Tomi Adeyemi

Children of Virtue and Vengeance

Flammende Schatten

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Über Tomi Adeyemi

Tomi Adeyemi, geboren 1993, ist eine amerikanische Autorin nigerianischer Herkunft. Nach Abschluss ihres Literaturstudiums in Harvard hat sie sich von ihren westafrikanischen Wurzeln zum stärksten Fantasy-Debüt der letzten Jahre inspirieren lassen. Der erste Band ihrer »Children of Blood and Bone«-Trilogie eroberte die SPIEGEL-Bestsellerliste und war wochenlang auf Platz 1 der »New York Times«-Bestsellerliste. Von der Zeitschrift »Brigitte« wurde »Children of Blood and Bone – Goldener Zorn« unter die besten 50 Bücher des Jahres 2018 gewählt und belegte Platz 2 der Phantastik-Bestenliste.

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Zélie und Prinzessin Amari haben das Unmögliche geschafft: Die Magie ist nach Orïsha zurückgekehrt. Doch das Ritual war mächtiger, als sie ahnen konnten. Es hat nicht nur die verschütteten Kräfte der Magier geweckt, sondern auch jene des Adels. Mit ihrer neugewonnenen Macht sind Zélies Feinde gefährlicher als je zuvor. Und sie wollen Rache.

Zélie muss einen Weg finden, das Land zu vereinen – oder zusehen, wie sich Orïsha in einem verheerenden Krieg zerreißt.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Children of Virtue and Vengeance« bei Henry Hold and Company, einem Imprint von Macmillan Publishing, New York.

© 2019 by Tomi Adeyemi Books Inc.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Idee von Rich Deas, Mallory Grigg und Kathleen Breitenfeld

Coverabbildung: Sarah Jones

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490873-1

Ich liebe euch mehr,

als ich in Worte fassen kann.

IKÚ-CLAN

MAJI-TITEL: Seelenfänger

KRAFT: Macht über Leben und Tod

GOTTHEIT: Oya

ÈMÍ-CLAN

MAJI-TITEL: Geistwandler

KRAFT: Macht über Gedanken und Träume

GOTTHEIT: Orí

OMI-CLAN

MAJI-TITEL: Wellenhüter

KRAFT: Macht über das Wasser

GOTTHEIT: Yemọja

INÁ-CLAN

MAJI-TITEL: Flammentänzer

KRAFT: Macht über das Feuer

GOTTHEIT: Sàngó

AFÉFÉ-CLAN

MAJI-TITEL: Windflüsterer

KRAFT: Macht über die Luft

GOTTHEIT: Ayao

-CLAN

MAJI-TITEL: Erzbrecher&Erdsänger

KRAFT: Macht über Eisen und Erde

GOTTHEIT: ãgún

ÌMỌ́LÈ-CLAN

MAJI-TITEL: Lichtweber

KRAFT: Macht über Licht und Schatten

GOTTHEIT: Ochumare

ÌWÒSÀN-CLAN

MAJI-TITEL: Heiler&Siecher

KRAFT: Macht über Genesung und Krankheit

GOTTHEIT: Babalúayé

ARÍRAN-CLAN

MAJI-TITEL: Seher

KRAFT: Macht über die Zeit

GOTTHEIT: Orúnmila

ẸRANKO-CLAN

MAJI-TITEL: Zähmer

KRAFT: Macht über das Tierreich

GOTTHEIT: Oxosi

Zélie

Ich versuche, nicht an ihn zu denken.

Wenn ich es trotzdem tue, höre ich das Rauschen des Meeres.

Als ich es zum ersten Mal vernahm, war Baba bei mir.

Als ich die Wellen zum ersten Mal fühlte.

Das Wasser rief mich wie ein Wiegenlied, lockte uns aus dem Wald ans Ufer. Die leichte Brise spielt mit meinen Locken. Sonnenstrahlen fielen durch das dünner werdende Laub.

Ich hatte keine Vorstellung, was uns erwartete. Welches unbekannte Wunder dieses Wiegenlied bereithielt. Ich wusste nur, dass ich dorthin musste. Es war, als besäße der Ozean ein fehlendes Stück meiner Seele.

Als wir das Wasser endlich erreichten, ließ meine kleine Hand die von Baba los. Staunend stand ich mit offenem Mund da. Es war magisch.

Nachdem Mama von den Männern des Königs getötet worden war, spürte ich dort zum ersten Mal wieder Magie.

»Zélie rọra o!«, rief Baba, als ich mich dem Ufer näherte. Die Gischt umspülte meine Füße, ich zuckte zurück. Die Seen von Ibadan waren immer kalt gewesen, doch dieses Wasser war warm wie der Duft von Mamas Reis. So warm wie ihr Lächeln. Baba folgte mir ins Wasser und hob den Kopf zum Himmel.

Es war, als würde er die Sonne auf der Zunge schmecken.

Da nahm er meine Hand, verschränkte seine bandagierten

Wir konnten überleben.

Aber jetzt …

Jetzt hebe ich den Blick zum kalten grauen Himmel; zum brüllenden Meer, das sich gegen Jimetas Felsen wirft. Ich muss die Vergangenheit loslassen.

Ich kann meinen Vater nicht festhalten.

Während ich mit den Vorkehrungen beschäftigt bin, die ihn zur letzten Ruhe geleiten, muss ich an das Ritual denken, bei dem er sein Leben ließ. All die Schmerzen, die er ertrug, machen mir das Herz schwer; all die Opfer, die er brachte, damit ich die Magie zurückholen konnte.

»Es ist gut.« Mein älterer Bruder Tzain reicht mir die Hand. Ein Bartschatten umspielt seine dunkelbraune Haut; die Stoppeln kaschieren die Anspannung in seinem Gesicht.

Er drückt meine Hand. Die nieselnden Tropfen gehen in einen prasselnden Regen über. Der Wolkenbruch kühlt uns bis ins Innerste. Es ist, als würden selbst die Götter weinen.

