Kate Penrose

Kalt flüstern die Wellen

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

Aus dem Englischen
von Birgit Schmitz

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Kate Penrose

Kate Penrose kennt die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls wie ihre Westentasche. Seit Kindertagen verbringt sie fast jeden Sommer dort und ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem atemberaubenden Naturparadies. Die Idee für eine Krimiserie mit diesem einzigartigen Schauplatz kam ihr spontan bei einem Restaurantbesuch, und aus ein paar hastig hingekritzelten Stichworten auf der Speisekarte wurde einige Monate später der erste Insel-Krimi. Kate Penrose, die auch unter dem Namen Kate Rhodes schreibt, lebt mit ihrem Mann, dem Autor David Pescod, in Cambridge am Ufer des River Cam.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Über die wilde Schönheit der Scilly-Inseln legen sich dunkle Schatten …

 

Eigentlich sollte Detective Inspector Ben Kitto an diesem Abend das traditionelle Feuerwerk zur Bonfire Night überwachen. Aber dann macht ein grausiger Fund auf der Insel St. Agnes vor Cornwall jegliche Feierstimmung zunichte. In der Asche einer Feuerstelle werden menschliche Überreste entdeckt. Ben Kitto stoppt sofort den Schiffsverkehr zu den Nachbarinseln und stellt die achtzig Bewohner von St. Agnes unter Hausarrest. Denn der Täter befindet sich noch immer auf der Insel. Und seine Botschaft ist eindeutig: Alle Eindringlinge sind dem Tod geweiht ...

 

Der dritte Band der Krimireihe auf den Scilly-Inseln mit dem charismatischen Ermittler Ben Kitto, der Ruhe sucht und Verbrechen findet.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Burnt Island« bei Simon & Schuster UK Ltd, London

Copyright © 2019 by Kate Rhodes

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Redaktion: Ilse Wagner

 

Zitatnachweise:

Teil 1: Federico García Lorca: Werke in drei Bänden. Ausgewählt und übertragen von Enrique Beck. Zweiter Band. Bühnenwerke. Insel Verlag, Frankfurt 1995, S. 241.

Teil 2: Vincent van Gogh: Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele brennen. Die Briefe. C.H. Beck, München 2017, S. 188.

Teil 3: William Shakespeare: König Johann. In der Übersetzung von Schlegel/Tieck. 3. Akt, 1. Szene.

 

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: PTCreative / Paul Terry / www.paulterry.co.uk

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491189-2

»Brennen und schweigen ist die größte Pein, die wir auf uns nehmen können.«

Federico García Lorca, Bluthochzeit

Er geht in nördlicher Richtung durch Middle Town; dort fühlt er sich von den steinernen Fratzen der Häuser beobachtet und hält den Kopf gesenkt, um die stumpfen Blicke der Fenster nicht sehen zu müssen. Erst auf dem freien Feld, wo ihn niemand stören kann, entspannt er sich. Unter seinen Sohlen knirscht das gefrorene Gras der Wiese, und als der Big Pool in Sicht kommt, schlägt sein Herz höher. Der See schimmert rosa in der Morgensonne, seine Oberfläche ist heute glatt wie ein Spiegel. Doch keiner seiner Freunde ist gekommen, um ihn zu begrüßen: Der Himmel ist leer, nicht ein einziger Willkommensschrei ertönt.

Jimmy will schon wieder umkehren, da sinken plötzlich Möwen herab, kreisen zum Greifen nahe über ihm wie eine wirbelnde Wolke und grüßen ihn mit lautem Gekreisch. Um jedes Brotstückchen, das er in die Luft wirft, liefern sie sich eine Schlacht. Wenn ihre feuchten Federn seine Wangen

Als Jimmy den Feldstecher zurück in die Tasche steckt, sind seine Finger taub von der Kälte. Es liegt ein merkwürdiger Gestank in der Luft – von brennendem Benzin, vermischt mit etwas Süßlichem, das er nicht einordnen kann. Jetzt, wo die Vögel weg sind, bemerkt er den Rauch, der von Burnt Island herüberweht, als wollte ihm jemand Zeichen geben. Er lässt den See hinter sich und sucht sich einen Weg über den Sanddamm, der sich von der Blanket Bay bis zu der kleineren Insel zieht.

Jimmy wird langsamer, als er den Hügel hinaufgeht, auf die Stelle zu, wo der Rauch aufsteigt. Der Geruch ist intensiver geworden, und ihm wird übel von dem ekligen Geschmack der Luft. Schwer atmend kommt er oben an. Erst kann er sich auf das, was er dort sieht, keinen rechten Reim machen: ein Haufen verkohlter, schwach glühender Äste und in der Nähe ein paar leere Paraffinkanister auf der Wiese. Als er noch mal hinschaut, sieht er in der Mitte der Feuerstelle eine schwarze Masse, die von kleinen Flammen umgeben ist. Ihm dreht sich der Magen um. Aus der Asche starrt ein Gesicht zu ihm hoch. Von freiliegenden Wangenknochen hängt geschmolzenes Fleisch, leere Augenhöhlen glotzen ihn an. Der Tote scheint ihn um Hilfe anzuflehen, und Jimmy darf sich nicht entziehen. Vor Jahren ist ihm schon einmal ein Leben durch die Finger geglitten; dies ist seine Chance, es wiedergutzumachen.

