Hiltrud Baier
Tage mit Ida
Roman
FISCHER E-Books
Hiltrud Baier ist in Süddeutschland aufgewachsen, hat als Erwachsene 17 Jahre lang in Kirchheim unter Teck gewohnt und wanderte schließlich nach Schweden aus. Sie liebt ihre Heimat genauso wie die spektakuläre Natur und die Stille Lapplands. Nach dem Erfolg ihres Romans »Helle Tage, helle Nächte«, inspirierte sie die Beschäftigung mit dem Werk und dem Schicksal von Nelly Sachs zu diesem Roman. Hiltrud Baier lebt mit ihrem Mann im schwedischen Jokkmokk sowie in Süddeutschland und hat zwei Töchter.
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Susanne führt ein ruhiges Leben im Städtchen Kirchheim unter Teck. Ein viel zu ruhiges Leben, denn seit Susannes Mann im entfernten München arbeitet und ihre Kinder zunehmend auf Distanz gehen, spürt sie eine überraschende Leere. In diese Stille platzt unerwartet Ida, eine ältere Frau, die sich als die Schwester von Susannes Mutter vorstellt. Susanne ist das vollkommen neu. Ihre Mutter kann sie nicht fragen, da diese an Demenz leidet.
Gemeinsam mit Ida beginnt Susanne, in der Vergangenheit ihrer Mutter zu suchen und fördert dabei Tragisches und Erstaunliches zutage, das sie ihrer Familie wieder ein Stück näherbringen könnte. Wenn sie es denn zulässt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung: Krista Keltanen / plainpicture
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491143-4
Für Henry, Charlotte und Ava
Ich setzte den Fuß in die Luft,
und sie trug.
Hilde Domin
Noch nie hatte sie eine Frau gesehen, die einen langen weißen Zopf trug. Ältere Frauen trugen Kurzhaarfrisuren oder allenfalls schulterlang, zumindest hier, in der Kleinstadt. Susanne konnte ihren Blick von der trotz ihres Alters sehr aufrecht gehenden Frau nicht abwenden. Der Zopf war dick, ging ihr fast bis zum Po und passte farblich genau zu dem übergroßen blau-weiß-rot-karierten Tuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte.
Susanne stellte gebrauchtes Geschirr auf ein Tablett, putzte die Tische und bemerkte, wie die Frau sich langsam umdrehte und ihr Blick auf das große Schild fiel, das über der Eingangstür befestigt war. Café Rieger stand in altmodischer Schreibschrift darauf, und Susanne fragte sich, wann ihr Bruder dieses uralte Schild endlich austauschen würde.
Die Frau schien zu zögern, dann trat sie durch die geöffnete Tür in das Café. Auch das noch, dachte Susanne, jetzt musste sie nicht nur draußen, sondern auch drinnen bedienen. Aber die alte Dame würde warten müssen, zuerst würde Susanne sich um die Kunden kümmern, die gerade eben auf den Rattanstühlen Platz genommen hatten und bereits ungeduldig die Hand hoben, um ihre Bestellungen aufzugeben.
Das frühlingshafte Wetter hatte an diesem Sonntagnachmittag zahlreiche Cafégäste angelockt. Mit geöffneten Jacken saßen sie unter dem noch blattlosen Kastanienbaum, um dessen dicken Stamm vereinzelt die ersten Krokusse blühten, und streckten ihre Gesichter der wärmenden Märzsonne entgegen. Am danebenliegenden Rossmarkt-Brunnen, in dem erst seit ein paar Tagen wieder Wasser floss, spielten Kinder oder aßen das erste Eis des Jahres. In den nächsten Minuten rückte Susanne die Stühle für die neuen Gäste zurecht, nahm Bestellungen auf und servierte mit geübten Handgriffen Cappuccinos, Säfte, Rhabarberkuchen und Muffins. Einem kleinen Rauhaardackel stellte sie eine Wasserschale vor die Schnauze und brachte der Besitzerin den gewünschten Orangensaft. Während sie drei Espressi nach draußen trug, warf sie erneut einen Blick auf die alte Dame, die sich im Innenraum an einen Tisch am Fenster gesetzt hatte. Sie schien noch immer zufrieden zu sein, denn sie kehrte ihr den Rücken zu und beobachtete durch die Fensterscheibe das rege Treiben in der Fußgängerzone.
Heute war verkaufsoffener Sonntag, und die Kirchheimer nutzten diesen Tag wie immer zum Bummeln, zum Schnäppchen-Jagen und um Ostergeschenke einzukaufen.
Immer noch hatte die Frau ihre Jacke an und auch das große, buntkarierte Tuch legte sie nicht ab. Wahrscheinlich wollte sie gar nichts bestellen, sondern sich nur aufwärmen, dachte Susanne. Sie bemerkte den kritischen Blick ihres Bruders hinter der Theke, der sie mit einer kleinen Kopfbewegung auf die Frau am Fenster aufmerksam machte. Susanne nickte.
Sie bediente heute alleine. Seit letztem Jahr ließ der Umsatz des Cafés zu wünschen übrig, und Martin, ihr Bruder, der vor fünfzehn Jahren mit seiner Frau das traditionsreiche Café Rieger von ihrer Mutter übernommen hatte, hatte sie Anfang des Jahres gebeten, zumindest halbtags als Bedienung einzuspringen, um die Personalkosten zu senken. In den letzten Jahren war die Konkurrenz in der Kleinstadt am Fuß der Schwäbischen Alb immer größer geworden, und es kamen immer weniger Gäste. Susanne hatte nicht lange gezögert und den Wunsch ihres Bruders gerne erfüllt. Zu Hause wartete niemand auf sie. Zudem war sie froh über die Ablenkung, denn die Krankheit ihrer Mutter, die erst seit Dezember in einem Heim für Demenzkranke wohnte, hatte sie im letzten halben Jahr sehr mitgenommen.
Susanne reichte Martin, der heute ungewöhnlich fröhlich wirkte, eine neue Bestellung entgegen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die alte Frau inzwischen aufmerksam die Karte studierte, aber sie schien nicht fündig zu werden. Immer wieder blätterte sie unschlüssig zwischen den Seiten. Doch jetzt hob sie die Hand, und Susanne trat an ihren Tisch. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Entschuldigung.« Die Frau lächelte sie an. Auf ihren Wangen wurden zahlreiche Fältchen sichtbar.
