David Almond
Ein finsterheller Tag
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
FISCHER E-Books
David Almond ist einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren für Kinder- und Jugendliteratur und vielfach preisgekrönt. Er wurde unter anderem mit der Carnegie Medal (1998), dem Hans Christian Andersen-Preis (2010) und dem Guardian Children's Fiction Prize (2015) ausgezeichnet.
Alexandra Ernst, geboren 1965, studierte Literaturwissenschaft und war als Presse- und Werbeleiterin in einem Verlag tätig. Seit 2000 arbeitet sie als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin von historischen Romanen, Fantasy und Jugendliteratur. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Alexandra Ernst lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Mainz.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
An einem heißen Sommermorgen verlässt Davie sein Zuhause, nicht ahnend, dass dieser Tag alles verändern wird.
Ein Junge wurde getötet, und Davie glaubt zu wissen, wer der Mörder ist. Auf der Suche nach ihm verschmelzen Realität und Phantasie, und bald merkt Davie, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.
Ein herausragender Roman voller Wärme und Licht von einem vielfach preisgekrönten Autor.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Colour of the Sun« bei Hodder Children's Books, London
Text Copyright © David Almond, 2018
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von David Litchfield
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5138-1
Für Julia
Der Tag, an dem Jimmy Killen stirbt und wieder zum Leben erwacht, ist ein ganz normaler Sommertag, mitten in den Ferien. Einer von diesen Tagen, an denen es so scheint, als würde die Zeit stillstehen, an denen man das Gefühl hat, dass es überhaupt nichts zu tun gibt. Davie liegt in seinem Bett, in dem Schatten hinter den zugezogenen Vorhängen, als alles anfängt. Er hat den ganzen Tag vor sich, aber er will liegen bleiben. Er will älter sein, dann hätte er vielleicht schon eine Freundin oder könnte mit den Jungs einen trinken gehen. Er will jünger sein und herumrennen und schreien wie ein Irrer.
Von unten ruft seine Mam nach ihm.
»Davie! Raus in die Sonne, Junge!«
Er späht durch die Vorhänge, wird vom Licht geblendet. Als er sich wieder dem Raum zuwendet, kann er nichts sehen. Er reibt sich die Augen, bis sein Sehvermögen zurückkehrt, und dann sieht er alles mit neuem Blick.
»Davie!«
»Ja, Mam!«
Er kramt ein paar alte Spielsachen hervor. Die Tiermasken hängen schon so lange an der Innenseite seiner Schranktür, dass er sie beinahe vergessen hat. Seit er vier oder fünf war, sammelt sich nur noch Staub auf ihnen. Ein Gorilla, ein Tiger, ein Pferd, ein Fuchs. Der Fuchs war immer am besten. Früher ist Davie mit diesen Masken immer kreischend aus Ecken hervorgesprungen, um seine Eltern zu erschrecken. Er tut es jetzt wieder, allein in seinem schummerigen Zimmer. Er schaut durch die Fuchsaugen und hebt die Krallenpfoten, er knurrt und stellt sich vor, er würde ein Massaker in einem Hühnerstall anrichten.
»Davie! Was zum Donner treibst du da oben?«
Er lacht und reißt sich die Maske vom Gesicht. Er lacht noch einmal, als er das Plastikgeweih an der Innenseite der Tür entdeckt. Wie konnte er das nur vergessen? Er setzt sich das Geweih auf den Kopf. Dann schreitet er langsam durch das Zimmer und hält Ausschau nach Raubtieren. Er ruckt mit dem Kopf und schüttelt das Geweih. Er springt und tänzelt still, und es dauert nicht lange, da fühlt sich das Geweih echt an. Das Zimmer wird zu einem Wald. Er verliert sich in dem alten Spiel, in dem er ein Junge ist, der ein Tier ist.
Er hält inne. Und er fragt sich, warum er das tut.
Vielleicht ist es Zeit, dieses ganze kindische Zeug wegzuwerfen.
Wieder ruft Mam von unten.