Er kann nicht mal sagen, ob die Leiche männlich oder weiblich ist. Der Anblick lässt ihn nach hinten taumeln; er würde zu gern wegrennen, aber sein Gewissen hält ihn dort fest. Auf der Suche nach Halt landen seine Finger auf einem Erdhügel. Neben dem Feuer sind Buchstaben in einen Stein geritzt worden, doch er hat nie lesen gelernt und ist dabei auf die Hilfe anderer angewiesen. Jimmys Blick wandert zurück zu dem glühenden Aschehaufen, und ihm fällt etwas ein, was seine Mutter gesagt hat: Lass den Toten immer etwas da, um ihnen Respekt zu erweisen. Die Augen von Rauch und Tränen brennend, wirft er seinen Schaffellmantel über die Leiche und erstickt damit die letzten Flammen. Dann sagt er den Anfang des Lieblingsgebets seiner Mutter auf: Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Seine Worte verhallen in der rauchverhangenen Luft, als er mit wehenden grauen Haaren davonstolpert, um sich in Sicherheit zu bringen.

Freitag, 5. November

Mein fünfunddreißigster Geburtstag vergeht ohne viel Tamtam. Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere, und ich habe Spätdienst. Die Winterluft liegt kühl auf meiner Haut, als die Fähre sich gegen achtzehn Uhr an St. Agnes herankämpft. Die Strömung ist so stark, dass wir Higher Town nicht anlaufen können, und als ich schließlich den alten Kai an der Blanket Bay betrete, schlägt mir der vertraute Geruch von Holzrauch und frisch gepflügter Erde entgegen. Felsbrocken, Seetang und Messermuschelhäufchen sprenkeln den Sand der hufeisenförmigen Bucht. St. Agnes ist die wildeste und geheimnisvollste der Scilly-Inseln und liegt am weitesten vom Festland entfernt. Das Eiland ist nur zwei Meilen lang und eine halbe Meile breit und hat neben zahlreichen versteckten Buchten auch zwei winzige Nachbar-Inselchen: Burnt Island und Gugh. Weder Autos noch Motorräder stören die Ruhe; Golfbuggys, rostige Fahrräder und eine Handvoll Traktoren sind die einzigen Fahrzeuge hier.

Mein Hund Shadow wirkt zufrieden mit seiner neuen Umgebung, ich hingegen könnte ein bisschen mehr Aufregung gebrauchen. In letzter Zeit vermisse ich das hektische Tempo meines alten Jobs als Undercover-Ermittler bei der

St. Agnes wirkt wie ausgestorben; die Leute bereiten sich wohl auf die Besucher vor, die in ein paar Stunden aus Anlass der Guy-Fawkes-Nacht hier eintreffen. Ich begegne keiner Menschenseele, als ich bergauf zu dem Weiler im Zentrum der Insel gehe. In Middle Town wohnen die meisten der ungefähr achtzig Inselbewohner; das Dorf ist so malerisch, dass es häufig in den Hochglanzbroschüren der Tourismusbehörde auftaucht, die Cornwall als Reiseziel anpreisen. Der Leuchtturm der Insel steht auf einer kleinen Anhöhe und dominiert die Siedlung noch immer, obwohl er schon lange nicht mehr in Betrieb ist.

Erst als ich zum Cove Vean Beach hinunterlaufe, treffe ich auf eine Gruppe von Leuten, die an dem felsigen Strand ein Freudenfeuer errichten. Ihr Lachen dringt durch die Dunkelheit, während sie Paletten, Holzscheite und Treibholz fast zwei Meter hoch aufschichten. Ein anderer Trupp befestigt Feuerwerkskörper an einem Metallgerüst, und weitere Freiwillige schuften an einem riesigen Grill. Meine Ankunft dämpft die Stimmung merklich. Obwohl ich die meisten Inselbewohner schon mein Leben lang kenne, haben sie sich immer noch nicht an meine neue Rolle als Deputy Commander der Isles of Scilly Police gewöhnt. Ihre Gespräche

Ich bin überrascht zu sehen, dass die neueste Bewohnerin von St. Agnes, Naomi Vine, bei den Partyvorbereitungen hilft. Vine ist eine international renommierte Bildhauerin und erst vor rund einem Jahr hierhergezogen. Heute verrichten ihre Hände jedoch wenig glamouröse Arbeit, denn sie zerkleinern Paletten zu Brennholz. Vines schlanke Gestalt ist in eine Winterjacke gehüllt, ihre kurzen roten Haare sind größtenteils unter einer Wollmütze verborgen, ihr Gesicht zeigt ein lebhaftes Mienenspiel. Als bekannt wurde, dass sie das alte Herrenhaus auf der Insel gekauft hat, sind in der Gemeinde zahlreiche Gerüchte hochgekocht, und das kompromisslose Verhalten der Bildhauerin sorgt seitdem für Kontroversen. Die Leute halten Abstand zu ihr – bis auf eine Insulanerin, der Vines Ruf als Unruhestifterin offenbar nichts ausmacht. Rachel Carlyon ist eine große, plumpe Frau; sie ist auf St. Agnes geboren und zieht es normalerweise vor, im Hintergrund zu bleiben, aber heute Abend plaudert sie entspannt mit ihrer neuen Freundin. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Frauen scheint zu sein, dass sie Anfang vierzig sind, aber wenn man in einer winzigen Gemeinde am Rand der Welt lebt, können schon mal merkwürdige Verbindungen entstehen.

