaates. Der Rückgriff auf ältere und eigene Traditionen erlaubte es den Reformern, den preußischen Staat von Grund auf zu reformieren.4 Auch 1949 richtete sich der Blick nach Westen, aber auch zurück in das 19. Jahrhundert. Als die westlichen Alliierten die Rahmendaten für die Verfassungsberatungen vorgaben, stießen sie bei den Ministerpräsidenten und den Parteien nicht zuletzt deshalb auf Zustimmung, weil das keinen Oktroi darstellte, sondern lange Linien der deutschen Geschichte fortsetzte.
Die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vollzogen keinen Bruch mit der Vergangenheit, sondern sie kombinierten Föderalismus und Demokratie, beides Elemente der politischen Ordnung des 19. Jahrhunderts, neu. Föderale Ordnungen waren sogar noch älter und reichten in das Alte Reich und ältere bündische Strukturen zurück.5 Der Parlamentarismus war seit dem Vormärz fest etabliert. 1867 kam das demokratische Männerwahlrecht hinzu. Der Rat der Volksbeauftragten führte im November 1918 das Frauenwahlrecht ein. Die folgenden Seiten erzählen die Geschichte der Verbindung dieser älteren Elemente nach 1949. Es blieb nicht bei der Konstellation von Föderalismus und Demokratie, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 herstellten. Dieses Verhältnis gestaltete sich mehrmals neu. Was 1949 als Föderalismus und Demokratie galt, änderte sich bis 1969 und dann wieder bis 1989 gründlich. An jeder dieser Zäsuren ging eine neue Sicht auf Demokratie mit einem neuen Verständnis des Föderalismus einher.
Es gab in der Bundesrepublik nicht einen großen Durchbruch zur Demokratie. Das Verständnis und die Praxis von Demokratie änderten sich vielmehr permanent. Dass der Wandel der föderalen Institutionen und der Demokratie eng miteinander zusammenhingen, ist die Ausgangsbeobachtung der folgenden Überlegungen. Beide bekannten sich anfangs zum Anti-Zentralismus als Diktaturprävention. Doch schon in den 1950er Jahren standen Föderalismus und Demokratie unter dem Imperativ der Angleichung der Lebensverhältnisse. Beide entwickelten sich unitarisch. Auf den unitarischen Bundesstaat folgte der kooperative Föderalismus mit seiner Verflechtung von Bundestag und Bundesrat, von Mehrheitsentscheidung und Verhandlungskompromiss. 1990 kam mit der deutschen Einheit die Angleichung der Lebensverhältnisse mit Macht zurück auf die Agenda von Föderalismus und Demokratie. Spätestens 1994 trat die europäische Ebene als dritte Ebene von Verhandlung und Kompromiss hinzu.
Treibende Kraft hinter dieser ständigen Neukonfigurierung war die Spannung zwischen Föderalismus und Demokratie. Beide waren mitnichten identisch. Mehr noch: Die deutsche Geschichte bot bis 1949 keine belastbaren Belege dafür, dass sie sich gegenseitig stützen konnten. Nach einer anfänglichen Begeisterung bei den vormärzlichen Liberalen und Demokraten für föderale Modelle aus den USA hieß es nach 1848: Entweder Föderalismus oder Demokratie. Der Föderalismus mutierte von einem Instrument der Gewaltenteilung und demokratischen Repräsentation zu einem der Herrschaftssicherung für die Regierungen und die Fürsten. Die frühen Parteigründungen geschahen vor dem Hintergrund, dass starke föderale Institutionen und ein starker Reichstag sich gegenseitig ausschlossen. Die demokratische Linke machte die Erfahrung, dass der Föderalismus zumindest bis 1918 der Demokratieprävention diente. Die Weimarer Reichsverfassung definierte ihre demokratischen Gehalte entsprechend viel stärker gesamtstaatlich und unitarisch. Als dezentralisierter Einheitsstaat mit einem preußischen Übergewicht wollte die Republik gerade ein Gegenentwurf zum demokratiefeindlichen Föderalismus des Kaiserreichs sein. Die Nationalliberalen hatten 1871 und die Sozialdemokraten 1919 gute Gründe, skeptisch gegenüber dem Föderalismus zu sein. Aber auch in anderen Staaten wie den USA und der Schweiz harmonierten Föderalismus und Demokratie nicht immer. In den USA mündete der Konflikt in der Frage der Sklaverei zwischen der Bundesebene und den Südstaaten in einem Bürgerkrieg. In der Schweiz führten die liberalen Kantone 1847 gegen die katholischen Sonderbundskantone einen Sonderbundskrieg. In beiden Staaten war der Föderalismus stark und demokratische Beteiligungsrechte wurden hochgehalten. Zur Deckung kamen Demokratie und Föderalismus indessen erst spät.
Dass Föderalismus und Demokratie vielfach in Konflikt zueinander standen, hatte einen prinzipiellen Grund. Der Konflikt war nicht konkreten Umständen geschuldet, sondern ergab sich aus unterschiedlichen Zielen. Der Föderalismus will territorial organisierte Interessen ausgleichen, während Demokratien Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Funktionen regeln wollen, wie sie typischerweise in Parteien ihren Ausdruck finden. Beide Ziele müssen sich nicht widersprechen. Sie können zusammenkommen. Doch dass sie gleichzeitig verwirklicht werden, ist keineswegs selbstverständlich.6 Schließlich bearbeiten Föderalismus und Demokratie verschiedene Gegensätze mit anderen Mitteln. Die Demokratie will im Idealfall Konflikte durch allgemeine Wahlen und Mehrheitsentscheidungen lösen. Doch dabei bleibt die Bemühung nicht stehen. Tatsächlich werden Kontroversen zwischen Gruppen, lokaler und regionaler Regelungsbedarf auf die gesamtstaatliche Ebene gezogen. Das gilt in der Regel für mehrere Konflikte und politische Projekte. Meinungsverschiedenheiten, die sich an vielen Orten finden, werden so nicht vor Ort entschieden, sondern in eine parlamentarische Entscheidungsmaterie transformiert. Nicht selten sind die Fälle, dass die demokratische Mehrheitssuche dann verschiedene Projekte miteinander verbindet und nach dem Paketprinzip oder dem do-ut-des Prinzip arbeitet, um überhaupt zu Regelungen zu kommen. Schließlich sind Parteien und Fraktionen keine homogenen Blöcke. Der Bundesstaat von 1871 kannte dieses Prinzip, das Konflikte prozeduralisierte, sie in eine Hierarchie brachte und so bearbeitbar machte.