»Davie!«
»Aye!«, ruft er zurück. »Ich komme, Mam!«
Aber er wühlt weiter. Er findet ein paar uralte Buntstifte aus der Zeit, als er fünf oder sechs war, und einen alten Zeichenblock mit einem verblassten grünen Einband und spröden Blättern. Er schlägt ihn auf und erblickt Dinge, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat: gekritzelte Bilder von dunklen Monstern und schlüpfrigen Schlangen. Strichmännchen von seiner Mam und seinem Dad, Bilder von ihrem Haus, ein krakeliger, wunderschöner schwarzbrauner Hund, den sie früher hatten, mit Namen Stew. Ein ganzes Blatt mit Bildern von ihm selbst. Ein Bild von einem Baby mit schiefer Schrift daneben: Davie als Bayby. Ein Bild von einem uralten Mann mit einem Bart: Davie wen er alt ist. Und da der Anfang einer uralten Geschichte, die nicht über die ersten beiden Sätze hinausgeht: Es war einmal ein Junge nahmens Davie und er wolte ein Abenteuer. Also machde er sich ein pahr Brohte und nam sein Messer und ging in die Dunkellheid. Die Enden der Buntstifte sind angekaut, und er kaut wieder darauf herum, und er denkt, wie komisch es ist, dass er sich jetzt selbst schmeckt, wie er damals war.
»Davie!«
Da liegt ein alter grauer Militärrucksack, den ihm sein Vater vor ein paar Jahren geschenkt hat. Davie hat ihn oft aufgesetzt, ist damit durch das Haus marschiert und hat mit einer unsichtbaren Waffe auf der Schulter salutiert. Er steckt die Fuchsmaske, das Geweih, die Buntstifte und den Zeichenblock in den Rucksack, wirft ihn über seine Schulter und geht nach unten.
Mam ist in der rotglühenden Küche. Sie backt Bara Brith und Zitronenbaiser-Torte, ganz wunderbare Dinge. Es riecht nach Zitronen, Rosinen und warmem, hefigem Teig. Davie läuft das Wasser im Mund zusammen, während er sich diese Köstlichkeiten vorstellt.
Sie steht mit verschränkten Armen da. Ihre rot-weiße Schürze ist an einigen Stellen mit Mehl bepudert, wie kleine Schneeverwehungen. Das Lieblingsbild von Dad, die Sonnenblumen, glänzt hell an der Wand hinter ihr. Sonnenlicht strömt in das Zimmer.
»Das wird aber auch Zeit!«, sagt sie. »Jetzt iss dein Frühstück, und dann ab mit dir.«
Sie deutet auf einen Stuhl am Tisch, wo eine Schale mit Cornflakes steht, Toast und ein Glas Orangensaft. Sie summt vor sich hin, breitet die Arme aus und trippelt einen kleinen Tanz. Sie lächelt und seufzt, während er isst und trinkt.
»Und jetzt raus mit dir in die Welt«, sagt sie.
»Was für eine Welt?«
»Die wunderbare Welt draußen vor der Tür.«
Er grinst.
»Da war ich schon, Mam. Ich habe schon alles gesehen.«
Sie grinst ebenfalls.
»Das kann schon sein«, sagt sie. »Aber heute warst du noch nicht da draußen, du hast die Welt nicht im Licht des heutigen Tages gesehen.«
»Und was, wenn da draußen ein irrer Axtmörder sein Unwesen treibt?«
Sie tippt sich gegen die Wange und denkt nach.
»Das ist eine gute Frage«, sagt sie. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Tja, das Risiko musst du wohl eingehen.«
Sie lacht über den Rucksack. Sie fragt, was drin ist, und er sagt es ihr.
»Diese alten Sachen!«, sagt sie. »Die hast du früher so geliebt!«
Sie lächelt, als sie einen Augenblick lang in die Vergangenheit schaut.
Dann schiebt sie ihm ein kleines Päckchen in die Hand. Es ist ein Stück warmes Bara Brith, eingewickelt in Wachspapier.
