Die Internationale
des Rechtspopulismus
Ch. Links Verlag
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1. Auflage, Oktober 2019
entspricht der 1. Druckauflage von September 2019
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Aydemir) (v. l. n. r.)
Grafiken: Lena Ziyal/infotext-berlin.de
ISBN 978-3-96289-053-7
eISBN 978-3-86284-456-2
Vorwort
I. Parteien und Personen
Deutschland.
AfD: Von der Eurokritik zum Islamhass
Österreich.
FPÖ: Die Partei der deutschen »Burschen«
Ungarn.
Fidesz: Herrscher der »illiberalen Demokratie«
Italien.
Lega: Der Superstar aus dem reichen Norden
Frankreich.
Rassemblement National: Sturm auf den Élysée-Palast
Polen.
PiS: Mit dem Vorschlaghammer gegen den Rechtsstaat
Schweiz.
SVP: Scharfmacher im Sauberland
II. Programme
EU-Politik: Das Europa, das sie wollen
Medien: Der Propagandakrieg
Migration: Mit den Flüchtlingen zur Macht
Gender: Auf dem Kreuzzug
Wirtschaft und Soziales: Unser Geld für unsere Leute
Klimapolitik: Die Hitzköpfe
Russland: Liebesgrüße nach Moskau
Kulturpolitik: Vorhang zu für ’68
Zivilgesellschaft: Daumenschrauben für NGOs
Antisemitismus und Islamfeindlichkeit:
Der Feind meines Feindes
Nazi-Szene: Die braune Verwandtschaft
Verschwörungstheorien:
Die wundersame Welt des Rechtspopulismus
III. Perspektiven
EU-Parlament: Der mühsame Weg zum Rechtsblock
Nachwort: Die Gesellschaft der Vielen
Anhang
Anmerkungen
Das Recherchenetzwerk Europe’s Far Right
Dank
Personenregister
Der Kulturkampf ist da, ob es gefällt oder nicht. Klar wird das durch Äußerungen wie jene von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019: »Wir stehen vor einem großen Moment: Wir sagen ›Auf Wiedersehen‹ nicht nur zur liberalen Demokratie, sondern zur Elite der 1968er.« Der Chef der Lega-Partei in Italien, Matteo Salvini, erklärte diese Wahlen zum »Referendum zwischen Leben und Tod, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen einem Europa der Freiheit und einem islamischen Staat der Angst«.
Es geht hier nicht um das in einer Demokratie normale Wechselspiel der Macht, auch wenn die RechtspopulistInnen das behaupten. Es geht um die Ablösung unseres Gesellschaftsmodells. Wer an ihm festhält, wird zum Feind.
So schüren Europas rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien die Angst vor MigrantInnen und MuslimInnen, verteufeln die Eliten, beschwören Heimat und Familie und attackieren die EU frontal. Einig sind sie sich vor allem darin, dass sie eine liberale Gesellschaft ablehnen. Sie verachten Homosexuelle, gehen gegen die unabhängige Presse und gegen die Zivilgesellschaft vor, bekämpfen Frauenrechte, stellen Nationalismus gegen internationale Kooperation und Multilateralismus. Viele der Parteien halten Klimaschutz für überflüssig, die meisten suchen die Nähe zum autoritären Russland, manche sind Teil rechtsextremer Netzwerke.
Zweifellos sind die RechtspopulistInnen im Aufwind, und das fast flächendeckend. Sie streben eine Gesellschaft an, die viele ausschließt – und in der andere gar nicht erst leben wollen. Das Bild, das die Rechten abgeben, ist dabei heute oft diffus. Es zerfasert am Rand; die Übergänge zum Rechtsextremismus sind fließend. Gleichzeitig hat sich rechte Ideologie in der gesellschaftlichen Mitte ausgebreitet. RechtspopulistInnen stellen diese Uneindeutigkeit bewusst her – durch ihre Sprache, ihre Bündnisse, ihre soziale Basis. Sie verweisen auf ihre bürgerliche Seite, bilden aber ein Kontinuum, das vom enttäuschten Konservativen bis tief in die rechtsextreme Szene mit ihrem glühenden Hass gegen Eliten und Minderheiten reicht.
Europa ist den RechtspopulistInnen dabei negativer und positiver Bezugspunkt zugleich: Sie dämonisieren die EU als Angriff auf die nationale Souveränität – und bilden gleichzeitig auf europäischer Ebene Allianzen. Eine Internationale der NationalistInnen mag in der Vergangenheit selten gut funktioniert haben. Heute aber gibt es mehr als nur Parallelen unter den rechten Parteien Europas: Es gibt Synergien, Kooperationen, Koordination, Netzwerke. Am deutlichsten zeigt sich dies in dem kurz vor der Europawahl geschmiedeten Bündnis von neun rechten Parteien, das inzwischen als Fraktion unter dem Namen »Identität und Demokratie« firmiert.1 Eines ihrer wichtigsten Ziele: Brüssel möglichst weitgehend zu entmachten und die Nationalstaaten zu stärken. Ihr eigener Anspruch, stärkste Kraft in Brüssel und Straßburg zu werden, scheiterte zwar am Wahlergebnis. Und auch eine starke Fraktion im europäischen Parlament wird bis auf Weiteres ein Wunschtraum bleiben. Zu groß sind die Unterschiede und Interessen selbst da, wo das gemeinsame Feindbild steht.
Legt man die Aufteilung der vergangenen Legislaturperiode zugrunde, so gewannen die Parteien, die den bisherigen rechten Fraktionen »Europa der Freiheit und der direkten Demokratie«, »Europa der Nationen und der Freiheit« und »Europäische Konservative und Reformer« angehörten, zusammen mit der ungarischen Fidesz – die bislang weiter in der konservativen EVP-Fraktion bleibt – kaum hinzu. Im Vergleich zu 2014 stimmten nicht einmal drei Prozent der WählerInnen mehr für offen xenophobe und EU-feindliche Parteien. Bedenkt man, was in der Zwischenzeit geschehen ist, ist klar: Es hätte noch schlimmer kommen können.