Auch der Föderalismus bearbeitet Konflikte, allerdings mit anderen Mitteln und auf anderen Ebenen. Der Föderalismus ist ein Mehrebenensystem und ordnet Kompetenzen den Ländern, dem Bund oder beiden gemeinsam zu. Das variiert freilich zwischen den föderalen Systemen in Nordamerika und in Europa. Die Länder können Konflikte unter sich regeln und treffen damit eine gesamtstaatliche Regelung, oder sie können diese mit dem Bund entscheiden. Im Föderalismus dominiert das Aushandlungsprinzip, nicht das Mehrheitsprinzip. Als komplexes politisches Ordnungsmodell verbindet er Selbstbestimmung mit Mitbestimmung. Der Föderalismus war – selbst unter den antidemokratischen Vorzeichen des Fürstenbundes von 1871 – eine erfolgreiche Form von Konfliktmanagement und galt auch deshalb nach 1945 als positiver Teil der deutschen Geschichte. Das ist vor allem im Ausland so gesehen worden.
Der Föderalismus kennt einen Bezug zum Raum, den er gliedert und ordnet. Seine Art des Regierens basiert auf Machtteilung, Verhandeln und Ausgleich. Sowohl der territoriale wie auch der systemische Aspekt fanden sich in der deutschen Geschichte seit der Frühen Neuzeit. Die politische Ordnung im Alten Reich war kleinteilig. Konflikte zwischen den zahlreichen Akteuren wurden nicht vertikal entschieden, sondern permanent ausgehandelt. Der »Immerwährende Reichstag« war herrschende Staatspraxis.7 Bis ins 19. Jahrhundert gab es ganz verschiedene Arten und Weisen, Machtteilung zu organisieren. Die begriffliche Vielfalt der staatsrechtlichen Diskussion reichte von »Staaten-Verbund« und »Staaten-Verein« bis zu den nordamerikanischen »Freistaaten« und ihrer »Union«.8
Dieser Analyse liegt ein realistischer Begriff der Demokratie zugrunde, der über Wahlen hinausgeht. Der demokratische Prozess reicht nämlich über die Teilnahme an Wahlen hinaus und umfasst weitere Felder der Kommunikation zwischen Politik und Elektorat sowie andere Foren des gemeinschaftlichen Diskurses. Die demokratische Teilnahme an Wahlen ist erst der Beginn des demokratischen Prozesses, den in der Bundesrepublik nicht zuletzt föderale Institutionen strukturierten. Der nordamerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber beschrieb eine »starke Demokratie« im Schweizer Kanton Graubünden unter den Bedingungen eines starken Föderalismus und ausgeprägter Machtteilungen, auch wenn er seine Zweifel an deren Zukunftsfähigkeit hatte.9 Die Literatur zur deliberativen Demokratie hat herausgearbeitet, dass föderale Machtteilungen eine höhere Qualität des politischen Diskurses und damit auch bessere Entscheidungen begünstigen.10 Die Machtteilung, zumal vertikal zwischen verschiedenen Ebenen, und die Orientierung am Konsens begünstigte eine »kinder, gentler form of democracy« (Arend Lijphart). Föderale Machtteilung prägte die Qualität und die politischen Ergebnisse der Demokratie und des politischen Diskurses.11 Gerade anspruchsvollere Arten der Demokratietheorie, die Machtteilung, Deliberation und Bürgernähe ins Zentrum stellten, standen dem Föderalismus näher als solche, die Wettbewerb und Konsens einander gegenüberstellten. Demokratische Systeme kannten eine große Variationsbreite. Auffallend viele erfolgreiche Demokratien kannten föderale Institutionen.12
Der Föderalismus bearbeitete territorialisierte Interessen, die Demokratie dagegen gesellschaftlich segmentierte Interessen von sozialen oder religiösen Großgruppen. Die Geschichte der Schweiz nach 1848, aber auch des Kaiserreichs zeigten, wie Konflikte allgemeine, jedoch segmentierte Interessen aufkommen ließen. Der Kulturkampf zwischen Liberalen und Katholiken führte in der Schweiz und im deutschen Kaiserreich zu einer Nationalisierung des Parteiensystems, das die Länder- und Sprachengrenzen übersprang. Die katholische Zentrumspartei wurde zu einer reichsweiten Partei mit Abgeordneten aus Nord und Süd, West und Ost. Umgekehrt entdeckten im deutschen Kulturkampf nach 1872 Liberale in München, Freiburg im Breisgau, Köln und Breslau ihre Gemeinsamkeiten. Der gleiche Mechanismus von Integration durch Konflikt traf auf die sozialdemokratischen Arbeiter unter den Sozialistengesetzen zu. Nicht sozial vergleichbare Lagen brachten die Arbeiter in Stuttgart und Magdeburg zusammen, sondern die Schärfe der Ausgrenzung unter den Sozialistengesetzen.13 Der deutsche Soziologe Georg Simmel arbeitete schon vor 1914 die integrierende Wirkung von Konflikten heraus.14 Dem ist auch diese Studie verpflichtet.