Es tut mir leid, sage ich stumm zu Babas Geist und wünsche mir, ich hätte es ihm persönlich sagen können. Wir umklammern den Strick, der den Sarg an Jimetas Felsenküste hält, und ich frage mich, wieso ich geglaubt habe, ein Elternteil zu begraben, würde mich darauf vorbereiten, es beim nächsten zu tun. All die unausgesprochenen Dinge lassen meine Hände zittern. Meine Kehle brennt vor unterdrückten Schreien, die ich in stumme Tränen presse. Ich versuche, die Gefühle zu verdrängen, und greife nach dem Glas mit dem Rest unseres Totenöls.

Meine zitternde Hand verschüttet Tropfen der kostbaren Flüssigkeit. »Pass auf!«, mahnt Tzain. Nachdem wir drei Wochen

»Die Götter schenken uns das Leben«, flüstere ich auf Yoruba. »Und den Göttern wird es zurückgegeben.« Die Formel klingt fremd aus meinem Mund. Noch vor wenigen Wochen besaß kein Seelenfänger die notwendige Magie, um ein ìbùkún durchzuführen. Elf Jahre lang nicht. »Béèni ààye tàbi ikú kò le yà wá. Béèni ayè tàbí òrun kò le sin wà nítorí èyin lè ngbé inú ù mi. Èyin la ó máa rí …«

Kaum beginnt die Magie unter meiner Haut zu pulsieren, versagt mir die Stimme. Das violette Licht meiner Ashê umglüht meine Hände, die göttliche Kraft, die unsere heilige Gabe nährt. Seit dem Ritual, das die Magie nach Orïsha zurückbrachte, habe ich die Hitze nicht mehr gefühlt. Seit Babas Geist in meinen Körper fuhr.

Als die Kraft in mir zu brodeln beginnt, taumele ich rückwärts. Meine Beine werden taub. Die Magie kettet mich an meine Vergangenheit, zieht mich nach unten, wie sehr ich mich auch dagegen wehre …

»Nein!« Der Schrei wird von den Tempelwänden zurückgeworfen. Mein Körper schlägt auf dem Steinboden auf. Dann fällt Baba mit einem dumpfen Geräusch um, steif wie ein Brett.

Ich will ihm zur Hilfe eilen, doch seine Augen sind zu einem leeren Blick gefroren. Ein Pfeil steckt in seiner Brust. Blut sickert durch sein zerrissenes Oberteil …

»Pass auf, Zél!«

Tzain fischt sie heraus und bemüht sich, sie erneut zu entzünden, doch sie will kein Feuer fangen. Mein Bruder wirft das unbrauchbare Holz in den Sand. Zerknirscht ziehe ich den Kopf ein.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt er.

Ich lasse den Kopf hängen, weiß keine Antwort. Angesichts der chaotischen Zustände im Königreich könnte es Wochen dauern, neues Öl zu besorgen. Durch die Aufstände und die Lebensmittelknappheit ist es schon schwer genug, einen mageren Sack Reis zu organisieren.

Schuldgefühle bedrängen mich wie die Wände eines Sargs, bannen mich in ein Verlies meiner Fehler. Vielleicht ist dies ein Zeichen, dass ich es nicht verdient habe, Baba zu beerdigen.

Nicht wenn ich der Grund für seinen Tod bin.

»Tut mir leid.« Seufzend kneift Tzain sich in den Nasenrücken.

»Es muss dir nicht leidtun.« Meine Kehle schnürt sich zu. »Das ist allein meine Schuld.«

»Zél …«

»Wenn ich die Schriftrolle doch nie berührt hätte! Wenn ich das mit dem Ritual doch niemals herausgefunden hätte …«

»Du hattest keine Wahl«, entgegnet Tzain. »Baba hat sein Leben gegeben, damit du die Magie zurückholen konntest.«

Genau das ist das Problem. Ich wollte die Magie zurück, um Baba zu helfen. Stattdessen habe ich ihn in seinen frühzeitigen Tod geschickt. Was nützen mir diese Kräfte, wenn ich nicht mal die Menschen schützen kann, die ich liebe?

»Wenn du jetzt nicht aufhörst, dir Vorwürfe zu machen, wirst du es dein Leben lang tun!« Tzain packt mich an den Schultern. In seinem Blick erkenne ich die braunen Augen meines Vaters, Augen, die selbst dann verzeihen, wenn es keinen Grund dafür gibt. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich. Wir sind alles, was wir haben.«

Ich atme aus und wische mir die Tränen ab. Tzain nimmt mich in die Arme. Obwohl er klatschnass ist, wärmt mich seine Umarmung. Er reibt mir mit den Händen über den Rücken, so wie Baba es immer tat.

Ich schaue hinüber zu Babas Sarg, der im Wasser treibt und auf eine Fackel wartet, die nie kommen wird. »Wenn wir ihn nicht verbrennen können …«

»Wartet!«, ruft Amari von weitem. Sie kommt den eisernen Steg des Kriegsschiffs hinuntergelaufen, auf dem wir seit dem heiligen Ritual wohnen. Ihr durchnässtes Hemd hat nichts mehr mit den kunstvollen Roben und Geles gemein, die sie trug, als sie noch Prinzessin von Orïsha war. Der weiße Stoff klebt an ihrer braunen Haut. Am schäumenden Wasser bleibt sie stehen.

»Hier!« Sie reicht mir eine rostige Fackel aus der Kapitänskammer und ein volles Glas Öl, ihre eigene magere Ration.

Mein Blick fällt auf ihre Haare. Die weiße Haarsträhne, die sie seit dem Ritual besitzt, klebt an ihrer Wange. Das Zeichen für die Magie in ihrem Blut. Eine Mahnung, dass es nun Hunderte von Adlige überall in Orïsha gibt, die weiße Haare haben und wie Amari über Magie verfügen.

Ich wende mich ab, damit sie meinen Schmerz nicht sieht. Die Erinnerung an das Ritual, bei dem Amari ihre Gabe bekam, und

»Bereit?«, fragt Tzain, und ich nicke, auch wenn es nicht stimmt. Bei seinem zweiten Versuch, den Feuerstein anzuschlagen, drücke ich die Fackel auf den Strick, an dem der Sarg hängt. Sofort fängt er Feuer.