»Da ist Butter drauf«, sagt sie. »Und es ist auch ein Stück Cheshire-Käse dabei. Ist das nicht lecker? Steck es ganz unten in den Rucksack, damit du nicht in Versuchung kommst, es gleich zu essen.«
Das tut er.
Sie nimmt seinen Kopf sanft in ihre Hände und küsst ihn aufs Haar. Dann pustet sie die Mehlkrümel weg, die in seinen Strähnen kleben. Schließlich legt sie ihre Hand auf seinen Rücken und schiebt ihn zur Tür.
»Geh schon«, sagt sie. »Zum Rumsitzen hast du noch Zeit, wenn du so alt bist wie ich.«
»So alt werde ich nie.«
»Das freut mich zu hören«, flüstert sie.
Wieder küsst sie ihn.
»Und jetzt, mein Davie, raus mit dir. Lass dir Zeit. Der Tag ist lang, die Welt ist groß, und du bist jung und frei.«
Und er tritt hinaus und beginnt seine Wanderung.
Soll er nach oben oder nach unten gehen? Er wirft eine Münze. Nach unten. Er geht nicht weit, nur bis ins Zentrum der kleinen Stadt, in der er seit seiner Geburt lebt, der Ort, an dem ihm alles so vertraut ist.
Er setzt sich auf den grauen Asphalt gegenüber den Häusern in der Ethel Terrace, mit dem Rücken gegen die Mauer des Columba Clubs. Da ist es ziemlich sauber. Keine Hundekacke, keine Zigarettenkippen, nur ein bisschen Staub und kleine Schieferscheiben, die offenbar vom Dach abgesplittert sind. Nichts rührt sich. Seine Laune sinkt. Er hat dieses Gefühl, das er manchmal bekommt, dass diese Stadt eine Sackgasse ist, dass hier nie etwas passiert, sich nie etwas ändert. Dass er diesen Ort hasst. Manchmal möchte er einfach weggehen, immer weiter und weiter und alles hinter sich lassen. Aber er weiß, dass er dazu noch zu jung ist, und außerdem hätte er heute sowieso nicht die Energie dazu. Irgendwie gibt es heute überhaupt nichts, was er tun will.
Also bleibt er einfach da im Staub sitzen.
Er denkt an Elisabeth McErlane, die er gestern Abend in der Stadt gesehen hat. Sie fragte ihn, ob er mit ihr zum Holly Hill Park gehen wolle, aber er lehnte ab. Sie fragte ihn, ob er sie noch alle hätte. Die meisten Jungs, meinte sie, wären total scharf drauf, mit ihr in den Holly Hill Park zu gehen.
»Du bist echt ein Jammerlappen«, sagte sie. »Es sieht immer so aus, als würdest du gleich anfangen zu heulen, selbst wenn dir ein Mädchen schöne Augen macht.«
Er weiß, dass sie recht hat, aber er findet, dass sie schon ein bisschen Mitgefühl haben könnte. Schließlich ist nicht sie diejenige, die erst vor ein paar Wochen ihren Vater verloren hat. Wie würde sie sich an seiner Stelle fühlen?
Er schiebt sie aus seinen Gedanken. Wenn er ehrlich ist, kümmert es ihn nicht sonderlich. Er findet Fußball immer noch spannender als Mädchen. Er versucht es hin und wieder, wie alle anderen Jungs, und manchmal gefällt es ihm, wie allen Jungs, aber ein Kuss kann nie solche Glücksgefühle auslösen wie ein perfekter Kopfball oder ein Schuss von der Mittellinie ins Tor. Er muss aber zugeben, dass Elisabeth sehr hübsch ist, und die Träume, die er von ihr hat, sind ziemlich toll.