Trotzdem: Insgesamt kommen die Rechten auf mindestens 176 Sitze und stellen damit ein Viertel des Parlaments. Und es ist erschreckend, wer dort nun versammelt ist. Es sind Männer wie Teuvo Hakkarainen2 von den Wahren Finnen, der über »Neger«3 herzieht und Schwule und Lesben auf eine Insel verbannen will, damit sie da »ihre Idealgesellschaft bilden können«.4 Oder der AfDler Nicolaus Fest, der sagt: »Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel«, und arabischen, türkischen und afrikanischen Jugendlichen vorhält, »primitiv und bösartig« zu sein.5 Oder der Este Jaak Madison von der EKRE-Partei, der Faschismus eine Ideologie nennt, die «aus vielen positiven und für Erhaltung des Nationalstaates notwendigen Nuancen zusammengestellt ist«.6
Seit der vorigen EU-Wahl im Mai 2014 hat die EU durch den Umgang mit den ankommenden Flüchtlingen eine ihrer schwersten Krisen erlebt. Auf genau diesem Feld haben die RechtspopulistInnen die EU samt der »Altparteien« und der »Brüsseler Eliten« angezählt. Mit dem Thema Migration haben sie das gesamte Parteiensystem und auch die Kommission vor sich hergetrieben, jahrelang.
Wie sehr, zeigte sich etwa im Dezember 2016. In jener Woche war die Situation im syrischen Aleppo eskaliert, Russlands Luftwaffe flog die schlimmsten Angriffe seit Langem. In der EU kamen zu jener Zeit deutlich weniger Flüchtlinge an als in den Sommermonaten ein halbes Jahr zuvor. Die EU-StaatschefInnen trafen sich zu einem Gipfel in Brüssel, die Abschlusserklärung hatte 27 Punkte. Punkt 1: Der Kampf gegen die irreguläre Migration über das Mittelmeer. Punkt 26: Aleppo. Die StaatschefInnen glaubten, dem Druck von rechts nachkommen zu müssen. Das Signal sollte sein: Für den Kampf gegen die irreguläre Migration braucht es keine rechten Parteien. Darum kümmern wir uns schon selbst. Für viele konservative Parteien hat sich dieses Signal nicht ausgezahlt. In Italien, in Deutschland, in Frankreich und anderen Ländern verschob sich zwar der Diskurs nach rechts – doch Wahlerfolge feierten nicht die Konservativen, sondern die PopulistInnen am rechten Rand. In einer Reihe von Ländern regieren sie oder greifen nach der Macht. Dass sich die rechten Träume vom stärksten Block im EU-Parlament nicht erfüllt haben, liegt auch an einer inhaltlichen Verschiebung: Es ist die Klimapolitik, die zulasten des Migrationsthemas jüngst an Gewicht gewonnen hat. Hier haben die Rechten kaum etwas zu bieten. Die Agenda wird zur Zeit von anderen gesetzt. Man kann das Wahlergebnis so verstehen, dass die PopulistInnen womöglich die Themenhoheit wieder verloren und ihr Potenzial ausgeschöpft haben.
Welchen Einfluss sie trotzdem haben werden, hängt vor allem vom Verhalten der Konservativen ab. Es besteht kein Zweifel, dass die Rechten ihnen Angebote für die themenbezogene Zusammenarbeit machen werden: gegen »Genderwahn«, »Überfremdung«, »Islamisierung« oder die Vergemeinschaftung von Schulden.
Beschränkt werden die PopulistInnen dabei vor allem, weil sie es als NationalistInnen schwer haben, sich auf eine Linie zu einigen. Quer durch alle Politikfelder, selbst bei der Migration, sind die objektiven Interessengegensätze riesig. Die Neigung, diese Gegensätze demonstrativ auszublenden, ist indes hoch. Denn als geeinter Block ist ihre Macht größer. Das haben die Rechten verstanden. Sie werden weiter versuchen, sich zu vereinen. Und sie werden dabei voneinander lernen. Das hat Folgen. Und zwar auch dann, wenn die Vereinigungsbemühungen auf europäischer Ebene scheitern.
Wer wissen will, was dabei geschieht, muss länderübergreifend recherchieren. Dazu haben wir uns im Sommer 2018 zusammengeschlossen. Über die Agenda, Strategien und Netzwerke der Rechten berichten wir seitdem im Rechercheverbund Europe’s Far Right. Mit dabei sind die Zeitungen taz (Berlin), Libération (Paris), Falter (Wien), Gazeta Wyborcza (Warschau), HVG (Budapest), WOZ (Zürich) und Internazionale (Rom).
Wir wollten wissen, welche Strategien und Themen die Parteien in ihren jeweiligen Ländern verfolgen, welche Berührungspunkte es gibt und welche Realpolitik von ihnen zu erwarten ist. Viele Teile dieses Buches beruhen auf Texten, die dabei gemeinsam recherchiert wurden. Manche AutorInnen des Teams haben zudem Länderkapitel für dieses Buch verfasst.
Diese gemeinsame Recherche ist auch eine politische Auseinandersetzung in eigener Sache. Denn unsere KollegInnen vor allem in Osteuropa können aus erster Hand davon berichten, was es bedeutet, wenn RechtspopulistInnen die Macht erlangen. Ein wichtiger Teil ihrer Strategie ist der Angriff auf die freie Presse. Je mehr die Glaubwürdigkeit der etablierten Medien untergraben wird, desto bessere Chancen haben die rechten Propagandaorgane, Gehör zu finden. RedakteurInnen werden von RegierungssprecherInnen angepöbelt, ReporterInnen ausgesperrt, JournalistInnen von Abgeordneten offen bedroht. Alimentierte Staatsmedien ringen die Konkurrenz nieder. Diese wird mit Klagen überzogen, eingeschüchtert oder in die Pleite gedrängt.
Als wir uns im Sommer 2018 in Wien trafen, dachten wir über einen Namen für unser Rechercheprojekt nach. Einer der Vorschläge war »Alert«, Alarm. Denn tatsächlich hielten und halten wir die Lage für alarmierend. Es war der ungarische Kollege, der den Vorschlag ablehnte: Um Alarm zu schlagen, sei es in seinem Land zu spät, sagte er. Alles, wovor man vernünftigerweise warnen könnte, sei dort längst durchgesetzt worden.
So weit muss es anderswo nicht kommen.
Es ist ein früher Samstagabend Anfang Dezember 2017, als in der Eilenriedehalle im Hannover Congress Centrum Doris von Sayn-Wittgenstein ans Redepult tritt. Die AfD hat sich hier zum Bundesparteitag versammelt. Sayn-Wittgenstein ist damals 63 Jahre alt und Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein. Inzwischen läuft ein Parteiausschlussverfahren gegen sie: Sie soll einen rechtsextremen Verein unterstützt haben.
