Luftpiraten sind grauhäutig, griesgrämig und streiten für ihr Leben gerne. Keiner blitzt und donnert besser als Luftpiratenlehrer Adiaba. Bis Zwolle zu ihm kommt: ein Weißer Luftpirat ohne Blitzauge, friedfertig und freundlich. Unwillkürlich schließt Adiaba den kleinen Kerl ins Herz und nimmt ihn bei sich auf. Ohne zu ahnen, dass ausgerechnet dieser Junge unfassbaren Mut beweisen und die Welt der Luftpiraten gehörig auf den Kopf stellen wird …
Ein fantastisches, poetisches Luft-Abenteuer
Kapitel1Das Luftpaket
Kapitel2Was Luftpiratenkinder lernen sollen
Kapitel3Der Blinde Passagier
Kapitel4Adiaba verändert sich
Kapitel5Kaspar, der Luftikus
Kapitel6Am Tag der Abschussprüfung
Kapitel7Das Luftschiff von Peer Dekret
Kapitel8Zwolle erfährt, wer er ist
Kapitel9Streiten ist sinnlos
Kapitel 10Endlich Blitzkunde
Kapitel 11Der Kampf der Geflügelten Worte
Kapitel 12In den Händen der Spiegelglatten
Kapitel 13Ein furchtbares Urteil
Kapitel 14Die Flucht aus dem Luftloch
Kapitel 15Professor Theo Rättich
Kapitel 16Die Elektromagnetische Turbo-Bahn
Kapitel 17Charley Gottchen
Kapitel 18Der Ochsentreiber am Tafelberg
Kapitel 19Das Schweißfass
Kapitel 20Ein unsichtbarer Gegner
Kapitel 21Im Luftschloss
Kapitel 22Ab in die Röhre
Kapitel 23Dem Tod ins Auge sehen
Kapitel 24So richtig geladen
Kapitel 25Fast alles geht zu Ende
Es gibt jede Menge Luftlöcher am Himmel, weit jenseits der Wolken. Die Menschen auf der Erde können sie leider nicht sehen. Erstens ist Luft für sie unsichtbar. Und zweitens sind Löcher für sie unsichtbar. Luftlöcher sind also doppelt unsichtbar. Und außerdem sind sie viel zu weit weg! Nur: Dass die Menschen sie nicht sehen können, heißt noch lange nicht, dass es sie nicht gibt. Im Gegenteil!
Luftlöcher sind richtige Behausungen. Fast wie Erdlöcher. Ein Erdloch ist ein Loch in der Erde, also ein leerer Raum, und um den leeren Raum herum gibt es eben: Erde. Genauso verhält es sich mit den Luftlöchern am Himmel. Das Luftloch ist ein Loch in der Luft, also ein leerer Raum, aber um den leeren Raum herum gibt es eben: jede Menge Luft. Statt aus Dreckschichten bestehen die Wände der Luftlöcher aus Luftschichten. Und Luft ist viel dichter, als man denkt. Man sagt, dass die Luft, je höher man kommt, immer dünner wird. Aber das Gegenteil ist der Fall! Sie wird immer dichter. Oder, um es anders zu sagen: Oben, am Himmel, herrscht immer dicke Luft. Und das liegt an den seltsamen Bewohnern der Luftlöcher. Man nennt sie Luftpiraten.
Im Gegensatz zu den Piraten auf dem Meer sind Luftpiraten hoch über den Wolken Einzelgänger. Raue Gesellen sind das, die ständig schlechte Laune haben, verbittert und griesgrämig. Und weil sie so griesgrämig sind, ist die Haut der Luftpiraten grieselgrau. Weite, lange Umhänge verbergen den mächtigen Brustkorb. So einen Brustkorb braucht ein Luftpirat, um tief Luft zu holen vor dem Brüllen. Denn ein Luftpirat brüllt oft und laut.