Er sitzt in der prallen Sonne. Die Mauer hinter ihm erwärmt sich allmählich. Es ist kaum eine Menschenseele zu sehen. Kein Lüftchen regt sich. Irgendwo weit entfernt singt jemand, und dazu erklingt eine Fiedel. Während Davie lauscht, holt er seinen Zeichenblock und die Buntstifte aus dem Rucksack. Er malt, was er sieht: die dunkle Straße, den grauen Bürgersteig, die Stahlzäune und Steinmauern. Alles ist so farblos, so still, so leer. So öde. Eine Krähe flattert über ihn hinweg und landet auf einem Dach. Er malt den Vogel, diesen wunderbaren, stromlinienförmigen kohlschwarzen Leib. Die Krähe bleibt ein paar Augenblicke sitzen, dann kraaht sie und erhebt sich in die Luft. Die schwarze Silhouette fliegt hoch hinauf in das endlose Blau. Er malt den Flug der Krähe als schwarze Linie, die verblasst, je näher sie dem Rand des Blatts kommt. Dann schließt er seine Augen, hebt die Arme und breitet sie weit aus. Er lacht über sich selbst. Er sieht sich als Jesus am Kreuz in der Kirche hängen, voller Schmerz und Qual. Dann ändert er das, was er sieht und fühlt, und das Gefühl wird besser; es ist das alte Gefühl, das er schon als kleiner Junge hatte: Seine Arme werden zu Flügeln. Er streckt sie weit nach außen, wird zu einem Vogel, steigt auf von diesem trockenen und staubigen Ort und jagt davon in die sonnendurchflutete Ferne.
»Fliegst du weit?«, fragt jemand.
Davie kommt wieder auf die Erde und schlägt die Augen auf. Es ist Wilf Pew aus der Wellington Street. Er steht nur ein paar Schritte von ihm entfernt.
»Fliegst du weit, hab ich gefragt«, sagt Wilf.
Wilf hat wie immer seinen langen grauen Mantel an, trotz der Hitze. Vielleicht denkt er, dass er darunter seine Beinprothese verstecken kann. Das funktioniert aber nicht. Alle wissen es und keinen kümmert’s. Warum auch?
»Hast du deine Zunge verschluckt?«, fragt Wilf.
»Nein«, sagt Davie.
»Gut.«
Wilf holt eine längliche Packung mit Fruchtgummis aus seiner Tasche und hält sie Davie hin. Auf dem orangenen Gummi ganz oben klebt ein grauer Flaum.
»Nein danke«, sagt Davie.
Wilf schüttelt enttäuscht den Kopf.
»Die Jugend von heute«, sagt er. »Man soll nie ein Geschenk ablehnen, weißt du? Was ist bloß aus euch geworden?«
Er hält den orangenen Fruchtgummi in die Sonne, dann steckt er ihn in den Mund, kaut und grinst.
»Verteufelt lecker!«, sagt er. »Absolut verteufelt lecker!«
Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Na ja«, sagt er, »was soll’s. Wie ist dein Plan?«
»Mein Plan?«
»Aye, dein Plan. Was hast du vor? Wohin gehst du? Wie willst du dir einen Namen machen?«
Davie seufzt, sitzt da und sagt nichts.
»Guck dich bloß an«, sagt Wilf. »Sitzt da mit einem ellenlangen Gesicht.«
Er beugt sich zu dem Jungen und reißt die Augen auf.
»Vielleicht passiert’s nie, weißte?«, sagt Wilf.
Davie stöhnt. Warum sagen Leute so was? Was soll man auf so einen bescheuerten Spruch antworten?
Dann runzelt Wilf die Stirn, bückt sich und schlägt sich fest auf den Oberschenkel seines falschen Beins.
»Verdammtes Ding!«, sagt er. »Ohne wäre ich besser dran, oder was meinst du?«
Davie sagt nichts.
»Die Antwort lautet: Ja, wäre ich!«, fährt Wilf auf. »Eines Tages reiße ich es ab und werfe es weg, und dann bin ich frei!«
Damit humpelt er davon. Er schimmert irgendwie in der Hitze. Dann bleibt er stehen und dreht sich noch einmal kurz um.
»Ich weiß, dass du’s nicht leicht hast«, sagt er. »Aber anderen geht’s noch viel schlechter als dir.«
Er schlägt den Mantel zur Seite und zeigt seine Beine.