An diesem Abend aber wäre Sayn-Wittgenstein beinahe AfD-Chefin an der Seite von Jörg Meuthen geworden. Als Nachfolgerin von Frauke Petry. Die radikal rechte Parteiströmung, die sich selbst Der Flügel nennt, hat Sayn-Wittgenstein überraschend ins Rennen geschickt. Ob dessen AnhängerInnen die Norddeutsche wirklich für eine gute Kandidatin gehalten haben, darf bezweifelt werden. Aber Sayn-Wittgenstein soll vor allem eins: verhindern, dass der Berliner Landeschef Georg Pazderski, der innerhalb der AfD als gemäßigt gilt, den Posten bekommt. Pazderski steht für vieles, was die extrem Rechten in der Partei gar nicht mögen: Der ehemalige Soldat, der auch für die NATO gearbeitet hat, gilt vielen als Transatlantiker; er will die AfD in die Regierung führen und sich dafür auch moderat vom rechten Rand abgrenzen.
Jetzt also hebt Sayn-Wittgenstein zu ihrer Rede an. Die hellblaue Bluse trägt sie bis zum letzten Knopf geschlossen, die blonden Haare streng zusammengebunden, dazu Perlenohrringe. »Ich bin erst seit 2016 in dieser Partei, nachdem die Partei eine mehr patriotische Richtung genommen hat«, sagt sie.1 Applaus brandet unter den 550 Delegierten auf. »Das ist nicht unsere Gesellschaft«, fährt sie fort, sagt, dass nur der Nationalstaat die Demokratie am Leben erhalte und sie in erster Linie deutsch fühle. Dazu äußert sie scharfe Kritik an der Antifa, die sie im rechtsextremen Jargon »Antifanten« nennt, und Verständnis für Russland. Am Ende schallen »Doris, Doris«-Rufe durch den Saal. Für Pazderski, dessen künftige Rolle in der Nacht zuvor im kleinen Kreis ausgekungelt worden ist, wird es eng.
Was folgt, ist ein Wahlkrimi. In der ersten Abstimmung liegt Sayn-Wittgenstein mit wenigen Stimmen vorn, bei der zweiten Pazderski. Beide Male reicht die Mehrheit nicht. Die Partei ist gespalten. Und die Abstimmungen zeigen: Der Flügel ist in der AfD keine Randerscheinung mehr. Noch hat er zwar keine Mehrheit, aber gegen ihn ist in der AfD auch nichts mehr durchsetzbar.
Auf dem Parteitag in der Eilenriedehalle bricht Chaos aus. Schließlich ergreift Alexander Gauland, damals noch AfD-Vizechef, das Mikrofon und beantragt eine Unterbrechung. Am Ende wird er selbst zum Co-Vorsitzenden von Meuthen gewählt.
Gauland, Jahrgang 1941 und gesundheitlich angeschlagen, gilt als einer der wenigen, die die FunktionärInnen und auch die große Mehrheit der gut 33 000 AfD-Mitglieder zusammenhalten können. Die AfD, die Gauland selbst gern einen »gärigen Haufen«2 nennt, ist keine homogene Partei, sie ist eine Sammlungsbewegung, die aus verschiedenen Strömungen besteht. Inzwischen ist Der Flügel um den Thüringer Landeschef Björn Höcke die einflussreichste. Die gemäßigteren AfDler, die dazu ein Gegengewicht bilden wollen und sich deshalb in der Alternativen Mitte organisiert haben, waren nie stark und haben zuletzt noch weiter an Bedeutung verloren. Daneben gibt es nach wie vor Konservative, die sich die alte CDU zurückwünschen, evangelikale Christen, Neoliberale und Libertäre in der Partei.
Alexander Gauland, der seit dem Parteitag in Hannover neben der Bundestagsfraktion auch noch die Partei führt, ist vom ersten Tag an dabei. Das gilt für niemanden sonst, der heute bei der AfD in der ersten Reihe steht. Zuvor war Gauland 40 Jahre lang in der CDU, als Beamter hat er mit der Partei Karriere gemacht: Er hat das Büro des Frankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann geleitet, und als dieser hessischer Ministerpräsident wurde, die dortige Staatskanzlei. Lange galt Gauland, der nach der Wende Herausgeber der in Potsdam erscheinenden Märkischen Allgemeinen war, als aufgeschlossener Konservativer; auch Grüne und Linke diskutierten mit ihm – mitunter gewinnbringend. Heute steht Gauland auf Markplätzen, ruft »Heute sind wir tolerant, morgen fremd im eigenen Land«3, ein NPD-Slogan, vergleicht die Bundesregierung mit dem Politbüro der DDR und den Nationalsozialismus mit einem »Vogelschiss«4, hält seine Hand über Rechtsaußen Höcke und fordert, dass man auf die Soldaten der Wehrmacht wieder stolz sein dürfen müsse. Eine atemberaubende Radikalisierung.
Im Februar 2013 treffen sich Gauland und 17 andere Männer in einer Kirchengemeinde im hessischen Oberursel und beschließen, eine Partei mit dem Namen Alternative für Deutschland zu gründen. Es wird eine rechtspopulistische Partei, wie es sie in anderen europäischen Ländern längst gibt. Bis dahin hat man in Deutschland gedacht, gegen solche Entwicklungen sei die Bevölkerung durch die Erfahrung des Nationalsozialismus immunisiert.