»Es steht nicht auf der Karte, aber …«
Susanne bemerkte einen Akzent, den sie nicht einordnen konnte. Die Frau hatte das Wort »Karte« ungewöhnlich dumpf ausgesprochen. Ein A, das wie ein O klang.
»Könnte ich bitte ein Kännchen Kaffee bekommen?« Und auch Kaffee betonte sie anders, auf der ersten Silbe.
»Kännchen gibt’s nur draußen«, kam es spontan aus Susannes Mund, doch sogleich schüttelte sie den Kopf. Was für ein blöder Ausspruch! Ihre Mutter hatte ihn früher immer verwendet.
»Wie bitte?«
»Tut mir leid, das ist mir so herausgerutscht. Nein, Kännchen führen wir nicht mehr.«
»Oh!« Die alte Dame schien enttäuscht zu sein. »Warum das? Schmeckt Kaffee in Kännchen nicht mehr?«
Susanne lachte auf. »Aber nein. Kännchen sind nicht mehr zeitgemäß.«
»Schade!« Die Frau nahm die Karte noch einmal zur Hand.
Susanne fielen ihre ungewöhnlich breiten, abgearbeiteten Hände auf, die nicht so recht zu ihrer schlanken Gestalt und dem schmalen Gesicht passten. Sie musste in ihrem Leben viel gearbeitet haben.
»Dann vielleicht ganz einfach eine Tasse Filterkaffee. Aber bitte sehr stark.«
»Gerne.« Susanne nickte freundlich und gab die Bestellung an ihren Bruder weiter, der sich sofort an die Arbeit machte.
Ungewöhnlich. Meist verlangten ältere Damen nach magenfreundlichem, koffeinfreiem Kaffee. Aber extra stark?
Susanne wartete am Tresen und betrachtete die Frau, die sich jetzt von Tuch und Jacke befreit hatte und sich interessiert im Café umschaute. Ihr Blick blieb an den verblichenen, gerahmten Fotos an der Wand hängen. Die Frau stand auf und betrachtete die Schwarzweißfotos, auf denen Susannes und Martins Eltern zu sehen waren, genauer. Sie waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen worden, als ihre Mutter, gerade frisch verheiratet, das Café von Susannes Großmutter übernommen hatte. Wäre es ihr Lokal gewesen, hätte Susanne die alten Fotos schon längst abgehängt. Aber Martin und seine Frau waren sehr traditionsbewusst. Deshalb war auch die Inneneinrichtung des Cafés immer noch wie früher. Die Wände waren in plüschigem roten Samt gehalten, vergoldete Wand- und Stehlampen verbreiteten ein schummriges Licht, während draußen die Sonne vom Himmel strahlte. Susanne fand den großen Innenraum mit der hohen Stuckdecke, in dem sicher an die fünfzig Personen Platz fanden, unglaublich kitschig. Wenigstens hatte sie ihren Bruder und ihre Schwägerin davon überzeugen können, für draußen moderneres Mobiliar anzuschaffen.
Susanne bemerkte, wie die alte Frau vorsichtig über den roten Samt an den Wänden strich und sich wieder auf ihren Platz setzte.
»Was für eine schöne Einrichtung«, meinte sie, als Susanne ihr den Kaffee servierte.
Susanne versuchte, den Blick von dem dunkelroten Feuermal abzuwenden, das sich vom offenen Blusenkragen bis knapp unter das Kinn der Frau schlängelte.
»Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Meine Großmutter hat das Café Mitte der zwanziger Jahre eröffnet. In ein paar Jahren können wir 80-jähriges Jubiläum feiern.« Hoffentlich, dachte Susanne im Stillen, wenn der neue Kredit von der Bank genehmigt werden würde, den Martin beantragt hatte.
»Sind das Ihre Großeltern?«, fragte die Frau und deutete mit dem Kopf auf das gerahmte Foto.
»Nein, das sind meine Mutter und mein Vater, als sie das Café übernommen haben. Beziehungsweise, meine Mutter hat es übernommen. Mein Vater hat in der Industrie gearbeitet.«
»Aha.«
»Kannten Sie die beiden?«
»Ich? Nein, nein.« Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Sie umfasste die Kaffeetasse, als wolle sie beide Hände wärmen, und schaute aus dem Fenster.
Verwundert betrachtete Susanne die alte Dame, die etwas zu schnell geantwortet hatte, aber dann hob draußen ein neuer Gast die Hand, und sie hatte keine Zeit mehr, sich über die Frau mit dem Feuermal Gedanken zu machen.
Kurz nach 16Uhr schloss Martin das Café.
Susanne knöpfte die Jacke zu und nahm ihre Handtasche. Sie bemerkte trotz seiner guten Laune die Falten auf seiner Stirn, die in letzter Zeit immer tiefer zu werden schienen. »Wie war der Umsatz heute?«
»Hundert solche Tage und wir sind gerettet.«
Schon seit seiner Jugend beherrschte Martin die Kunst des vagen Ausdrucks. Sie wusste, er würde nie über Zahlen reden.
»Hast du Mama in den letzten Tagen besucht?«, lenkte er gekonnt ab.
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht morgen.«
»Bringt ja nichts. Sie erkennt uns ja nicht mehr.«
War es wirklich so? Vor ein paar Tagen hatte Susanne einen anderen Eindruck gehabt. Ihre Mutter hatte so einen mürrischen Gesichtsausdruck gemacht, wie früher, als sie sie als Kind wegen irgendeines kleinen Vergehens gescholten hatte.
»Es wäre gut, wenn es bald vorbei wäre, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort. Eine unangenehme Stille entstand zwischen ihnen.
»Was machst du heute Abend?« Martin hatte einen lockeren Ton angeschlagen.
Sie zuckte die Achseln.
»Ist Udo weg?«
Sie nickte. »Ich habe heute ja gearbeitet. Und Udo wollte noch was für die Firma vorbereiten.«
»Warum musste er ausgerechnet einen Job in München annehmen?«
Susanne runzelte die Stirn. Seit wann mischte sich Martin in ihre Ehe ein? »Du weißt doch genau, wie froh Udo war, als er mit über fünfzig noch solch einen Job angeboten bekam. Vertriebsleiter bei BMW. Eine so gutbezahlte Stelle hätte er in unserer Gegend nie bekommen.«
»Geld ist auch nicht alles«, murmelte Martin und sammelte die verschmutzten Küchentücher ein, die noch auf der Theke lagen.