Auf der anderen Seite der Menschenmenge steht, in Ausgehuniform mit glänzenden Schulterklappen, Sergeant Eddie Nickell. Seit er im letzten Monat befördert wurde, lässt mein Deputy keine Gelegenheit aus, in vollem Ornat zu erscheinen. Er ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, macht

»Sie stellen mich ganz schön in den Schatten, Eddie.« Neben seiner makellosen Uniform wirken meine gefütterte Jacke, meine Jeans und die Wanderstiefel armselig.

Er grinst. »Man muss doch zeigen, was man hat, Boss. Es hat mich zwei Jahre gekostet, mir diese Abzeichen zu verdienen.«

»Ist alles startklar für heute Abend?«

»Ja, sieht gut aus. Wir haben zwölf Ordner und zwei ausgebildete Sanitäter von der Johanniterunfallhilfe.« Sein Ton ist so ernst, als würde er königlichen Besuch erwarten.

»Super, ich gehe runter und bedanke mich bei ihnen.«

Als ich über den Kiesstrand stapfe, taucht meine Patentante, Maggie Nancarrow, neben mir auf. Sie hat noch nie eine Party ausgelassen und ist heute früh von Bryher herübergekommen, wo sie wohnt. Neben einer so zierlichen Frau komme ich mir vor wie ein Riese; ihr kleines Gesicht wird von einer grauen Lockenmähne eingerahmt, und sie schaut durch ihre Nickelbrille zu mir hoch.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, schöner

»Nicht nötig. Du bekochst mich doch andauernd.«

Sie drückt mir ein kleines Päckchen in die Hand. »Die hat meinem Dad gehört. Warum probierst du nicht mal, ob sie dir passt?«

In der Schachtel liegt eine alte Rolex, die – abgesehen von kleinen Kratzern auf dem schönen Stahlgehäuse – noch völlig intakt ist. Sie schmiegt sich um mein Handgelenk, als wäre sie für mich gemacht.

»Das ist zu viel, Maggie.«

»Zu Hause setzt sie nur Staub an. Lies mir die Gravur vor.«

Ich drehe die Uhr um: »Das Rad der Zeit hält niemand auf.«

»Vergiss das nicht, Ben, sonst gehst du am Ende noch leer aus.« Maggie versüßt ihre kryptische Botschaft mit einem Grinsen, bevor sie davoneilt und sich mit ihrer Turboenergie einen Weg durch die Menge bahnt.

Ich schließe zu Steve Tregarron, dem Organisator der Party, auf, als am Strand gerade Lichterketten an Pfosten aufgehängt werden. Tregarron betreibt seit Jahrzehnten den Turk’s Head Pub, sieht aber eher aus wie ein Roadie nach einem Leben voller harter Tourneen. Dutzende Flecken und Kratzer verleihen seiner Lederjacke Charakter, die grauen Haare trägt er zum Pferdeschwanz zusammengebunden, und tiefe Falten liegen wie Klammern um seinen Mund. Der Gastwirt ist höflich, aber kurz angebunden, und marschiert bald weiter, um seiner Frau Ella dabei zu helfen, Bierkisten neben der Sicherheitsabsperrung aufzustapeln.

Ich schaue dabei zu, wie die Inselbewohner die

»Ich dachte, Sie wären für das Feuerwerk zuständig, Liam.«

»Keine Chance, DI Kitto«, sagt Poldean und benutzt meinen Titel nur, um sich über mich lustig zu machen. »Die Dinger können Leute verstümmeln, wenn sie nicht richtig bedient werden. Davon lass ich lieber die Finger.« Seine Miene wird ernst, als er den Blick über die Menge schweifen lässt. »Haben Sie hier irgendwo meine Kinder gesehen?«

»Maggie kümmert sich um sie.«

»Das klingt gut. Schießpulver und kleine Jungs sind nämlich keine gute Kombination.«

»Es geht ihnen gut; die Sicherheitsabsperrung ist schon fertig. Diesmal wird das Feuerwerk noch imposanter als letztes Jahr, wie ich höre.«

»Toi, toi, toi«, erwidert er mit einem entspannten Schulterzucken. »Solche Feuerwerksraketen sind unberechenbar, aber Steve hat ein Vermögen dafür hingelegt, darum müssten sie eigentlich in Ordnung sein.«

Die Menge wächst zusehends, da Fähren ständig Partygäste von benachbarten Inseln herüberbringen. Manche stehen in Gruppen zusammen vor dem Pub, andere, die den Beginn des Feuerwerks kaum erwarten können, streben

Ich will Eddie gerade ermahnen, das Feuer unter Kontrolle zu halten, damit keine Funken in die Menge fliegen, als mir jemand auf die Schulter tippt. Eine große Brünette strahlt mich an, sie hat ein herzförmiges Gesicht und ist so attraktiv, dass ich mich erst sammeln muss.

