Jill Mansell

Das zauberhafte Hochzeitshotel

Roman

Aus dem Englischen
von Tatjana Kruse

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jill Mansell

Jill Mansell arbeitete an einer neurologischen Klinik, bis sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie lebt in Bristol und ist mit einer Gesamtauflage von über 5 Millionen Büchern in England sehr erfolgreich. Ihre Romane ›Drei in einem Haus‹, ›Glücksgriff‹, ›Herzflittern‹, ›Sommerkussverkauf‹, ›Sternschnupperkurs‹, ›Liebesfilmriss‹, ›Mein zukünftiger Ex‹, ›Vorsätzlich verliebt‹, ›Beinah auf den ersten Blick‹, ›Herz über Nacht‹, ›Wer zweimal träumt‹ und ›Wo die Liebe wohnt‹ sind im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Daisy MacLean leitet ein Landhaushotel – Spezialität Hochzeiten. Aber diesmal kann auch die beste Planung nicht verhindern, dass es Schwierigkeiten gibt. Was soll Daisy machen, wenn der Bräutigam plötzlich versucht, Daisys beste Freundin zu verführen? Und wenn der Trauzeuge Dev nicht nur ziemlich unverschämt ist, sondern auch unverschämt attraktiv? Sie kann die Gäste ja schlecht rauswerfen. Und dann taucht plötzlich jemand aus Daisys Vergangenheit auf, den sie unbedingt vergessen wollte ...

Das Leben im Hotel ist höchst aufregend. Denn man weiß nie, wer ankommt – und wer bleibt.

 

»Jill Mansell ist wunderbar unterhaltsam, witzig und ein echter Lesespaß.« Daily Telegraph

Impressum

Aus Verantwortung für die Umwelt hat sich der S. Fischer Verlag zu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet. Der bewusste Umgang mit unseren Ressourcen, der Schutz unseres Klimas und der Natur gehören zu unseren obersten Unternehmenszielen.

Gemeinsam mit unseren Partnern und Lieferanten setzen wir uns für eine klimaneutrale Buchproduktion ein, die den Erwerb von Klimazertifikaten zur Kompensation des CO2-Ausstoßes einschließt.

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Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Staying at Daisy's« im Verlag Headline, London

© 2002 by Jill Mansell

 

Dieser Roman erschien bereits unter dem Titel »Mitten im Gefühl«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2006 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung von Motiven von Getty Images und Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491209-7

Für Mum und Dad – in Liebe

Danksagung

Ein dickes Dankeschön an Marie-Louise Pecorelli, die Marketing Managerin des fabelhaften Manor House Hotels in Castle Combe, Wiltshire. Sie hat mir vor Augen geführt, wie ein Hotel geleitet wird. Ich muss wohl nicht erst erwähnen, dass die fiktiven Gestalten in diesem Roman auch nicht annähernd so effizient sind …

1. Kapitel

Angesichts eines fehlenden Hämmerchens griff Hector MacLean nach einem schweren, gläsernen Aschenbecher, mit dem er auf die Mahagonitheke schlug.

»Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Ruhe dahinten, Ihr australisches Gesindel. Ich verspüre das Bedürfnis, einen Trinkspruch auszubringen. Hierher, Kleines, hierher.« Er winkte Daisy zu sich und legte den Arm um ihre Taille. »Würden Sie bitte alle Ihr Glas erheben … auf meine wunderhübsche Tochter.«

»Auf Ihre wunderhübsche Tochter«, riefen sämtliche Anwesende im Chor. Daisy rollte mit den Augen.

Ehrlich, musste er immer so peinlich sein?

»Du hast da ein paar Kleinigkeiten ausgelassen«, erklärte sie ihm. »Eigentlich wolltest du doch sagen ›Auf meine wunderhübsche, intelligente und unglaublich fleißige Tochter, ohne die dieses Hotel binnen einer Woche pleite ginge.‹«

»Genau das wollte ich sagen. Exakt. Versteht sich von selbst.« Hector holte mit seinem Glenmorangieglas weit aus. »Jeder hier weiß das bereits. Wie ja auch alle wissen, dass du darüber hinaus dickköpfig, herrisch und unglaublich unbescheiden bist. Aber ich bin trotzdem stolz auf dich. Wenn man bedenkt, dass du während der Schulzeit ständig geschwänzt hast. Und geraucht. Deine Mutter und ich hätten niemals geglaubt, dass aus dir mal etwas wird. Aber du hast dich recht ordentlich gemacht. Und jetzt zu meinem nächsten Trinkspruch. Ich möchte, dass Sie alle noch einmal Ihr Glas auf den lieben, alten Dennis erheben.«

»Auf den lieben, alten Dennis«, grölten sämtliche Gäste, auch jene, die nicht die leiseste Ahnung hatten, wer

Wie gewöhnlich staunte Daisy. In kürzester Zeit hatte sich ein ruhiges Beisammensein mit ein paar Drinks zu einer spontanen, ausgelassenen Party entwickelt. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis ihr Vater sein Akkordeon herausholte und die Tanzerei begann.

Daisy, die froh war, dass ihre Weißweinschorle zu neun Zehnteln aus Wasser bestand, ließ sich auf einem Barhocker nieder, während ihr Vater zwei Spätankömmlinge wie seine engsten Freunde willkommen hieß.

»Endlich! Wie wunderbar! Hören Sie, wir stecken hier in der Bredouille – hat einer von Ihnen zufällig ein Klavier dabei?«

Einer der Australier materialisierte sich neben Daisy. Sie schüttete ihren leeren Magen gerade mit Cashewnüssen und Mandeln zu. Nicht unbedingt ideal, aber besser als nichts.

»Ihr Dad ist ein echtes Unikum. Als uns dieses Haus empfohlen wurde, dachten wir, meine Güte, wahrscheinlich so ein altes Countryhouse voller affektierter Weiber in Tweed und aufgeblasenen, alten Colonel-Typen – ohne uns. Aber unsere Freunde haben uns versprochen, dass es hier ganz anders wäre, und sie hatten Recht. Es ist toll!«

»Wahrscheinlich werden Sie Ihre Meinung ändern, sobald mein Vater seinen Dudelsack herausholt«, warnte Daisy.

»Sie machen Witze!« Der Australier strahlte auf. »Er kann tatsächlich Dudelsack spielen?«

»Nein. Er denkt nur, dass er es kann. Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist«, flüsterte Daisy ihm zu, »dann überzeugen Sie ihn davon, sich an sein Akkordeon zu halten.«

Der Mann lachte, obwohl sie nicht gescherzt hatte.