Aber Susanne hatte seine Worte genau gehört. »Das sagst ausgerechnet du?« Sie hob die Augenbrauen. »Habe ich deshalb seit eineinhalb Monaten mein Gehalt, das sowieso weit unter dem üblichen liegt, nicht bekommen? Weil Geld nicht so wichtig ist?«
»Ist ja okay. Nächste Woche habe ich den Termin bei der Bank. Dann überweise ich es dir. Aber du brauchst es doch nicht gleich. Udo verdient doch super.«
»Ah. Jetzt ist er wieder gut genug.« Susanne drehte ihrem Bruder den Rücken zu und ging rasch durch die Schwingtür in die Küche, Richtung Hinterausgang des Cafés. Sie hörte Martins Schritte hinter ihr.
»Su, tut mir leid. Aber ich sehe doch, dass bei euch was nicht stimmt.«
»Ja? Was stimmt denn nicht?« Susanne hatte sich abrupt umgedreht und funkelte ihren Bruder an.
»Lass es gut sein. Kannst du morgen gegen elf Uhr da sein? Das Wetter soll wieder so schön werden wie heute. Und Katja hat einen Arzttermin.«
Susannes Augen verengten sich. Das hier, das war wie früher. Martin deutete etwas an, dann jedoch zog er den Schwanz ein und wollte es nicht ausdiskutieren. Aber eigentlich wollte sie auch nicht über Udo reden. Sie wollte überhaupt nicht reden. Über nichts und niemanden. Die Arbeit im Café machte ihr Spaß, sie lenkte sie ab. Sie hatte etwas Sinnvolles zu tun und war ständig mit Leuten zusammen, ohne sich mit ihnen unterhalten zu müssen. Was gab es denn zu Hause zu tun? Wenn sie jetzt heimkommen würde, wäre alles verwaist. Mimmi studierte in Berlin, Carla machte ein soziales Jahr in Chile. Nicht einmal ihr Jüngster, Chris, der gerade in den Abiturprüfungen steckte, würde da sein, denn er hatte seit zwei Monaten eine Freundin. Udo war in München, in seiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in Schwabing. Alleine, hoffte sie. Denn in letzter Zeit war sie sich da nicht mehr so sicher.
»Klar, ich komme morgen Vormittag. Ist Katja krank?« Martins Frau war noch nie ausgefallen. »Sie muss zum Frauenarzt, Routineuntersuchung.« Susanne nickte und bemerkte Martins erleichtertes Nicken, als sie zur Tür ging. Sie drehte sich noch einmal um. »Sag mal, die ältere Frau am Fenster, hat die bei dir bezahlt? Sie war plötzlich weg.«
Er nickte. »Sie hat fünf Mark auf den Tresen gelegt und ist gegangen, ohne etwas zu sagen.«
»Viel Geld für eine Tasse Filterkaffee«, sagte Susanne und hängte sich die Tasche über die Schulter.
»Besser zu viel als gar nichts.« Martin runzelte die Stirn. »Bevor sie ging hat sie sich noch mal lange die alten Fotos angeschaut. Regelrecht angestarrt hat sie sie.«
»Kennst du die Frau?«
Er schüttelte den Kopf, und Susanne öffnete die Tür und ging.
Die letzten Tage des Oktobers waren ungewöhnlich mild gewesen. Doch gestern Abend hatte das Wetter umgeschlagen, und in der Nacht, in der Lilli die ersten Wehen verspürte, schüttete es so sehr, dass ihre Freundin Rosa zwei Blecheimer in der Küche aufstellen musste, um das durch die Decke sickernde Wasser aufzufangen. Gott sei Dank war wenigstens die Schlafzimmerdecke dicht. Bisher zumindest.
»Wo bleibt Louise bloß? Ich habe ihr doch schon vor einer Stunde telefoniert.« Rosa schob Lilli ein zweites Kissen unter den Rücken, strich eine Strähne ihres pechschwarzen lockigen Haares von ihrer Wange und wischte ihr dann behutsam mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn.
Lilli fiel auf, wie bleich ihre Freundin um die Nase war. Außerdem fuhr Rosa sich immer wieder durch die kurzen Haare, die sie erst seit einer Woche als Bubikopf trug und auf die sie so stolz gewesen war. Jetzt standen sie ihr wirr vom Kopf. Warum nur hatte sie ihre Freundin da mit hineingezogen?
Rosas Hände zitterten, als sie das Tuch erneut in die Waschschüssel tunkte, auswrang und ihr damit die Stirn abtupfte.
Lilli lächelte sie dankbar an.
»Liegst du auch bequem?«
Sie nickte und schloss die Augen. Sie war so erschöpft und hatte gleichzeitig solch furchtbare Angst vor der Geburt dieses kleinen Wesens, das schon so lange in ihr wuchs und ihr doch noch so fremd war. Und nicht nur das, sie hatte auch schreckliche Angst vor dem Danach. »Danke, dass ich hier bei dir sein kann.« Lilli drückte die Hand ihrer Freundin und öffnete die Augen. Behutsam strich sie mit beiden Händen über ihren Bauch. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.«
Rosa winkte ab. »Papperlapapp! Freundinnen halten doch zusammen.« Sie rieb sich die Nasenflügel, wie immer, wenn sie peinlich berührt war.
Aber Lilli wusste, dass es nicht einfach für Rosa gewesen war, sie bei sich aufzunehmen. Rosas Vermieterin hatte zuerst Ärger gemacht. Nein, sie wolle keine Dahergelaufene mit dickem Bauch. Wer weiß, wo sie sich das Balg eingefangen habe. Aber Rosa war standhaft geblieben, denn sie hatte einen Trumpf in der Tasche gehabt.
»Wissen Sie, Frau Hänecke«, hatte sie zu der molligen Frau gesagt, die mit Kehrschaufel und Besen bewaffnet vor ihrer Wohnungstür gestanden und Lilli abschätzig von oben bis unten gemustert hatte, »mir sind Dinge über Sie bekannt, die Ihr Mann sicher nicht wissen möchte.« Und Frau Hänecke hatte die Lippen zusammengekniffen, hatte sich auf ihren plumpen Absätzen umgedreht und lautstark die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen. Damit war die Sache erledigt gewesen, und Lilli hatte vor drei Wochen, als der Streit mit ihrer einzig verbliebenen Verwandten eskaliert war, kurzfristig bei ihrer Freundin einziehen können. Die praktisch veranlagte Rosa hatte für Lilli ein Bett organisiert und es in ihr kleines Schlafzimmer gestellt, in dem man sich nun kaum mehr drehen konnte, und hatte ihr versprochen, sie könne so lange bleiben, wie sie wolle.