Jeder Luftpirat trägt eine Augenklappe. Mit ihr verbirgt er sein gefährliches rechtes Blitz-Auge. Nimmt ein ausgewachsener Luftpirat die Augenklappe ab, kann er einen richtigen Blitz aus seinem Auge schleudern, so stark und hell, dass den anderen Luftwesen am Himmel angst und bange wird.
Meist bleiben Luftpiraten zu Hause, in ihren Löchern, jeder für sich. Dann wettern sie vor sich hin. Fluchen den ganzen Tag, beschweren sich und grummeln. Nichts passt ihnen in den Kram. Aber wenn ein Luftpirat ganz besonders üble Laune hat, schluckt er eine Handvoll Graupelteilchen, verlässt sein Luftloch und segelt hinab zu den Wolken. Dazu braucht er kein Schiff wie die Piraten auf den Meeren, er schafft es ganz allein mit seinen Flügelfüßen, auf denen er fliegen und schweben kann: Surfen nennt man das, hutzeln oder schuffeln. Die Wolken ballen sich zitternd zusammen, wenn sie einen Luftpiraten sehen. Sie haben Angst. Sie wissen, was jetzt kommt. Nachdem der Luftpirat eine Wolke geentert hat, wartet er auf einen anderen Luftpiraten. Und wenn der Gegner endlich kommt, wird sofort ein irrer Streit vom Zaun gebrochen.
Die Wolke läuft violett an, und bald prasselt ihr Angstschweiß in Strömen zur Erde. Die streitenden Luftpiraten dagegen werden immer lauter und blasen sich auf, ihre Stimmen krachen und röhren, sie werfen die Schlapphüte vom Kopf und die langen Haare nach hinten, und endlich reißen sie auch die Augenklappen herunter, und aus den rechten Augen sprühen gelbe, zackige Funken: Es blitzt und donnert. Das kann man auch von der Erde aus sehen. Und auf diese Weise entstehen die Gewitter.
Man schrieb das Jahr 13 Milliarden 730 Millionen 634 Tausend 327 nach dem Urknall. Der Luftpirat Doktor Amadäus Adiaba hockte am Schreibtisch seines Luftlochs Nr. 13.
Amadäus Adiaba war der einzige Lehrer im Johann-Sebastian-Krach-Gymnasium und las gerade fluchend die Hausaufgaben seiner Schülerinnen und Schüler. Diese furchtbar geraden und sauberen Buchstaben! Adiaba konnte sie sogar lesen. Die Schüler hatten sich tatsächlich Mühe gegeben! Entsetzlich! Dabei hatte er den Schülern eingebläut: Die Buchstaben müssen aussehen wie zackige Blitze! Keine Sau darf jemals entziffern können, was sie da geschrieben haben. Und jetzt das! Unglaublich! Diese Nichtskönner! Wütend schmierte Adiaba in den Heften der Schüler herum.
Da hörte er plötzlich ein Geräusch. Adiaba lauschte. Nein, er hatte sich nicht getäuscht: Es klopfte. An der Tür seines Luftlochs.
Das war ungewöhnlich. Das war mehr als ungewöhnlich. Das war ein Skandal! Bei einem Luftpiraten zu klopfen – das traut sich eigentlich nie jemand! Adiaba schuffelte zur Tür und riss sie auf. Ein Schwall Kondenswasser spritzte herein, die Sonne blendete ihn, und eiskalte Luft wehte ihm den Schlapphut vom Kopf.
Vor der Tür lag ein Paket.
Ein Luftpaket!
Adiaba stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Alles, nur das nicht!
Adiaba war deshalb so erschrocken, weil er ganz genau wusste, was sich in einem solchen Luftpaket befinden musste: ein Luftpiratenkind. Ein winziges, soeben geborenes Luftpiratenkind! Junge oder Mädchen.