»Zoe?«

»Hast du mich vergessen, großer Mann? Das ist aber schade, wo ich doch extra zu deinem Geburtstag den weiten Weg hierhergeflogen bin.«

»Deine Haare sind anders. Ich hab dich gar nicht erkannt.«

»Mehr kriege ich nicht zur Begrüßung?«

Ich drücke sie schnell an mich. »Ich habe dich erst nächsten Monat erwartet.«

»Der Flug ist jetzt billiger als an Weihnachten. Komm, lass uns näher ans Feuer gehen, ich bin schon halb erfroren.«

»Okay, aber ich habe Dienst. In zehn Minuten beginnt das Feuerwerk.«

Ich lenke meine Gedanken zurück in züchtige Bahnen, während sie mir auf ihrem Handy ein Foto von ihrem neuen Arbeitsplatz zeigt. Die Schule in Mumbai ist ein viereckiger Betonklotz ohne Bäume außen herum, die seine Hässlichkeit kaschieren könnten, aber die Schüler, die in Reih und Glied auf dem Schulhof stehen, grinsen alle in die Kamera. Es sind Straßenkinder, die sich freuen, in sauberen Schlafsälen zu wohnen und drei Mahlzeiten am Tag zu bekommen. Zoes Aufgabe besteht darin, ihnen Musikunterricht zu geben und ihr Selbstbewusstsein wiederaufzurichten. In den letzten Monaten hat sie zusammen mit dem übrigen Lehrpersonal dafür gekämpft, dass die Schule ein weiteres Jahr geöffnet bleiben kann. Mein eigener Job wirkt dagegen sehr viel weniger sinnvoll. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel mehr zu tun, als ein paar Verwarnungen wegen unsozialen Verhaltens auszusprechen und einen Jugendlichen zu verhaften, der die Scheune der Nachbarn angezündet hatte.

»Warte hier, Zoe. Ich sehe schnell mal nach dem Rechten, dann gebe ich dir einen aus. Steve zündet gleich die erste Rakete drüben auf Burnt Island.«

Das Fest beginnt stets mit einer Verneigung vor der Vergangenheit. Vor Hunderten von Jahren haben die Frauen

»Es ist was passiert«, stößt er mit seiner heiseren Raucherstimme hervor. »Ich hab’s gerade gesehen, auf Burnt Island, oben auf dem Hügel.« Er ringt nach Luft und steht offensichtlich unter Schock.

Ich führe ihn von der Menge weg, um mit ihm reden zu können, ohne dass jemand mithört. »Was haben Sie gesehen, Steve?«

»Menschliche Überreste. Ein streunendes Tier kann es nicht sein.«

»Sind Sie sicher? In der Dunkelheit kann man sich schon mal täuschen.«

Er schüttelt vehement den Kopf. »Kommen Sie mit und sehen Sie sich das selbst an.«

In Anbetracht der Lage treffe ich eine spontane Entscheidung: Die Menge wird langsam unruhig, die Leute erwarten schon ungeduldig den Beginn des abendlichen Unterhaltungsprogramms. Wenn ich das Feuerwerk jetzt absage, werden dreihundert Menschen über die Inseln wandern und

Der Himmel ist stockfinster, als wir nach Norden laufen und die Strahlen unserer Taschenlampen helle Linien über den unebenen Boden ziehen. Der Weg führt uns am Big Pool vorbei; auf diesem See lassen die Kinder jeden Sommer ihre Modellboote fahren, aber heute Abend sieht er gespenstisch aus. Auf seiner Oberfläche spiegeln sich die über den Himmel jagenden Wolken und die unscharfe Silhouette des Mondes. Tregarron ist offenbar zu schockiert, um reden zu können; mit wachsender Sorge lausche ich seinem rasselnden Atem. Wenn er einen Herzinfarkt bekommt, habe ich zwei Tote auf einmal, aber meinen Rat, langsamer zu gehen, ignoriert er einfach. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass er wirklich eine Leiche gefunden hat. Es ist wahrscheinlicher, dass ein verirrtes Schaf den Hügel erklommen und sich dann bei einem Sturz den Hals gebrochen hat.

»Schnell«, ruft Steve mir über die Schulter zu, »bevor ein anderer es findet.«

Wir erreichen die nordwestliche Küste von St. Agnes, und die schwarzen Umrisse von Burnt Island ragen vor uns aus dem Meer. Der Sanddamm, über den man hinübergelangt, liegt im Mondlicht. Im Laufe der Nacht wird die Strömung die kleine Insel von St. Agnes abschneiden, bis die Flut sich bei Tagesanbruch wieder zurückzieht. Der Damm scheint schon jetzt im steigenden Wasser zu schwimmen.

Tregarron klettert so hektisch den felsigen Hügel hinauf, dass er mit seinen Stiefeln kleine Steinlawinen lostritt. Oben

»Da drüben«, sagt der Wirt. An dem Zittern seiner Stimme bemerke ich, dass er nur zu gern unrecht behalten würde. Ich weiß nicht, ob das eine Schwäche oder eine Stärke ist, aber die zehn Jahre bei der Londoner Mordkommission haben mich abstumpfen lassen. Wenn ich mit einem neuen Tatort konfrontiert werde, bin ich zunächst einmal nur neugierig. Was auch immer mich hier erwartet, kann nicht schlimmer sein als das Auffinden eines russischen Bandenmitglieds, das einen langen heißen Sommer hindurch ungestört im Kofferraum eines Autos verwesen konnte.

Tregarron wendet das Gesicht ab, als ich meine Taschenlampe auf einen Haufen verkohlter Äste richte. Ich sehe sofort, dass er recht hat – wir stehen an einem Tatort. Meine erste Sorge gilt dem Gastwirt; der Mann ist noch bleicher als zuvor, und seine Hände zittern.