Um bindende politische Entscheidungen zu produzieren, musste eine ständig wachsende Komplexität der politischen Materie so reduziert werden, dass sie politisch bearbeitbar wurde. Der Markt an Gütern und Dienstleistungen, der vor und nach 1871 gleichzeitig mit dem Bundesstaat entstanden war, hatte dafür gesorgt, dass die Handelsgesetzgebung national geregelt wurde. In der Bundesrepublik übte das Bildungssystem einen ähnlichen Druck auf die Schulsysteme der Länder aus, zu gemeinsamen Regelungen zu kommen. Föderale Akteure, Politiker des Bundestages und die Bundesregierung standen angesichts zunehmend komplexerer Materien auf immer mehr Politikfeldern unter steigendem Druck, zu gemeinsam getragenen Entscheidungen zu gelangen. Beispiele für steigenden Regelungsbedarf waren in der Bundesrepublik die Energiepolitik, die Umweltpolitik und die Gesundheitspolitik. Entscheidungen ergaben sich aus Konsens, Kompromiss und Mehrheitsbeschlüssen. Das bedeutete in aller Regel Kommissionsarbeit und Verhandlungen. Nur demokratische Politik war auf Dauer in der Lage, für alle verbindliche Entscheidungen zu erreichen. Die demokratische Entscheidung und der föderale Konsens bildeten die prominentesten Steuerungsmedien hochkomplexer Gesellschaften, die in der Lage waren, Folgsamkeit für Regeln herzustellen.
Entscheidend war, dass der Parlamentarische Rat zuerst zögerlich und nicht immer konsistent auf neue Formen der Konfliktbearbeitung setzte. Das betraf vor allem die Rolle der Parteien, die er gegen alle Widerstände aufwertete. Das Neue an der Bundesrepublik war, dass die Parteien nicht nur im Parlament, sondern auch im Bundesrat Politik gestalteten. Bis 1933 hatten die Regierungen der Länder, oft vertreten durch ihre Bundesratsbevollmächtigten, im Bundesrat, später im Reichsrat zusammengearbeitet. Nach 1949 übernahmen die Parteien diese Rolle. Das war systemisch gesehen neu und unterschied den Föderalismus in der Bundesrepublik von seinen Vorgängern.
Föderalismus und Demokratie waren an Voraussetzungen geknüpft. Woher kam die Autorität des Konsenses und woher die Mehrzahl der Kompromisse? Warum stimmten sich regionale Interessen überhaupt mit anderen ab? Warum bildeten Mitglieder einer sozialen Klasse oder Konfession mit anderen Klassen und Konfessionen zusammen überhaupt eine Großgruppe? Beide, Föderalismus und Demokratie, standen in der Tradition liberaler Erzählungen von Gesellschaft und Nationalstaat. Für die Teile war es in der liberalen Großerzählung nützlich und sinnvoll zusammenzuarbeiten und sich zu koordinieren, weil sie zusammen stärker waren. Zusammen waren sie sogar mehr als ihre Summe, wenn man dem urliberalen Motto »e pluribus unum« folgte. Die Liberalen gingen davon aus, dass der Teil und das Ganze in einer win-win-Situation standen, bei dem beide – nicht nur der Nationalstaat! – gewinnen würden. Die Verfolgung ihres Eigeninteresses gebot den Bundesstaaten, mit den anderen zusammenzuarbeiten. Gemeinsam erreichte man Ziele, die nicht in Reichweite der einzelnen Glieder standen. Damit hing die andere Großerzählung zusammen, die davon ausging, dass die Demokratie typischer- und nicht nur zufälligerweise im Nationalstaat entstand. Nationalstaaten, nicht Reiche, Imperien oder Stadtstaaten bildeten den institutionellen Rahmen der Demokratie – und übrigens auch des Wohlfahrtsstaates. Tatsächlich lässt sich das historisch mit einer Ausnahme bestätigen. Die moderne Demokratie entstand als Verfassungsform in Frankreich, Großbritannien, den USA, den nordischen Staaten und anderswo in Nationalstaaten.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildete die Bundesrepublik Deutschland nach 1949. Nach 1949 verstanden sich weder die West- noch die Ostdeutschen für sich je als Nationalstaat. Bereits im Hinblick auf die Bundesrepublik, aber auch auf die EU stellte sich die Frage: inwieweit waren Demokratie und Föderalismus an einen nationalstaatlichen Rahmen gebunden? Ließen sie sich auf andere, nicht nationalstaatlich, sondern trans- oder supranational verfasste Räume übertragen? Im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik vor und nach 1990 kann man von der erwiesenen Fähigkeit des Föderalismus und der Demokratie sprechen, sich zu relozieren und zu re-dimensionieren. 1949 konnte man sich das ex ante schwer vorstellen. Der historische Erfahrungsraum der westdeutschen Politiker kannte den Nationalstaat als den gegebenen Rahmen des Föderalismus und erst recht der Demokratie. Die Bundesrepublik aber war kein Nationalstaat.
Föderale Ordnungen existierten weit über die Bundesrepublik hinaus in Westeuropa, Nordamerika und auf anderen Kontinenten, vor allem in den früheren britischen Kolonien und in Südamerika. Föderale Ordnungen spielten nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Raum eine Rolle. In der Zeit des Kalten Krieges stabilisierte der Föderalismus die Bundesrepublik und näherte sie dem politischen Westen an. In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Europäischen Gemeinschaft und nach 1992 in der Europäischen Union bildete der Föderalismus gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich alle Staaten einigen konnten. Anders als in der Entkolonialisierung nach 1947 entstanden nach 1990 kaum föderale Staaten, sondern unitarisch und demokratisch verfasste Nationalstaaten.
