Michelle Cuevas
Der Tag, an dem mir ein kleines schwarzes Loch zulief
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
FISCHER E-Books
Michelle Cuevas wurde 1982 in Massachussetts, USA, geboren. Sie studierte Kunst und Kreatives Schreiben und arbeitete als Kunstpädagogin beim Whitney Museum of American Art in New York. Sie hat bereits mehrere Bücher für Kinder veröffentlicht, darunter »Kasimir Karton – Mein Leben als unsichtbarer Freund« und das Bilderbuch »Die Flaschenpost«.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2017 unter dem Titel »The Care and Feeding of a Pet Black Hole« bei Dial Books for Young Readers
Penguin Young Readers group, einem Imprint von Penguin Random House, LLC, New York. Text © 2017 by Michelle Cuevas. Innenillustrationen © 2017 by Michelle Cuevas.
Published by Arrangement with Michelle Cuevas
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2020 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Coverillustration und Vorsatz: Anton Riedel
Lettering: Anne Siebeck
Covergestaltung: (unter Mitarbeit von MT-Vreden), Coverabbildung und Vorsatz: Anton Riedel
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0318-2
Für Eddie, in Liebe
*
Mit Gummistiefeln und Taschenlampe bewaffnet, machte ich mich auf den Weg nach draußen.
Ist bestimmt nur eine Katze oder ein streunender Hund, sagte ich mir, während ich durch den Garten und durch den Regen schlich.
»Mietzi, Mietzi, ja komm«, lockte ich, als ich näher herankam. »Bitte sei kein Stinkie-Stinktier.«
Ich bewegte mich langsam und vorsichtig und versuchte, das fremde Wesen zu erkennen. Doch als meine Taschenlampe das Innere der Kiste erhellte, war das, was ich sah, weder ein Kätzchen noch ein kleiner Welpe. Es war aber auch kein Stinktier. Es war einfach nur … Dunkel.
Diese Geschichte beginnt an einem Nachmittag in der Farbe von Kometen und mit einem Mädchen, das ganz in Schwarz gekleidet ist. Einem traurigen Mädchen. Einem Mädchen mit einem Loch im Herzen und Dunkel am Horizont.
Das Mädchen war natürlich ich.
»Ich heiße Stella Rodriguez«, erklärte ich dem Pförtner am Eingang zur NASA. »Ich bin elf Jahre alt. Und ich bin hier, weil ich mit Carl Sagan sprechen will.«
Es war schon spät, fast dunkel, und ich war allein. Mom und du hättet das bestimmt nicht gut gefunden.
Der Pförtner schaute hoch, als wenn er eine nervige Mücke gehört hätte, entschied, dass er sie sich nur eingebildet hatte, und senkte den Kopf wieder in seine Zeitschrift.
»Genau genommen«, versuchte ich es noch einmal, »bin ich Carl Sagans Ururururenkelin und gekommen, um ihm zu sagen, dass wir in der Zukunft Zeitreisen erfunden haben.«
»Bitte geh«, sagte der Pförtner.
»Aber ich hab einen Termin …«
»Nein«, sagte der Pförtner, »einen Termin hast du ganz sicher nicht …«
»Gut, okay, mag sein!«, antwortete ich ein bisschen zu laut. »Aber wenn Sie die Chaostheorie oder den Schmetterlingseffekt in Betracht ziehen, wird die alleinige Vorstellung von Langzeitprognosen – zum Beispiel eines Termins – eine absurde Unmöglichkeit. Zeit –«
Doch ehe ich mit meinem Versuch, wissenschaftlich zu klingen, fortfahren konnte, ging ein ohrenbetäubender Alarm los. Lichter blitzten auf, und ich hörte aus dem Innern des Gebäudes Rufe.
»Okay«, sagte ich und hob die Hände. »Kein Stress. Ich gehe freiwillig. Kein Grund, den Alarm auszulösen. Als Bücherwurm hat man es schwer im Gefängnis!«
Doch der Pförtner beachtete mich überhaupt nicht. Er griff nach dem Telefonhörer und brüllte etwas hinein von wegen »Code Rot« und »Protokoll«, und ehe ich begriff, was los war, lief er schon in das Gebäude und ließ das Tor weit offen zurück.
Ich wünschte, ich wäre so jemand, der sich während einer Molekularroboter-Alien-Invasions-Explosion in die NASA einschmuggelt. Aber du weißt ganz genau, so jemand bin ich nicht. Nicht einmal annähernd. Ich bin eher der Hühnerflatter-Zitterquallen-Angsthasen-Typ.