»Und wer ist dieser Typ, auf den wir gerade getrunken haben? Dieser liebe, alte Dennis? Ist das jemand, der hier arbeitet?«

»Ach ja, Dennis ist unser Wohltäter«, erklärte Daisy. »Ohne ihn hätten wir dieses Hotel nicht.«

»Es gehört ihm?«

»Dennis ist Ihnen höchstwahrscheinlich ein Begriff«, sagte Daisy zu dem Australier. Mit dem Kopf nickte sie in die Richtung des Barkeepers Rocky, der eine Melodie pfiff: »Wenn Sie diesen Song kennen, dann kennen Sie auch Dennis.«

Neben dem Australier fing Tara Donovan ebenfalls zu pfeifen an. Der Australier legte die Stirn in Falten. »Das ist doch dieses Kinderlied, oder? Dennis, der wackere Wackeldackel? Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

Rocky und Tara pfiffen und wackelten sich bis zum Ende des Liedes durch.

»Mein Vater mag in seinem Leben nicht mit vielen brillanten Ideen gesegnet gewesen sein«, erläuterte Daisy herzlich, »aber vor fünfundzwanzig Jahren hatte er einen Geistesblitz. Er erfand Dennis.«

»Sie wollen mich verarschen! Im Ernst? Das ist unglaublich!« Der Australier schlug sich verzückt aufs Knie. »Ich habe diese Bücher für meine Kinder gekauft.«

Rocky steppte mittlerweile hinter der Bar und sang verhalten: »Mein Name ist Dennis, ich bin der wackere Wackeldackel«, weil Dennis gern wie Fred Astaire tanzte und Rocky gern zeigte, dass er einmal eine Schauspielschule besucht hatte.

»Als ich klein war, hat Dad Geschichten für mich erfunden«, erzählte Daisy dem faszinierten Australier. »Geschichten von diesem etwas weiblichen Dackel. Aber ich konnte ihn mir nicht bildlich vorstellen, also zeichnete Dad ihn für mich. Ich nahm die Bilder mit in die Schule, erzählte meinen Freunden die Geschichten, und prompt lagen uns alle Mütter in den Ohren, wo sie denn diese Dennis-Bücher bekommen könnten, um die ihre Kinder sie ständig angingen. Also sandte Dad seine Geschichten einem Verleger, und der war sofort Feuer und Flamme. Später kam noch ein Fernsehsender mit an Bord, und das Dennis-Fieber griff richtig um sich: Stofftiere, Spiele, Schlafanzüge, der ganze Merchandising-Käse. Und das alles aufgrund einer kleinen Idee. Dad hat die Rechte vor fünf Jahren verkauft und sich von dem Erlös dieses Hotel gekauft. Sie sehen also, wir verdanken Dennis alles.«

»Ich hatte einmal eine Wackeldackel-Dennis-Bettdecke«, warf Rocky fröhlich ein. »Und Dennis-Hausschuhe mit Ohren, die wackelten, wenn man ging.«

»Ich hatte alles von Dennis.« Daisy stöhnte und schnitt eine Grimasse. »Als ich neun war, wurde mir die ganze Sache peinlich. Damals schlug mein Herz nur für Adam Ant.«

»Ich liebe dieses Hotel!«, rief der Australier. »Das muss ich sofort Ihrem Dad sagen.«

»Geht es dir gut?« Rocky lehnte sich über die Theke und senkte die Stimme, während der Mann sich entfernte. »Du siehst ziemlich … geschlaucht aus.«

»Ich? Mir geht’s gut!« Eine Sekunde lang hatte er sie überrumpelt. Gab es einen Unterschied zwischen einer tapferen Fassade und einer dicken, fetten Lüge? »Natürlich geht es mir gut, warum auch nicht?«

Rocky zuckte mit den Schultern, griff nach der silbernen Zange und ließ zwei Eiswürfel in den Tumbler fallen.

»Ich dachte, du vermisst eventuell Steven. Wann kommt er zurück?«

»Am Silvesterabend.« Daisy nahm noch eine Handvoll Nüsse und lächelte ihn breit an. Rocky konnte Steven nicht ausstehen, das wusste sie. Vielleicht ahnte er sogar, was sich letzte Woche abgespielt hatte, aber um nichts in der Welt würde sie ihm die ganze Geschichte erzählen. Sie hatte es bislang keiner Menschenseele anvertraut. Nicht Tara, nicht einmal ihrem eigenen Vater.

»Wenn du dich nämlich einsam fühlst, dann weiß ich genau das Richtige, um dich aufzuheitern.« Rocky wackelte mit einer Augenbraue und bedachte sie mit seinem unanständigsten Robbie-Williams-Grinsen. »Ich bin jung, single und verfügbar. Ganz zu schweigen von meiner Unwiderstehlichkeit.«

Rocky war 23, hatte ein verruchtes Lächeln und einen wasserstoffperoxidgebleichten Haarschopf. Seine Lieblingsband war Oasis, was bedeutete, dass sie sich auch nicht in einer Million Jahre in ihn verknallen konnte.

»Es ist wirklich lieb von dir, mir das anzubieten.« Daisy

»Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht. Ich stehe derzeit auf der Höhe meiner sexuellen Kraft.«

»Ich bin trotzdem verheiratet.« So Gott will.

»Ist das alles, was dich davon abhält?«, sagte Rocky. »Ich bin sicher, uns fällt da etwas ein.« Insgeheim hielt er nicht viel von der Ehe, wenn das, was Daisy und Steven Ehe nannten, als leuchtendes Vorbild dienen sollte. Daisy mochte ja so tun, als sei alles paletti, aber man musste die beiden nur zusammen sehen, um zu wissen, dass es Probleme gab. Und das größte Problem war die Tatsache, dass Steven Standish ein Trottel sondergleichen war.

»Worüber unterhaltet ihr beiden euch?« Tara tänzelte an die Bar. Trinken und Partyfeiern war so viel lustiger als Zimmermädchen zu spielen. Sie wollte nicht einsehen, warum sie daraus keinen Lebensunterhalt machen konnte. Sie hätte so ein großartiges It-Girl abgegeben, wenn sie nur Tinker Tonker-Parkinson getauft worden wäre. Das Schicksal war echt unfair.