Alle Luftpiraten fluchen laut, wenn sie so ein Paket bekommen. Und Adiaba hasste Luftpiratengören ganz besonders. Nur deshalb war er ein so guter Lehrer. Dazu kam: Adiaba war als Lehrer eigentlich von der Aufzucht eigener Kinder befreit. Er hatte schon genug mit dem Unterrichten der fremden Kinder zu tun. Adiaba dachte also: Es kann sich nur um einen Fehler handeln! Irgendein dummer Irrtum! Und Adiaba riss das Paket an sich und las die Adresse.
Aber nein, es stimmte. Das Paket war an ihn adressiert:
An den Luftpiratenlehrer
Herrn Doktor Amadäus Adiaba
Luftloch Nr. 13
Monsun-Trasse
0005 Ätheria
Adiaba schaute sich um. Wer auch immer ihm das Paket gebracht hatte, er war bereits verschwunden. Und so stand Adiaba allein mit dem Luftpaket in Händen vor seinem Luftloch. Missmutig schwebte er zurück, schob langsam die schwere Tür ins Schloss und legte das Paket auf den Tisch.
Es war etwa so groß wie ein Atlas, mit grauem Packpapier umwickelt und fest verschnürt. Adiaba setzte sich auf seinen Sturmstuhl und dachte nach. Er rauchte eine Pfeife mit starkem Tobak, um noch wütender zu werden. Aber es half alles nichts. Es gab ein ganz klares Gesetz: Kein Luftpirat durfte ein Luftpiratenkind ablehnen. Wenn man ein solches Paket bekam, war man verpflichtet, es zu öffnen, den Schreihals herauszunehmen und ihn großzuziehen.
Alles, bloß das nicht!, dachte Adiaba.
Doch es blieb ihm keine Wahl.
Er verdrehte sein linkes Auge.
Noch zögerte Adiaba.
Er hatte viel gelesen und wusste Bescheid über Luftpiratenkinder. Wenn er das Paket öffnete, würde ein aschgraues Kind drinnenliegen und schreien und toben. Adiaba seufzte. Wenn er schon an das Windelnwechseln dachte, das jetzt auf ihn zukäme!
Endlich erhob er sich, knotete die Schnüre auf und öffnete das Paket. Er sah … Adiaba traute seinem linken Auge nicht! Gewiss, das Kind schien ein echtes Luftpiratenkind zu sein: mit Köpfchen, einem geschlossenen linken Auge und einer Augenklappe über dem rechten Auge, mit Händchen, Ärmchen, Beinchen, Flügelfüßchen und einer Knollenbrust. Gesund und munter. Und ein Junge.
Aber der Kleine war keineswegs aschgrau, wie es sich für ein ordentliches Luftpiratenkind gehört hätte, sondern schneeweiß.
Das konnte nicht sein!
Das durfte nicht sein!
Adiaba fiel die Pfeife aus dem Mund vor Schreck. Noch nie hatte er von einem schneeweißen Luftpiraten gehört. Ja, Wolken waren weiß, diese erbärmlichen Knubbel weit unter ihnen in der Frischen-Luft, diese Angst-Kühe, so nannte man sie. Aber ein Luftpirat? Nein! Niemals!
Jetzt schlug der Kleine sein linkes Auge auf.
Doch er schrie nicht.
Er blieb stumm.
Er sah neugierig zu Adiaba hoch. Und zuckte zusammen. Kein Wunder: Wie jeder ausgewachsene Luftpirat war Amadäus Adiaba etwa drei Meter groß. Lange, wüste Haare fielen ihm in die Stirn. Dazu sein leuchtendes linkes und die Augenklappe über dem rechten Auge. Die Nase war platt, der Mund mit blitzblanken Zähnen besetzt. Adiaba hatte seine Windhose bis zum Bauchnabel hochgezogen und trug den grauen, weiten Umhang, und sein Brustkorb darunter wirkte wie eine gigantische Kartoffel. Der Luftpiratenjunge schien kurz zu schwanken, ob er schreien oder weinen sollte.
Doch er schrie nicht.
Und er weinte nicht.
Er zögerte noch kurz.
Und dann lachte er.