Auch in der deutschen Geschichte lassen sich Zäsuren und Funktionen des Föderalismus beobachten. Diese Zäsuren liegen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 und in der Zeit nach 1990. 1945 sahen die meisten Deutschen die Abtretung der deutschen Gebiete östlich der Oder, Schlesiens und Ostpreußens nicht durch die föderale Brille als Verlust von Ländern, sondern vielmehr durch die preußische Perspektive als massive Verkleinerung des größten Landes. Das schlug sich in der politischen Sprache nieder: »Ostgebiete« gingen verloren, nicht Länder. Die Akzeptanz des Weststaates und seiner föderalen Ordnung wurde dadurch erleichtert, dass Ostgebiete, nicht aber Länder abgetreten worden waren. Auch 1949 und 1990 bildeten Zäsuren, wenn auch unterschiedliche. Das Gegenmodell der SED-Herrschaft stabilisierte 1949 den föderalen Gründungskonsens des Weststaates von außen. Im Unterschied dazu stellte der Föderalismus 1990 eine Bestandsgarantie für die Arrangements der Bonner Republik nach Art. 23 in den östlichen Bundesländern dar. Sein Gegenmodell lag in der untergegangenen DDR.
Der Untersuchungszeitraum der folgenden Studie reicht von 1945 bis 1994. Von der Gründung der Bundesrepublik bis 1994 galt das Verfassungsgebot der Angleichung der Lebensverhältnisse (Art. 72). Die Grundgesetzänderung von 1994 machte aus der Gleichheit die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, was mit einem deutlich niedrigeren Verpflichtungsgehalt einherging. Der soziale Bundesstaat und die Identität von Sozialstaat und Bundesstaat bildete die selbstverständlich akzeptierte Normalitätsfiktion der alten Bundesrepublik, die alle Parteien teilten. Der Sozialstaat favorisierte unitarische Lösungen auch im föderalen Rahmen. Er wurde zudem durch eine demokratietheoretische Annahme stabilisiert, wonach die Bundesrepublik wie die Weimarer Republik existentiell gefährdet sein würde, wenn Armut und Arbeitslosigkeit anstiegen. Auf eine knappe Formel gebracht: Ohne Sozialstaat keine Demokratie. Im sozialen und demokratischen Bundesstaat waren Demokratie, Föderalismus und Sozialstaat engstens miteinander verwoben. Diese Verbindung lockerte sich nach 1994 allmählich.
Nur wenig am politischen System der Bundesrepublik war wirklich neu. Bis auf das Bundesverfassungsgericht bestanden die anderen Institutionen bereits in der Weimarer Republik und im 19. Jahrhundert. Historische Studien, die sich an der Methode des Historischen Institutionalismus orientieren, arbeiteten die Pfadabhängigkeit des Föderalismus in der Bundesrepublik heraus.15 Bereits das Alte Reich vor 1806 kannte mit seinem »Immerwährenden Reichstag« und der »itio in partes« ein permanentes Verhandlungssystem. Dieses setzte sich nach 1815 im Frankfurter Reichstag und nach 1871 im Bundesrat und seinen Kommissionen fort. Die Verfassung von 1871 gewichtete anders als das Senatssystem der Vereinigten Staaten oder der Schweizer Ständerat die Stimmen der Bundesstaaten. Mit ungefähr 60% der Reichsbevölkerung der mit Abstand größte Bundesstaat erhielt Preußen aber weniger als die Hälfte der Bundesratsstimmen. Das stärkte das Verhandlungsprinzip als Grundlage der Politik. In die gleiche Richtung wirkte die ständige katholische Forderung nach Parität mit der protestantischen Mehrheitskonfession im Reich. Lange vor der Bundesrepublik strukturierten föderale Momente wie Parität, Proporz und Konkordanz die deutsche Politik im 18. und 19. Jahrhundert. Dennoch lassen sich Phasen der Entwicklung und Konstellationen von Föderalismus und Demokratie unterscheiden.
So bildete die Reichsgründung 1871 eine Zäsur. Zwei Mechanismen kamen 1871 zusammen. Das Verhandlungsprinzip war älter und kennzeichnete bereits den Deutschen Bund und das Alte Reich. Dieses horizontale Prinzip wurde vertikal überformt durch den demokratisch gewählten Reichstag, dem weite Teile der Gesetzgebung auf der Reichsebene oblagen. In den Verfassungsberatungen kam es zu einem Kompromiss zwischen dem horizontalen und dem vertikalen Prinzip: Die Kompetenz für die Gesetzgebung sollte beim Reich, die Ausführung der Gesetze bei den Ländern liegen. Für diesen deutschen Typ bürgerte sich der Name »kooperativer Föderalismus« ein. Auch die Finanzhoheit lag noch lange nach 1871 bei den Ländern. Erst allmählich entwickelte sich ein vertikales Verhandlungssystem zur Finanzierung der Reichsaufgaben. Das Prinzip der Kooperation galt sowohl für die horizontale als auch für die vertikale Ordnung des Reichs. Die Länder kooperierten miteinander im Bundesrat und sie arbeiteten gleichzeitig mit der Reichsebene in Gestalt des Reichstages und der Reichsregierung zusammen. Diese vertikale Überformung des Verhandlungsprinzips schlug sich in einer neuen Begrifflichkeit nieder. Erst im Kaiserreich setzte sich in der liberalen Staatsrechtslehre die Begrifflichkeit von ›Staatenbund‹ und ›Bundesstaat‹ durch, welche die spätere Diskussion prägte. Für Paul Laband und Albert Hänel kam der Staatenbund durch einen Vertrag zustande, und die Souveränität lag bei seinen Gliedstaaten, während der Bundesstaat durch eine Verfassung entstand und die Souveränität folglich beim Gesamtstaat lag. Im Bundesstaat von 1871 galt der Grundsatz »Reichsrecht bricht Landesrecht«. Diese Denkfigur lag noch den staatsrechtlichen Debatten in der Bundesrepublik zugrunde.