»Über Sex«, verkündete Daisy augenzwinkernd. »Und darüber, dass der arme, alte Rocky hier keinen bekommt.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Sex bekomme«, protestierte Rocky, der momentan keinen Sex bekam. »Ich habe Daisy nur ein absolut einmaliges Angebot unterbreitet, und sie tut so, als sei sie nicht interessiert.«

»Wir bekommen Besuch.« Tara knuffte Daisy und lenkte deren Aufmerksamkeit auf den Streifenwagen, der langsam die Hotelauffahrt hochfuhr. Dann wandte sie sich wieder an Rocky. »Ein absolut einmaliges Angebot? Du? Ach herrje, wie peinlich. Das bringt dich hinter Gitter. Der große, schaurige Polizist wird dich wegen Vortäuschung falscher Tatsachen einbuchten.«

»Andererseits könnte er auch dich verhaften wollen«, höhnte Rocky, »weil du denkst, du seist witzig, obwohl du es nicht bist.«

»Er ist sicher nicht wegen einer Beschwerde über Dads Dudelsack hier.« Daisy war empört. »Dad hat ihn ja noch nicht einmal herausgeholt.«

Der Streifenwagen blieb vor dem Eingang stehen. Durch die Fenster der Bar sahen sie zu, wie Barry Foster, der örtliche Dorfsheriff, sich aus dem Auto hievte und ein paar Worte in sein Walkie-Talkie murmelte. Als er die Tür auf der Fahrerseite zuschlug und auf den Eingang zuging, glitt Daisy vom Barhocker. »Ich hoffe nur, er will keinen unserer Gäste verhaften.«

»Außer, es wäre der da.« Tara schnitt eine Grimasse in Richtung eines Nordengländers, der erfolglos versuchte, Mundharmonika zu spielen.

»Ja klar«, sagte Daisy grinsend. »Mr. Mundharmonika darf er gern einbuchten.«

 

In Daisys Büro zog Barry Foster ein Taschentuch heraus und wischte sich verstohlen die schwitzigen Handflächen. Schlechte Nachrichten überbringen zu müssen, hasste er an seinem Job am meisten.

Die in Grün und Gold tapezierten Wände des Büros schienen förmlich zu atmen. Daisy blinzelte, damit sie endlich die Luft anhielten.

»Hören Sie, es muss sich um ein Versehen handeln.« Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Steven ist nicht einmal in Bristol. Er ist oben in Glasgow und besucht seinen Großvater. Er kommt erst Silvester zurück.«

Barry sah sie mitleidsvoll an. Er kannte Daisy und mochte sie. Er kannte auch Steven.

»Tut mir Leid, meine Liebe. Es war Stevens Auto. Und sein Führerschein steckte im Geldbeutel … Möchten Sie einen Schluck Wasser?«

»Nein, danke.« Daisy schüttelte den Kopf. Sie spürte, wie ihr Herz pochte. Der Unfall hatte sich laut Barry auf der Siston Common ereignet. Weniger als zehn Meilen entfernt. Stevens BMW war auf vereister Fahrbahn von der Straße abgekommen und gegen eine Mauer gekracht. Barry wirkte immer noch

War er etwa …

»O mein Gott.« Daisy schluckte. »Ist er tot?«

»Nein, nein«, versicherte Barry eilends, »nein, meine Liebe, er ist nicht tot. Es ist sehr ernst, wie ich schon sagte. Sein Zustand ist kritisch. Aber er ist am Leben. Ehrenwort.«

Kritisch. Eine Kopfverletzung. Im Koma.

»Aber was ist denn …?« Das ergab alles keinen Sinn. Steven hatte sie gestern Abend aus Glasgow angerufen und sich über das Wetter dort oben beschwert. Er hatte davon gesprochen, sich ein Spiel der Glasgow Rangers anzuschauen. Er wollte einen Klempner besorgen, der im Haus seines Großvaters den kaputten Thermostat am Boiler reparieren sollte.

Und nein, er hatte seinem Großvater nicht von dieser anderen Sache erzählt. Der arme, alte Mann – er war dreiundachtzig. Hatte er nicht schon genug Kummer?

»Daisy, es tut mir ehrlich Leid. Steven war bei dem Unfall nicht allein im Auto.«

»Wie bitte?« Einen Sekundenbruchteil glaubte sie, Steven habe seinen Großvater mitgenommen.

Aber nein, natürlich hatte Barry etwas anderes gemeint. Der Grund für sein Zögern wurde ihr abrupt klar, zoomte sich wie eine Nikon scharf.

»Fahren Sie fort«, bat Daisy. Das Ganze ähnelte sehr dem Ende eines Kriminalromans, wenn man plötzlich weiß, wer der Mörder ist.

»Er … äh … hatte eine Frau im Wagen.« Barry fühlte sich sichtlich unwohl.

Daisy runzelte die Brauen. »Sie meinen, eine Geliebte?«

»Äh, ja … es hat ganz den Anschein.«

»Liegt sie auch im Koma?«

»Nein. Nein, meine Liebe. Sie hatte Glück. Hat sich nur geringfügige Verletzungen zugezogen.«

Geschieht das wirklich? Und geschieht es mir?

Daisy merkte, wie sie eine Strähne ihres langen Haares

»Sie feiern eine Party.« Daisy wies – unnötigerweise – in Richtung Bar. »Ich möchte es den anderen nicht verleiden. Mein Wagen parkt hinter dem Hotel.«

»Sie sollten sich jetzt nicht ans Steuer setzen, meine Liebe.« Barrys Doppelkinn wackelte beim Kopfschütteln. »Ich fahre Sie ins Krankenhaus.«

»Das ist nicht nötig. Es geht mir gut.« Daisy fragte sich, ob sie vielleicht weinen sollte. Die Wände des Büros hatten aufgehört zu atmen und dafür war sie dankbar. Leicht schwankend stand sie auf. »Ich schaffe das schon.«

2. Kapitel

Fünfzehn Minuten auf der Autobahn, mehr brauchte es nicht, um das Frenchay Hospital am Stadtrand von Bristol zu erreichen.

Es war 15 Uhr 45. Der Himmel verdunkelte sich von Aschgrau zu Holzkohlengrau, und in den diversen Gebäuden, die zum Krankenhaus gehörten, gingen die Lichter an. Daisy folgte der Beschilderung, die den Weg zur Intensivstation wies. Krankenhauspersonal und Besucher liefen herum, als sei nichts geschehen.

Wie konnte Steven sich nur mit einer anderen treffen?

Der behandelnde Arzt war unglaublich freundlich. Er erklärte die Funktionen der verschiedenen Geräte um Stevens Bett. Das hier war der Ventilator, der sich um seine Atmung kümmerte. Die kleinere Maschine war das EKG, das seinen Herzschlag überwachte. Der Klip an seinem Finger war ein Puls-Oximeter. Der intravenöse Zugang ermöglichte die Zuführung der Medikamente, die er benötigte, und die Infusion versorgte ihn mit Flüssigkeit.

Die Intensivstation war von einer strahlenden Helligkeit. Alles war weiß mit Ausnahme der Kittel des Personals; die waren hellblau. In ihrer roten Samtbluse, dem schwarzen Lederrock und den schwarzen Pumps fühlte sich Daisy total fehl am Platz. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf die Worte des Arztes zu konzentrieren. Sie wusste, es war von entscheidender Bedeutung, ihn zu verstehen, wie bei einer Abiturklausur, die man nicht verpatzen durfte.