»Die Welt ist voller Wunder!«, schreit er. »Und manche schlurfen durchs Leben mit den Augen im Straßenstaub, als ob sie sich von morgens bis abends langweilen würden!«
Er geht weiter, dreht sich aber noch einmal um.
»Schau dich um!«, sagt er. »Du solltest tanzen und dir die Lunge aus dem Leib singen über die Herrlichkeit der Welt!«
Er kramt in seiner Tasche, holt die Fruchtgummis wieder heraus und wirft Davie einen zu. Er kullert über den Bürgersteig und bleibt neben Davies Bein liegen.
»Iss ihn!«, sagt Wilf. »Wird dir guttun!«
Dann dreht er sich abrupt auf seinem falschen Bein um, so dass sein langer grauer Mantel wirbelt. Er zuckt zusammen und stöhnt vor Schmerz, dann kichert er über sich selbst, wendet sein Gesicht dem Himmel zu und singt ein seltsames, wortloses, glückliches Lied.
Noch einmal ruft er etwas.
»Es wird eine Zeit kommen, da musst du diesen herrlichen Ort verlassen.«
Und dann, endlich, ist er weg.
Davie hebt den Fruchtgummi auf. Er ist gelb. Er reibt den Staub und den grauen Flaum ab. Wilf Pew. Als Davie noch klein war, hatte er Angst vor dem Mann, der immer von einem Ende der Stadt zum anderen humpelte. Aber Davies Mam hat ihm erklärt, dass Wilf harmlos sei. Sie sagte, dass er irgendwann einmal im Sommer bis nach Edinburgh und zurück gelaufen sei, nur um zu beweisen, dass er es kann. Er ist ein unerschrockener, tapferer Mann, sagte sie zu Davie. Und er habe einiges durchmachen müssen. Durchmachen?, fragte Davie. Aye, er hatte mal ein Mädchen und wollte sie heiraten, aber sie ist gestorben, viel zu jung.
Davie leckt an dem Fruchtgummi. Er isst ihn. Während er sich köstlich auf seiner Zunge auflöst, schließt er die Augen und lässt sich von der Sonne bescheinen. Was für ein Sommer das geworden ist. Er hört ein paar Kinder im Park lachen. Er sieht die hübsche Elisabeth. Er sieht seinen Vater auf dem Sofa zu Hause sitzen, geschrumpft und kaputt und nach Atem ringend. Er sieht andere Dinge, die er nicht sehen will. Warum tauchen sie immer wieder ungebeten auf? Warum kann er seine Gedanken nicht vor ihnen verschließen? Was bedeutet es, wenn sein Geist von einem Bild zum anderen gleitet, auch zu jenen Bildern, die ganz und gar schrecklich sind?
Dann fühlt er etwas Heißes, Nasses auf seinen Händen. Es ist eine Hundezunge, die ihn leckt. Davie keucht auf. Einen Moment lang denkt er, dass es der schwarzbraune Hund namens Stew ist, aber das stimmt natürlich nicht. Der Hund ist zwar schwarzbraun, aber die Zeichnung des Fells ist anders, und dieser Hund ist auch viel größer. Er hechelt und grunzt und seine Zunge ist ekelhaft heiß und nass. Davie versucht, ihn wegzudrücken, aber er rührt sich nicht, also steht Davie auf und schiebt mit dem Fuß. Der Hund knurrt und fletscht die Zähne, und er sieht so aus, als wollte er sich auf Davie stürzen, aber dann dreht er sich um und trottet davon.
Davie weiß nicht, ob er sich wieder hinsetzen oder ein Stück weitergehen soll. Er überlegt, ob er eine Münze werfen soll, lässt es aber sein. Er schaut sich um und sucht nach etwas Farbigem, das er malen könnte, als plötzlich jemand neben ihm auftaucht. Es ist sein Freund, Gosh Todd. Er stellt sich Schulter an Schulter mit Davie, schaut nach rechts und links die Straße entlang, als ob jemand sie beobachten oder belauschen würde, und beugt sich dann zu Davie.