Aber nicht etwa hässlich, sondern freundlich.
Ungefähr so, dachte Adiaba sofort, wie diese blöde Sonne lacht, den ganzen Tag. Die Sonne, die nichts anderes zu tun hat, als zu lachen. Entsetzlich!, dachte Adiaba. Jedes Luftpiratenkind muss schreien! Vom Tag der Geburt an: schreien und brüllen! Der Kleine hier aber streckte Adiaba strahlend seine Ärmchen entgegen und neigte den Kopf.
Adiaba blieb nichts anderes übrig. Er nahm ihn hoch. Der Junge schmiegte sich an seinen Brustkorb und Adiaba vergaß für einen Augenblick, dass er ein Luftpirat war. Das Zutrauen des Jungen ließ ihn still werden. Minutenlang schwebte Adiaba im Luftloch auf und ab und wiegte den Jungen. Als er ihn ins Paket zurücklegen wollte, schüttelte der Junge den Kopf und wies mit dem rechten Zeigefinger auf das große Bett, das im Raum stand.
»Das ist mein Bett!«, grummelte Adiaba.
»Bäh!«, machte das Kind.
»Von mir aus«, sagte Adiaba, »wir können es ja versuchen.«
Er legte den Kleinen in sein Bett, der Junge kuschelte sich an die Luftkissen, schloss das Auge und schlief ein.
Adiaba lächelte.
Und erschrak.
Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal in seinem Leben, ja, ob er überhaupt in seinem Leben schon mal gelächelt hatte. Was mach ich hier eigentlich?, dachte Adiaba. Das ist doch wahnsinnig! Luftpiraten haben immer schlechte Laune! Verbitterte, griesgrämige Eigenbrötler sind wir doch! Einzelgänger! Wir hassen Kinder! Und jetzt das!? Da stimmt doch was nicht. Nur was? Adiaba kratzte sich am Kopf. Er hatte keine Ahnung, wie ihm geschah.
Die Luftstadt Ätheria ist Teil der Republik Firmament. Ungefähr einhundert Luftpiraten leben dort. Jeder in seinem eigenen Luftloch. Die Luftlöcher sind in Ätheria unterirdisch miteinander verbunden, das heißt, unterluftig. Luftlöcher sind sehr groß und von innen gut abgeschottet und dämmrig, die Luftwände bieten Schutz vor den Winden. Eine einzige Tür dient als Eingang. Fenster gibt es keine, denn Luftpiraten meiden das Licht: Die Sonne kann ihnen gestohlen bleiben. Außerdem verfügt ihr linkes Auge über eine eigene, innere Leuchtkraft. Luftpiraten brauchen kaum künstliches Licht, um etwas sehen zu können.
In jedem Luftloch gibt es einen Keller. Von den Kellern führen lange, sich kreuzende Gänge in die Stadt Ätheria und in die verschiedensten Luftschutzbunker. In einem dieser Luftschutzbunker befindet sich die Schule für Luftpiratenkinder, das JSK-Gymnasium.
In dieser Schule arbeitete Doktor Amadäus Adiaba. Und zwar, wie in jeder Luftpiratenschule einer jeden Luftstadt, als einziger Lehrer. Er musste folglich alle Fächer unterrichten, zum Beispiel: Donnern (Grollen, Brüllen), Blitzen (Schleudern, Einschlagenlassen), Streiten (Aus-der-Luft-Greifen, Hässlich-Lachen, Anzetteln), Wutkunde (Schäumen, Überkochen), Schnellschuffeln sowie die langweilig-theoretischen Grundlagen der Piraten-Physik (Elektrizität, dunkle Materie und miese Atmosphäre) oder Philosophie (scherzhaft Philozoffie genannt) und noch vieles andere mehr.
Am nächsten Morgen erwachte Adiaba wie gerädert: Er hatte gelächelt! So etwas durfte nicht noch mal passieren. Vor allen Dingen durfte niemand Wind davon bekommen.