Nur schien es eine Abiturklausur in einer Sprache zu sein, die sie nie gelernt hatte. Die Worte hörte sie wohl, allein, sie ergaben keinen Sinn. Außer dem Teil, dass Stevens Zustand kritisch war.

Der Piepser des Arztes ging los.

»Setzen Sie sich doch einen Moment.« Der Arzt zog einen Plastikstuhl heran und drückte ihn in ihre Knie. »Halten Sie seine Hand. Reden Sie mit ihm. Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten. Ich komme später wieder vorbei. Okay?«

Er eilte zur nächsten Krise und ließ Daisy allein mit Steven. Na ja, nicht wirklich allein. Vier Meter weiter saßen zwei Krankenschwestern, die sie diskret im Auge behielten.

Daisy setzte sich auf den bockelharten Plastikstuhl und nahm, wie befohlen, Stevens Hand.

Er wirkte lächerlich gesund. Ein schmales, weißes Tuch bedeckte seine Lenden, abgesehen davon war er nackt. Gebräunt und muskulös und offensichtlich in guter Kondition – stolz auf seinen Körper und das zu Recht. Die vielen Stunden im Fitnessstudio hatten sich bezahlt gemacht. Es war der Körper eines Mannes in allerbester Verfassung. Er wirkte überhaupt nicht schwer verletzt.

Daisy blinzelte und riss sich zusammen. Was genau sollte sie doch gleich wieder tun? Ach ja, mit ihm reden.

Aber was sollte sie sagen? Bestimmt nicht ›Du verlogener, untreuer Hurensohn!‹. Nein, das hatte der Arzt ganz sicher nicht im Sinn gehabt.

Nach zwanzig Minuten stand Daisy auf und wollte gehen.

»Warten Sie doch im Raum für die Angehörigen«,

Daisy fragte sich, warum die Leute immer zu diesem Spruch Zuflucht nahmen. Es mochte ein wirklich schauderhafter Tee sein, aber man nannte es trotzdem eine schöne Tasse Tee.

»Ist schon in Ordnung, es geht mir gut. Ich will nur kurz frische Luft schnappen.«

»Ist gut, meine Liebe, tun Sie das. Sollen wir jemand für Sie benachrichtigen?«

»Danke, nein.« Daisy lächelte und zeigte auf ihre Tasche. »Ich habe mein Handy dabei. Ich mache gleich ein paar Anrufe.«

In dem hallenden Gang vor der Station musste sie aus dem Weg springen, als ein Pfleger mit einem Jungen im Rollstuhl vorbeijagte. Eine junge Frau in Jeans und einem marineblauen Parka studierte aufmerksam das Anschlagsbrett. Das Neonlicht an der Decke flackerte und unterstrich ihre Blässe. Daisy zögerte. Die Frau sah sie abrupt an, und beinahe schuldbewusst wandte Daisy sich ab.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche, drückte eine Reihe von Tasten und sagte: »Hi, ich bin’s. Ich verlasse jetzt das Krankenhaus und bin um fünf zu Hause.«

Weniger als eine Minute, nachdem sie die Doppeltür mit der Aufschrift AUSGANG aufgestoßen hatte, glitt Daisy in den Flur zurück. Die junge Frau im Parka lungerte nicht mehr vor dem Anschlagsbrett herum.

Daisy lugte durch das Glasfenster der Außentür zur Intensivstation. Sie sah die junge Frau vor der Innentür, die zur Station selbst führte.

Die freundliche Schwester unterhielt sich mit ihr, und sie schluchzte, als ob ihr das Herz brach.

Daisy fühlte sich auf absurde Weise eifersüchtig, als ihr klar wurde, dass die Schwester ebenso nett zu der Parka-Frau sprach wie zu ihr, nur dass sie ihr keine schöne Tasse Tee anbot, sondern ein Taschentuch.

Jetzt bemerkte Daisy auch den Verband am linken Handgelenk der Parka-Frau.

Sie lehnte sich gegen die Außentür, die sich daraufhin einen Spaltbreit öffnete. Daisy hörte, wie die Schwester mit warmer, tröstender Stimme sagte: »Es tut mir schrecklich Leid, meine Liebe, aber Sie dürfen nicht hinein. Das dürfen nur Angehörige.«

Die junge Frau war am Boden zerstört. Wenn sie nicht gerade weinte, war sie bestimmt hübsch, dachte Daisy automatisch. Möglicherweise war es angesichts der Umstände unangemessen, aber ihr schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass die junge Frau zwar hübsch sein mochte, aber nicht so hübsch wie sie.

Daisy ließ die Tür wieder zufallen. Jetzt brauchte sie wirklich frische Luft. Es war auch an der Zeit, Hector tatsächlich anzurufen und nicht nur so zu tun. Er würde sich längst fragen, wohin sie verschwunden war.

 

Stevens Zustand verschlechterte sich im Laufe der Nacht. Um elf Uhr am nächsten Vormittag wurde Daisy, mit ausgetrocknetem Mund und benommen durch den Schlafmangel, aus der Intensivstation in das Büro für schlechte Nachrichten geführt. Es war sofort klar, dass es sich um das Büro für schlechte Nachrichten handelte, es gab nämlich bequeme Sessel.

Der Facharzt, ein Mann in den Fünfzigern mit einem zerknitterten, karierten Hemd unter seinem makellos weißen Kittel, sagte: »Mrs. Standish, es tut mir Leid. Wir haben eine zweite Reihe Tests durchgeführt und sie bestätigen unsere Befürchtungen. Ihr Ehemann hat sich extrem schwere Kopfverletzungen zugezogen. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Gehirntätigkeit.«

O Gott.

O Gott.