Also ging ich. Ich ging, ohne Carl Sagan zu treffen oder ihm das wichtige Paket zu übergeben, wegen dem ich gekommen war. Zeit war von äußerster Wichtigkeit, da der Start der Voyager-Sonde in wenigen Monaten – am 20. August 1977 – bevorstand.
Dem Alarm bei der NASA aus dem Weg gehend, lief ich zur Bushaltestelle und wartete. Es war dieser letzte Moment der Dämmerung, in dem es noch ganz leicht hell ist, und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl. So als wenn du in einem Zimmer einen Windhauch an den Knöcheln spürst, obwohl alle Fenster und Türen geschlossen sind. Als wenn du sicher bist, im Mond ein Gesicht zu erkennen, und es dich anstarrt. Als wenn du die bist, die beim Verstecken die anderen suchen muss, und ganz genau weißt, dass du durch ein geheimes Schlüsselloch beobachtet wirst. Ich ließ meinen Blick hin und her schweifen, schaute ins Gebüsch und hoch in die Bäume. Doch ich sah nirgends etwas, außer dem Rest der Dämmerung.
Und deshalb war ich verständlicherweise erleichtert, als endlich der Bus um die Ecke bog. Das heißt, nur bis ich einstieg, denn drinnen wurde alles noch seltsamer, wenn das überhaupt möglich war.
»Mein Portemonnaie!«, schrie eine Geschäftsfrau. »Jemand hat mir mein Portemonnaie geklaut!«
Alle suchten mit ihren Blicken den Bus nach einer zwielichtig wirkenden Gestalt ab.
»Und wo ist mein Toupet?«, fragte ein älterer Mann.
Das ging drei Haltestellen so weiter. Rufe von wegen Wo ist mein Abendessen? Und Wer hat meinen Frosch geklaut? Um aus dem Bus zu kommen, musste ich über all die Leute klettern, die auf Händen und Knien unter ihren Sitzen nach irgendwas suchten; es war ein regelrechter Hindernislauf.
Die Haltestelle war nur fünf Minuten von zu Hause entfernt, doch der Weg kam mir kilometerweit vor. Was war nur los? Die Dämmerung hatte sich in absolute Finsternis verwandelt, was nicht lustig war, da mich inzwischen das totale Gruseln, das große Zitterflatter-Fieber und ein Anflug von Horror-Panik erfasst hatten. Ich habe keine Angst vor Dunkelheit – das weißt du genau von den vielen Malen, die wir zusammen die Sterne beobachtet haben –, doch sobald ich loslief, hatte ich überall an Armen und Beinen Gänsehaut, und der Schauer stieg mir bis in den Nacken. Ich hatte so eine heftige Panikattacke, dass ich bestimmt selbst auf den Augen Gänsehaut kriegte, was, nebenbei gesagt, nicht gerade hilfreich war, weil sich die Finsternis in Minutenschnelle von Fast-dunkel-draußen zu Pechschwarz-wie-am-Boden-einer-Tasche verändert hatte.
Ich schaute von einer Seite zur andern.
»Wer ist da?«, fragte ich. Keine Antwort. Hat jemals in einem Gruselfilm irgendwer auf diese Frage geantwortet: Oh, schön, dass du fragst. Ich bin’s, der Mörder mit der Axt. Verdammt! Das sollte doch eine Überraschung sein …
Also tat ich, was wohl jeder in meiner Lage getan hätte. Ich rannte los. Blitzschnell. Ich rannte durch eine Finsternis so schwarz wie der Dreck, der durchs Abflussrohr spült. Ich jagte durch ein Schwarz wie im Innern eines Wals. Ich hörte keine Schritte oder Zweige, die hinter mir knackten, doch das Gefühl wurde immer stärker: Jemand lauerte genau in meinem Augenwinkel. Ich wurde beobachtet. Ich wurde verfolgt.
Doch von wem?
Oder noch schlimmer … von was?
»WO WARST DU? DU SOLLTEST DOCH AUF MICH AUFPASSEN, BIS MOM WIEDER DA IST. ICH HÄTTE UHU-KLEBER ODER SONST WAS VERSCHLUCKEN KÖNNEN!«
Die kreischende Stimme gehörte natürlich Cosmo. Passender Name, wenn man bedenkt, was für ein verpeilter fünfjähriger Weltraumknilch mein Bruder ist.