Die Weimarer Republik überformte das bundesstaatliche Modell von 1871 noch einmal durch die Mehrheitsdemokratie. Die parlamentarische Demokratie von 1919 setzte sich damit deutlich vom Kaiserreich ab und stärkte die gesamtstaatliche Ebene auf Kosten der Länder. Die Weimarer Reichsverfassung favorisierte die parlamentarische Mehrheitsentscheidung, kannte aber auch den Reichsrat, Verhandlungen und Koordination. Koalitionsverhandlungen zogen sich in die Länge. Auch danach gab es permanent Bedarf an Verhandlungen und Kompromissen. Um aus diesem ständigen Zwang zur Verhandlung herauszukommen, favorisierten viele der Linken die Rätedemokratie sowjetischen Musters, wieder andere sahen die demokratischen Gehalte in der absoluten Identität eines Volkes und in der Volksgemeinschaft am besten verwirklicht. Mischformen entstanden. Auch die Weimarer Republik war keine reine Mehrheitsdemokratie. Der Zwang zur fortgesetzten Verhandlung zeigte sich jedoch weniger im Reichsrat als vielmehr in der parlamentarischen Arena unter den Regierungsparteien.
Nicht die politischen Institutionen nach 1949 waren neu, wohl aber ihre Konfiguration. Zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat stand nicht mehr eine Reichsregierung, die sich gegenüber der einen und hinter der anderen Institution verstecken konnte. Über Bundesrat und Bundesregierung gab es keine Monarchie und keinen Reichspräsidenten mit Notverordnungsrecht mehr. Die Größe und Bevölkerungszahl der Länder lag nach der Auflösung Preußens viel näher beieinander als zuvor, was den Bundesrat zu einer echten Ländervertretung machte. Im Kaiserreich stellte der Bundesrat den verlängerten Arm Preußens dar, dessen Außenminister – bis 1890 Bismarck selbst – in Verhandlungen mit den »Verbündeten Regierungen« Konsens herstellte. Die Auflösung Preußens schuf eine neue Konstellation, in der Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat einander auf Augenhöhe begegneten. Die Regierung konnte sich nicht mehr auf das Gewicht Preußens in der Länderkammer verlassen, sondern hatte selbst dann Mehrheiten im Bundesrat zu organisieren, wenn dort die Regierungen von der eigenen Partei gestellt wurden. Die Opposition im Bundestag hatte jetzt – zum ersten Mal! – faktisch Stimmrecht im Bundesrat, weil sie immer irgendwo regierte. Auch das war neu.
Demokratische Institutionen fanden sich in der Bundesrepublik auf Bundes- und Länderebene. Das gab es zwar im Prinzip schon in der Weimarer Republik, unterlag damals aber noch vielen Beschränkungen. Die Verdoppelung demokratischer Ebenen verankerte Parteien, Wahlen, Parlamente und demokratisch zustande gekommene Mehrheiten im Alltag der Westdeutschen. Die Demokratie prägte die Politik auf mehreren Ebenen bis in die Kommunen hinein. Der Bundesstaat war das Haus der Demokratie.
Der neue Weststaat wiederholte demokratische Prozesse nicht nur auf mehreren Ebenen, er kannte auch mehrere Sorten demokratischer Legitimität. Dieses Buch folgt der Einsicht von Pierre Rosanvallon, dass die Demokratie heute nicht mehr eine einzige Legitimitätsquelle besitzt, sondern mehrere.16 Rosanvallon arbeitete das »decentering«, d. h. die Vervielfachung demokratischer Legitimitäten im 20. Jahrhundert heraus. Das galt auch für Demokratien, die auf dem Föderalismus aufbauen. Nach Rosanvallon kennen moderne Demokratien nicht nur eine einzige Form von Legitimität, sondern mehrere. Auch der Föderalismus der Bundesrepublik besaß vielfältige demokratische Potenziale. Er bot Bürgernähe und Rückbindung, vermehrte Partizipationsmöglichkeiten, Beteiligungschancen für regionale und lokale Interessen, mehr Sachverstand und – nicht zu unterschätzen – er war integrationsoffen für neue Länder wie das Saarland 1957 und die ostdeutschen Länder 1990. Die Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, später in die Europäische Gemeinschaft und dann in die Europäische Union war bereits angelegt. Das zeigte sich 1993 nach dem Vertrag von Maastricht. Die Dezentrierung demokratischer Legitimität unterschied die Bundesrepublik vom klassischen Nationalstaat. Was die Westdeutschen unter demokratischer Legitimität verstanden, änderte sich. 1955 erachteten sie etwas anderes als legitim als 1980. Demokratische Legitimität unterlag dem historischen Wandel.
Dieses Buch zeichnet verschiedene Konfigurationen im Verhältnis von Demokratie und Föderalismus nach. Sie können ihrerseits grob den verschiedenen Perioden in der Geschichte der Bundesrepublik zugeordnet werden. Daher folgt auf das Kapitel zur Gründung des demokratischen Bundesstaates ein Kapitel zum unitarischen Bundesstaat, dem Ergebnis der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik. In der Mitte des Buches stehen zwei Kapitel zu Strukturdimensionen des Föderalismus im historischen Längsschnitt bis 1990: zum Kulturföderalismus und zum Parteienwettbewerb. Man möchte meinen, dass die Kultur im Zentrum des Föderalismus steht. Für die Bundesrepublik stimmt das nur bedingt. Vielmehr organisierten die Parteien Konkurrenz und Konsens, sie lenkten die Länder und den Bund. Schließlich hielten die Parteien in ihrer Organisation mehrere Ebenen zusammen. Die Bundesrepublik war auch ein Parteienbundesstaat. Das fünfte Kapitel nimmt den chronologischen Faden wieder auf und behandelt die Politikverflechtung und den kooperativen Föderalismus der 1970er und 1980er Jahre. Das abschließende Kapitel stellt die föderale Demokratie nach der Wiedervereinigung mit ihrer immer stärkeren europäischen Dimension dar.