»Aha.« Daisy nickte und sah aus dem Fenster. Draußen goss es in Strömen. »Im Grunde ist er also schon tot.«

»Ich fürchte ja.«

Auf dem Schreibtisch vor ihr stand eine Schachtel mit Zellstofftüchern. Natürlich für die Tränen. Daisy, der ihre

Der Facharzt räusperte sich. »Ich möchte noch etwas mit Ihnen, als Stevens nächster Angehöriger, besprechen. Über die Gelegenheit, anderen Menschen eine Chance auf Leben zu ermöglichen.« Er legte seine langen Finger auf ein Formblatt und schob es ihr zu. »Ich weiß nicht, ob Sie und Ihr Gatte sich jemals über das Thema Organspende unterhalten haben, aber unserer Erfahrung nach ist es für die Angehörigen in künftigen Jahren oft ein großer Trost, wenn sie wissen, dass … «

»Sie möchten Stevens Organe zu Transplantationszwecken verwenden?« Daisys Augenbrauen schossen erstaunt nach oben. »Obwohl er Krebs hat? Ist das nicht riskant für die Empfänger?«

Der Arzt runzelte die Stirn. »Krebs? Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Seine Krebserkrankung. Ich dachte, es steht alles da drin.« Daisy zeigte auf die Krankenakte, die geöffnet auf dem Schreibtisch lag. »Er sagte, er habe einen der Ärzte hier aufgesucht … na ja, ich dachte, es sei hier im Krankenhaus gewesen. Aber vielleicht hat er sich ja an eine Privatklinik gewandt.«

Das Stirnrunzeln des Arztes wurde ausgeprägter. »Einen Moment bitte.«

Daisy wartete allein in dem Büro für schlechte Nachrichten und sah zu, wie der Regen gegen die Fenster prasselte. Da sie ihre Gedanken nicht sammeln konnte, konzentrierte sie sich stattdessen auf die Regentropfen, die über die Scheiben nach unten glitten.

Ein paar Minuten später kehrte der Arzt zurück.

»Ich habe mit Stevens Hausärztin gesprochen. Sie hat Ihren Ehemann seit über zwei Jahren nicht gesehen und er konnte ohne Überweisung kein anderes Krankenhaus aufsuchen. Ich denke, wir können mit Sicherheit von einem Missverständnis ausgehen«, schloss er sanft. »Ihr Ehemann leidet nicht an Krebs.«

 

Daisy fand die Krankenschwester, nach der sie suchte. Sie verstaute gerade Nierenschalen in einer Schleusenkammer.

»Der Chefarzt hat mir über Stevens Zustand Bescheid gesagt«, verkündete Daisy, und die freundliche Schwester stellte sofort die Schalen beiseite.

»Ach, meine Liebe, es tut mir ja so Leid. Soll ich Ihnen eine schöne Tasse Tee machen?«

»Danke, nein.«

»Sie sind wirklich tapfer.«

Insgeheim hielt es Daisy für wahrscheinlicher, dass sie auf die Schwestern der Intensivstation ziemlich merkwürdig wirkte.

»Ich wollte Sie nach der jungen Frau fragen, die gestern Nachmittag hier war. Die Frau, die bei Steven im Auto saß, als er den Unfall hatte.«

Über die Wangen der Krankenschwester zog sich eine leichte Röte. Was Daisys Vermutung bestätigte.

»Die Sache ist die«, fuhr Daisy fort, »ich habe gehört, wie Sie zu ihr sagten, dass sie nicht zu ihm dürfe, weil sie keine Angehörige sei. Aber unter diesen Umständen … na ja, es würde doch nicht schaden, oder? Sie könnten sie ein paar Minuten zu ihm lassen und ich halte mich solange im Hintergrund.«

Der Teint der Schwester hatte mittlerweile Ähnlichkeit mit Erdbeereis. »Sie ist nicht hier, meine Liebe. Ich bat sie, nach Hause zu gehen.«

Daisy sah die Schwester lange an. »Ich wette, sie hat Ihnen ihre Telefonnummer gegeben.«

Der Gesichtsausdruck der Schwester bestätigte das. Na ja, das war nur natürlich.

»Rufen Sie sie an«, bat Daisy. »Ich weiß nicht, wer sie ist, und ich will sie auch nicht sehen. Aber wenn sie Stevens Freundin ist, dann sollte sie sich von ihm verabschieden dürfen.«

3. Kapitel

Ein Jahr später.

 

»Daisy, kannst du heute Nachmittag vorbeischauen? Die Cross-Dresser kommen gegen vier vorbei, um den Menüplan für den Hochzeitsempfang durchzugehen.«

Tara Donovan, die als Zimmermädchen im Hotel arbeitete, unterdrückte ein Lächeln, aber Daisy bedachte ihren Vater mit einem »Benimm dich«-Blick. Seine laute Stimme und sein enormer Mangel an Taktgefühl brachten ihn eines Tages bestimmt noch mal in Schwierigkeiten. »Ist gut, aber hör auf, sie so zu nennen.«

»Liebes, sie verdienen es nicht anders. Diese Leute gehen mir allmählich auf die Nerven«, erklärte Hector. »Warum können sie sich nicht einfach für ein Menü entscheiden und dann verdammt nocheins auch dabei bleiben? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum irgendjemand überhaupt einen Veganer zu einer Hochzeit einladen will.«

Diesmal tauschten Tara und Daisy Blicke aus, und Daisy seufzte schwer. Diskretion war nicht gerade Hektors starke Seite. Glücklicherweise befanden sich keine Gäste in Hörweite. Daisy griff über die Empfangstheke zu dem Stapel an ungeöffneter Post und sagte: »Dad, ich kümmere mich um diese Leute. Für Veganer berechnen wir doppelt. Und es sind keine Cross-Dresser und auch nicht die Cross-und-Lecker-Brötchen, verstanden? Sie heißen Cross-Calvert und du wirst dir einen Ruck geben und nett zu ihnen sein, ist das klar?«

Tara, die gerade die Treppe staubsaugte, ließ prompt den Saugrüssel fallen.

»Wer?« Ihr Herz pochte. Sie stützte den Staubsauger mit dem Fuß ab, damit er nicht die Treppe hinunterpolterte und jemanden erschlug. Möglicherweise hatte sie sich verhört. »Was hast du gesagt? Hast du Cross-Calvert gesagt?«

»Haargenau.« Daisy nickte geistesabwesend. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem Brief, den sie soeben geöffnet hatte.

»Dominic Cross-Calvert?« Diesmal hörte sich Taras Stimme an, als ob sie nicht aus ihrem Mund drang.

»Dominic, genau, so heißt der Typ.« Fasziniert richtete Hector sich auf. »Kennst du ihn?«

»Ja.« Idiotischerweise klang das so feierlich, als ob sie ein Ehegelübde ablegen würde. Man sagte doch ›ja‹, wenn man versprach, seinen Mann in guten wie in schlechten Tagen, in Krankheit und Gesundheit zu ehren, bis dass der Tod einen schied? Oder sagte man ›ich will‹? Tara hatte dieses spezielle Gelübde nie abgelegt und war sich diesbezüglich nicht sicher. Männer hielten sie für hübsch und lustig und insbesondere mochten sie ihre üppigen Brüste, aber keiner von ihnen hatte je angeboten, sie zu heiraten.