Während das Feuer sich rasend schnell durch die ölgetränkten Fasern des Stricks frisst und auf Babas Sarg zuschießt, wappne ich mich für das, was kommt. Dann geht der Sarg mit meinem Vater darin in Flammen auf. Ich lege die Hand auf mein Herz. Orangerote Feuerzungen flackern vor dem grauen Horizont.

»Títí di òdí kejì.« Mit gesenktem Kopf flüstert Tzain die heiligen Worte. Ich beiße die Zähne aufeinander und tue es ihm nach.

Títí di òdí kejì.

Bis zur anderen Seite.

Das Aussprechen der Formel versetzt mich zu Mamas Beerdigung zurück. Wieder steht mir vor Augen, wie sie in Flammen aufging. Während des Gebets denke ich an all jene, die mit ihr in Alâfia sind. All jene, die gestorben sind, damit wir die Magie zurückholen konnten.

Ich denke an Lekan, den Sêntaro, der sich opferte, um meine Gabe zu wecken. An meine Freunde Zulaikha und Salim, die auf unserem Fest von den Männern des Königs ermordet wurden.

An Mama Agba, die Seherin, die ihr Leben für mich und die anderen Divînés aus Ilorin gab.

An Inan, den Prinzen, den ich zu lieben glaubte.

Títí di òdí kejì, sage ich zu ihren Geistern. Eine Mahnung, weiterzumachen.

Unser Kampf ist noch nicht vorbei.

Er hat gerade erst angefangen.

Amari

Vater hat immer gesagt, Orïsha warte auf niemanden.

Auf keinen Mann.

Auf keinen König.

Mit diesen Worten rechtfertigte er alles, was er tat. Es war seine Ausrede, um sich alles herauszunehmen.

Während der Sarg im Wasser vor uns brennt, zieht das Schwert, das ich in die Brust meines Vaters stieß, meinen Gürtel nach unten. Sarans Körper wurde nicht aus dem Tempel geborgen.

Selbst wenn ich ihn beerdigen wollte, könnte ich es nicht.

»Wir gehen besser«, sagt Tzain. »Die Nachricht von deiner Mutter wird bald eintreffen.«

Wir verlassen das Ufer und gehen an Bord des Kriegsschiffs, das wir damals in unsere Gewalt brachten, um zum Tempel zu gelangen. Ich lasse mich einige Schritte hinter Tzain und Zélie zurückfallen. Das eiserne Schiff ist unser Zuhause, seitdem wir vor ein paar Wochen die Magie zurückgebracht haben, dennoch machen mich die Schneeleopardessen an seinem Rumpf bis heute nervös. Jedes Mal, wenn ich an Vaters altem Wappentier vorbeikomme, weiß ich nicht, ob ich weinen oder schreien soll. Ich weiß nicht, ob ich etwas empfinden darf.

»Alle an Bord!«, ruft ein Kapitän mit gellender Stimme.

Ich schaue mich um. Am Kai stehen Familien Schlange und

Ich kann mich nicht länger verstecken. Ich muss meinen Platz auf Orïshas Thron einnehmen. Ich bin die Einzige, die das Land in ein Zeitalter des Friedens führen kann. Ich kann die Königin sein, die alles wiedergutmacht, was mein Vater zerstört hat.

Diese Überzeugung wärmt mir das Herz ein wenig. Ich geselle mich zu den anderen in der eiskalten Kapitänskammer. Sie ist einer der wenigen Räume auf dem Schiff, der frei von Majazit ist, dem besonderen Metall, mit dessen Hilfe die Monarchie die Maji tötete und ihre Kräfte neutralisierte. Jegliche Annehmlichkeiten, die sich einmal in diesem Raum befanden, haben wir verkauft, um uns zu ernähren.

Tzain sitzt auf dem nackten Bett und kratzt die letzten Reiskörner aus einem Zinnbecher. Zélie liegt auf dem Metallboden, halb verdeckt vom goldenen Fell ihrer Löwenesse Nailah. Das riesige Tier ruht auf ihrem Schoß und hebt den Kopf, um die aus Zélies silbernen Augen rinnenden Tränen abzulecken. Ich sehe zur Seite und greife nach meiner eigenen mageren Ration Reis.

»Hier.« Ich reiche Tzain den Becher.

»Willst du wirklich nicht?«

»Ich bin zu nervös zum Essen«, antworte ich. »Wahrscheinlich würde ich alles sofort wieder erbrechen.«

Erst vor einem halben Mond habe ich eine Nachricht an

»Keine Sorge.« Tzain drückt meine Schulter. »Egal, was sie sagt, wir machen das schon.«

Er reckt sich, um nach Zélie zu schauen. Meine Brust zieht sich zusammen. Ich hasse diesen Teil von mir, der den beiden das neidet, was sie verbindet. Erst drei Wochen sind vergangen, seit der Dolch meines Vaters sich in den Bauch meines Bruders bohrte, und doch vergesse ich schon allmählich den tiefen Klang von Inans Stimme. Jedes Mal, wenn mir das bewusst wird, beiße ich die Zähne aufeinander und behalte mein Leid für mich. Vielleicht kann das klaffende Loch in meinem Herzen heilen, wenn Mutter und ich uns wiedertreffen.

»Da kommt die Nachricht.« Zélie weist auf eine Gestalt, die durch die dunklen Gänge des Schiffs auf uns zukommt. Als der Bote durch die angelaufene Metalltür tritt, erstarre ich. Es ist Roën. Er schüttelt den Regen aus seinen schwarzen Haaren. Die seidigen Strähnen fallen in Wellen auf seinen markanten Kiefer. Mit einer Haut wie Wüstensand und Augen so grau wie Tränen wirkt der Söldner in einem Raum voller Orïshaner fehl am Platz.

»Nailah?«

Roën kniet sich hin und holt ein großes Päckchen aus seinem Rucksack. Die Löwenesse spitzt die Ohren und wirft Roën fast um, als er die Schnüre löst und schimmernde Fische zum

»Danke«, flüstert sie.

Roën nickt und hält ihren Blick länger als nötig wäre. Ich muss mich räuspern, damit er sich erhebt und an mich wendet.