Anfangs prägen vor allem Wirtschaftsprofessoren das Bild der Partei. Ihr Thema: die Kritik am Euro und der Eurorettungspolitik der Bundesregierung. Ihr Aushängeschild: Volkswirtschaftsprofessor Bernd Lucke aus Winsen an der Luhe in Niedersachsen, ein evangelisch-reformierter Christ, Vater von fünf Kindern, der zu Hause die Wollpullover seines Vaters aufträgt. Lucke ist damals auf allen Kanälen präsent, trotzdem scheint er zu ahnen, dass das Eurothema vielleicht nicht reicht, um am 22. September 2013 in den Bundestag gewählt zu werden. Ende Juli schreibt er in einer Mail an Vorstandskollegen: »Wir müssen noch einmal einen Tabubruch begehen, um Aufmerksamkeit zu kriegen. Das machen wir, indem wir Herrn Sarrazin vereinnahmen. Das kann uns viel Aufmerksamkeit, Kritik der linken Presse und viel Zuspruch in der Bevölkerung einbringen.«5 Der SPD-Politiker Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab, das ein rassistischer und muslimfeindlicher Grundton durchzieht, einen Besteller geschrieben. »Fest steht, dass Lucke im Sommer der Parteigründung den Schritt vom Professor zum Populisten vollzieht«, urteilte rückblickend Spiegel-Redakteurin Melanie Amann, eine ausgewiesene AfD-Kennerin.6
Doch es reicht trotzdem nicht. Die AfD scheitert mit 4,7 Prozent der Stimmen an der Fünf-Prozent-Hürde. Noch in der Wahlnacht spricht ein sichtlich angeschlagener Lucke von »Entartungen von Demokratie«7, die die AfD bekämpfe; später bezeichnet er gering qualifizierte MigrantInnen als »sozialen Bodensatz«8. Lucke blinkt nach rechts außen. In dieser Zeit treten Tausende in die AfD ein, viele davon sind radikal rechts. Zwar werden schon damals laut Satzung keine ehemaligen Mitglieder von NPD und DVU aufgenommen, doch einige finden trotzdem den Weg in die Partei. Für ehemalige Republikaner oder Ex-Mitglieder der islamfeindlichen Kleinstpartei Die Freiheit, für Identitäre und Burschenschaftler gilt die Regelung ohnehin nicht. Lucke wird gewarnt, dass Rechtsextreme die Partei unterwandern könnten. Doch er unternimmt nichts dagegen.9 Viele der damals neu Eingetretenen sind – trotz weiterer Unvereinbarkeitsbeschlüsse und vereinzelter Parteiausschlussverfahren – bis heute Mitglied der AfD.
Im Frühjahr 2014 zieht die AfD mit 7,1 Prozent und sieben Abgeordneten ins Europaparlament ein, Lucke weilt nun fernab in Brüssel und Straßburg. Im Herbst schafft die Partei in Sachsen, Brandenburg und Thüringen aus dem Stand den Sprung ins Parlament – jeweils mit um die zehn Prozent, in Brandenburg sind es sogar zwölf: ein Riesenerfolg. Die Sieger heißen Petry, Gauland, Höcke – allesamt Kritiker von Luckes aus ihrer Sicht zu moderatem Kurs und seinem autoritären Führungsstil. Der Wahlerfolg stärkt ihre Position in der Partei, auch die Medien sind nun stark an diesen drei interessiert.
Als im Oktober erstmals Pegida10, eine islam- und flüchtlingsfeindliche Bewegung, in Dresden aufmarschiert, gibt Lucke die Parole aus, die AfD solle sich davon fernhalten. Gauland aber fährt hin, spricht von »natürlichen Verbündeten«11, Höcke sieht das ähnlich. Längst sägen sie gemeinsam mit Petry an Luckes Stuhl. Im Vorfeld des Essener Parteitags Anfang Juli 2015, bei dem es schließlich zum Showdown kommt, verfassen Höcke und sein damaliger Verbündeter André Poggenburg, zu dieser Zeit AfD-Landeschef in Sachsen-Anhalt, mithilfe des neurechten Vordenkers und Verlegers Götz Kubitschek die »Erfurter Resolution« – ein Frontalangriff auf Lucke und seine Mitstreiter. Das Ziel: die Beschränkungen durch Lucke hinter sich zu lassen, und die AfD nicht nur als parlamentarische Kraft, sondern auch als »Widerstandsbewegung« auf der Straße und Partei des »wirklich freien Worts« zu positionieren.12 In den ersten Tagen unterschreiben bereits mehr als 1000 Mitglieder.
Es ist ein heißer Sommertag, als die AfD ihren Gründer schließlich vom Platz jagt. 3500 Parteimitglieder haben sich in der Essener Grugahalle zum Parteitag versammelt, eine Kampfabstimmung steht an: Wird Lucke die Partei weiter führen? Oder wird seine bisherige Co-Vorsitzende Frauke Petry ihn stürzen? Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren läuft, wie immer wieder versichert wird, sollen es in der Halle 27,5 Grad sein. Auch die Stimmung ist von Beginn an aufgeheizt. Schon als Lucke zum ersten Mal ans Redepult tritt, schallen Buh-Rufe durch die Grugahalle. Wer dagegen von der »Pegida-Partei« oder von »Systemkritik« spricht, wer gegen Flüchtlinge und Muslime hetzt, wird frenetisch beklatscht.13
Am Ende fällt das Ergebnis nicht so knapp aus, wie viele vorher gedacht haben: Petry wird mit 60 Prozent der Stimmen zur ersten Bundessprecherin gewählt. »Bernd, du bleibst die Galionsfigur der Gründerzeit«, sagt sie in ihrer Dankesrede und verpasst Lucke damit eine weitere Demütigung. Es ist zwanzig nach sechs, als dieser aufsteht, seine Sachen zu einem Stapel zusammenschiebt und das Podium, auf dem der Bundesvorstand sitzt, verlässt. Unten sagt er zu den wartenden JournalistInnen: »Das ist weit weg von dem, was ich 2013 vorhatte mit der AfD.« Die Ära Lucke ist zu Ende.
Während die meisten anderen wirtschaftsliberalen Professoren die Partei gemeinsam mit Lucke wenig später verlassen, bleibt Jörg Meuthen und lässt sich – unter anderem mit den Stimmen des Flügels – zum Co-Vorsitzenden von Frauke Petry wählen. Zunächst aber führt vor allem sie nun die Partei. Petry, Jahrgang 1975, ist in Sachsen geboren und aufgewachsen, kurz nach der Wende siedelte ihre Familie jedoch nach Nordrhein-Westfalen über. Nach einem Einser-Abitur folgten Chemiestudium samt Promotion und erste Ehe mit vier Kindern. Die Familie zog in ein Pfarrhaus in die Nähe von Leipzig, Petry gründete ein Unternehmen und ging damit pleite. Bei der AfD ist sie fast von Beginn an dabei, führt die Partei mit Lucke und Konrad Adam, einem ehemaligen Feuilletonredakteur der FAZ. Petry gilt als das nette, ostdeutsche, harmlose Gesicht der Partei. So sieht sie auch Lucke – und unterschätzt sie maßlos. In der AfD steht Petry politisch irgendwo in der Mitte, aber wo genau, darüber rätseln selbst parteiintern viele. Sie glauben, es gehe ihr vor allem um Macht.