»Ha! Sieh dir nur dein Gesicht an!«, rief Hector. »Er ist einer deiner Exe, stimmt’s? Eine verlorene Seele aus deiner schmutzigen Vergangenheit. Komm schon, uns kannst du es doch erzählen! Wer hat wen sitzengelassen?«

So hochmütig, wie es ihr nur möglich war, verkündete Tara: »Ich habe keine schmutzige Vergangenheit.« Was offensichtlich eine fette Lüge war. Schlimmer noch, Hector wusste um die Lüge.

»Also hat er dir den Laufpass gegeben«, triumphierte er. »Schätzchen, ich bin ganz Ohr. Stell diesen dämlichen Staubsauger beiseite und erzähle uns alles.«

Hector winkte abfällig in Richtung Treppe. »Vergiss das Saubermachen. Lass uns was trinken! Daisy, willst du dir das auch anhören?«

Aber Daisy ging ganz im Inhalt ihres Briefes auf. Sie hörte gar nicht zu. Also ehrlich – und so was schimpfte sich Freundin.

»Wann genau heiratet er denn?«, erkundigte sich Tara.

»In zwei Wochen. Am 10.Januar. Sechsundneunzig Gäste, drei Weizenallergien, zwei Laktoseunverträglichkeiten, siebzehn Vegetarier und … « – Hectors Lippen schürzten sich verächtlich – » … ein Veganer.«

»Und diese Frau, die er … äh … heiratet?« Tara mühte sich, möglichst beiläufig zu klingen.

Hector lachte laut. »Sie heißt Annabel. Ziemlich füllig. Du und Daisy könntet euch ihr Hochzeitskleid bequem teilen.«

Tara war mit Hectors Neigung zu Übertreibungen vertraut genug, um zu wissen, dass Annabel wahrscheinlich nicht mehr als eine kurvenreiche Kleidergröße 42 war.

»Na gut, aber ist sie hübsch?« Nicht, dass sie sich auch nur ansatzweise vorstellen könnte, Dominic würde jemand Nicht-Hübsches heiraten. Das wäre meilenweit unter seiner Würde.

Hector legte seinen Arm um Taras Schulter und führte sie zur Bar. »Schätzchen, mit dir ist sie überhaupt nicht zu vergleichen.«

 

›Walking in a Winter Wonderland‹ trällerte in Daisys Kopf, als sie die Auffahrt des Hotels hinunterging. Der Song war im Radio gelaufen, als sie an diesem Morgen aufgewacht war. Er war so weihnachtlich und unbekümmert und musste einfach für gute Laune sorgen. Jetzt fehlte nur noch echter Schnee. Aber Raureif war auch schön, befand Daisy.

Das Hotel sah großartig aus. Am Ende der Auffahrt sprang Daisy über die honigfarbene Cotswold-Steinmauer zu ihrer Rechten und nahm die Abkürzung zum Friedhof. Niemand begegnete ihr auf dem Weg zu Stevens Grab.

Mervyn Tucker, dessen Frau neben Steven in der Erde lag, hatte den Aluminiumeimer zurückgelassen, mit dem er die Pflanzen auf ihrem Grab goss. Daisy lieh ihn sich aus, drehte ihn um und setzte sich. Dann zog sie den Umschlag aus den Tiefen ihres dunkelblauen Cordsamtmantels.

»Hallo, ich bin’s. Ich habe Neuigkeiten für dich.« Während sie sprach, musste Daisy daran denken, dass sie jeder, der sie in diesem Moment beobachtete, zweifelsohne für verrückt halten würde. Auf einem umgedrehten Alueimer kauernd las sie einem Haufen Erde einen Brief vor. Na und? Sie war allein auf dem Friedhof. Weit und breit niemand, der sie sah oder hörte. Und von diesem Brief sollte Steven erfahren.

Daisy hauchte ihre Finger warm. Ihr Atem bildete in der eisigen Luft kleine Wölkchen.

»Also gut. Dieser Brief kam heute an, von jemand namens Barney. Du hast ihm eine deiner Nieren gespendet und die Operation war ein voller Erfolg. Stell dir nur vor! Er ist 25 Jahre alt und du hast sein Leben gerettet. Warte, ich lese es dir vor. Es fängt mit ›Liebe Freundin‹ an, weil er meinen Namen nicht kennt. Er musste diesen Brief seiner Transplantationskoordinatorin geben und sie hat ihn an mich weitergeleitet – offenbar muss es aus Datenschutzgründen so laufen. Jedenfalls schreibt er: ›Liebe Freundin, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich an Sie schreibe. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es für Sie gewesen sein muss, in einer so tragischen Zeit eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich wollte Ihnen unbedingt dafür danken, dass Sie mir ein neues Leben ermöglicht haben. Was immer ich auch sage, es wird unzulänglich sein – ›Dankeschön‹ wäre die Untertreibung des Jahres. Was kann ich sonst sagen? Sie sind ein wunderbarer Mensch – und ich bin sicher, Ihr Ehemann war es auch. Ich kann nur hoffen, dass Ihnen dieser Brief ein klein wenig helfen wird, mit Ihrer Trauer fertig zu werden. Sie verdienen es wirklich, wieder glücklich zu sein. Ich werde Ihnen immer dankbar sein. Wenn Sie mir über meine Koordinatorin antworten wollen, dann würde ich mich sehr darüber freuen. Wenn nicht, verstehe ich das natürlich. Nochmals danke und die allerbesten Wünsche, Barney.‹«

Stille.

Nachdem Daisy den Brief laut vorgelesen hatte, strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte ihre Hand auf Stevens weißen Marmorgrabstein.

»Ist das nicht ein phantastischer Brief? Heute vor einem Jahr bist du gestorben und hast Barney dadurch das Leben neu geschenkt. Zum ersten Mal hast du etwas Anständiges getan. Und er klingt wirklich süß, nicht? Ich muss ihm antworten und ihm danken. Ich frage mich, wie lange er brauchte, um den Brief zu formulieren – und eine nette Handschrift hat er auch. Schwarze Tinte auf gutem, cremefarbenem Schreibpapier. Und … «

Daisy brach abrupt ab, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Jemand in einer leuchtend roten

Der Metallrand des Eimers bohrte sich allmählich immer schmerzhafter in ihren Hintern. Die Person unter dem Friedhofstor bewegte sich nicht, darum drehte Daisy schließlich den Kopf und starrte sie direkt an. Als ihr klar wurde, um wen es sich da handelte, wäre sie um ein Haar vom Eimer gekippt.

Natürlich war es der Jahrestag von Stevens Tod. Vielleicht hätte es sie gar nicht so sehr überraschen sollen.