»Heraus damit!«, sage ich seufzend. »Was hat sie gesagt?«

Roën drückt die Zunge von innen gegen die Wange und blickt zu Boden. »Der Palast wurde angegriffen. Kein Wort dringt in oder aus der Hauptstadt.«

Bei der Vorstellung, dass Mutter allein im Palast ist, zieht sich alles in meiner Brust zusammen. »Ein Angriff? Wie kann das sein?« Ich stehe auf. »Wann? Warum?«

»Es waren Maji, die sich Iyika nennen«, erklärt Roën. »Das heißt ›Revolution‹. Sie haben Lagos gestürmt, kaum dass sie ihre Kräfte zurückhatten. Angeblich sind sie direkt zum Palast vorgestoßen.«

Ich lehne mich gegen die Wand und rutsche nach unten auf die Eisenplatten. Roën spricht weiter, aber ich bekomme nichts mehr mit. Meine Ohren sind taub.

»Die Königin«, bringe ich hervor. »Wurde sie … ist sie …«

»Niemand hat von ihr gehört.« Roën wendet den Blick ab. »Da du dich hier versteckt hältst, glauben die Leute, dass die königliche Linie ausgelöscht ist.«

Tzain steht auf, doch ich hebe die Hand, damit er nicht näher kommt. Wenn er sich nur zu mir stellt, breche ich zusammen. Dann verliere ich vollkommen die Fassung. Jeder Plan, den ich geschmiedet hatte, jede Hoffnung, die ich je hegte – alles innerhalb von Sekunden ausgelöscht. Wenn Mutter tot ist …

Ihr Himmel!

Ich bin wirklich völlig allein.

»Das ist schwer zu sagen«, erwidert Roën. »Es sind nicht viele, aber sie sind brandgefährlich. Sie haben in ganz Orïsha Adlige ermordet.«

»Das heißt, sie haben es auf königliches Blut abgesehen?« Zélie zieht die Augenbrauen zusammen. Unsere Blicke treffen sich. Seit das Ritual anders lief als beabsichtigt, haben wir kaum miteinander gesprochen. Ich freue mich, dass ich ihr nicht egal bin.

»Sieht so aus.« Roën zuckt mit den Schultern. »Wegen der Iyika jagt das Militär die Maji wie Hunde. Ganze Dörfer werden ausradiert. Der neue Admiral hat praktisch den Kriegszustand ausgerufen.«

Ich schließe die Augen und streiche über die Wellen in meinem Haar. Beim letzten Krieg in Orïsha haben Flammentänzer die königliche Blutlinie fast ausgelöscht. Jahre später schlug Vater mit der Blutnacht zurück. Wenn wieder Krieg ausbricht, wird niemand mehr sicher sein. Dann wird das Königreich sich selbst in Stücke reißen.

Orïsha wartet auf niemanden, Amari.

Vaters geisterhafte Stimme hallt durch meinen Kopf. Ich bohrte ihm das Schwert in die Brust, um Orïsha von seiner Tyrannei zu befreien, und jetzt versinkt das Königreich im Chaos. Es bleibt keine Zeit zum Trauern. Um meine Tränen zu trocknen. Ich habe geschworen, eine bessere Königin zu sein.

Wenn Mutter wirklich tot sein sollte, ist nun die Zeit gekommen, meinen Schwur zu erfüllen.

»Ich werde mich an die Öffentlichkeit wenden«, beschließe ich. »Ich werde das Königreich übernehmen, ihm wieder Stabilität geben und diesen Krieg beenden.« Ich stehe auf und verdränge meinen Kummer, um mich der neuen Aufgabe zu stellen.

»Das soll wohl ein Witz sein.« Die Stimme des Söldners ist bar jeden Mitgefühls. »Selbst wenn ich deine Mutter nicht angetroffen habe, schuldest du mir mein eigenes Gewicht in Gold.«

»Du hast dieses Schiff von mir bekommen!«, rufe ich.

»Das Schiff, auf dem ihr herumhockt?« Roën zieht eine Augenbraue hoch. »Das Schiff, das meine Männer und ich überfallen haben? Zig Familien warten darauf, dass ich ihnen zur Flucht übers Meer verhelfe. Dieses Schiff ist keine Bezahlung. Es treibt den Preis in die Höhe, den du mir schuldest!«

»Wenn ich auf dem Thron bin, habe ich Zugang zu den königlichen Schatzkammern«, erkläre ich. »Hilf mir, eine große feierliche Verkündigung zu veranstalten, dann zahle ich dir das Doppelte von dem, was ich dir schulde. Nur noch ein paar Tage, und das Gold gehört dir!«

»Ich gebe euch noch eine Nacht.« Roën schlägt die Kapuze seines Umhangs über den Kopf. »Morgen setzt dieses Schiff die Segel. Wenn ihr dann noch nicht runter seid, schmeiß ich euch ins Wasser. Ihr könnt euch den Fahrpreis nicht leisten.«

Ich will ihm den Weg versperren, doch er stürmt an mir vorbei nach draußen. Seine Schritte werden vom Regen verschluckt. Die Trauer, die ich zu verdrängen suche, droht hervorzubrechen.

»Wir brauchen ihn nicht.« Tzain kommt zu mir. »Du kannst den Thron auch ohne seine Hilfe besteigen.«

»Ich besitze kein einziges Goldstück mehr. Wie soll ich irgendjemanden überzeugen, dass ich einen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron habe?«

Tzain überlegt und macht einen Schritt nach hinten, als sich Nailah zwischen uns drängt. Mit ihrer feuchten Schnauze

»Er hat nein gesagt.«

»Ja, weil ich ihn gefragt habe!« Ich knie mich vor sie. »Du hast ihn überzeugt, mit seiner Mannschaft zu einer Insel irgendwo im Meer zu fahren, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Du kannst ihn auch überreden, uns bei der Organisation einer Kundgebung zu helfen.«

»Wir sind ihm bereits eine Menge Gold schuldig«, entgegnet Zélie. »Wir können schon von Glück sagen, wenn wir Jimeta mit dem Kopf auf den Schultern verlassen dürfen.«

»Welche Chance haben wir denn ohne seine Hilfe?«, frage ich. »Wenn Lagos von den Iyika gestürmt wurde, dann ist Orïsha seit fast einem Mond ohne Herrscher. Wenn ich jetzt nicht die Herrschaft übernehme, werde ich den Thron niemals besteigen!«

Zélie reibt sich den Nacken, ihre Finger fahren über die neuen goldenen Zeichen auf ihrer Haut. Es sind alte, überlieferte Symbole, die nach dem Ritual bei ihr auftauchten. Jede geschwungene Linie und jeder Punkt glänzt wie mit einer winzig kleinen Nadel gestochen. Obwohl die Zeichen wunderschön sind, verdeckt Zélie sie. So wie ihre Narben. Sie schämt sich dafür.