Die Geschichtsschreibung zur frühen Bundesrepublik konzentrierte sich lange auf den Parlamentarischen Rat und den Weg zum Grundgesetz, auf die Parteien und die Regierungsbildung von 1949 sowie auf die frühen Weichenstellungen durch Konrad Adenauer. Arnulf Baring formulierte 1969 diese Zugangsweise: »Im Anfang war Adenauer.«1 Man studierte die Besatzungszonen und den Gesamtstaat. Die Länder, ihre Koordinierung untereinander und ihre Rolle beim Aufbau der Bundesrepublik fanden dagegen sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Hans-Ulrich Wehler übersprang in seiner Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik gar die frühe Phase des Föderalismus gleich ganz und setzte in seinen knappen Ausführungen zum Föderalismus nach 1949 beim »unitarischen Bundesstaat« ein.2
Historiker waren hier Akteure und nicht nur Beobachter, zumal sie lange den Gesamtstaat und nicht die Länder in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen stellten. Bereits die nationalliberale Historiographie des 19. Jahrhunderts, der sie implizit oder explizit folgten, hatte im Nationalstaat die historische Einheit der Analyse gesehen. Für viele Historiker konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die Parteien und die Besatzungsmächte die Bundesrepublik, den Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, gründeten, nicht aber die Länder. Ein Blick in die Vereinigten Staaten schien das Gleiche zu lehren, wo der Föderalismus nämlich ein demokratisches, immer aber ein gesamtstaatliches Narrativ bildete. »Federal« meinte Washington und die Bundesbürokratie, während man in Deutschland, im Westen wie im Osten, unter »föderal« die Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts verstand. Der Föderalismus konnte so gesehen nur als Demokratie-Formel auf nationaler Ebene erträglich werden.3 Und genau das machte das Grundgesetz 1949. Schon der Name »Bundesrepublik« kam aus der Tradition einer föderalen Verbindung von Demokratie und Republik. Der Schweizer Historiker Johannes von Müller hatte 1788 Montesquieus Formulierung der »république fédérative« im neunten Buch der »Esprits des lois« mit »Bundesrepublik« übersetzt. Unter einer »république fédérative« verstand Montesquieu »une société de sociétés, qui en font une nouvelle, qui peut s’agrandir par de nouveaux associés qui se sont unis.« Sie war »une manière de constitution qui a tous les avantages intérieurs du gouvernement républicain, & la force extérieure du monarchique. Cette sorte de république, capable de résister à la force extérieure, peut se maintenir dans sa grandeur, sans que l’interieure se corrompe: La forme de cette société prévient tous les inconvéniens.«4 Eine Bundesrepublik war eine Republik von Republiken. Nach Montesquieu fanden sich »républiques éternelles« vor allem in den ehemaligen Ländern des Alten Reichs, vorzugsweise in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden.
Diesem Blick erschienen die Länder leicht als Überbleibsel der Geschichte. Verstärkt wurde der Akzent auf die gesamtstaatliche Ebene noch durch den politischen Stellenwert von Modernität und Modernisierung. Diese Pathosformeln des Kalten Krieges bezogen sich auf große, tendenziell sogar überstaatliche Räume. Die Modernisierungstheorie als Leitbegrifflichkeit der Historiographie privilegierte die höheren Ebenen, Systeme und Strukturen vor den kleineren Ländern mit ihren historischen Eigenheiten. Die Länder gerieten in den Geruch der Reaktion, der Tradition und des Antimodernen. Das nordamerikanische Gründungsnarrativ einer »föderativen Republik« zielte genauso wie die »moderne Demokratie« auf den Gesamtstaat. Länder traten als dessen Teile in den Blick, nicht aber als solche.5
Dabei begann der Weg hin zur neuen Staatlichkeit in den Ländern. Die Länder bildeten den ersten Kristallisationspunkt westdeutscher Staatlichkeit nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 und dem Ende der deutschen Staatlichkeit. »Am Anfang waren die Länder«6 und die Besatzungsmächte. Bereits am 28. Mai 1945, also noch im Monat der Kapitulation des Deutschen Reichs, ernannte die amerikanische Militärregierung den bayerischen Ministerpräsidenten und gründete die Länder Bayern, Württemberg-Baden und Hessen. Wenig später entstanden Länder in der britischen und der französischen Besatzungszone. Ebenfalls im Juli 1945 bildete die sowjetische Militäradministration die Länder Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Länderverfassungen waren Labore des demokratischen Neubeginns. So zumindest verstanden die Mütter und Väter der Landesverfassungen von Bayern bis Schleswig-Holstein ihre Aufgabe. Die weitreichenden Bestimmungen zu sozialen Rechten in der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 hatten ihren Ursprung in der Frage, wie eine Demokratie aussehen sollte.