Nachdem Lucke und seine AnhängerInnen die AfD verlassen haben, stürzt die Partei in den Umfragen ab, liegt nur noch bei drei Prozent14. Bis zum Flüchtlingsherbst 2015 und der Kölner Silvesternacht wenig später, als mehrere Hundert Frauen am Hauptbahnhof Opfer sexualisierter Übergriffe werden und die Täter vielfach Männer aus dem Maghreb sind. »Ein Geschenk für uns«, nennt Gauland die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen nicht zu schließen.15 Das ist zynisch, doch in gewisser Weise hat er recht. Die AfD positioniert sich als die Anti-Flüchtlingspartei und steigt in den Umfragen in ungeahnte Höhen.
Ende November 2015 findet im sachsen-anhaltinischen Schnellroda die Herbstakademie von Götz Kubitscheks Institut für Staatspolitik statt. Das Thema: »Ansturm auf Europa«. Zu den Rednern gehört Björn Höcke. Eine knappe Stunde lang gibt er einen tiefen Einblick in seine Sicht auf die Welt. »Die Evolution hat Afrika und Europa, vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert«, doziert Höcke bei seinen neurechten Freunden, führt aus, was Biologen gewöhnlich für das Tierreich verwenden, und fasst schließlich zusammen: »Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp. Und diese Erkenntnis […] ruft nach einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Asyl- und Einwanderungspolitik Deutschlands und Europas.«16
RechtsextremismusexpertInnen sehen in Höckes Ausführungen Parallelen zur Rassentheorie der Nazis.17 Der Aufschrei in den Medien ist groß, auch manche in der AfD sind entsetzt. Parteichef Meuthen spricht ein paar abwiegelnde Worte, im Bundesvorstand wird Kritik intoniert. Doch das war’s. Konsequenzen für den Thüringer AfD-Chef hat die Rede letztlich nicht. Dieses Muster hat sich seitdem mehrfach wiederholt. Bei Höckes Rede Mitte Januar 2017 in Dresden zum Beispiel, in der er doppeldeutig das Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« bezeichnet und eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« fordert.18 Oder bei der Veröffentlichung seines Buchs Nie zweimal in denselben Fluß, einem Werk der Demokratieverachtung. Zwei Versuche, ihn aus der Partei auszuschließen, hat Höcke bereits überstanden. Und je mächtiger Der Flügel in der AfD wird, desto weniger will man sich parteiintern mit dessen Führer anlegen.
Der rechte Kurs scheint der Partei zudem nicht zu schaden. Im Gegenteil. Die AfD hat Erfolg. Im Frühjahr 2016 zieht sie in drei weitere Landtage ein. In Sachsen-Anhalt erzielt sie unter Führung des radikal-rechten Spitzenkandidaten Poggenburg mit 24,3 Prozent ihr derzeit bestes Ergebnis. Sie landet damit auf Platz 2, direkt hinter der CDU. Doch nicht nur in dem strukturschwachen Land, wo in der Landeshauptstadt noch nicht einmal mehr ein ICE hält, hat die Partei Erfolg. Auch im reichen Baden-Württemberg zieht sie mit 15,1 Prozent in den Landtag ein, ebenso in Rheinland-Pfalz (12,6 Prozent). Spätestens jetzt ist klar: Es sind nicht nur die sogenannten Abgehängten, die für die AfD stimmen. Es ist mehr ein Kultur- und weniger ein Klassenkampf, der sich hier Bahn bricht.
Während das Thema Euro in den Wahlkämpfen der AfD deutlich an Bedeutung verliert, stehen Migration und Islam – und besonders Geflüchtete und MuslimInnen als Feinbilder – immer mehr im Vordergrund. Wie bewusst diese Verschiebung vollzogen wird, zeigt eine Mail von Beatrix von Storch an ihre BundesvorstandskollegInnen im Vorfeld des Stuttgarter Parteitags Ende April 2016, auf der sich die AfD ein Grundsatzprogramm geben wird. Von Storch schreibt, dass »der Islam das brisanteste Thema des Programms überhaupt« und für die »Außenkommunikation« am besten geeignet sei. »Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues«, heißt es in der Mail weiter. »Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islams stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms.«19
In der Partei wächst inzwischen der nächste Personalkonflikt heran – wieder wegen eines mutmaßlich autoritären Führungsstils, wieder wegen des Versuchs, die AfD nach rechts zumindest etwas abzudichten. In einer Partei mit dem Gründungsmythos »Mut zur Wahrheit« – soll heißen: hier darf ausgesprochen werden, was man woanders unterdrückt – kommt es eben nicht gut an, wenn die Parteiführung doch nicht alles für sagbar hält. Diesmal bläst der Wind Parteichefin Petry ins Gesicht.
Monatelang wird 2017 darüber gestritten, wer die SpitzenkandidatInnen bei der Bundestagswahl im Herbst sein sollen. Petry erklärt schließlich, wohl um einer Niederlage zu entgehen, dass sie nicht zur Verfügung stehe. Beim Parteitag im Kölner Maritim Hotel Ende April aber versucht sie noch, einen »Zukunftsantrag« durchzubringen, der die AfD auf einen »realpolitischen Kurs« und gegen »Fundamentalopposition« festlegen soll.20 Doch die Delegierten diskutieren den Antrag nicht einmal, sondern stimmen für Nichtbefassung. Als Petrys Co-Chef Meuthen dann in seiner Rede fordert, so mancher in der Partei müsse »im Dienst der Sache sein starkes Ego zurücknehmen« und der Parteitag dieses Nachtreten gegen die eigene Co-Chefin mit stehendem Applaus belohnt, da ist endgültig klar: Petry ist die große Verliererin des Parteitags, auch wenn sie zunächst AfD-Chefin bleibt.21
Zu den SpitzenkandidatInnen für den Bundestagswahlkampf aber küren die Delegierten Gauland und Alice Weidel. Weidel, Jahrgang 1979, lesbisch, wirtschaftsliberal, beruflich international aufgestellt, soll das nette Gesicht neben Gauland geben. Diese Strategie trägt zum großen Erfolg der AfD bei: Sie schafft es, WählerInnen von der bürgerlichen Mitte bis weit ins rechtsextreme Lager hinein für sich zu mobilisieren.
Wie weit es der AfD in dieser Zeit gelingt, die anderen Parteien vor sich herzutreiben und die Themen der öffentlichen Debatte zu bestimmen, zeigt sich im TV-Duell zwischen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz Anfang September 2017. Die ModeratorInnen fragen nicht nach Digitalisierung oder Bildung, kaum nach Klima oder sozialer Gerechtigkeit. Das dominante Thema: Geflüchtete. Oder zugespitzt: Wie man diese möglichst schnell wieder loswerden kann.