Als ob ihr allein der Anblick Schmerzen bereite.

»Zélie, bitte!«, flehe ich sie an. »Wir müssen es versuchen. Das Militär jagt die Maji …«

»Ich kann nicht für alle Zeiten die Not meines Volks schultern.«

Ihre Gefühlskälte trifft mich unvorbereitet, doch ich gebe nicht auf. »Dann tu es für Baba. Tu es, weil er sein Leben für diese Sache geopfert hat.«

»Ich kann nichts versprechen.«

»Versuch es einfach.« Ich lege meine Hand auf ihre. »Wir haben viel zu viel geopfert, um diesen Kampf so zu verlieren.«

Zélie

Der nächtliche Regen in Jimeta wäscht die Schwere des Tages von mir. Ich gehe mit Nailah von Bord des Kriegsschiffs. Heulender Wind schlägt uns entgegen, zusammen mit dem süßen Geruch von Salzwasser und Tang; in der überfüllten Kapitänskammer habe ich nur noch brennendes Holz und Asche gerochen. Nailahs schwere Pfoten hinterlassen tiefe Abdrücke im Sand. Auf ihrem Rücken reite ich aus der Hafenanlage in die gewundenen Straßen von Jimeta. Beim Laufen hängt meiner Löwenesse die lange Zunge aus dem Maul. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal bei Vollmond im Freien galoppiert sind.

»So ist es fein, Nailah!« Auf dem Weg durch die verwinkelten Straßen zwischen den Sandsteinklippen von Jimeta halte ich die Zügel straff. Wenn die Dorfbewohner ihre Lampen löschen, um das kostbare Öl zu sparen, werden die an die hoch aufragenden Klippen gebauten Häuser zu schwarzen Umrissen. Wir biegen um eine Ecke, wo Matrosen die hölzernen Aufzüge verschließen, mit denen sie die Klippen hinauf- und hinunterfahren. Mit großen Augen entdecke ich neue Buchstaben an einer Steilwand. Die karmesinroten Pigmente glänzen im Mondlicht, mit vielen unterschiedlich großen Pinseltupfern bilden sie ein I.

Es sind Maji, die sich Iyika nennen. Roëns Worte gehen mir durch den Kopf. Das heißt ›Revolution‹. Sie haben Lagos .

Ich ziehe an Nailahs Zügeln und stelle mir den Maji vor, der diesen Buchstaben gemalt hat. Bei Roën hörte es sich nicht so an, als seien die Iyika nur eine kleine Gruppe Aufständischer.

Es klang wie eine ganze Armee.

»Mama, guck mal!«, ruft ein kleines Mädchen.

Ich nähere mich einer Ansammlung altersschwacher Zelte. Das Mädchen steht auf der Straße und drückt eine schwarze Porzellanpuppe an seine Brust, deren aufgemaltes Gesicht und Seidenkleid auf die adelige Abstammung der Kleinen verweisen. Das Kind ist nur einer der neuen Bewohner von Jimetas schmalen Gassen, eigentlich nur unbefestigte Wege zwischen den Zelten. Als das Mädchen durch den Regen patscht, stelle ich mir vor, was für ein Leben sie früher geführt hat. Was sie durchgestanden haben muss, um herzukommen.

»Ich habe noch nie eine Löwenesse gesehen.« Sie reckt ihre kleine Hand nach Nailahs mächtigen Hörnern. Ich amüsiere mich über die leuchtenden Augen der Kleinen, doch als sie näher kommt, entdecke ich eine weiße Strähne in ihrem Haar.

Noch ein Tîtán.

Bei dem Anblick wächst der Groll in mir. Nach Roëns Schätzung besitzt jetzt ungefähr ein Achtel der Bevölkerung magische Kräfte. Davon verfügt ungefähr ein Drittel über die Magie der Tîtánen.

Erkennbar an ihren weißen Haarsträhnen, tauchten die Tîtánen nach dem Ritual unter den Adeligen und im Militär auf. Ihre Kräfte sind mit denen der zehn Maji-Clans vergleichbar. Doch anders als bei uns benötigt ihre Gabe keine Beschwörungsformel, um freigesetzt zu werden. Und wie bei Inan sind ihre rohen Kräfte ziemlich stark.

Es ist schwer, bei weißen Strähnen nicht an ihn zu denken.

»Likka!« Die Mutter des Mädchens kommt nach draußen in den Regen, schlingt ihrer Tochter einen dicken gelben Schal um den Hals und greift nach deren Handgelenk. Als die Frau mein weißes Haar sieht, versteift sie sich.

Ich schnalze mit der Zunge und reite weiter. Obwohl ihre Tochter jetzt magische Kräfte besitzt, hasst diese Frau mich wegen meiner Gabe.

Am Ende des Wegs steige ich vor Roëns Höhle ab.

»Sieh mal einer an!«, empfängt mich eine heisere Stimme, als ich mich dem Eingang der Höhle nähere, in der Roëns Leute leben. Der Söldner zieht seine schwarze Maske herunter, und ich verdrehe die Augen. Es ist Harun, Roëns Mann fürs Grobe. Als wir uns kennenlernten, habe ich ihn zu Boden geworfen. Roën hat mir erzählt, ich hätte Harun mehrere Rippen gebrochen. Seitdem hat er nicht mehr mit mir gesprochen. Jetzt blitzt es gefährlich in seinen Augen.