»Psst!«, sagte ich. »Hilf mir lieber, die Schotten dicht zu machen und das Grundstück zu sichern.«
Ich eilte umher, schloss alle Rollläden und schaltete sämtliche Lichter aus. Ich spähte durch einen Spalt im Vorhang des vorderen Zimmers. Es hatte angefangen zu regnen, und es war schwer zu erkennen, was für ein Monster mir auf dem Heimweg gefolgt war.
»Das ist lustig«, flüsterte eine Stimme in meinem Rücken. »Was spielen wir denn?«
Ich schaute zu Cosmo herab. Er umklammerte vor Aufregung seine Hände.
»Hast du Uhu-Kleber verschluckt?«
»Nein«, antwortete er kleinlaut.
»Gut«, sagte ich, »sehr vernünftig. Komm, ich mach uns was zu essen.«
Nachdem wir in weitgehender Dunkelheit eine mit Angst gewürzte Tomatensuppe und ein paar ebenso damit garnierte überbackene Käse-Sandwiches gegessen hatten, erklärte ich Cosmo, ich würde jetzt Hausaufgaben machen. Doch in Wirklichkeit brauchte ich einfach ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Oben in meinem Zimmer zog ich den flauschigen blauen Bademantel mit den vielen Sternen drauf an und starrte aus dem Fenster. Ich versuchte, den Vorgarten besser zu erkennen. Ich wollte das Fernrohr nehmen, doch es machte mich nur traurig. Ganz besonders traurig. Noch trauriger als mein täglicher Dauernebel. Es war unser Vater-Tochter-Ding gewesen, nur du und ich, aber jetzt bist du fort, und im Garten sind Monster, und alles läuft schief.
Ich hing, tief in mich zusammengesackt, mit dem Kinn auf dem Fensterbrett. Ein Regentropfen glitt am Glas hinab wie eine winzige Sternschnuppe.
»Ich wünsche mir«, sagte ich und schloss die Augen, »ich könnte alles Schlimme einfach … verschwinden lassen.«
Als ich die Augen wieder aufschlug, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf irgendwas draußen, nur für einen kurzen Moment, ehe es in dem Pappkarton verschwand, der neben den Mülleimern am Bordstein lag.
»Hä?«, fragte ich. Ich benutzte die Hand, um die beschlagene Scheibe freizuwischen. Ja, da saß wirklich etwas in dem Karton, etwas Kleines, Dunkles, das zitterte. Ein Kätzchen, überlegte ich und versuchte mir einzureden, ich hätte Schnurrhaare aufblitzen und einen Schwanz zucken sehen.
Mit Gummistiefeln und Taschenlampe bewaffnet machte ich mich auf den Weg hinaus. Zum Glück war Cosmo in sein Zimmer gegangen und nervte mich nicht.
Ist bestimmt nur eine Katze oder ein streunender Hund, sagte ich mir, während ich durch den Garten und durch den Regen schlich.
»Mietzi, Mietzi, ja komm«, sagte ich, als ich näher herankam. »Bitte sei kein Stinkie-Stinktier.«
Ich bewegte mich langsam und vorsichtig und versuchte, das fremde Wesen zu erkennen. Doch als meine Taschenlampe das Innere des Kartons erhellte, war das, was ich sah, weder ein Kätzchen noch ein kleiner Welpe. Es war aber auch kein Stinktier. Es war einfach nur … Dunkel.
Ich taumelte von dem Karton zurück, stolperte über den Bordstein und ließ die Taschenlampe fallen. Nachdem ich sie endlich wiedergefunden hatte, zitterten meine Hände, als ich den Strahl auf das richtete, was ich glaubte, gesehen zu haben. Das Etwas im Innern war weg. Ich schwenkte das Licht wie wild hin und her und fand schließlich das Ding, das immer näher auf mich zukroch. Es schien weder Arme noch Beine zu haben, sondern war ein Klecks Dunkel, nicht größer als ein Kaninchen – aber kein gewöhnliches Dunkel, nein. Das da war eine Finsternis wie die im Innern eines alten zugeschlagenen Buchs – nur dass es zwei Augen hatte. Augen, die schimmerten und in ihrem Innern winzige Galaxien zu haben schienen.
»Huch!«, schrie ich und zeigte auf das Etwas. Als Reaktion schaute das Etwas hinter sich, um zu sehen, was mich so erschreckt hatte.