»Es war gut, dass Sie mich hergeführt haben, Steve. Meinen Sie, Sie können allein zurückgehen?« Er nickt kurz. »Erzählen Sie niemandem von dem hier, bis ich morgen eine Meldung herausgebe.«

Der Wirt eilt davon, ohne sich noch einmal umzuschauen; er will sich offenbar nur noch in Sicherheit bringen. Sobald er weg ist, untersuche ich den Tatort. Es sieht so aus, als hätte der Mörder das Feuer entfacht und den Körper darauf gebettet, als die Flammen schon hell loderten. Es ist nichts mehr übrig, woran man den Toten erkennen könnte, der Schädel der armen Kreatur ist nur noch von einer schwarzen Hautschicht überzogen. Ich schätze, dass der Täter

Ich rufe Eddie an und berichte ihm, was passiert ist, dann kontaktiere ich den einzigen Gerichtsmediziner in der Nähe. Dr. Gareth Keillor hat als Polizeiarzt gearbeitet, bevor er sich auf St. Mary’s zur Ruhe gesetzt hat, steht uns aber noch als Gutachter zur Verfügung, wenn es mal notwendig ist. Er geht nicht ans Telefon, als ich es auf seinem Festnetzanschluss versuche, aber ich hinterlasse ihm eine Nachricht. Zuletzt wähle ich die Nummer der Kriminaltechnik in Penzance und erwarte, erneut auf einem Anrufbeantworter zu landen, doch obwohl es schon nach zweiundzwanzig Uhr ist, hebt sofort jemand ab. Die Frau am anderen Ende der Leitung stellt sich als Liz Gannick, die neue Leiterin des kriminaltechnischen Dienstes von Cornwall, vor. Sie hört mir schweigend zu, als ich sie um ihre Unterstützung bitte. Dann verspricht sie mir, morgen mit dem ersten Flieger

Ich hocke mich hinter einen Felsen und muss daran denken, dass mein diesjähriger Geburtstag mir aus den falschen Gründen in Erinnerung bleiben wird. Aber hier gestrandet zu sein, ist nichts im Vergleich zu dem, was das Opfer erlitten hat. Als ich nach St. Agnes zurückblicke, brennt das Freudenfeuer am Strand noch immer lichterloh und hebt sich als goldener Fleck von dem stockfinsteren Himmel ab. Die Feiernden stehen in Gruppen herum und beobachten die rituelle Opferung. Durch das Verbrennen von Strohpuppen bei einer ausgelassenen nächtlichen Party sollen böse Geister ausgetrieben werden, doch als ich die Puppen brennen sehe, wird mir nur noch unbehaglicher zumute. Während die Flammen sich durch die Mäntel fressen, in die die Hexen gehüllt sind, wandert mein Blick zurück zu dem Scheiterhaufen vor mir. Das Opfer muss einen qualvollen, einsamen Tod gestorben sein, und der Mörder scheint eine Vorliebe für Symbolik zu haben. Er wollte offenbar, dass die verbrannten Überreste genau in dem Moment gefunden werden, in dem die Insel sich vom Bösen zu befreien versucht.

»Wer bist du?«, murmele ich leise.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein vorbeikommender Segler eine Leiche einen steilen Hügel hinaufschleifen würde, statt sie sang- und klanglos ins Meer zu werfen. Wer auch immer das hier getan hat, wollte ein beliebtes

Ich hinterlasse Zoe eine Nachricht auf ihrem Handy und bitte sie darum, sich bis morgen um Shadow zu kümmern. Eigentlich sollten wir jetzt zusammen feiern, aber ich kann den Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen. Die Flut hat den Rückweg nach St. Agnes inzwischen fast überspült. Wenn ich Hilfe anfordern würde, käme sofort eine ganze Bootsladung von Freiwilligen hierher, aber sie würden nur wertvolle forensische Beweise zertrampeln. Und für eine Rückkehr zu Fuß ist es jetzt zu spät. Die starke Strömung zwischen Burnt Island und St. Agnes hat schon mehrere Urlauber, die die Gezeiten unterschätzten, das Leben gekostet.

Die Finsternis wirkt noch undurchdringlicher als zuvor, als ich mich neben einen Granithügel kauere und mir dickere Handschuhe herbeiwünsche. Die Kälte zieht mir bis in die Knochen, und ich fange an, meinen Wunsch nach mehr Aufregung im Job zu bereuen.

Jimmy meidet die Menschenmenge und bleibt zu Hause in seinem möblierten Zimmer. Trotz seiner dreiundfünfzig Jahre ist er auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, denn niemand hat ihm jemals einen Job angeboten. Ein altmodischer Gasofen hält das Zimmer warm, doch heute Abend kann er sich einfach nicht entspannen. Er starrt die Dinge auf seinem Fensterbrett an: Bündel von glänzend weißen Reiherfedern, ein verlassenes Schwalbennest und die durchbrochene Eischale eines Kernbeißers. Doch nicht einmal seine Lieblingsbesitztümer vermögen ihn heute Abend zu beruhigen.