Lilli stützte sich mit beiden Händen ab und drückte ihren schweren Körper etwas weiter nach oben. Jetzt lag sie bequemer. Rosa meinte es so gut mit ihr, und sie war ihr auch unendlich dankbar, aber sie wollte ihre Gastfreundschaft nicht zu lange in Anspruch nehmen. Spätestens in ein, zwei Monaten würde sie mit ihrem Baby nach Tübingen zurückkehren. Dann war sie ein halbes Jahr weggewesen, und niemand würde dort auf die Idee kommen, dass Theo Rieger, der beliebte Literaturdozent, der Vater ihres Kindes war.
Aber erst einmal musste sie ihr Kind auf die Welt bringen. Lilly stöhnte auf. Diese Wehe war noch heftiger als die vorherige.
Rosa schaute sie erschrocken an. »Wo zum Teufel bleibt Louise denn?«
Lilli bäumte sich auf und versuchte dann, gleichmäßig durch den Mund aus- und einzuatmen. Das müsse sie tun, wenn es losgehen würde, hatte Louise ihr erklärt. Und die musste es als gerade fertig ausgebildete Hebamme schließlich wissen. Aber es tat so furchtbar weh. Noch nie hatte Lilli solche Schmerzen verspürt. »Sie muss doch mit dem Fahrrad von Eppendorf bis hierher nach Altona strampeln«, keuchte sie, als wollte sie sich selbst Mut machen.
Rosa nickte. »Und das bei dem Regen. Aber Gott sei Dank wird es langsam heller.« Sie stand auf und ging unruhig im Zimmer hin und her, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Dann öffnete sie das Fenster und beugte sich hinaus, aber Louise schien immer noch nicht zu kommen. Die Glockenschläge der St. Johanniskirche schlugen in der Ferne siebenmal.
»Rosa, bitte, mach das Fenster zu. Und setz dich wieder. Du machst mich noch nervöser.«
»Entschuldige. Aber, ich war noch nie bei einer Geburt dabei und …«
»Ich weiß. Ich mute dir viel zu viel zu.« Lilli traten Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, ob es vor Schmerzen war, weil sie solche Angst vor der Geburt hatte oder weil sie sich schuldig gegenüber ihrer Freundin fühlte. Vorhin hatte Rosa in der Zeitungsredaktion angerufen und ihren Chef angeschwindelt, dass sie krank sei und nicht zur Morgenschicht kommen könne. Nur, um bei ihr bleiben zu können. Lilli schluckte. Bisher hatte sie ihr Leben doch auch alleine gemeistert, sogar damals, als sie mit fünfzehn Jahren kurz nach ihrem Vater auch noch ihre Mutter verloren hatte und sie, nach einer unerfreulichen Episode bei Tante Judith, in einem Internat untergekommen war. Und jetzt? Rosa schien völlig überfordert zu sein. Warum konnte man Kinder nicht einfach alleine auf die Welt bringen? Oder warum war sie nicht ins Krankenhaus gegangen? Vielleicht hätten sie dort gar nicht nach dem Vater ihres Kindes gefragt …
Rosa riss Lilli aus ihren Gedanken, als sie nun sagte: »Nein! Das tust du nicht, aber …« Sie brach ab, griff nach der Packung Rigatta, die auf dem kleinen Nachttisch neben ihrem Bett lag, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich wieder. Gierig sog sie daran. Dann sah sie Lilli schuldbewusst an.
»Ich geh in die Küche.« Sie stand auf.
»Nein, bleib da.« Der Zigarettengestank war Lilli völlig egal. Rosa konnte doch nicht einfach weggehen. Sie brauchte sie jetzt. »Bitte!«
Rosa tat noch einen tiefen Lungenzug, dann drückte sie den Glimmstängel im Aschenbecher aus und stellte den Holzstuhl noch etwas näher an Lillis Bett.
»Wir schaffen das!« Rosa tätschelte Lillis schmale Hand, dann verzog sie ihr Gesicht und brach plötzlich in lautes Lachen aus.
Lilli schaute ihre Freundin verständnislos an.
»Weißt du noch, das haben wir damals auch gesagt, als du deinen Fuß verstaucht hattest und nicht mehr laufen konntest.«
Lilli lächelte. Natürlich, sie erinnerte sich genau. Es war vor ein paar Jahren gewesen. Sie hatte Silvester nicht mit ihrer Tante feiern wollen, hatte Kopfschmerzen vorgetäuscht, sich in ihr Zimmer verzogen und sich dann heimlich weggestohlen und Rosa und deren Schwester im Stadtpark getroffen.
»Wir waren ganz schön bedudelt, und dann bist du auf die alte Eiche geklettert, in der einen Hand die Weinflasche, hast gesungen … Was war das nur für ein Lied?«
»Ich hab das Fräulein Helen baden sehn …« Aus Lillis Mund kamen ein paar schiefe Töne.
»Genau, Fräulein Helen«. Rosa lachte immer mehr.
»Ich bin vom Baum gefallen, hab mir den Fuß verstaucht, und die Jungs, die dazugekommen waren, haben mich mit einem geklauten Leiterwagen in einem Affenzahn zu Tante Judiths Haus gekarrt und mit einer Räuberleiter in mein Zimmer gehievt.«
»Genau, Louise und ich haben mitgeholfen. Und wir mussten so laut lachen, dass deine Tante mit dem Nudelholz aus der Haustür gerannt kam, um die vermeintlichen Einbrecher zu vertreiben. Weißt du noch, im Nachthemd und Puschen stand sie da …« Rosa hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Danach habt ihr von euren Eltern zwei Wochen Hausarrest bekommen, und ich musste einen Monat lang jedes Wochenende im Internat bleiben.«
»Aber wir haben es gemeinsam geschafft, dich wieder zurück zum Haus deiner Tante zu bringen.«
Lilli versuchte zu lächeln, doch die nächste Wehe kam, und sie stöhnte laut auf. Rosa hielt Lillis aufbäumende Schultern fest und sprach beruhigend auf sie ein.