Daisy erholte sich zügig und rief: »Ist schon okay, Sie können ruhig herkommen.«

Der Parka – nur dass sie dieses Mal keinen Parka trug – zögerte, dann fädelte sie sich langsam durch die Grabsteine. Das gefrorene Gras knirschte unter ihren flachen Lederstiefeln. Sie trug eine scharlachrote Webpelzjacke, weiße Jeans, einen leuchtend grünen Wollschal und blaue Strickhandschuhe. In den Armen hielt sie einen kleinen Strauß weißer Rosen in Zellophan.

Argwöhnisch näherte sie sich Daisy und meinte: »Hören Sie, es tut mir Leid. Ich sollte wieder gehen und später zurückkommen, wenn Sie … «

»Keine Sorge, ich bin hier ohnehin fertig. Sie können meinen Platz haben, wenn Sie wollen.« Daisy hob den Hintern vom Eimer – aua! –, stand auf und winkte die junge Frau heran. Zutiefst neugierig lächelte sie sie an. »Ich erkenne Sie aus dem Krankenhaus wieder. Ich bin Daisy.«

»Ich weiß.« Nase und Wangen der jungen Frau waren rosa vor Kälte, und sie sah aus, als fühle sie sich unwohl. Ha, dachte Daisy, warte, bis du dich auf diesen Eimer setzt.

»Ich heiße Mel«, sagte sie schließlich.

Daisy fragte sich, ob sie einander die Hand schütteln sollten, aber ihre Hände wärmten sich gerade in den Manteltaschen auf. Außerdem sah die junge Frau nicht so aus, als wäre sie scharf darauf.

»Na gut, ich glaube, das hier zählt mit Fug und Recht

»Das weiß ich.« Mel wickelte die Rosen aus dem steifen, knisternden Zellophan. »Er wollte sich scheiden lassen und Sie haben sich geweigert.«

Verwirrt sah Daisy auf den gesenkten Scheitel der jungen Frau.

»Was?«

»Er wollte Sie verlassen«, wiederholte Mel. »Aber Sie wollten ihn ja nicht gehen lassen.«

»O nein, es tut mir Leid, aber das stimmt nicht. Ganz und gar nicht!« Abrupt wurde Daisy klar, dass Steven immer noch die Fähigkeit besaß, sie in Erstaunen zu versetzen. »Ich wünschte mir nichts sehnlicher als die Scheidung! In der Woche vor Weihnachten erklärte ich ihm, dass zwischen uns alles aus sei. Und dann sagte er mir, er habe Krebs.«

»Krebs?« Jetzt wirkte Mel verblüfft. »O Gott, ich wusste nicht, dass er Krebs hatte!«

»Tja, hatte er auch nicht. Er hat gelogen. So wollte er mich erpressen, ihn nicht zu verlassen.« Daisy zwang sich, ruhig zu bleiben. »Und wissen Sie, was? Ich bin darauf hereingefallen. Ich dachte, ich könnte ihn in einem solchen Moment nicht allein lassen.« Sie hielt inne, erinnerte sich an den Augenblick im Büro für schlechte Nachrichten. »Dummerweise war es gar nicht wahr.«

»Ich glaube Ihnen nicht.« Mel war schneeweiß, ihre Hände zitterten. »So etwas hätte er nie getan. Das erfinden Sie nur.«

»Glauben Sie mir, wenn ich eine solche Geschichte erfinden wollte, würde ich mir etwas Originelleres einfallen lassen!«, schoss Daisy zurück. »Was für eine mickrige Story, wie aus einer schlechten Vorabendserie! Steven war ein

War es grausam, Mel das zu erzählen? Und glaubte ihr Mel nun?

Die cremeweißen Rosen lagen auf dem Grab, ausgewickelt und unangerührt.

Mel meinte zögernd: »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.« Tränen standen in ihren grauen Augen.

»O bitte, es tut mir Leid, ich wollte Sie nicht aufregen«, platzte es aus Daisy heraus. »Aber Sie müssen erfahren, wie Steven wirklich war. Ich hatte keine Ahnung, dass er eine Affäre hatte, aber unsere Ehe war sowieso am Ende.«

»Ich verstehe nur nicht, warum er mich anlügen sollte«, erwiderte Mel. »Wir haben uns geliebt. Mehr als alles andere wollten wir zusammen sein. Wenn Sie nichts gegen eine Scheidung einzuwenden hatten, warum sollte er dann bei Ihnen bleiben wollen?«

Daisy, die sich diese Frage schon vor langer Zeit beantwortet hatte, wies mit der Hand hinter die Friedhofsmauer. In dem Tal, durch das sich der Fluss entlang des sorgfältig angelegten Parks schlängelte, prangte verführerisch das Hotel im Wintersonnenlicht. Es sah aus, als sei es mit Puderzucker bestäubt. Die sechs Meter hohe Fichte neben dem Eingang war mit einer Lichterkette geschmückt. Das Manor House selbst, das in Teilen bis ins 15. Jahrhundert zurückreichte, hätte einer Ralph-Lauren-Anzeige entsprungen sein können. Erst vor einer Woche hatte ein Kritiker es in einer der Sonntagszeitungen als eines der herrlichsten Hotels in Großbritannien gerühmt. Er hatte auch erwähnt, dass es von einem der extravagantesten Charaktere

»Sehen Sie sich das an«, sagte Daisy einfach, »aus diesem Grund wollte Steven bei mir bleiben. Unser Lebensstil hat ihm zu sehr gefallen.« Sie fügte nicht hinzu, dass Steven einfache Verhältnisse noch nie zu schätzen gewusst hatte. Und dass er auch nichts von harter Arbeit gehalten hatte.

Mel runzelte die Stirn. »Sie können jetzt alles Mögliche von ihm behaupten. Er kann sich ja nicht mehr wehren.«

»Ach, kommen Sie schon, denken Sie nach! Wenn Steven mich wirklich verlassen wollte, warum hat er es nicht einfach getan?« Ungeduldig warf Daisy ihre langen, dunklen Haare zurück. »Ich hätte ihn doch nicht aufhalten können. Er war erwachsen. Es war ja nicht so, als ob ich ihn gefesselt und in den Keller gesperrt hätte!«

Unerwarteterweise fragte Mel: »Und hätten Sie ihm die 20 000 Pfund gegeben?«

Daisy zuckte mit den Schultern. »Vermutlich ja. Er war schließlich mein Ehemann. Ich hätte ja wohl kaum sagen können: ›Herrje, Krebs, wie entsetzlich, aber sorry, ich habe gerade kein Kleingeld übrig, ich will mir nämlich unbedingt einen schnuckeligen, neuen Wagen kaufen.‹«

Mel erkundigte sich mit festem Blick: »Haben Sie ihn geliebt?«

Wenn man bedachte, dass sie sich eigentlich völlig fremd waren, führten sie gerade eine erstaunlich offene Unterhaltung, dachte Daisy. Sie schüttelte den Kopf. »Am Schluss nicht mehr.«