Adiaba tat, was er am liebsten tat: Er ärgerte sich. Über Kleinigkeiten. Nichts war an seinem Platz. Die Luftpolster lagen auf dem Herd, das Luftkissen neben dem Donnerbalken, der Föhn unterm Bett. Er ärgerte sich über den Dreck im Luftloch und riss die Tür auf. Um seine Wut zu verstärken, rupfte er Wutschnauberich, Ärgerkresse und Hysterizien aus seinem Streitkräutergarten und stopfte alles in sich hinein, zum Schluss drei Zorndornen, deren Verzehr schmerzte und den Zorn gewaltig auflodern ließ. Und dann eilte er in die Schule.
Na warte, dachte er, denen komme ich bei! Heute werden die was erleben, die Kinder!
Er stürmte voller Wut in den Klassenraum. Erst vor Kurzem waren die Schülerinnen und Schüler hier eingeschult worden. Sie konnten noch nicht viel. Eigentlich nichts! Es war nicht einfach, aus diesem laschen Haufen blitzgescheite Luftpiraten zu machen.
Die Schüler hatten sich noch nicht an die neue Umgebung gewöhnt. Alle blickten andächtig zu Adiaba auf. Diese Autorität! Dieses Auge! Diese Augenklappe! Diese Erscheinung! Doppelt so groß wie sie selbst! Tuschelnd saßen sie auf ihren Plätzen: Acht der sechzehn Schüler saßen mit Blick nach vorn gerichtet, die anderen acht ihnen direkt gegenüber. Am selben Tisch. So hatte jeder während des Unterrichts einen Gegner, oder besser gesagt, einen Streitpartner: Konfrontations-Sitzordnung hieß das.
»Was ist denn hier los?!«, brüllte Adiaba. »Hört sofort auf zu tuscheln! Wer flüstert, der lügt! Ein Luftpirat muss laut sein! Wer nicht laut spricht, schreit oder brüllt, der wird nie gehört werden. Und wer nie gehört wird, ist kein Luftpirat! Was sitzt ihr da rum!? Ihr sollt nicht still sitzen! Wer still sitzt, rostet und versauert auf der Schulbank. Die Stühle sind dazu da, um von ihnen aufzuspringen! Die Tische sind dazu da, um auf ihnen herumzutrommeln. Lärm!«, donnerte Adiaba. »Ihr seid an der Johann-Sebastian-Krach-Schule! Die Schule hat ihren Ruf zu verlieren, mehr als ihren Ruf, ihren lauten Ruf, um nicht zu sagen, ihr Geschrei! Unsere Schule ist neben dem Georg-Friedrich-Händel- und dem Theodor-Sturm-Kolleg die Eliteschule des Luftraums. ›Lärm ist unser Elixier. Stille aber hassen wir!‹ So die Worte unseres Dichters Friedrich Brüller. Merkt sie euch!«
Eine gute Überleitung, denn an diesem Tag stand Brüllen auf dem Stundenplan. Die Schüler mussten ihre Hände in die Seiten stemmen und die Münder öffnen. Adiaba verbesserte Haltung und Atmung und gab jede Menge Tipps. Nachdem sich die Schüler so richtig ausgedonnert hatten, sprach Adiaba ein wenig über Ernährung (Hasslauch, Stichhafer und Löwenzahn), ehe er zum Hässlich-Lachen kam, als Teil des Streitunterrichts.
»Das Hässlich-Lachen braucht man«, rief Adiaba, »um andere Luftpiraten bis aufs Blut zu ärgern. Und ärgern muss man die anderen, um so richtig streiten zu können. Es gibt eigentlich nie einen Grund, miteinander zu streiten. Die Gründe für den Streit sind immer aus der Luft gegriffen. Wenn man also streiten will, muss man den anderen wütend machen. Und das geht am besten, wenn man ihn auslacht. Genau deshalb ist Hässlich-Lachen so wichtig.«
Obwohl Adiaba an diesem Tag vor Energie zu funkeln schien, dachte er während des Unterrichts immer wieder an das weiße Kind in seinem Luftloch. Er wollte es nicht wahrhaben, aber er freute sich irgendwie darauf, nach Hause zu kommen.