»Ausatmen, ganz langsam ausatmen.« Rosas fahle Gesichtsfarbe hatte sich nun in ein fleckiges Rot verwandelt. Sie schaute auf den Wecker, der auf Lillis Nachttisch stand. »Himmelherrgott! Was machen wir denn jetzt? Nur noch fünf Minuten zwischen den Wehen.«
Lilli durchfuhr ein schrecklicher Schmerz. »Oh, ich glaube, es kommt!«
»Nein, nein, nein, halt durch!« Hektisch sprang Rosa auf, und da hörten sie es endlich, das ersehnte Geräusch. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Wohnungstür schlug zu, und eine Stimme, die beiden sehr vertraut war, rief laut: »Ich bin es Mädels. Es kann losgehen.«
Obwohl die Geschäfte inzwischen geschlossen hatten, herrschte in der Fußgängerzone noch reges Treiben. Susanne schob ihr dunkelblaues Fahrrad am Reformhaus, dem neueröffneten Schuhladen und dem Optiker vorbei, der das ganze Jahr hindurch seine Sonderangebote anpries. Sie umrundete eine junge Frau, die mit scharfer Stimme versuchte, ihr Kind davon zu überzeugen, das Eis zu essen, anstatt es auf die Jacke zu schmieren, und stoppte vor einem Jugendlichen, der sich rhythmisch zur Musik aus seinem Kopfhörer bewegte und fast in ihr Fahrrad gelaufen wäre. Am Marktplatz saßen etliche alte Leute auf der dunklen Holzbank vor dem mit prächtigem Osterschmuck versehenen Brunnen und reckten ihre Gesichter in die letzten Sonnenstrahlen. Einige hoben die Hand zum Gruß, und Susanne nickte freundlich. Sie war stadtbekannt. Schließlich hatte ihre Großmutter das älteste Café Kirchheims gegründet. Seit siebenundvierzig Jahren war sie die Rieger-Susanne, und ihr Bruder seit sechsundvierzig Jahren der Rieger-Martin, obwohl ihre Mutter nach der Heirat einen anderen Namen angenommen und weder ihr Bruder noch sie mit Nachnamen je Rieger geheißen hatten. Es war der Name ihres Großvaters, Theo Rieger, der bereits während des Krieges gestorben war.
Kurz nach dem Rathaus bog sie ab, setzte sich aufs Fahrrad und fuhr durch die kleine Gasse rechts an der Martinskirche vorbei und über den Ring, der die Altstadt Kirchheims umschloss. In fünf Minuten würde sie zu Hause sein, im Paradiesle, einem der begehrtesten Wohngebiete der Stadt, in dem Susanne schon während ihrer Kindheit und seit der Heirat mit Udo vor nun bald fünfundzwanzig Jahren wohnte. Damals hatten ihre Eltern ein neues Haus auf dem Würstlesberg gebaut und ihr und Udo das Haus überschrieben. Martin hatte zu der Zeit in Berlin und Paris Philosophie studiert. Er war aber nie mit dem Studium fertig geworden, und als er vor fünfzehn Jahren mit seiner damals schwangeren Freundin Katja zurück nach Kirchheim gekommen war, war er stinksauer gewesen, dass sie das Haus bekommen hatte. Aber ihre Mutter hatte ihn schließlich mit dem Café geködert. Er müsse nun Verantwortung für eine Familie übernehmen, hatte sie ihm erklärt, und ihm die Geschäftsleitung übertragen, wenn sie auch immer die eigentliche Chefin geblieben war. Seitdem war Martin Geschäftsmann, und seine früheren Ansichten hatten sich um 180 Grad gedreht.
Auch wenn es ein Umweg war, fuhr Susanne auf dem Heimweg am liebsten die kleinen Wege. Sie ließ den Secondhandladen links liegen, bog in die nächste Gasse ein, fuhr über den Lauterbach und an der Praxis ihres Hausarztes vorbei, bei dem sie sich als Kind aus dem großen Glas, das auf dem Tresen stand, bei jedem Besuch eine Gummifigur hatte aussuchen dürfen. Ein Dackel war ihre Lieblingsfigur gewesen. Sie hatte viele Jahre auf dem hellbraunen Holzregal in ihrem Kinderzimmer gestanden. Irgendwann war der Dackel verblichen, und ihre Mutter hatte ihn weggeworfen. Sie hatte viele Dinge weggeworfen, vor allem Dinge, die ihr nicht gehörten.
Abseits der Hauptstraße waren die Chancen geringer, jemandem zu begegnen, den sie kannte. Susanne hatte keine Lust, ständig vom Fahrrad abzusteigen und sich den neuesten Klatsch und Tratsch anzuhören. Es reichte ihr schon, was sie beim Bedienen alles mitbekam. Heute hatte sie etwa erfahren, dass sich der Museumschef nun auch von seiner dritten Frau getrennt und der Kebab-Stand an der Ecke den Besitzer gewechselt hatte. Und sie wollte auch nicht, wie heute Morgen beim Radfahren, von einer Bekannten gestoppt und gefragt werden, ob sie bei der Modenschau im »Le Clou« einspringen könne, weil ein Model ausgefallen war. Sie sei zwar schon älter, aber ihre Figur wäre dafür ja noch ganz okay. Genauso hatte sich die Frau ausgedrückt, die sie anheuern wollte. Sicher, es war auch schön, so viele Leute zu kennen. Aber diese Begegnungen blieben so oberflächlich. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie hätte alle Bewohner Kirchheims schon einmal gesehen. Was ja auch kein Wunder war. Bis auf die fünf Jahre Studium in Heidelberg war sie nie weggewesen. Zweiundvierzig Jahre Kirchheim/Teck. Wie bescheuert musste man eigentlich sein, immer in der gleichen Stadt zu wohnen, wo ihr jeder Mensch und jeder Quadratmeter vertraut zu sein schien. Susanne nahm die letzte Kurve. Noch zirka zweihundert Meter, dann würde sie vor dem fast hundert Jahre alten Jugendstilhaus, ihrem Zuhause, ankommen. Sie würde sich etwas Kleines zu Essen machen, den Kamin anheizen und mit einer Tasse Kräutertee neben sich Donna Tartts Die geheime Geschichte weiterlesen. Ein Buch, das sie faszinierte, nicht wegen der Geschichte, nein, wegen der Sprache, der wunderbaren, treffenden Bilder, die die Autorin verwendete, um alltägliche Dinge zu beschreiben. Und sie hoffte, dass sie beim Lesen ihre Mutter und deren schreckliches Leben im Heim verdrängen konnte.
Susanne fuhr an perfekt angelegten Gärten vorbei, in denen die Schneeglöckchen bereits verblüht waren und die nach Farben gepflanzten Krokusse gerade aus der dunklen Erde sprossen, und wich einem Lastwagen aus, der in der Mitte der Straße fuhr. Plötzlich sah sie weiter vorne eine dunkle Jacke mit einem großkarierten Tuch aufblitzen. Die Frau mit dem weißen Zopf stand vor ihrem Haus. Jetzt drehte sie sich um und lief in die andere Richtung davon. Susanne bremste abrupt.