Als er nach draußen späht, brennt am Cove Vean Beach noch immer das Freudenfeuer, also zieht er die Vorhänge zu, um sich von dem Spektakel abzuschirmen. Die Flammen erinnern ihn zu sehr an die Leiche, die er heute Morgen gefunden hat. Das geschlossene Fenster hält den Rauchgeruch fern. Sein Gewissen mahnt ihn, das Versprechen einzulösen, das er der Gestalt in dem Feuer gegeben hat, denn der Todesfall, den er als Junge mitbekommen hat, verfolgt ihn immer noch in seinen Träumen. Aber er hat Angst, mit der Polizei zu reden. Wenn er allein ist, kann er die Namen aller Vogelarten der Insel aufsagen, doch sobald andere

Jimmy tigert aufgewühlt in seinem Zimmer auf und ab. Er schaltet das Radio ein, doch die fremden Stimmen, die über Dinge sprechen, die er nicht versteht, gehen ihm auf die Nerven. Es gibt nur eine Sache, die ihn beruhigen kann, deshalb stopft er sich eine Tüte Körnerfutter in die Tasche und eilt nach unten. Draußen auf dem Hof ist es eiskalt, aber das ist ihm egal. Die Voliere, die er gebaut hat, besteht aus Maschendraht und Treibholz, und als er die Tür des ersten Abteils öffnet, klappert der gesamte Rahmen. Während er Futter in ihre Näpfe verteilt, krähen die Vögel laut; ein junger Papageientaucher hackt mit dem Schnabel nach seiner Hand.

»Ihr braucht keine Angst zu haben«, flüstert er. »Ich tue euch nichts.«

Eine Mantelmöwe lässt es sich gefallen, dass er langsam und vorsichtig ihren Flügel streichelt. Das gebrochene Bein des Vogels heilt allmählich, und auch die halb verhungerte Klippenmöwe wird bald wieder stark genug für die Freiheit sein. Jimmy schließt die Tür der Voliere, für den Fall, dass einer der verletzten Vögel zu fliehen versucht, bevor er wieder gesund ist. Er kniet sich in den Schlamm und sieht seinen Freunden dabei zu, wie sie sich auf frischen Strohhaufen ihre Schlafplätze einrichten. Die rot umrandeten, dunklen Augen einer Mantelmöwe sehen ihn unvoreingenommen an, und das beruhigt endlich Jimmys angespannte Nerven. Er konzentriert sich so lange auf die ruhigen Bewegungen der Vögel, bis das Gesicht der verbrannten Leiche aus seinem Kopf verschwindet.

Samstag, 6. November

Auf dem felsigen Untergrund finde ich, wenige Meter von der Leiche entfernt, nur wenig Schlaf. Der kalte Wind weckt mich um fünf Uhr morgens auf, und ich erhebe mich mit schmerzenden Knochen. Das Meer hat sich in eine silberne Fläche verwandelt, auf der sich eine Armada von unruhigen Wellen tummelt. Es fühlt sich so an, als stünde ich am Ende der bekannten Welt, und außer dem Leuchtturm auf Bishop’s Rock würde rein gar nichts den Atlantik unterbrechen, bis er die Küsten Amerikas erreicht. Das riesige Freudenfeuer am Cove Vean Beach schwelt noch immer, obwohl die letzten Nachtschwärmer schon vor Stunden nach Hause gegangen sind. Von den Strohpuppen ist nichts übrig geblieben, und es ist endlich wieder Ebbe, so dass ich Burnt Island zu Fuß über den Sanddamm verlassen kann, bevor heute Abend die nächste Flut aufläuft.

Ich drehe mich um, um den Tatort noch einmal in Augenschein zu nehmen, und der bietet bei Tageslicht einen noch schlimmeren Anblick. Das Opfer scheint mich breit anzugrinsen, denn sein Gesicht ist verbrannt und enthüllt weiße Zahnreihen. Aufgrund der Proportionen der Leiche vermute ich, dass es sich um einen Mann handelt. Ich habe keine

Das morgendliche Licht enthüllt zudem, dass jemand in einen Felsbrocken nahe dem Fundort des Toten Schriftzeichen eingeritzt hat. Die Großbuchstaben sind zweieinhalb Zentimeter hoch und mit einem Messer oder Meißel geschrieben worden. Der Text ist in einer fremden Sprache verfasst. Gut möglich, dass irgendein Kind vor Monaten oder sogar Jahren mit einem Geheimcode herumexperimentiert hat. Für alle Fälle mache ich ein Foto von der Granitoberfläche und stecke das Handy dann zurück in meine Tasche.

Als endlich Eddie den Hügel heraufgestapft kommt, hat er DCI Alan Madron bei sich. Mein Boss ist ein förmlicher kleiner Mann, der sich stets makellos kleidet. Heute sind seine Stiefel spiegelblank poliert, sein Regenmantel ist bis oben zugeknöpft, und der Scheitel in seinem grau melierten Haar sieht aus, als sei er von einem Präzisionsingenieur gezogen worden. Eddie schockiert der Anblick des Opfers, doch Madron zeigt fast keine Reaktion. Die grauen Augen des DCI mustern mich mit kühler Distanz.