»Ich habe eine Leiche gesehen, Davie«, flüstert er.
»Häh?«
»Eine Leiche.«
»Was für eine Leiche?«
»Na, einen Toten, Davie. Willst du ihn auch sehen?«
»Er liegt im Schutt«, sagt Gosh. »Wo das alte Gemeindezentrum abgerissen wird.«
Er schaut Davie in die Augen, als ob er darauf warten würde, dass Davie etwas sagt, aber Davie weiß nicht, was er sagen soll.
»Bist du sicher, dass er tot ist?«, fragt er schließlich.
»Aye. Ich hab das Messer gesehen.«
»Das Messer?«
»Aye. Das, mit dem er umgebracht wurde. Da war Blut und alles, Davie.«
Davie versucht es mit Fluchen, weil er denkt, dass man so etwas in einer solchen Situation tun muss.
»Wer ist es?«, will Davie wissen.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Gosh. »Ich hab die Leiche gesehen und fast einen Herzanfall gekriegt. Ich hab mich nicht getraut, näher ranzugehen. Aber ich glaube, es ist Jimmy Killen.«
»Häh? Wieso Jimmy Killen?«
»Der Tote hatte dieselben knallengen Jeans an wie Jimmy Killen. Und das grünkarierte Levis-Hemd.«
Davie versucht wieder zu fluchen.
»Jimmy Killen«, flüsterte er.
»Aye. Und wenn es wirklich Jimmy Killen ist, dann ist der Mörder bestimmt Zorro Craig.«
Gosh nickt und grinst und macht große Augen.
»Aye«, fährt er fort. »Zorro Craig. Das ist doch offensichtlich, nicht wahr? Wer soll es sonst gewesen sein? So musste das Ganze ja enden.«
»Musste es?«
»Aye. Du weißt doch, wie sie waren. Du weißt doch, dass sie sich gehasst haben, wie alle Craigs die Killens hassen und alle Killens die Craigs.«
»Ich dachte, das wäre längst vorbei.«
»Vielleicht isses nicht so einfach. Und die beiden waren doch die schlimmsten von allen, richtig? Wie die Tiere.«
Gosh hat recht mit den Killens und den Craigs. Das geht schon seit Jahren so, seit Davies Dad ein kleiner Junge war. Sein Dad hat das nie verstanden. Davie versteht es auch nicht. Wie kommt es, dass sich zwei Familien derartig in so etwas reinsteigern? Haben Sie es nicht allmählich satt, sich gegenseitig zu hassen? Aber konnte es wirklich dazu kommen? Ein Mord? Ist Zorro Craig wirklich ein Mörder? Klar, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber das?
»Also«, sagt Gosh, »ich renne zur Polizei und erzähl’s dem Wachtmeister dort. Er fragt, ob ich mir sicher bin und mir die Sache nicht bloß eingebildet habe. Als ob er denkt, dass so was hier gar nicht passieren kann, oder vielleicht auch, dass Gosh Todd alles erzählen würde, um die Leute an einem verschlafenen, sonnigen Morgen aufzuscheuchen. Aber trotzdem weiß er, dass er nachgucken muss, besonders, wenn es womöglich um die Craigs und die Killens geht. Also kommt er mit. Tja, und dann schickt er nach dem Arzt und dem Priester. Sie haben mir eingeschärft, dass ich niemand was sagen darf, aber jetzt hab ich’s dir gesagt. Willst du mitkommen und gucken?«
Davie zögert.
»Mach schon, Mann«, sagt Gosh. »Das ist erst eine halbe Stunde her. Vielleicht isser immer noch da.«
Davie zögert. Wie es wohl ist, einen Toten zu sehen? Noch dazu einen Toten, der ermordet wurde? Zorro Craig? Jeder weiß, dass er ein Monster ist. Aber würde er auch töten?
»Mach schon, Mann«, sagt Gosh. »So eine Chance kriegt man nicht jeden Tag.«