»Willst du es dir denn nicht noch mal überlegen? Du kannst doch auch in Hamburg weiterstudieren, wenn deine Kleine aus dem Gröbsten raus ist. Ich helfe dir …« Rosa versuchte, gegen den Lärm der einfahrenden Dieselloks anzuschreien, trotzdem verstand Lilli nur die Hälfte von dem, was ihre Freundin sagte. Aber sie wusste genau, dass Rosa sie bis zur letzten Minute davon abhalten wollte, die größte Dummheit ihres Lebens zu begehen, wie sie es schon so oft ausgedrückt hatte. Doch nicht einmal die liebste Freundin der Welt könnte Lilli davon abbringen, zu Theo zu fahren. Sie vermisste ihn so sehr, und er sollte doch auch endlich seine Tochter kennenlernen.
Lilli stellte die Reisetasche auf den Boden und hob ihr Baby auf den anderen Arm. Obwohl Ida kaum fünf Kilo wog und die Reisetasche nur mit Babykleidung bepackt war, schwitzte Lilli unter ihrem langen Wollmantel und dem Topfhut, den sie nur deshalb trug, damit er in der Reisetasche nicht zerdrückt wurde.
Sie war froh, dass Rosa sie auf den Bahnhof begleitete und den schweren Koffer schleppte, aber jetzt wünschte sie sich nichts anderes, als dass sie endlich den Mund hielte. Ihr fiel es doch auch so schon schwer genug, Hamburg zu verlassen. Gestern hatte sie sich bereits von Louise verabschiedet, die heute arbeiten musste. Und jetzt kam der schwere Abschied von Rosa. Lilli drückte ihr Gesicht an das kleine Bündel, das sie im Arm hielt, und blieb stehen.
»Mach es mir doch nicht noch schwerer. Bitte!«
Auch Rosa war stehen geblieben. Sie stellte den Koffer neben sich ab. »Ich will doch nur, dass du dich nicht verrennst. Theo ist verheiratet und hat Familie. Wie soll das denn gehen?«
»Theos Familie lebt nicht in Tübingen.«
»Die Leute werden sich das Maul zerreißen.«
»Wir werden nicht zusammenwohnen.« Lillis dunkle Augen verengten sich. Warum hörte Rosa nicht endlich auf? Sie wusste ja selbst, dass es nicht einfach werden würde.
»Die Leute lästern doch schon genug über eine ledige Mutter. Aber dann noch ein Kind mit einem verheirateten Literaturdozenten. Und ist er nicht siebzehn Jahre älter als du?«
»Fünfzehn. Er ist neununddreißig Jahre alt, das habe ich dir schon so oft erzählt.« Lilli merkte, wie ihre Stimme höher wurde. »Du redest schon genau wie meine grässliche Tante.« Lillis Gesicht rötete sich immer mehr und nicht nur, weil ihr heiß war und sie schwitzte. Sie zerrte mit ihrer freien Hand an ihrem Schal, um sich Luft zu verschaffen. Rosa sollte endlich still sein. Schon hundertmal hatte sie sich selbst die Frage gestellt, ob es wirklich richtig war, was sie vorhatte. Zurück nach Tübingen, alleine in einer Wohnung mit Ida. Theo hatte ihr versprochen, eine Kinderfrau für sie zu besorgen, damit sie in ein paar Monaten ihr Studium der Kunstgeschichte wieder aufnehmen könnte. Sie könnte Theo zumindest ab und zu sehen, und er könnte seine Tochter sehen. Der Vermieter von Lillis neuer Wohnung war ein Freund von Theo. Auf ihn konnten sie sich verlassen. Und schließlich liebte sie Theo, und er liebte sie, und das war das Einzige, was zählte, oder? In Lillis Kopf kreisten die Gedanken. Jetzt spürte sie auch deutlich den Kloß im Magen. Sie hatte Angst vor ihrer eigenen Courage, und es fiel ihr unendlich schwer, ihre Hamburger Freundinnen zu verlassen.
Auf Rosas Gesicht zeigten sich deutliche Zornesfalten. Die beiden Frauen, die sich schon seit Kindesbeinen kannten und seitdem durch dick und dünn gegangen waren, starrten sich mit düsteren Mienen an. Sie schwiegen, und einen kurzen Moment war es Lilli, als ob der ganze Lärm, der Gestank der Dieselloks und die vielen Menschen um sie herum einfach verschwunden wären. Sie hörte nichts, sie sah nichts und spürte nur noch eine unendliche Traurigkeit. Ihre Wut auf Rosa verschwand. Eine Träne lief ihre Wange hinunter.
Rosa zögerte, dann sagte sie: »Entschuldige. Ich bin so eine dumme Gans. Aber ich will doch nur, dass es dir und Ida gutgeht und …«
»Das weiß ich doch.« Lilli versuchte zu lächeln. »Und ich bin mir doch auch nicht sicher, ob ich das Richtige tue.«
»Vielleicht hast du ja recht. Ja, wahrscheinlich klappt alles, was du dir vorgenommen hast. Hat es doch bisher auch.« Rosa schnappte sich wieder Lillis schweren Koffer. »Wahrscheinlich bin ich einfach nur eifersüchtig auf deine große Liebe. Jetzt komm, dein Zug fährt in fünf Minuten.« Rosa drehte sich um und lief los.
Lilli atmete tief aus. Ja, Theo war ihre große Liebe, und jetzt hatte sie noch eine zweite große Liebe, ihr Baby. Sie streichelte über Idas samtweiche Wange, und bemerkte, dass die Kleine schwitzte. Rasch öffnete sie die Schleife von Idas Mützchen und nahm es ab. Sie küsste den dunklen Flaum auf Idas Kopf und das winzige Feuermal, das sich an ihrem Hals zeigte. Lillis Mutter hatte genau an derselben Stelle ein Feuermal gehabt, und Lilli wusste, was Mama, wenn sie noch lebte, jetzt zu ihr sagen würde:
»Auf, mein Mädchen, geh zu deinem Liebsten.«
Im Kamin brannte ein Feuer. Auf dem kleinen Glasbeistelltisch stand eine Tasse Kräutertee, die bereits kalt geworden war. Der Roman lag in Susannes Schoß. Sie starrte in die Flammen. Die Frau mit dem weißen Zopf und dem auffälligen Feuermal ging ihr nicht aus dem Kopf. Warum hatte sie vor ihrem Haus gestanden? Das konnte doch kein Zufall gewesen sein. Sie hatte das Foto im Café zu lange angeschaut. Kannte die Frau ihre Eltern doch? Und wenn ja, warum hatte sie nichts gesagt? Susanne legte das Buch auf den Holzboden, nahm die Teetasse und ging in die Küche, die zusammen mit dem Wohnzimmer einen großen offenen Raum bildete. Sie goss den Tee in den Ausguss, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und lehnte sich gegen die Anrichte. Ihr Bruder hatte die Frau auch nicht gekannt. Vielleicht war sie eine alte Freundin ihrer Mutter? Oder ihres Vaters? Wo sie wohl herkam? Sie hatte einen solch merkwürdigen Akzent.