Die AfD zieht mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein, nach Bildung einer weiteren Großen Koalition ist sie die größte Oppositionsfraktion. Frauke Petry gehört dieser nicht mehr an, sie tritt kurz nach der Wahl aus der AfD aus. Am Wahlabend sagt Gauland vor begeisterten AnhängerInnen über die politische Konkurrenz, insbesondere die Kanzlerin: »Wir werden sie jagen.«22 Das hört sich bei ihm nach Treiben, Niederringen und Erlegen an. Götz Kubitschek frohlockt, der Resonanzraum für die Seinen habe sich erweitert. Das soll wohl heißen, dass er sich und seine AnhängerInnen auf dem Weg in den Mainstream sieht – oder zur kulturellen Hegemonie, wie der Kommunist Antonio Gramsci das nennt, den die Neue Rechte so gern zitiert.
Und in der Tat ist der Einzug der AfD in den Bundestag eine Zäsur. Rechts von der Union hat es dort jahrzehntelang keine Partei mehr gegeben. Der Ton im Parlament verschärft sich merklich, die AfD nutzt es als Bühne und lässt sich in den sozialen Netzwerken für ihre Auftritte feiern. MigrantInnen und MuslimInnen, Medien, die anderen Parteien, die Zivilgesellschaft – sie alle werden attackiert. Weidel, die zusammen mit Gauland die Fraktion führt, spricht von »Kopftuchmädchen, alimentierte[n] Messermänner[n] und sonstige[n] Taugenichtse[n]«23, der Innenpolitiker Gottfried Curio von einem »zur Regel entarteten Doppelpass«24. Nicole Höchst, die familienpolitische Sprecherin, bezeichnet die Ehe für alle als »Befriedigung von Kleinstinteressengruppen«25. Und Stephan Brandner, immerhin Vorsitzender des Rechtsausschusses, postet bei der Wahl der Kanzlerin einen Wahlzettel neben einem Klo. Deutlicher lässt sich Verachtung kaum ausdrücken.
Mit der Wahl der AfD hält auch die neurechte und rechtsextreme Szene Einzug in den Bundestag. Von den vielen, mit Steuermitteln finanzierten Stellen, die die AfD nun zu vergeben hat, erhalten jene, die in der Szene schon lange aktiv sind, einen beträchtlichen Anteil. Oft stellen AfD-Abgeordnete lieber alte Mitstreiter als fachlich qualifiziertes Personal ein. Eine taz-Recherche über mehrere Hundert MitarbeiterInnen der AfD-Fraktion zeigt: Mindestens 58 von ihnen haben Verbindungen zur neurechten bis rechtsextremen Szene.26 Die Neue Rechte wiederum hat in der AfD einen parlamentarischen Arm gefunden, nach dem sie sich lange gesehnt hat.
Anfang September 2018 mobilisieren drei ostdeutsche Landesverbände der AfD zu einer folgenschweren Demonstration. Kurz zuvor ist in Chemnitz ein 35-jähriger Mann erstochen worden, ein Iraker und ein Syrer sitzen zunächst in Untersuchungshaft. Seitdem die Tat bekannt geworden ist, befindet sich die sächsische Stadt im Ausnahmezustand. Am ersten Samstag im September lädt die AfD zum Trauermarsch. Höcke, der Brandenburger Landeschef Andreas Kalbitz und andere Flügel-Politiker laufen in der ersten Reihe, weitere AfD-Funktionäre marschieren hinterher, darunter der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Uwe Junge und der Bundestagsabgeordnete Gerold Otten aus Bayern. Sie alle demonstrieren Seite an Seite mit Pegida und der inzwischen vom sächsischen Verfassungsschutz beobachteten Bürgerbewegung Pro Chemnitz, auch Identitäre, Mitglieder der sächsischen Kameradschaftsszene und rechtsextreme Hooligans sind dabei. Es ist ein offener Schulterschluss mit Rechtsextremisten und Neonazis, die Bilder davon gehen durch die Medien.
Als kurz darauf in Hessen und Bayern gewählt wird, zieht die AfD auch in die verbliebenen Landesparlamente ein, mit zweistelligen Ergebnissen. Doch sie bleibt, besonders in Bayern, hinter ihren eigenen Erwartungen zurück. Parteiintern wird auch Chemnitz dafür verantwortlich gemacht. Die Politik diskutiert nun verstärkt, ob die AfD nicht ein Fall für den Verfassungsschutz sei, die Behörde leitet ein Prüfverfahren ein. Das Ergebnis: Der Verfassungsschutz stuft den Flügel und die AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative Anfang 2019 als Verdachtsfälle für rechtsextreme Bestrebungen ein.
Auch sonst läuft es für die erfolgsverwöhnte Partei nicht rund. Gegen Fraktionschefin Weidel ermittelt die Koblenzer Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Parteiengesetz. Die Bundestagsverwaltung stuft Spenden für die Landtagswahlkämpfe in den Jahren 2016 und 2017 an Parteichef Meuthen und Guido Reil aus NRW, die auf Platz eins und zwei der Europaliste stehen, als illegal ein und fordert mehr als 400 000 Euro als Strafzahlungen. Im Bundestag fallen reihenweise AfD-KandidatInnen für das Amt des Parlamentsvizepräsidenten durch. Laut Geschäftsordnung des Bundestags steht zwar jeder Fraktion ein Sitz im Parlamentspräsidium zu, doch die Abgeordneten sind bei ihrer Wahlentscheidung frei. Und viele von ihnen bekunden offen, keineN AfD-PolitikerIn in das Gremium wählen zu wollen.
Auch bei der Europawahl 2019 bleibt die AfD hinter ihren eigenen Erwartungen zurück und erzielt bundesweit nur elf Prozent der Wählerstimmen. Zur Klimapolitik, die zuletzt den Wahlkampf dominierte, hat sie nicht viel beizutragen.
Kommt der Erfolgszug der AfD also an ein vorläufiges Ende? Das ist schwer einzuschätzen. Klar ist: Bislang hat die Partei kein Konzept für die Mühen der Ebene. Zentrale Fragen sind zudem weiterhin unbeantwortet: Will sich die AfD zähmen und von Rechtsaußen abgrenzen? Will sie Regierungsbeteiligung? Und für welche Sozialpolitik will sie stehen? Allein: Die hohen Zustimmungswerte in Ostdeutschland beeinflusst das wenig.