»Bleib weg!«, sagte ich. Doch jedes Mal, wenn ich einen Schritt rückwärts machte, kroch das Wesen ein bisschen weiter auf mich zu. Ganz ehrlich, so wie sich das Ding bewegte und wie es schaute, bekam ich ein absolut verrücktes Gefühl: Es will, dass ich es streichle.
Aber ich bin doch nicht irre. Statt es zu streicheln, warf ich mit meiner Taschenlampe nach dem Etwas, in der Hoffnung, es würde weglaufen. Doch zu meinem Entsetzen traf die Taschenlampe das Etwas nicht, sondern verschwand vollständig in seinem Innern. Im einen Moment war die Lampe noch da, im nächsten war sie verschwunden. Einfach spurlos verschluckt.
»Was in aller Welt …?«, fragte ich.
Und dann stieß das Wesen im schwachen Schein der Straßenlaterne völlig ungeniert einen … lichtdurchfluteten Rülpser aus.
Du fragst dich wahrscheinlich, was ich tat, nachdem das Wesen aus dem Pappkarton meine Taschenlampe verschluckt hatte, oder? Bin ich weggelaufen? Hab ich die Polizei gerufen? Das Militär? Bin ich ohnmächtig geworden?
Also, ich habe das getan, wovon ich glaubte, du würdest es in so einem Augenblick tun. Ich bat das Etwas ins Haus, ins Trockene.
»Das hier ist also mein Zimmer«, erklärte ich. »Ist zwar klein, aber mein eigenes Reich.«
Bisher hatte ich das Wesen noch nicht berührt. Sobald ich mich auf den Weg Richtung Haus gemacht hatte, war es mir irgendwie einfach gefolgt. Es schien nicht gefährlich zu sein, aber andererseits: Woher wollte ich das wissen? Vielleicht lullte es mich ja mit seinen großen bedürftigen Blicken in ein Gefühl von Sicherheit, um mich dann blitzschnell zu fressen.
Das Etwas hatte angefangen, Dinge aus meinem Zimmer zu verschlingen – nichts Wichtiges, bloß Wollmäuse und ein paar von Cosmos nicht zu identifizierenden »Kunstwerken«, die er für mich gemalt hatte. Ich kippte ein Glas mit Cent-Stücken aus und verteilte sie, um das Etwas ein Weilchen zu beschäftigen, während ich eine Liste schrieb.
Dinge, die ich über das Etwas weiß
Sehr, sehr dunkel
Keine Hände oder Beine, bloß ein Klecks
Hat Augen, glaub ich zumindest
Die Augen sehen aus wie kleine Galaxien
Schluckt Verschlingt Lässt alles verschwinden, was es will
Frisst gern Taschenlampen, Staub, schlecht gemachte Kunst, Cent-Stücke
Gutmütig (bis jetzt)
Scheint berührt werden zu wollen???
Mein erster Gedanke war: Es ist ein Außerirdischer. Ein extraterrestrisches Wesen, das der NASA entkommen und mir gefolgt ist. Doch nach allem, was ich über Außerirdische wusste, waren sie für gewöhnlich grün, hatten Arme und Beine und wollten nicht wie ein Hündchen gestreichelt werden.
Ich deutete auf ein Poster an der Wand, das die Milchstraße zeigte.
»Kommst du da her?«, fragte ich. »Aus dem Weltall?«
Das Wesen schien die Galaxie nicht als seine Heimat zu erkennen. Oder es interessierte sich einfach wesentlich mehr dafür, meine linken Schuhe einen nach dem andern zu verspeisen.
Ich wühlte und wühlte mich durch meine sämtlichen Naturkundebücher auf der Suche nach irgendetwas, das diesem Wesen ähnlich sah. Und schließlich fand ich das hier in einem Buch über theoretische Astronomie:
Schwarze Löcher entstehen, wenn ein massereicher Stern stirbt und in sich zusammenbricht. Sie besitzen eine hohe Dichte und daher eine extrem starke Anziehungskraft. Es kann ihnen praktisch nichts entkommen. Selbst Licht wird von einem schwarzen Loch eingefangen.
Ein schwarzes Loch ist ein dunkles Gravitationszentrum, das alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt.
War das die Antwort?
Bin ich, so fragte ich mich, die stolze Besitzerin eines zugelaufenen schwarzen Lochs?
Ich hatte nicht viel Zeit, mir über diese Vorstellung Gedanken zu machen. Unten klimperten Schlüssel in der Haustür, und dann schallte Moms Stimme die Treppe herauf.
»Mücke? Tut mir leid, dass ich erst so spät zurück bin. Wo steckst du?«