Die Verfassungen der Länder waren älter als das Grundgesetz. Die Länder entstanden zuerst, erst danach die Bundesrepublik. Verfassungsgeschichtlich erinnert noch heute die Reihenfolge der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag und seiner anschließenden Ernennung durch den Bundespräsidenten an diesen Umstand. Parlamentarische Systeme kannten dieses Verfahren nicht. In aller Regel ernannte das Staatsoberhaupt den Premier oder Ministerpräsidenten. Die Parlamente nahmen dann dazu Stellung und reagierten mit Vertrauensvoten oder Misstrauensvoten. Nicht so in der Bundesrepublik. Das Amt des Staatsoberhauptes blieb in den Ländern nach 1945 unbesetzt, seine Kompetenzen entfielen auf andere Landesorgane. Weil ein Staatsoberhaupt in den Ländern fehlte, wählten die Länderparlamente – wie bereits nach 1918 – den Regierungschef. Die Ministerpräsidenten übernahmen auch die Funktion des Staatsoberhauptes. 1949 übertrug man diese Praxis von den Ländern auf die Bundesrepublik, obwohl diese im Bundespräsidenten ein Staatsoberhaupt besaß. Der Bundespräsident erhielt ein Vorschlagsrecht für den ersten Wahlgang. Aber er ernannte den Bundeskanzler erst nach dessen Wahl durch den Bundestag.7
Auf Theodor Heuss geht das Aperçu zurück, die Länder seien nicht originär, sondern originell. Dieses Bonmot verbarg mehr als es enthüllte. Einige Länder hatten Bindestriche im Namen und waren in der Tat neu, aber nicht unhistorisch. Sie kannten historische Vorbilder und bildeten geschichtliche Erfahrungsräume ab. Anders als in der Weimarer Republik gab es fortan keine Enklaven oder Exklaven mehr, die aus der Frühen Neuzeit stammten. Das hatte auf Schmalkalden, Rinteln und die bayerische Pfalz zugetroffen. Die Länderaufteilung war neu, aber nicht künstlich. Im Südwesten verlief die Grenze zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone zwar entlang der Autobahn Karlsruhe-Stuttgart-Ulm. Das motivierte die Neuordnungspläne im Südwesten. Die westlichen Alliierten wollten einen Föderalismus ohne ein großes Preußen, das alle anderen Länder erdrückte. Erstmals sollte es einen Gleichgewichtsföderalismus geben. General Lucius D. Clay meinte am 13. Juni 1948 in einer Besprechung mit den Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone: »Mein Wunsch ist, keine größeren Länder, wie Bayern oder Rheinland-Westfalen [sic!] jetzt sind, zu gründen.«8
Im Länderzuschnitt folgten die Alliierten der deutschen Verwaltungsgeschichte und vermieden sowohl besonders große als auch sehr kleine Länder. Sie orientierten sich an den preußischen Kreisen, den Regierungsbezirken und den Provinzen. Die neuen Länder Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein umfassten preußische Regierungsbezirke oder alte Reichskreise aus der Zeit vor 1806 wie den niederrheinisch-westfälischen und den niedersächsischen Reichskreis. Der Südteil der preußischen Rheinprovinz, die zuvor bayerische Rheinpfalz, und Teile von Hessen-Nassau bildeten zusammen Rheinland-Pfalz. Die linksrheinische Pfalz hatte schon immer auf ihre Eigenständigkeit gegenüber München im bayerischen Staatsverband gepocht. Schleswig-Holstein war eine preußische Verwaltungseinheit gewesen. Die älteren Pläne für ein Groß-Hessen wollten den Volksstaat Hessen-Darmstadt und die preußische Provinz Hessen-Nassau zusammenlegen. 1945 standen sie Pate für das Bundesland Hessen. Die neuen ›Bindestrich-Bundesländer‹ waren nicht heterogener als das selbstbewusst auftretende Bayern. Auch Bayerns staatliche Integration zog sich noch lange hin, wie die innerstaatliche Reise des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard im April 1947 nach Aschaffenburg zeigte. Solche »Bereisungen« unternahm auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsidenten Karl Arnold, der 1953 in dieser Absicht nach Münster fuhr. Beide Ministerpräsidenten nutzten solche hochformell gestalteten »Staatsbesuche«, um Anerkennung auszudrücken und um Integrationswillen zu signalisieren.9 Lediglich die Hansestädte Hamburg und Bremen und das Saarland, das bis 1957 französisch blieb, durften als homogen gelten. Es existierten große Unterschiede zwischen den Bundesländern, doch waren sie bei weitem nicht so stark, wie derjenige zwischen Preußen und Mecklenburg-Strelitz vor 1933. Kein einzelnes Bundesland übte nach 1949 eine so dominierende Rolle wie Preußen aus. Schon von ihrer relativen Größenverteilung her sprach vieles dafür, dass Kooperation und wechselseitige Abstimmung zunehmen würden.
In den Ländern entstanden überall Landtage und Parteien, und überall wurde demokratisch gewählt. Dennoch gab es Unterschiede zwischen den demokratischen Institutionen und Verfahren. Das Wahlrecht und die Dauer der Legislaturperioden waren verschieden. Das reine Verhältniswahlrecht, das seit den ersten Landtagswahlen in den Ländern der amerikanischen und französischen Besatzungszone und in Westberlin galt, begünstigte Koalitions- und Verhandlungssysteme, weil in der Regel keine Partei die absolute Mehrheit gewann. Spuren des britischen Mehrheitswahlrechts mit seiner Abneigung gegen Koalitionen fanden sich in der britischen Besatzungszone. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen galt das personalisierte Verhältniswahlrecht, in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein ein paralleles System aus Direktmandaten (60% bis 80%) und Landesliste. Das personalisierte Verhältniswahlrecht setzte sich schließlich in allen Bundesländern bis auf die Bremische Bürgerschaft und den saarländischen Landtag durch. Im Unterschied zum reinen Verhältniswahlrecht gab dabei auf der Wahlkreisebene das Mehrheitsprinzip den Ausschlag.
Abb. 1: Landesparlament von Bremen.
Zu Beginn der Bundesrepublik waren absolute Mehrheiten und Zwei-Parteiensysteme selten. Absolute Mehrheiten ohne den Zwang zur Koalition ergaben sich erst seit den 1960er Jahren in Bayern, teilweise auch in Nordrhein-Westfalen, den Hansestädten und nach 1990 in Sachsen. Auch in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Sachsen und in Schleswig-Holstein waren sie stärker ausgeprägt als in den anderen Bundesländern.10 Ansonsten dominierten Mehrparteienparlamente und Koalitionen mit mehreren Partnern.