Sabine am Orde
Es hätte eine rauschende Nacht werden sollen, ein Fest für einen großen Staatsmann. Für den 50. Geburtstag von Heinz-Christian Strache im Juni 2019 hatte die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) bereits die prunkvollen Sophiensäle im Herzen von Wien angemietet. Smoking oder Abendkleid sollte der Dresscode lauten. Statt Party gab es in der FPÖ aber Katerstimmung. Ihr Parteichef Strache hatte sich, wie im Mai 2019 von Süddeutscher Zeitung und Spiegel aufgedeckt worden war, in einer Nacht auf Ibiza im Sommer 2017 um Kopf und Kragen geredet. Einen Tag nachdem das Video online gestellt wurde, trat Strache zurück.
Die Sophiensäle wurden von der Partei storniert, und die FPÖ blieb auf den vertraglich vereinbarten Stornokosten sitzen. 150 000 Euro habe die FPÖ das Nicht-Geburtstagsfest gekostet, berichteten Partei-Insider. Mit einer Summe »im fünfstelligen Bereich« beziffert hingegen ein FPÖ-Pressesprecher den Schaden, den Strache seiner Partei im Abgang noch zusätzlich verursacht hat.1
Dabei war der damalige FPÖ-Chef sich jener Nacht auf Ibiza noch ganz sicher. Mit ausgewaschenem T-Shirt, das den Wohlstandsbauch nicht ganz verstecken konnte, saß er auf dem grauen Sofa in der teuren Finca auf der Partyinsel und schwadronierte bei Red-Bull-Vodka, dass er die nächsten zwanzig Jahre FPÖ-Parteichef sein werde – außer er sterbe zuvor.
Da hatte er sich ziemlich verschätzt. Zwar sollte der damalige FPÖ-Chef noch zwei Jahre Ruhe haben. So lange lag das Video, das an diesem feuchtfröhlichen Abend auf Ibiza heimlich aufgenommen worden war, in einer Schublade. Aber am 18. Mai 2019 wurde das Ibiza-Video schließlich veröffentlicht. Da katapultierte sich nicht nur Strache mit einem Schlag aus dem FPÖ-Chefsessel. Er riss das ganze Land mit in die größte politische Krise, die Österreich seit Jahrzehnten erlebt hat.
Wenn es eine Partei mit dem größten Sprengpotenzial in Europa gibt, dann verdient die Freiheitliche Partei Österreich diesen Titel. Vier Mal war sie seit 1945 an einer Regierung beteiligt. Vier Mal hatte sie Schuld daran, dass diese Regierungen sich vorzeitig auflösten. Und zwei Mal davon hat die Partei sich selbst gleich mit zerlegt. Zuletzt agierte die FPÖ im Mai 2019 wegen des Ibiza-Videos als Sprengmeister einer Koalition mit der konservativen österreichischen Volkspartei ÖVP und sorgte für vorgezogene Neuwahlen.
Schon die Entstehungsgeschichte der FPÖ hat einiges an Sprengkraft. Ihre Vorläuferpartei, der 1949 gegründete Verband der Unabhängigen (VdU), war ein Sammelbecken zahlreicher Altnazis, denen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP während der NS-Zeit bei den ersten freien Wahlen in Österreich 1945 das Wahlrecht entzogen worden war. Darüber hinaus war der VdU auch die politische Vertretung der Kriegsheimkehrer und der Angehörigen deutschsprachiger Minderheiten aus der damaligen Tschechoslowakei, die nach 1945 vertrieben worden waren. Gleich bei ihrer ersten Teilnahme an Nationalratswahlen 1949, als dann auch die etwa 700 000 früheren NSDAP-Mitglieder in Österreich wieder wählen durften, erreichte der Verband der Unabhängigen 11,7 Prozent der Stimmen. Damit wurde er zum Repräsentanten des sogenannten Dritten Lagers, das es in Österreich neben Sozialdemokraten und Bürgerlich-Konservativen gibt.
1956 ging der VdU in der neu gegründeten FPÖ auf. Deren erster Vorsitzender Anton Reinthaller war ein ehemaliger SS-Brigadeführer, der als sogenannter »Schwerstbelasteter« nach 1945 einige Jahre inhaftiert gewesen war. Reinthaller war schon vor 1938 aktives Mitglied der damals in Österreich illegalen NSDAP, hatte bis Kriegsende ein Reichstagsmandat in Berlin und arbeitete 1939 sogar als Unterstaatssekretär im Reichsernährungsministerium.2
Bis zu seinem Tod 1958 blieb er FPÖ-Vorsitzender, und bis heute hat sich die FPÖ nicht von ihm distanziert, im Gegenteil. Erst 2016 gedachte die Partei ihres Gründervaters auf einer Festveranstaltung in Anwesenheit des oberösterreichischen FPÖ-Chefs Manfred Haimbuchner. Kein Einzelfall: Der Umgang der Freiheitlichen mit dem nationalsozialistischen Erbe in Österreich sorgt regelmäßig für Schlagzeilen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die FPÖ die Partei der Deutschnationalen, jenes politischen Flügels, der Österreich als Teil eines deutschen Reiches sieht. »Deutschland, Deutschland, über alles«, singen die mit der FPÖ eng verbundenen deutschnationalen Burschenschaften in Österreich bis heute. Diese Burschenschaften sind es auch, die bis heute das intellektuelle und ideologische Rückgrat dieser Partei bilden. Zwar gibt es in Österreich nur etwa viereinhalbtausend bis fünftausend Mitglieder solcher Organisationen. In der FPÖ und speziell in ihren Fraktionen im Nationalrat und in den Landtagen geben sie aber den Ton an. Bei der Nationalratswahl 2017 erreichte die FPÖ beispielsweise mit 26 Prozent der Stimmen 51 Mandate – 41 Prozent von deren Trägern waren Mitglieder extrem weit rechts stehender Burschen- oder Mädelschaften.3
So nennen sich die pennalen Schülervereinigungen oder akademische Studentenvereinigungen, die eine eigenständige Identität des Staates Österreich ablehnen, zum Teil eine extrem antisemitische Tradition pflegen und sich als Elite des Landes sehen. Darunter finden sich auch Vereinigungen, die in der Vergangenheit regelmäßig den Nationalsozialismus verherrlicht haben.