Die Küchenuhr tickte. Susanne betrachtete die runde, große Uhr, deren Sekundenzeiger sich unermüdlich bewegte. Udo mochte sie nicht, er fand die altrosa Fassung hässlich und meinte, sie passe nicht zu ihrer modernen Kücheneinrichtung. Aber er hatte sich geschlagen gegeben, als Susanne darauf bestanden hatte. »Ist ja dein Reich«, hatte er gesagt und sie weiter mit dem Hammer hantieren lassen.
Die Uhr erinnerte Susanne an ihre Kindheit in den fünfziger Jahren. Die Küche war wesentlich kleiner gewesen als heute, ohne den geräumigen Durchgang zum Wohnzimmer, aber schon damals hatte die Uhr an derselben Stelle gehangen, bis ihre Eltern sie mitgenommen und in ihrem neuen Haus aufgehängt hatten.
Letzten Sommer, als ihre Mutter noch einigermaßen klar im Kopf gewesen war, hatte Susanne sie zu Hause besucht und sie dabei überrascht, wie sie auf dem Küchenstuhl stand, um die Uhr von der Wand zu nehmen.
»Hier«, hatte sie gesagt und ihr die Uhr entgegengestreckt, »nimm sie mit. Dir hat sie doch schon immer gefallen.« Susanne hatte die Uhr entgegengenommen und nicht gewusst, ob sie weinen oder lachen sollte.
Nach und nach hatte ihre Mutter all ihre Angelegenheiten geregelt, sogar die Wünsche zu ihrer Beerdigung hatte sie genau festgelegt. Die Lieder, die Musiker, den Blumenschmuck auf dem Sarg und den Pfarrer, der die Beerdigung halten sollte. Susanne trank einen großen Schluck Wein. An jenem Tag hatte ihre Mutter sie auch gefragt, ob sie nicht noch mehr aus dem Haus mitnehmen wolle. Sie könne ja doch nichts mit ins Grab nehmen. Aber außer der Uhr und einer Melitta-Teekanne mit blauem Muster am unteren Rand, hatte sie alles dagelassen. Sie konnte doch nicht das Haus ausräumen, wenn Mama noch lebte. Martin hatte sie vor kurzem gefragt, ob sie was von den Möbeln, den Bildern oder das Silberbesteck haben wolle. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Wie konnte er sich jetzt schon Gedanken darüber machen, was mit den Einrichtungsgegenständen passieren sollte?
Halb neun Uhr. Draußen war es stockdunkel. Chris war mit dem Fahrrad beim Basketballspielen. Hoffentlich würde er beim Heimfahren daran denken, das Licht einzuschalten. Er war so oft in Gedanken, und jetzt noch häufiger, seit er in Karen verliebt war. Gegen 22Uhr wollte er nach Hause kommen. Vielleicht hätte er Lust, sich noch ein wenig mit ihr zu unterhalten. Er erzählte so wenig in letzter Zeit. Aber das war ja für einen Achtzehnjährigen völlig normal. Nur, er war ihr Kleiner, das war er schon immer gewesen. Sie hatte ihn betüddelt, so lange es ging. Noch mit zwölf Jahren hatte er sich auf dem Sofa an sie gekuschelt, wenn sie zusammen Lindenstraße oder Die Simpsons angeschaut hatten. Aber das war schon lange vorbei.
Susanne war froh, dass Chris überhaupt von seiner ersten Freundin erzählt hatte. Wahrscheinlich nur, weil sie ihn ausgequetscht hatte. Tagelang war er nicht mehr ansprechbar gewesen, hatte sich morgens und abends geduscht und ständig vorgegeben, mit Freunden unterwegs zu sein. Dabei hatte er doch nur einen einzigen guten Freund.
Im Stehen trank sie das Rotweinglas leer, schnappte sich die Weinflasche, setzte sich wieder aufs Sofa und legte die blaue Wolldecke über die Beine. Ihr Baby hatte eine Freundin! Nächsten Monat würde er die letzte Klausur fürs Abitur schreiben, dann noch das Mündliche, und danach wollte er reisen, studieren oder ein soziales Jahr machen. Irgendwo. Auch er würde ausziehen, wie seine Schwestern. Und sie wäre endgültig allein.
Susanne lauschte. Aber da war nichts. Es war so schrecklich still in diesem großen Haus. Nicht einmal das Ticken der Uhr hörte sie bis hierher. Sie schenkte sich Wein nach. In letzter Zeit musste sie den Weinvorrat oft auffüllen. Am Samstag, als Udo zu Hause gewesen war, hatte er sie gefragt, ob sie Besuch gehabt hätte, weil die Weinkiste schon wieder leer wäre. Es schien ihr, als hätte er dabei süffisant gelächelt. War seine Frage ernst gemeint gewesen? Eigentlich wusste er doch, dass sie nur sporadisch ein paar Bekannte einlud, Frauen, die sie schon seit den Geburtsvorbereitungskursen der Kinder kannte, seit über zwanzig Jahren, und die sich seitdem lose trafen, um miteinander zu frühstücken. Eigentlich hatte sie noch nie Lust auf diese Treffen gehabt, in denen eine Frau die andere mit neuen und immer ausgefeilteren Häppchen zu überbieten schien. Es verband sie nichts mit diesen Frauen, die meist nur von ihren begabten Kindern, ihren erfolgreichen Männern und dem nächsten Shopping-Urlaub in London oder Mailand erzählten. Sie hatte es immer genossen, zu Hause zu sein, die Kinder um sich zu haben, sie zu bekochen, ihre Sorgen anzuhören, zu trösten oder sich mit ihnen zu freuen. Unwillkürlich musste sie lächeln. Damals, als Carla als Legasthenikerin es doch noch aufs Gymnasium geschafft hatte, hatten sie mit der ganzen Familie einen Ausflug nach Legoland gemacht. Irgendwie waren sie zu der Zeit, trotz der Probleme, die es gab, noch eine glückliche Familie gewesen.