Auch in der Frage des Staatsoberhauptes unterschieden sich die Bundesländer. In den süddeutschen Verfassungsberatungen spielte der Staatspräsident als demokratisches Gegengewicht zur Volkswahl und den Parteien eine gewisse Rolle. Er war dem Weimarer Reichspräsidenten nachempfunden und stellte als pouvoir neutre den Staat über die Parteien. In Bayern und Rheinland-Pfalz schlugen die Anhänger dieser Instanz oberhalb der Parteien vor, der Landtag, keinesfalls aber das Volk solle den Staatspräsidenten wählen. Hier wirkten die NSDAP-Mehrheiten bei den Reichstags- und Landtagswahlen vor 1933 noch nach. Für den CSU-Abgeordneten Michael Horlacher öffnete die Wahl durch das Volk die Türe für das »politische Intrigenspiel antidemokratischer Kräfte«. In den bayerischen Verfassungsberatungen lehnte er am 11. September 1946 die Volkswahl des Staatspräsidenten entschieden ab: »Die Wahl durch den Landtag selbst bedeutet infolgedessen eine Sicherung für das demokratische Funktionieren des Staatspräsidenten«.11 Der bayerische Staatspräsident sollte für den Staatsrechtler Hans Nawiasky nicht regieren, sondern regulieren und den »festen Punkt« bilden, der dem Staatsgefüge Stabilität verlieh. Gleichzeitig würde diese Lösung ein Präjudiz für die zukünftige staatliche Ordnung Westdeutschlands darstellen, das ein Staatenbund von souveränen Staaten mit ebenfalls einem Staatspräsidenten an der Spitze sein sollte. Demokratische Staatlichkeit fand für Vertreter dieser Richtung indessen in den Ländern statt, nicht im Gesamtstaat. Dieser sollte nur eine von den Ländern abgeleitete demokratische Souveränität besitzen.
In Rheinland-Pfalz verfocht der Christdemokrat Adolf Süsterhenn die Idee eines Staatspräsidenten, der die Einheit des Staatswesens verkörperte und als Hüter des Gemeinwohls zwischen den Interessen ausglich, falls der Parlamentarismus sich selbst blockieren würde. Das lehrten für Süsterhenn nicht nur die deutsche Geschichte der Zwischenkriegszeit, sondern auch die parlamentarisch regierten Länder Westeuropas, die »nicht gerade Begeisterung für eine rein parlamentarische Republik erwecken«. Auch wenn das reine präsidiale System restlos diskreditiert war, so sollten sich doch die positiven Merkmale von Parlamentarismus und präsidialer Republik verbinden.12
Wie in Weimar so drückte auch in den deutschen Ländern nach 1945 das Amt des Staatspräsidenten eine große Portion Skepsis gegenüber den Parteien und dem Parlamentarismus aus. Dass die Länder und die Landespolitik Gegenstand von Parteipolitik werden könnten, war für den Südbadener Leo Wohlleb, den Württemberger Liberalen Reinhold Maier, den Münchener Staatsrechtler Hans Nawiasky und den Koblenzer CDU-Politiker Adolf Süsterhenn ein Horrorszenario. Hans Nawiasky und Alois Hundhammer von der CSU antworteten auf den vorsichtigen Vorschlag Wilhelm Hoegners, den bayerischen Staatspräsidenten durch eine Zweidrittelmehrheit des Landtags abberufen zu lassen, schlicht: »Dann fällt der feste Punkt«. Diesen festen Punkt sahen sie allein im Staatspräsidenten als Staatsoberhaupt, nicht im Parlament und schon gar nicht in den Parteien oder dem Elektorat. Der Verfassungsentwurf für Rheinland-Pfalz aus der Feder Süsterhenns sprach aus Angst vor der Diktatur einer Parlamentsmehrheit dem Landtag nur eine Statistenrolle zu. Dessen Macht wollte er zum einen durch eine exekutive Doppelspitze aus einem Ministerpräsidenten und einem Staatspräsidenten und zum anderen durch einen berufsständisch organisierten Staatsrat beschränken.13 Durchsetzen konnte sich Süsterhenn damit nicht. Auch in Baden sollte der Staatspräsident »unabhängig von der Gunst oder Missgunst der Parteien« ein »ruhender Pol« sein, »wenn in stürmischen Zeiten das parlamentarische Leben von Kämpfen zerrissen wird«.14
Am Ende sprachen sich auch die Väter und Mütter der bayerischen Verfassung gegen einen Staatspräsidenten aus. In der Schlussabstimmung unterlagen die Befürworter eines Staatspräsidenten mit 84 zu 85 Stimmen. Für den Staatspräsidenten hatten der Großteil der CSU, einige Föderalisten aus der SPD-Fraktion um den früheren Ministerpräsidenten Hoegner gestimmt, dagegen eine heterogene Gruppe aus FDP, KPD, SPD und Abgeordnete um den CSU-Parteigründer Josef Müller. Auch für Franken bot ein bayerischer Staatspräsident wenig Attraktion, stand er doch für die »Überbetonung des bayerischen Staates«.15
In Nordrhein-Westfalen fand der rheinische Oberpräsident Robert Lehr mit seinem Vorschlag eines Staatspräsidenten kein Gehör. Auch in Hessen kam es nicht dazu. Württemberg-Baden, Hohenzollern und Südbaden kannten dagegen einen Staatspräsidenten. Dass sich die Figur des Staatspräsidenten in den Ländern aufs Ganze gesehen nicht durchsetzen konnte, stärkte die Ministerpräsidenten. Sie übernahmen dessen repräsentativen Funktionen und waren gewissermaßen im Nebenamt Staatsoberhäupter. Sie repräsentierten ihr Bundesland bei großen Feierlichkeiten von überregionaler Bedeutung, wie etwa den Bayreuther Festspielen oder der Kieler Woche.16
Die Alliierten beharrten auf einer föderalen Struktur für den Weststaat und konnten bei diesem Ansinnen auf eine breite Zustimmung bei den Westdeutschen rechnen. Schließlich war der Föderalismus fest in der Politik der Zwischenkriegszeit verwurzelt. Er besaß modernitätskritische Wurzeln und kam aus einer Tradition der Zivilisationskritik und Ablehnung der politischen Massen. So blieben die »Föderalistischen Hefte«, die von 1948 bis 1950 erschienen, und viele katholische Flugschriften auf der Linie des konservativen Föderalismus der 1920er Jahre. Dazu zählte auch die 1947 gegründete »Arbeitsgemeinschaft (später: Bund) deutscher Föderalisten«, die sich selbst auf der Linie der »Reichsarbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten« der Weimarer Jahre sah. Der rheinland-pfälzische CDU-Politiker Adolf Süsterhenn verkörperte diese Traditionslinie am stärksten.17
1819