»Warum sind Sie dann hier und besuchen sein Grab?« Mel klang herausfordernd. »Ich habe doch gesehen, wie Sie mit ihm geredet haben.«

»Das sage ich Ihnen gleich. Doch zuvor, haben Sie Steven geliebt?«

Mel sah sie mitleidig an. »Natürlich! Wäre ich sonst

»Jemals? Dann waren Sie also schon früher hier?« Beinahe wäre Daisy herausgerutscht: »Kommen Sie öfter her?«

»Ich komme jede Woche. Das ist mein gutes Recht«, erwiderte Mel trotzig. »Sie können mich nicht davon abhalten.«

»Ich sage ja gar nicht, dass ich Sie davon abhalten will!« Meine Güte, war die vielleicht sensibel. »Auf merkwürdige Weise ist es nett zu wissen, dass Sie ihn besuchen. Wie alt sind Sie?« Rasch wechselte Daisy das Thema. Bitte schön, ich kann auch persönliche Fragen stellen.

»Ich bin 26«, erklärte Mel steif.

Hm, also älter als sie aussah. Angesichts der Schulmädchenfrisur und des kleinen Mundes hätte Daisy sie auf 21 oder 22 geschätzt.

»Dann waren sie also 25, als Sie sich mit dem Ehemann einer anderen einließen? Gar keine Gewissensbisse?«

Mels Hände, mit denen sie mittlerweile ungeschickt die Rosen in der Steinvase arrangierte, waren so rot wie ihre Nase. Das gefrorene Gras hinterließ Flecken auf den Knien ihrer weißen Jeans.

»Er tat mir Leid. Er sagte, er sei in einer lieblosen Ehe gefangen – was ja stimmte – und dass Sie … na ja … «

»Lassen Sie mich raten. Die Furie aus der Hölle?« Das passte, dachte Daisy. Niemand konnte sich geschickter oder überzeugender durchs Leben lügen als Steven. »Eigentlich bin ich das nicht. Ich bin richtig nett. Nicht, dass Sie mir das glauben werden, aber es stimmt.«

Mel sah auf. »Sie haben etwas wirklich Nettes getan. Sie haben der Schwester im Krankenhaus erlaubt, mich auf die Intensivstation zu lassen. Das hat mir sehr viel bedeutet. Ich konnte nicht glauben, dass Sie das getan haben.«

Daisy lächelte kurz. »Na bitte, wie ich schon sagte, im Grunde bin ich eine absolut liebenswerte Person.«

Mel, die zu angespannt war, um das Lächeln zu

»Schüchterne Typen können kein Hotel führen. Und wo wir gerade davon sprechen, ich sollte wieder zurück.« Daisy sah auf ihre Uhr und bemerkte gleichzeitig, wie Mel darauf starrte – ja, es war eine Uhr von Cartier, und nein, es war keine Fälschung. »Bevor ich gehe, möchte ich Ihnen noch etwas zeigen.«

Mel faltete die beiden Briefbögen auf und sie las erst das Erklärungsschreiben der Koordinatorin, dann den Brief von Barney.

Mel machte sich nicht die Mühe, den zweiten Brief zu Ende zu lesen, sondern stopfte ihn in den Umschlag zurück und warf ihn Daisy förmlich entgegen.

»Hilft Ihnen das nicht?« Daisy runzelte bestürzt die Stirn.

»Warum sollte es?«

»Ich halte den Brief für reizend! Darum bin ich auch hergekommen und habe Steven davon erzählt. Er hat etwas Gutes getan. Dank ihm hat dieser Junge sein Leben wiedergewonnen.«

»Aber er ist doch ein Fremder.« Tränen der Wut quollen in Mels Augen auf. »Der ist mir egal. Mir wäre es lieber, Steven wäre noch am Leben. Ich will, dass er sein Leben wiedergewinnt, nicht irgendein Typ, den ich nicht einmal kenne.«

4. Kapitel

Tara drückte die Tür mit dem Po auf und trat rückwärts in Zimmer 12, den Arm voll frischer Handtücher. Die Gäste aus Zimmer 12 waren soeben mit ihrem Hubschrauber abgeflogen, aber das Zimmer war nicht leer.

»Ach, du bist es! Meine Güte, was machst du denn da?« Tara warf die Handtücher auf das Himmelbett und sah zum Fenster. Daisy kniete auf dem Fenstersims und spähte durch ein Fernglas. »Du beobachtest doch wohl keine Vögel!« Tara stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Bitte sag mir, dass du dir nicht die Ornithologie als Hobby zugelegt hast – das ist dermaßen

»Ich halte nicht nach Vögeln Ausschau, ich beobachte jemanden«, unterbrach Daisy.

»Ach so, dann ist ja gut.« Tara nickte. »Jemanden, den ich kenne?«

»Nein, niemand Bestimmtes. Nur die Frau, die eine Affäre mit Steven hatte, bevor er starb.«

»Was?«

»Aua.« Daisy jaulte auf, als der Riemen des Fernglases sich urplötzlich um ihren Hals spannte. Sie reichte Tara das Glas. »Da drüben auf dem Friedhof. Rote Jacke, dunkle Haare.«

»Hab sie.« Tara starrte neugierig auf die Frau, die neben Stevens Grab kniete. »Woher willst du wissen, dass es Stevens Geliebte ist?«

»Ich komme gerade vom Friedhof, wo ich mich mit ihr unterhalten habe. Wir haben ein paar Dinge klargestellt.« Daisy seufzte schwer. »Steven hat ihr fast so viele Lügen aufgetischt wie mir.«

»Lügen haben kurze Beine. Am Ende wird man immer erwischt«, meinte Tara traurig. »Wie ich vorhin schon zu deinem Dad sagte, genauso kam es zwischen mir und Dominic zum Bruch.«

Daisy, die mit ihren Gedanken offensichtlich anderswo war, sagte: »Dominic? Dominic wer?«

»Dominic Cross-Calvert, du Schnarchnase.«

»Cross-Calvert? So heißt doch der Kerl, der in zwei Wochen hier heiratet. Willst du mir etwa sagen, dass du mit dem zusammen warst?«

Tara sagte »Ts-ts-ts« und schüttelte mitleidsvoll den Kopf. »Ehrlich, manchmal mache ich mir Sorgen um dich. Das habe ich dir doch erst heute Morgen erzählt.«

»Hast du das? Tja, egal. Wenn es für dich unangenehm ist, dann teilen wir dich einfach für eine andere Schicht ein.

»Sei nicht albern.« Tara war empört. »Das ist ein Klacks. Über Dominic bin ich weg.«