Nach der Schule surfte Adiaba schneller als sonst durch die Gänge und rief schon vom Keller hoch: »Ich bin wieder da!«
Er war – guter Laune.
Der Junge schlief. Adiaba setzte sich ans Bett und schaute einfach nur auf den schlafenden Jungen. Er hätte nicht sagen können, wie lange. Hier, in der Nähe des schneeweißen Luftpiratenkindes, da fühlte Adiaba sich so … keine Ahnung, wie man das nannte, das würde er mal nachschlagen müssen, so … anders eben als sonst. Der Junge war so schrecklich weiß. Als wäre diese Weißheit ein Geruch oder ein Geräusch, umhüllte sie Adiaba, lullte ihn ein, ließ seinen Ärger schmelzen und ihn immer mehr in eine sanfte Ruhe gleiten.
Doch dann schlug Adiaba sich vor die Stirn. Die Taufe!
Laut Allgemeiner Luftschutzordnung musste die Taufe eines Kindes »unverzüglich nach Erhalt« stattfinden. Jede Luftstadt besitzt eine Allgemeine Luftschutzordnung. Aufgestellt wird sie vom Kapitän der Luftstadt. Und der haust in einem Luftschiff inmitten der Stadt.
Adiaba seufzte, als er jetzt sein weißes Kind betrachtete. Doch dann strich er dem schlafenden Jungen durch die Haare. Er sah ihn lange an. »Lass dich mal anschauen, Junge. Wie soll ich dich bloß nennen? Du brauchst einen Namen. Ich habe noch nie jemandem einen Namen gegeben. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Und was für Namen es überhaupt gibt. Lass mal schauen. Dein Name ist … hm … Ich hab’s gleich … Diese Stirn, diese Farbe, dieses Auge … Du heißt … Dein Name ist … hm … also das Streiten musst du noch lernen, den Zank, den Zorn, den Zwist, Zwist, Zwi… Zwa… Zwo… Zwost, aber eigentlich siehst du aus wie Wolle, Wolle, weiße Wolkenwolle, hm, Zwille, Zwalle, Zwolle, Zwolle? Zwolle! Wie wäre es mit Zwolle? Ja! Zwolle ist ein guter Luftpiratenname. Zwolle! Einverstanden?«
Und als hätte der Junge ihn gehört, nickte er im Schlaf.
Luftpiraten entwickeln sich wesentlich schneller als Menschen. Sie lernen alles wie im Flug. Auch Zwolle konnte schon nach zwei Tagen gut sprechen und sogar sehr gut hutzeln und schuffeln mit seinen Flügelfüßchen. Einen Rückwärtssalto schaffte er nach vier Tagen.
Nur in einem Punkt verhielt er sich absolut anders als alle übrigen Luftpiraten. Man muss wissen: Alle neugeborenen Luftpiraten sind Schreikinder, entsetzlich nervige, grölende Gören. Sie brüllen für gewöhnlich die ganze Nacht durch, um ihren Vater oder ihre Mutter auf Trab zu halten; und sie plärren den ganzen Tag vor Hunger oder weil ihnen irgendwas nicht passt. Das ist von der Natur gut eingerichtet, denn so bekommen die Luftpiraten noch schlechtere Laune, als sie ohnehin schon haben.