»Heraus mit der Sprache!« Schwer legt er mir den Arm um die Schultern. »Warum kommt meine Lieblingsmade aus ihrem Loch gekrochen?«

Ich schüttele seinen Arm ab und ziehe meinen Stab. »Ich bin nicht zu Spielchen aufgelegt.«

Ich mustere ihn abschätzig, er grinst mich an und bleckt seine gelben Zähne. »Hier kann es nachts gefährlich werden. Besonders für eine Made wie dich.«

»Nenn mich nie wieder ›Made‹!«

Meine Narben kribbeln, wenn ich das Schimpfwort höre,

»Auf deinen Kopf ist eine Prämie ausgesetzt, du Made!« Harun macht einen Schritt nach vorn, sein Blick huscht über die goldenen Symbole auf meiner Haut. »Ich wusste immer schon, dass man für dich eine ordentliche Belohnung bekommt, aber selbst ich hätte nicht gedacht, wie hoch der Preis steigen würde.«

Sein Lächeln verschwindet, ich sehe eine Klinge blitzen.

»Das Mädchen, das die Magie zurückgebracht hat. Direkt vor uns.«

Bei jedem seiner Sätze brodelt die Magie, von der er spricht, stärker in meinem Blut. Meine Ashê zischt wie eine aufgeladene Gewitterwolke, wartet nur darauf, mit einer Beschwörung freigesetzt zu werden.

Doch ich werde sie nicht loslassen, egal, wie viele Söldner noch auftauchen. Ich darf es nicht. Die Magie ist der Grund dafür, dass Baba nicht mehr da ist. Es wäre ein Verrat, sie jetzt einzusetzen …

»Was ist denn hier los?«

Plötzlich steht Roën vor uns. Er legt den Kopf schräg. Am Eingang der Höhle fällt das Mondlicht auf sein Gesicht. Man kann sehen, dass sein Kinn blutverschmiert ist. Ich weiß nicht, ob es sein eigenes Blut ist oder das eines anderen.

Roëns Auftreten und sein Fuchser-Grinsen vermitteln Lockerheit, doch seine sturmgrauen Augen durchdringen mich wie Messer.

»Ihr feiert doch hoffentlich nicht ohne mich«, sagt er. »Ihr wisst beide, wie eifersüchtig ich werden kann.«

Der Kreis der Söldner teilt sich wie von Zauberhand und macht Platz für ihren Anführer. Harun schnalzt mit der Zunge,

Roëns Vollstrecker mustert mich noch einmal von oben bis unten, ehe er geht. Seine Drohung hinterlässt einen faden Geschmack in meinem Mund. Die anderen Söldner tun es ihm nach und entfernen sich langsam, bis Roën und ich allein sind.

»Danke«, sage ich.

Roën steckt sein Messer wieder ein und betrachtet mich mit gerunzelter Stirn. Er schüttelt den Kopf und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Egal, was du zu sagen hast, meine Antwort lautet: Nein.«

»Hör mich doch wenigstens an!«, bitte ich.

Er marschiert so forsch voran, dass ich Mühe habe, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Ich rechne damit, dass er mich in die Höhle der Söldner führt, doch er geht zu dem Felsvorsprung, der sich draußen an der Klippe entlangwindet. Der Weg wird immer schmaler, je höher wir steigen. Trotzdem wird Roën stetig schneller. Ich drücke mich an den Felsen, während tief unter mir weiße Wellen an den Klippen bersten.

»Es gab einen Grund dafür, dass ich durch den Regen zum Schiff marschiert bin«, erklärt Roën. »Du vergisst gerne, dass meine Leute dein wütendes kleines Gesicht nicht so gerne sehen wie ich.«

»Was hat Harun da eben gesagt?«, frage ich. »Auf mich ist ein Kopfgeld ausgesetzt?«

»Zïtsōl, du hast die Magie zurückgebracht. Es mangelt nicht an Menschen, die Geld dafür zahlen würden, dich in die Finger zu bekommen.«

Wir erreichen das Ende des Felsvorsprungs. Dort steigt Roën in eine große, mit Eisen verstärkte Holzkiste. Er bedeutet mir, zu ihm zu kommen, doch ich zögere und mustere das Bündel von

»Weißt du, dass Zïtsōl in meiner Heimat ein Kosename ist? Er bedeutet: Mädchen, das Angst vor Dingen hat, die ungefährlich sind.«

Ich verdrehe die Augen und steige zu ihm auf die ächzenden Bretter. Grinsend zieht Roën am Strick. Ein Gegengewicht fällt herunter, und der Holzkorb setzt sich stockend in Bewegung. Wie Vögel steigen wir in den Himmel auf.

Als wir so weit oben sind, dass ich die neuen Zelte in Jimeta sehen kann, klammere ich mich am verwitterten Rand des Aufzugs fest. Vom Kriegsschiff aus konnte ich nur die Zelte am Nordkai sehen, jetzt erkenne ich, dass noch Hunderte entlang der Felsenküste aufgeschlagen sind.

Etwas weiter sehe ich eine lange Schlange weißhaariger Maji und schwarzhaariger Kosidán, die sich auf ein kleines Schiff drängen. Es fällt mir schwer, mich nicht für ihr Leid verantwortlich zu fühlen. Ich kann kaum glauben, dass die Rückkehr der Magie jetzt schon so viele Orïshaner aus ihrer Heimat vertrieben hat.

»Es ist Zeitverschwendung, nach unten zu sehen«, sagt Roën. »Schau nach oben!«

Ich hebe den Blick und öffne staunend den Mund, als ich sehe, was sich vor mir dreißig Meter in die Luft erhebt. Jimetas hohe Klippen sind dunkle, in den Nachthimmel ragende Silhouetten. Helle Sterne am Firmament funkeln wie Diamanten auf dem dunklen Gewand der Nacht. Bei dem Anblick wünsche ich mir, Baba würde noch leben; er hat immer so gerne in die Sterne geguckt.

Als wir höher steigen, wage ich dennoch einen Blick auf die Menschen unten. Fast wäre es mir lieber, mit ihnen an Bord

»Glaubst du, ihnen geht es besser dort, wo sie hinwollen?«, frage ich.