»Dann wären Beweise zerstört worden, Sir. Ich hätte ein Boot zurück nach St. Agnes benötigt, und die Vögel hätten den unbewachten Tatort beschädigen können.«

Angewidert betrachtet Madron die Überreste des Opfers. »Die Presse darf hiervon nichts erfahren. Geben Sie nichts bekannt, bevor der Gerichtsmediziner sein Gutachten fertig hat. Was wissen wir über das Opfer?«

»Es wurde niemand vermisst gemeldet. Die Leiche könnte von einem vorbeifahrenden Boot aus hier abgelegt worden sein, aber das ist unwahrscheinlich. Ich habe den Hafenmeister in St. Mary’s telefonisch um eine Liste der Schiffe in den hiesigen Gewässern gebeten. Er hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Das einzige identifizierende Merkmal, das uns jetzt schon zur Verfügung steht, ist sein Ehering.«

»Den können wir aber nicht anfassen, bevor die Spurensicherung kommt.« Der DCI stöhnt laut. »Im Pub steht für Sie ein Frühstück bereit, Kitto. Gehen Sie sich aufwärmen und holen Sie dann unsere Besucherin am Kai ab. Sind Sie Liz Gannick schon einmal begegnet?«

»Bislang nicht.«

»Sie ist eine ehemalige Polizistin und sehr reizbar. Als ich sie zuletzt gesehen habe, saß sie im Rollstuhl. Sie müssen sie mit Samthandschuhen anfassen.«

Madrons Befehlston ärgert mich, aber ich befolge seine Anweisungen. Der DCI steht kurz vor der Pensionierung. Er hat kaum Erfahrung mit Mordermittlungen, stellt aber gern seinen Rang heraus. Seit ich vor einigen Monaten zu seinem Team gestoßen bin, haben wir ein angespanntes

Als ich am Turk’s Head ankomme, steht die Hintertür offen. Ella Tregarron bemerkt mich nicht sofort; die Hausherrin arbeitet am Herd in der großen Küche des Pubs und wendet mir den Rücken zu, über den eine Kaskade schwarzen Haares fällt. Sie gießt Öl in eine Bratpfanne, und in der Luft hängt der Duft von Toast. Ich räuspere mich, um sie auf mich aufmerksam zu machen, und sie dreht sich erschrocken um.

Ella ist in ihren Vierzigern. Sie hat eine schlanke Figur und ist auffallend hübsch. Aus der Entfernung wirkt sie mit ihren hohen Wangenknochen, blassgrünen Augen und vollen Lippen noch jugendlich, aber aus der Nähe sieht ihre Haut stumpf und müde aus. Früher war sie der Schwarm aller Männer, und sie hat noch immer diese geheimnisvolle Aura, aber inzwischen umgibt ein Hauch stiller Enttäuschung sie, so als hätte ihr Leben nicht mit ihren Träumen mitgehalten. Als Teenager stand ich total auf sie, aber für sie gab es keinerlei Grund, das zu bemerken, da vermutlich jeder Mann auf der Insel dasselbe empfand. Ella widerspricht den stereotypen Erwartungen an eine Gastwirtin, denn ihre Art ist eher zurückhaltend.

»Komm rein, Ben, du hast bestimmt Hunger.« Sie hat

»Du bist meine Rettung, ich verhungere.«

»Und du bist nach einer ganzen Nacht im Freien bestimmt total durchgefroren.«

Sie bedeutet mir, mich auf einem Hocker an der stählernen Arbeitsfläche niederzulassen, und häuft auf einem Teller mehr Spiegeleier und Toast auf, als zwei Männer essen könnten. Schweigend gießt sie Kaffee in zwei weiße Becher, dann setzt sie sich gegenüber von mir hin und schaut mich an. So wachsam, wie sie ist, bin ich sicher, dass ihr Mann ihr erzählt hat, was passiert ist.

»Was hat Steve gesagt, als er von Burnt Island zurückgekommen ist?«

»Nichts, er ist gleich nach oben verschwunden. Ich hab kein Wort aus ihm rausgekriegt.«

»Aber jetzt geht’s ihm wieder gut?«

»Er war krank. Ich hab ihm einen heißen Grog gemacht und ihn ins Bett gesteckt«, antwortet sie und stellt ihren Becher auf den Tisch. »Steve kann man nicht so leicht schockieren. Auf dem Hügel muss was ziemlich Schlimmes passiert sein.«

»Wir geben im Laufe des Tages eine Erklärung ab.«

Ihre Augen weiten sich. »Es ist jemand getötet worden, oder? Das sehe ich dir an der Nasenspitze an.«

»Du erfährst es bald, Ella, versprochen.«

»Alle Bewohner von Middle Town waren auf der Party.« Sie schüttelt den Kopf. »Von hier kann’s niemand sein.«

Ella wirkt so beunruhigt, dass ich mit ihr nur über Belanglosigkeiten spreche, und als ich ihr danke und mich

Dank des warmen Essens und des Koffeins kann ich klarer denken, während ich den Pfad zum Porth-Conger-Kai entlanggehe. Wer auch immer das Opfer getötet hat, muss den Mord gründlich vorbereitet haben. Er hat vorher stapelweise Holz gesammelt und das Paraffin den Hügel hinaufgeschleppt. Ich frage mich, ob der Mörder es witzig fand, Burnt Island für die Verbrennung des Opfers auszusuchen, oder ob der Ort für ihn eine symbolische Bedeutung hat. Auf dem Weg passiere ich Helston Farm, wo auf einem nahe gelegenen Feld grüne Sprossen dem winterlichen Wetter trotzen. Der Rest des Landes scheint brach zu liegen, doch der Eindruck täuscht. Unter der Erde verbirgt sich eine Legion von Blumenzwiebeln, die im nächsten Frühling blühen und als die berühmten Narzissen der Insel in die ganze Welt verschickt werden. Heute wirkt es unwahrscheinlich, dass aus diesem Boden bunte Blüten hervorgehen; vor meinen Augen erstrecken sich viele Morgen bestellten Ackerlands, das zur Unkrautbekämpfung geeggt wurde.