Bei Zwolle aber war das nicht der Fall. Höchst merkwürdig, dachte Adiaba. Zwolle schrie nie; er war nicht zornig; sein Körper färbte sich nicht grau, wie Adiaba gehofft hatte, sondern blieb einfach strahlend weiß; er stritt nicht; er grollte nicht; er muckte nicht auf; er war nicht trotzig, nicht launisch, nichts. Soviel Stichkräuter Adiaba dem kleinen Wicht auch ins Essen mischte, nichts schien bei ihm zu wirken. Zwolle wuchs einfach keine Zornesader auf der Stirn. Adiaba seufzte mehr als einmal am Tag. Das hatte doch mit einem Luftpiraten nichts zu tun! Und Adiaba fragte sich, ob Zwolle überhaupt ein Luftpiratenkind war oder ein ganz anderes Wesen. Aber welches? Hm, schwierig. Es half alles nichts. Adiaba musste herausfinden, was es mit diesem weißen Kind auf sich hatte.
Dazu machte sich Adiaba am Wochenende auf den Weg nach Eboris, der berühmten Universitätsstadt der Luftpiraten, in der die Ewigen Studenten studierten, siebzehn an der Zahl, unter Leitung von Theo Rättich, ihrem Professor. Die Studenten veröffentlichten pausenlos allerneueste Streitschriften zu allen möglichen Themen, die sofort von den übrigen Studenten gelesen und vernichtend verrissen wurden, in der Universitäts-Zeitschrift Heiße Luft. Adiaba lief aber keinem der Studenten über den Weg, weil jeder von ihnen in einem abgekapselten Arbeitsraum allein vor sich hin arbeitete. Die Bücher, die man brauchte, wurden voll elektronisch an den Arbeitsplatz transportiert.
Adiaba zog sich in einen Arbeitsraum zurück, bestellte das Luftpiratengesetzbuch und seufzte, als aus einer Röhre eine Ladung von 26 Büchern auf seinen Schrei-Tisch gekippt wurde. Der Tisch schrie sofort auf und beugte sich unter der schweren Last. Adiaba öffnete den Band Nummer 23 und fand nach einigem Suchen den Eintrag Weißer Luftpirat. Er verschluckte sich vor Aufregung. Mit zitternden Fingern las er: »Ein Weißer Luftpirat erscheint zum Glück nur alle Jubeljahre einmal. Ein Weißer Luftpirat ist ein Luftpiratenkind, dem das gewisse Etwas fehlt, eine Missgeburt. Man nennt so einen Weißen Luftpiraten deshalb auch Blinder Passagier«, hieß es weiter, »weil sein rechtes Auge blind bleiben wird. Blind für Blitze! Zwar trägt auch ein Weißer Luftpirat von Geburt an eine Augenklappe, aber wenn man sie ihm abnimmt, kommt nicht das winzigste Blitzlein zum Vorschein. Ein Weißer Luftpirat wird demnach niemals blitzen können.« Und dann las Adiaba: »Ein solcher Fehler darf von der Luftpiratengemeinschaft niemals geduldet werden. Daher gilt folgende Gesetzesregelung: Der Luftpiratenvater oder die Luftpiratenmutter muss den Blindgänger sofort in einem Becken mit Luftfeuchtigkeit ertränken. Wird dies nicht getan, droht dem verbrecherischen Erzieher eine lebenslängliche Haft im Tafelberg.« Adiaba klappte das Buch zu. Er zitterte. Und tupfte sich Hagelschweißperlen von der grauen Stirn.
Wieder zurück in seinem Luftloch, dachte Adiaba lange nach. In den letzten Tagen, die er mit Zwolle verbracht hatte, war etwas geschehen. Ein Gefühl hatte sich in ihm breitgemacht, ein Gefühl, für das ihm das Wort fehlte. Zuneigung? Dunkel erinnerte er sich an diesen Ausdruck. Er klappte sein Gefühls-Fremdwörterbuch auf: »Zuneigung = Das Gefühl, jemanden zu mögen.« Adiaba blätterte weiter. »Mögen = Für jemanden Liebe empfinden.« Weiter: »Liebe = Eine starke Zuneigung.« Adiaba hatte den Eindruck, sich im Kreis zu drehen. Er warf das Gefühls-Fremdwörterbuch in die Ecke und sagte sich: Ich warte noch ab. Woher weiß ich denn, dass mein Zwolle tatsächlich ein Blinder Passagier ist? Vielleicht wird er doch noch grau werden. Wenn ein Weißer Luftpirat so selten erscheint, warum ausgerechnet jetzt und bei mir? Nein, nein, ich muss mir erst ganz sicher sein und Zwolle gründlich beobachten.