»Eher nicht«, erwidert Roën. »Wenn man schwach ist, ist es egal, wo man ist.«

Meine Schuldgefühle werden immer größer und entfesseln meine Phantasie. Doch als Roën mir einen Arm um die Taille legt, beginnt mein Magen zu flattern.

»Außerdem: Welcher Menschenseele soll es so weit weg von mir schon besser gehen?«

»Ich gebe dir drei Sekunden, dann reiße ich dir den Arm ab.«

»Drei ganze Sekunden?« Roën grinst, während der Korb schwingend zum Stehen kommt. Wir schweben hoch oben vor einem Felsvorsprung, der sich zu einer bescheidenen Höhle öffnet. Mit verschränkten Armen trete ich ein. Der Fels ist zu einem Tisch und einem Stuhl gehauen. Mehrere Pantheressenfelle bilden ein Bett. Ich hätte nicht gedacht, dass Roën so schlicht lebt.

»Das ist alles?«

»Wie, hast du vielleicht einen Palast erwartet?« Er geht zu dem einzigen Möbelstück, einem Schrank aus Marmor, in dem er verschiedene Waffen und Klingen aufbewahrt. Er holt zwei Schlagringe aus Messing aus der Tasche und legt sie auf ein Gitter. Das glänzende Metall ist noch immer voller Blut.

Ich bemühe mich, mir nicht das Gesicht vorzustellen, das Roën damit traktiert hat, sondern suche nach den richtigen Worten, um ihn von dem zu überzeugen, was er für uns tun soll. Ich möchte nicht zu lange mit ihm allein sein. Auch wenn er

»Wir sind dir sehr dankbar für alles, was du getan hast«, sage ich. »Für die Geduld, die du mit uns hattest …«

»Amari hat hoffentlich noch ein paar bessere Sätze mit dir eingeübt.« Roën will sich auf einen Stuhl setzen, zuckt aber zusammen. Er greift sich in den Nacken und zieht sein Hemd über den Kopf. Beim Anblick seiner wohlproportionierten Muskeln, über die sich alte und neue Narben ziehen, wird mir ganz anders. Dann entdecke ich eine klaffende Wunde unter Roëns Schulterblatt.

Das ist eine Chance, ihm näherzukommen. Ich nehme einen schmutzigen Lumpen vom Boden. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgt er, wie ich den Lappen in einem Eimer Regenwasser auswasche, bevor ich seine Wunde damit betupfe.

»Du bist süß, Zïtsōl. Aber ich habe es nicht so mit Gefallen.«

»Das ist kein Gefallen«, entgegne ich. »Hilf uns, eine Kundgebung zu organisieren, dann bekommst du das Doppelte von dem, was du eh erhältst.«

»Klär mich mal auf!« Roën legt den Kopf schief. »Was ist das Doppelte von nichts?«

»Wenn das Ritual wie geplant verlaufen wäre, säße Amari jetzt auf dem Thron. Dann hättest du dein Gold längst.«

Und Baba wäre noch am Leben.

Ich verdränge den Gedanken, bevor er mich aufs Neue quälen kann. Über das zu grübeln, was hätte sein können, wird mir nicht helfen, Roën zu überreden.

»Zïtsōl, und wenn ich noch so charmant bin, willst du mit Sicherheit keine Männer wie mich oder Harun an deiner Seite haben. Und ganz bestimmt willst du nicht in unserer Schuld stehen.«

»Das ist ihr Problem.« Roën zuckt mit den Schultern. »Was kümmert dich das?«

»Weil …« Die Worte, die ich sagen müsste, wollen nicht heraus. Weil sie das Beste für dieses Königreich ist. Weil sie die Einzige ist, die die Maji-Jagd des Militärs beenden kann.

Ich will Roën nicht anlügen.

Das käme mir vor, als würde ich mich selbst belügen.

»Ich dachte, alles würde besser werden.« Ich schüttele den Kopf. »Die Magie sollte alles besser machen.«

Als ich die Wahrheit laut ausspreche, wird mir das Ausmaß meiner Enttäuschung klar. Fast zerbreche ich daran. Das Herz wird mir schwer.

»Babas Tod, die Tîtánen, die Jagd auf die Maji …« Ich seufze. »All die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen. Das Ritual ist noch keinen Mond her, und doch kommt es mir vor, als hätte die Magie das gesamte Königreich zerstört. Alles ist schlimmer als vorher.« Ich wringe den Lappen aus und würde am liebsten die Zeit zurückdrehen. »Jetzt, da wir sie haben, will ich sie nicht mehr. Hätte ich sie doch nie zurückgeholt!«

Bebend atme ich aus und will Roëns Wunde weiter versorgen, da packt er mich am Handgelenk und zwingt mich, ihn anzusehen. Bei seiner Berührung summt meine Haut. Es ist das erste Mal seit der Nacht auf dem Kriegsschiff, dass wir ganz allein sind. Damals teilten wir unsere Albträume und Verletzungen unter dem gelben Mond.

Die Art, wie Roën mich ansieht, bringt meinen Körper zum Kribbeln. Ich möchte ihn an mich drücken. Es ist, als würden seine sturmgrauen Augen meinen Panzer durchdringen und sehen, in was für einem furchtbaren Zustand ich tatsächlich bin.

Seine Frage lässt mich innehalten. Ich will die Menschen zurück, die ich verloren habe, mehr nicht. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fehlt mir Mamas Umarmung. Die Erlösung, die der Tod bietet.

»Ich will frei sein«, flüstere ich. »Ich will mit allem durch sein.«

»Dann sei doch damit durch.« Roën zieht mich an sich und betrachtet mich, als sei ich ein Knoten, der gelöst werden muss. »Warum bittest du mich um Hilfe, wenn du selbst einen Schlussstrich ziehen und den Schaden begrenzen kannst?«

»Weil alles umsonst war, wenn Amari nicht auf den Thron kommt. Dann wäre mein Vater umsonst gestorben. Und wenn das passiert …« Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen. »Und wenn das passiert, werde ich niemals frei sein. Nicht mit diesen Schuldgefühlen.«

Roën sieht mich an, und ich spüre, dass ihm eine Erwiderung auf der Zunge liegt. Doch er sagt nichts, sondern lässt zu, dass ich die Hand unter sein Kinn lege und sein Gesicht vom Blut säubere.