Als ich den Porth-Conger-Kai erreiche, ist die Polizeibarkasse noch nicht in Sicht, doch die Verspätung überrascht mich nicht. Ich habe mich seit meiner Kindheit daran gewöhnt; Fährverbindungen werden wegen des unsicheren Wetters oft abgesagt. Ich warte auf dem Anleger, bis das Boot endlich kommt. Es sieht heruntergekommen aus; die blaue und gelbe Signalfarbe blättert von den Seitenwänden ab. Ich stelle mich darauf ein, dass Dr. Gannick ein finster dreinblickender Drachen ist, aber als die Barkasse sich dem

Sergeant Lawrie Deane, ein Beamter mittleren Alters, steuert das Polizeiboot. Seine Wangen sind vom starken Wind gerötet, das rote Haar aus einem Gesicht nach hinten gekämmt, welches man großzügig als unscheinbar beschreiben könnte. Er ist ein altgedientes Mitglied von DCI Madrons Team und war stinksauer, dass er nicht selbst dessen Stellvertreter geworden ist. Aber so langsam scheint seine Missgunst mir gegenüber zu verfliegen. Hinter ihm sitzt mit ernster Miene Dr. Keillor mit seinen dicken Brillengläsern und winkt mir zur Begrüßung zu.

Erst nachdem das Boot angelegt hat, fällt mir die kleine Gestalt am Bug auf, die eine schwarze Lederjacke, enge Jeans und rote Gummistiefel trägt. Liz Gannick bemerkt mich nicht, denn sie tippt eine Nachricht auf ihrem Handy. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie sie in einem weißen Overall auf allen vieren Tatorte untersucht, aber wenn sie es zur Leiterin der Kriminaltechnik unseres Bezirks gebracht hat, muss sie ziemlich gut sein. Sie wirkt wie eine Elfe mit dem platinblond gefärbten kurzen Haar, dessen längere Strähnen ihr in die Stirn fallen. Gannick hat die Statur einer Zwölfjährigen, doch die Fältchen um ihre Augen verraten, dass sie Anfang vierzig sein muss. Ihr blassbrauner Blick erfasst meine Mängel in wenigen Sekunden. Sie gibt mir die Hand, bleibt aber sitzen, als ich ihr fürs Kommen danke.

»Raue See macht mir nichts aus, Inspector. Ich kenne die Inseln gut.« Sie klingt jetzt sogar noch brüsker als am Telefon, und ihr Akzent kommt stärker durch. »Würden Sie mir hier raushelfen?«

»Man starrt Leute nicht an, DI Kitto. Hatten Sie keine Kinderstube?« Sie sagt das leichthin, aber mir ist klar, dass sie mich auf die Probe stellt.

»Es hieß, dass Sie einen Rollstuhl benötigen, und wir müssen über Stock und Stein. Ist das okay?«

»Ich bin gut zu Fuß.«

»Wollen wir los?«

»Lassen Sie mich Ihnen vorher noch ein paar Ratschläge geben.«

»Nur zu.«

»Behandeln Sie mich wie einen ganz normalen Menschen. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, macht das uns beiden das Leben leichter.«

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Jetzt, da sie mich in die Defensive gebracht hat, nehme ich in ihrem Blick einen Hauch von Amüsiertheit wahr. »Glauben Sie mir, ich bin Schlimmeres gewohnt. In dem Koffer da sind Überschuhe und Schutzanzüge. Ich packe meine Ausrüstung zusammen, dann können Sie mich unterwegs auf den aktuellen Stand bringen.«

Dr. Keillor wartet schweigend, während Gannick ihre Sachen einsammelt. Seine Miene strahlt Resignation aus, so als sei die Untersuchung von Leichen eine Verschwendung wertvoller Freizeit. Er geht mit Deane vor, und ich bleibe

Als wir Burnt Island erreichen, beklagt sich Gannick mit keinem Wort über den steilen Anstieg. Während Dr. Keillor vorausgeht, navigiert sie geschickt zwischen den Felsbrocken hindurch. Oben angekommen, ist es mir unangenehm, dass ich ihre Kräfte unterschätzt habe. Die Leiterin der Kriminaltechnik ist nicht einmal außer Atem, als sie DCI Madron und Eddie begrüßt, die noch immer die Leiche bewachen. Mein Boss heißt sie und Dr. Keillor steif willkommen. Er hält sich stets pedantisch ans Protokoll, und diesmal erst recht, da die beiden im Rang über ihm stehen. Gannick ignoriert die altmodischen Höflichkeiten des DCIs und bleibt im Hintergrund, während Dr. Keillor sich dem Tatort nähert. Aber ich bemerke, dass sie darauf brennt, loszulegen.

Der Gerichtsmediziner hockt sich hin und konzentriert sich zunächst auf das Gesicht des Opfers. »Da hat Sie jemand ganz schön übel zugerichtet, nicht wahr, mein Freund?«, murmelt er halblaut.

Keillor streift sich sterile Handschuhe über und hebt vorsichtig das Schaffell von der Leiche. Eddie schwankt ein wenig, während er mit glasigen Augen den Toten anstarrt, aber wenigstens hält er sich aufrecht. Vom Feuer ist das Fleisch des Opfers wie geschmolzen, so dass sich seine Arme mit dem Oberkörper verklebt haben. Dort und an den Beinen sind teilweise die Knochen zu sehen, und verbrannte