Nach einer weiteren Woche zeigte sich immer noch kein Grollen im Gesicht des Kleinen. Er war und blieb weiß. Und schließlich tat Adiaba, was er tun musste, um ganz sicherzugehen: Als Zwolle eines Morgens aufwachte, klappte Adiaba dessen Augenklappe hoch. Zwolle blinzelte erstaunt mit seinem rechten Auge. Und Adiaba erschrak: Das rechte Auge glich exakt dem linken. Es gab keinen Unterschied. Kein noch so kleiner Funken zuckte in den Pupillen. Es wirkte wie erloschen! Völlig unmöglich, dass aus diesem Auge jemals ein Blitz sprühen würde!
Es gab jetzt keinen Zweifel mehr: Das Auge funktionierte nicht, der Junge war sanftmütig wie ein Schäfchen, und es war sonnenklar: Zwolle war ein Blinder Passagier, ein Weißer Luftpirat, ein hässlicher Blindgänger. Adiaba schluckte, als er daran dachte, was er jetzt zu tun hatte.
»Ich muss ihn ertränken!«
»Es ist ja kein richtiger Luftpirat.«
»Ich muss es tun!«
»Ein Weißer Luftpirat!«
»Ein Blinder Passagier!«
»Der niemals zünden wird!«
»Niemals funktionieren!«
»Fort mit ihm!«
Tagelang flüsterte Adiaba solche und andere Sätze vor sich hin, um endlich den Mut zu finden, es zu tun. Irgendwann gab Adiaba sich einen Ruck. Er nahm einen Putzlappen, fuhr mit ihm über die Wände seines Luftlochs und wischte jede Menge Luftfeuchtigkeit auf. Er hielt das Tuch über die Badewanne und wrang es aus. Immer wieder tat er das. Als die Badewanne endlich bis zum Rand gefüllt war, rief er Zwolle zu sich und sagte ihm, es sei Zeit für ein Bad. Zwolle surfte heran auf seinen Flügelfüßchen, sprang ins Wasser, gurgelte und klatschte vor Freude. Adiaba aber drückte den Kleinen unter Wasser und hatte das Gefühl, als halte er sich selber unter Wasser. Als sei er dabei, sich selber zu töten. Ein speerspitzer Stich in der Brust. Und dann, ja, dann, in genau diesem Augenblick, da brannte Adiabas rechtes Blitz-Auge höllisch auf unter der Augenklappe. Wie glühende Lava lief etwas seine Wange hinab und hinterließ eine funkelnde Spur. Adiaba schrie. Dieser Schmerz: unerträglich. Das musste … Das war … Das konnte nur eine … eine Feuerträne sein. Noch nie im Leben hatte Adiaba eine Feuerträne vergossen! Die Träne tropfte ins Wasser der Badewanne und verdampfte zischend.
Eine Feuerträne!
Das war ein Zeichen!
Sofort riss Adiaba Zwolle hoch, er drückte ihn an seinen Brustkorb und rief immer wieder: »Es tut mir leid!«
Aber Zwolle verstand nicht, was Adiaba meinte. Er dachte, das Ganze sei nur ein Spiel gewesen. Und prustete seinem Vater Wasser ins Gesicht, das er im Mund gesammelt hatte.
Beinah hätte ich ihn umgebracht!, dachte Adiaba. Dieses kleine unschuldige Wesen? Nein! Niemals! Warum auch? Nur weil es im Gesetzbuch steht? Zwolle hat niemandem etwas getan! Er wird auch in Zukunft niemandem etwas tun. Keiner muss Angst vor ihm haben. Keiner muss überhaupt von Zwolle erfahren. Mehr noch: Keiner darf