Er senkt den Blick. Ich sehe die Kerben an seinem Arm, seine schlimmsten Narben. Er hat mir erzählt, dass die Folterknechte für jedes Crewmitglied, das sie vor seinen Augen töteten, einen Strich in seinen Arm ritzten; dreiundzwanzig Kerben für dreiundzwanzig Leben. Tief in mir bin ich überzeugt, dass diese Narben der Grund sind, warum Roën seine Heimat verließ. Der Grund, warum er mich besser versteht als jeder andere.

»Bei mir gibt es keine zweite Chance, Zïtsōl. Das wäre schon deine dritte.«

»Du kannst mir vertrauen.« Ich halte ihm die Hand hin. »Das

Roën schüttelt den Kopf, dann legt er jedoch seine Hand in meine. Erleichterung breitet sich in mir aus.

»Gut«, sagt er. »Wir brechen noch heute Abend auf.«

Amari

Am nächsten Morgen hallt meine Stimme durch die überfüllte Kapitänskammer. Das Kriegsschiff nähert sich der Küste von Zaria, und ich quäle mich mit dem Entwurf der Rede, die das Volk von Orïsha überzeugen soll, meinen Thronanspruch zu unterstützen.

»Ich bin Amari Olúborí«, verkünde ich, »die Tochter von König Saran. Und die Schwester des verstorbenen Kronprinzen.«

Ich stehe vor dem gesprungenen Spiegel und versuche, die diesen Worten innewohnende Macht zu spüren. Doch sooft ich sie auch ausspreche, sie fühlen sich nicht richtig an.

Nichts fühlt sich richtig an.

Ich ziehe mir den schwarzen Dashiki über den Kopf und werfe ihn auf den wachsenden Berg von Klamotten auf meinem Bett. Nachdem ich wochenlang nur das getragen habe, was ich im Rucksack bei mir trug, kommt mir der von Roëns Männern ergaunerte Überfluss fremd vor.

Er erinnert mich an die Vormittage im Palast, wenn ich die Zähne aufeinanderbiss, um mich nicht zu wehren, wenn die Dienerinnen mir in Mutters Auftrag ein Gewand nach dem anderen überstreiften. Nie war Mutter mit irgendetwas zufrieden. In ihren bernsteinfarbenen Augen war mein Teint immer zu dunkel. Mein Gesicht zu breit.

Wie sieht das denn aus? Damit kann man nicht mal einer Leopardesse den Hintern abwischen!

Mein Hals wird trocken, ich nehme die Kopfbedeckung wieder ab. Wie oft habe ich mir gewünscht, Mutter ausblenden zu können. Jetzt bin ich gezwungen, es zu tun.

Konzentrier dich, Amari!

Ich greife zu einer dunkelblauen Tunika und kralle die Finger in die Seide, um nicht zu weinen. Welches Recht habe ich zu trauern, wenn die Sünden meiner Familie diesem Königreich so viel Schmerz zugefügt haben?

Ich schlüpfe in die Tunika und drehe mich zum Spiegel um. Es ist keine Zeit für Tränen.

Ich muss heute für diese Sünden geradestehen.

»Ich bin hier, um euch zu verkünden, dass die Spaltung unseres Landes der Vergangenheit angehört«, übe ich meinen Text. »Der richtige Moment für eine Vereinigung ist gekommen. Zusammen werden wir …«

Ich verlagere das Gewicht und prüfe mein zersplittertes Spiegelbild. Eine neue Narbe verunziert meine karamellbraune Schulter, gezackt wie ein Blitz. Im Laufe der Jahre habe ich mir angewöhnt, die Narbe zu verstecken, die mein Bruder auf meinem Rücken hinterlassen hat. Jetzt verberge ich zum ersten Mal die meines Vaters.

Es ist, als sei dieses Zeichen lebendig. Als würde Vaters Hass noch in meinem Körper wüten. Ich würde die Narbe gerne ungeschehen machen. Fast wünsche ich mir, ich könnte ihn ungeschehen machen …

»Ihr Himmel!« Das blaue Licht meiner Ashê knistert rund um

Mitternachtsblaue Ranken schießen aus meinen Händen wie Funken aus einem Feuerstein. Die Haut reißt, die Narben platzen auf. Meine Handflächen brennen. Ich ächze vor Schmerzen.

»Hilfe, ist da jemand?« Ich sacke gegen den Spiegel. Das Glas verschmiert dunkelrot. Es tut so weh, dass ich kaum atmen kann. Blut rinnt mir die Brust hinunter, ich falle auf die Knie. Ich will schreien, kann aber nur röcheln …

»Amari!«

Tzains Stimme ist heiser. Seine Gegenwart befreit mich aus meinem psychischen Käfig. In Wellenbewegungen ebbt der Schmerz ab.

Blinzelnd merke ich, dass ich auf dem Metallboden liege, nur halbbekleidet, die seidene Tunika in der Hand zerknüllt. Das Blut auf dem Spiegel ist verschwunden.

Meine Narben haben sich geschlossen.

Tzain bedeckt mich mit einem Tuch, bevor er mich in die Arme nimmt. Ich lehne mich an seine Brust, meine Muskeln werden schwer, erschöpft vom Ausbruch der Magie.

»Das ist schon das zweite Mal diese Woche«, sagt er.

Tatsächlich war es das vierte Mal. Doch die Sorge in Tzains Blick veranlasst mich, ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Er muss nicht wissen, dass es schlimmer wird. Niemand muss es wissen.

Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich von meinen neuen Gaben halten soll. Was es bedeutet, ein Geistwandler und ein Tîtán zu sein. Die Maji haben ihre Kräfte durch das Ritual zurückbekommen, für Tîtánen wie mich ist die Magie jedoch etwas völlig Neues.

»Bei den Göttern!«, flucht Tzain, als er meine Handflächen untersucht. Die rote Haut ist berührungsempfindlich und mit Brandblasen überzogen. »Magie ist doch nichts, was weh tun soll. Red doch einfach mal mit Zél-«