Manchmal hatte sie sich dafür geschämt, dass sie nicht berufstätig war. Vor allem, wenn ihre Mutter sie daran erinnerte, wie sie selbst es geschafft hatte, mit zwei kleinen Kindern eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu werden. Und das nach dem Krieg, wo kein Stein mehr auf dem anderen gelegen hatte. Aber hätte sie denn eine Chance im Berufsleben gehabt? Susanne hatte zwar ihr Literaturstudium abgeschlossen, aber kurz danach war Mimmi zur Welt gekommen, gleich darauf Carla und keine zwei Jahre später Chris. Drei kleine Kinder, die sie völlig in Beschlag genommen hatten, und ein Mann, der viel arbeitete, schon immer. Udo hatte das Geld nach Hause gebracht, sie hatte die Kinder großgezogen. So hatten sie es gemeinsam beschlossen, und es hatte funktioniert. Was hätte sie auch mit einem Literaturstudium anfangen können? Ihre Mutter hatte schon vor dem Studium gesagt, das sei vergeudete Zeit. Sie solle etwas lernen, womit sie sich selbst ernähren könne.
Bisher war sich Susanne nie minderwertig vorgekommen. Udo hatte sie immer darin unterstützt, zu Hause zu bleiben. »Ich verdiene genug für unsere Familie. Meine Kinder sollen nicht von fremden Menschen erzogen werden.«
Sie hatte dieselbe Meinung vertreten. Aber jetzt waren die Mädchen erwachsen, und auch Chris würde sie bald nicht mehr brauchen. Und dann? Sie langte nach ihrem Glas und trank. Sie könnte sich ehrenamtlich betätigen. In Kirchheim gab es etliche Vereine, die händeringend Mitglieder suchten. Aber eigentlich hatte sie nur ein großes Faible, doch darüber wollte sie mit niemandem reden.
Susanne merkte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, und legte die Wolldecke zur Seite. Auch wenn sie viel Rotwein trank, vertrug sie ihn nicht. Schon beim ersten Schluck röteten sich ihre Wangen. Vielleicht sollte sie auf etwas anderes umsteigen, etwas, wovon sie nicht so müde wurde. Oder aufgedunsen.
»Geht’s dir nicht gut? Dein Gesicht wirkt so aufgedunsen.«
Genau so hatte sich Udo gestern ausgedrückt. Sie war völlig erstarrt. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich auf sein Rennrad geschwungen und war auf die Schwäbische Alb geradelt. Hatte sie allein gelassen mit dieser gemeinen Äußerung und war erst Stunden später wieder verschwitzt und gutgelaunt zurückgekommen und hatte so getan, als ob nichts gewesen wäre. Und sie? Sie hatte im Flur vor dem Spiegel gestanden und ihr Gesicht angestarrt. Wirkte es wirklich aufgequollen? Die letzten Monate hatte sie ein paar Kilo zugelegt. Ihre Hosen spannten an den Oberschenkeln und am Bauch. Konnte das vom Alkohol oder von der Schokolade kommen, die sie so gerne aß? Oder durch den Stress wegen der Krankheit ihrer Mutter, den sie durch üppige Speisen zu kompensieren versuchte?
Jeden Dienstagmorgen ging sie seit Jahren pflichtbewusst in einen Gymnastikkurs, »Fit ab vierzig«, obwohl sie körperliche Bewegung seit ihrer Kindheit verabscheute. Wie hatte sie sich früher geschämt, als sie im Turnunterricht nicht über den Bock kam oder beim Weitspringen auf dem Po landete. Zwar hatte sie keines der anderen Kinder offen ausgelacht, die Rieger-Susanne lachte man nicht aus, sonst würde man ja nie mehr einen Lolli oder ein Bonbon von »Tante Christel« bekommen, wie ihre Mutter sich gerne nennen ließ. Aber sie hatte das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand wohl bemerkt, das verstohlene Grinsen noch Stunden nach dem Turnunterricht.
Susanne stand auf, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Wangen glänzten, und die Augen wirkten rot unterlaufen und müde. Seufzend drehte sie den Wasserhahn auf, formte die Hände zu einer Schale und klatschte das eiskalte Wasser ins Gesicht. Immer und immer wieder. Mit langsamen Bewegungen tupfte sie anschließend das Gesicht trocken. Allmählich ging das glühende Rot in ein zartes Rosa über. Sie beugte sich etwas näher zum Spiegel. So unattraktiv fand sie sich gar nicht mit ihrer hohen Stirn, in die sich ihre von keinem einzigen grauen Haar durchzogenen dunkelblonden Locken kringelten, dem vollen Mund, den Udo einmal sehr sexy gefunden hatte, und der schmalen Nase. Für siebenundvierzig Jahre ganz okay. Nur die Augenringe, die sie seit einigen Monaten bekommen hatte, und jetzt die vom Wein geröteten Augen ließen sie müde und kaputt aussehen. Sie strich über ihre Wangen. Wie hatte Udo nur dieses Wort benutzen können – »aufgedunsen«? Und warum hatte sie ihm nicht gesagt, wie verletzend das für sie gewesen war? Vielleicht wollte er sie so indirekt darauf hinweisen, weniger zu trinken. Vielleicht war er sogar besorgt um sie. Ein trauriges Lächeln umspielte ihren Mund.
Die Haustür schlug zu. Chris. Schuldbewusst drehte Susanne den Wasserhahn zu, der immer noch lief. Seit Chris mit Karen zusammen war, die sich bei den Grünen engagierte, wies er sie immer wieder darauf hin, nicht so viel Wasser zu verschwenden.
»Chris, bist du es?« Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und ging in die Küche.
Er stand an der Küchenkonsole, in der einen Hand eine Schale mit Hüttenkäse, in der anderen einen großen Löffel, mit dem er den Käse in sich hineinschaufelte.
»Hi, Mum!«, sagte er mit vollem Mund und aß schnell weiter.
»Schön, dass du schon da bist.« Sie schaute auf die Uhr. Er war eine halbe Stunde früher dran als sonst. Ungewöhnlich. Hatte er noch etwas vor?
»Muss gleich noch mal los!«
»Aber …«