Die jungen »Burschen« praktizieren ein ganz spezielles Männlichkeitsritual: Sie schlagen sogenannte Mensuren, das sind äußerst archaische Fechtkämpfe, bei denen mit messerscharfen Klingen auf Kopf und Gesicht gedroschen wird, dass das Blut nur so spritzt. Damit müssen die jungen Burschen ihre Tapferkeit und Standfestigkeit beweisen. Erst wer die vorgeschriebenen Mensuren übersteht, ohne vor dem Säbel wegzuzucken, hat seinen Platz als vollwertiges Mitglied in der Burschenschaft, die dann ein Lebensbund ist. Die »Mädel« wiederum pflegen in ihren Mädelschaften deutsches Liedgut und germanische Traditionen, feiern das einst von den Nationalsozialisten anstelle des Weihnachtsfests eingeführte Jul-Fest im Dezember und köpfen mit Säbeln nur Sektflaschen.4 Manche von ihnen erklären auch am 8. Mai, jenem Tag, an dem Nazi-Deutschland befreit wurde, ganz trotzig: »Wir feiern nicht!«5
Der Einfluss dieser deutschnationalen Burschenschaften auf die FPÖ offenbart sich auch in den Gängen des FPÖ-Klubs im Parlament. Immer wieder huschen Männer mit tiefen Narben im Gesicht, sogenannten »Schmissen«, die sie bei ihren Mensuren erleiden mussten, vorbei. Nicht nur unter den Abgeordneten, auch unter den Mitarbeitern der FPÖ-Büros finden sich zahlreiche Burschenschafter.
Zwischen 1955 und 1980 bewegte sich die FPÖ in der Wählergunst konstant zwischen fünf und sieben Prozent.6 Zwischen März 1970 und Oktober 1971 duldete sie sogar eine Minderheitsregierung der SPÖ unter dem damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky. Inhaltlich hatte sich die FPÖ bereits Anfang der 1960er Jahre der SPÖ angenähert. Der damalige Parteichef Friedrich Peter war zwar selbst ehemaliger Nationalsozialist und während der NS-Zeit SS-Obersturmführer. Er versuchte aber, die FPÖ weg vom rechten Rand zu positionieren und als liberale Partei koalitionsfähig zu machen. Teile des rechtsextrem-nationalen Flügels in der FPÖ gründeten aus Protest die Nationaldemokratische Partei (NDP) unter der Führung des österreichischen Altnazis und Südtirol-Terroristen Norbert Burger. Diese wurde 1980 wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung vom österreichischen Verfassungsgerichtshof aufgelöst.
1980 wurde Norbert Steger zum Vorsitzenden der FPÖ gewählt. Er knüpfte an Peters Kurs an und versuchte ebenfalls, die FPÖ weg von dem alten Nazi-Mief, hin in Richtung einer liberalen Partei ähnlich der deutschen FDP zu positionieren. Wörtlich sprach Steger davon, die »Kellernazis« aus seiner Partei vertreiben zu wollen.7 Ein unmögliches Unterfangen. Noch dazu, weil Steger selbst sukzessive das Vertrauen seiner Partei verlor. Zwar brachte er sie 1983 in Regierungsverantwortung, wurde neben dem damaligen Bundeskanzler Fred Sinowatz von den Sozialdemokraten Vizekanzler. Aber während dieser kurzen liberalen Phase stürzte die FPÖ massiv ab, lag in Umfragen bei nur knapp zwei Prozent und drohte somit, bei der nächsten bundesweiten Wahl den Einzug ins Parlament zu verpassen. Zudem galt der ungelenke Steger in der Bevölkerung ohnehin als Lachnummer, die FPÖ schien am Ende.8
Dieser Niedergang gab den Burschenschaftern in der Partei die Chance, Stegers liberalen Versuch zu beenden und die FPÖ wieder auf eine völkisch-nationale Linie einzuschwören. »Die Burschenschaften haben die Möglichkeit und die Macht einem Parteiobmann massive Schwierigkeiten zu bereiten, wenn der nicht ihren Wunschvorstellungen entspricht«, sagte etwa Stefan Petzner, Jörg Haiders langjähriger Pressesprecher und enger Vertrauter.9 Auf dem Parteitag in Innsbruck 1986 trat der junge Haider bei einer Kampfabstimmung gegen Steger an. Den Boden dazu hatten die Burschenschafter bereitet, die ihre Hoffnungen in ihn setzten. Denn der »Jörgl«, wie Haider damals genannt wurde, war einer von ihnen.
Aufgewachsen war Haider im oberösterreichischen Bad Goisern. Der Vater war schon vor dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland als »Illegaler« für die Nationalsozialisten aktiv gewesen und wurde nach 1945 von den Alliierten im Nazi-Internierungslager Glasenbach eingesperrt. Die Mutter war Führerin im Bund Deutscher Mädels. Für ihren Sohn Jörg wählten die beiden 1950 einen ganz besonderen Taufpaten aus: den österreichischen Altnazi Hermann Foppa, der NSDAP-Abgeordneter im deutschen Reichstag gewesen war. Die Eltern waren in der FPÖ aktiv, über seinen Vater, der freiheitlicher Bezirkssekretär im Bezirk Gmunden war, kam auch Jörg Haider zur Partei. Während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium Bad Ischl trat er der deutschnationalen schlagenden Schülerverbindung Albia Bad Ischl bei, während seines Jusstudiums wurde er Mitglied der Burschenschaft Silvania Wien.
In Haiders Mittelschulverbindung, so berichtete es zumindest sein damaliger Mitschüler Thomas Huemer dem Nachrichtenmagazin Profil, sei zu dieser Zeit lange eine Strohpuppe mit der Aufschrift »Simon Wiesenthal« gestanden. Auf den Namen schlugen die jungen Burschen, wenn sie sich auf ihre Mensuren vorbereiteten. Wiesenthal, ein polnischer Jude, der während der Nazi-Diktatur zwölf verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager überlebt hatte, machte es sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufgabe, geflohene Nazi-Verbrecher in der ganzen Welt aufzustöbern und zur Rechenschaft zu ziehen. Er war führend daran beteiligt, dass der frühere SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der verantwortlich war für die Deportation der Juden, 1960 vom israelischen Geheimdienst in Buenos Aires gefasst wurde. Der »Nazi-Jäger« Wiesenthal blieb lange Zeit eine Hassfigur für zahlreiche freiheitliche Funktionäre. Noch 1990 brüstete sich ein Kärntner Parteifreund von Jörg Haider: »Dem Simon Wiesenthal hab’ ich gesagt: Wir bauen schon wieder Öfen, aber nicht für Sie, Herr Wiesenthal, Sie haben in Jörgl seiner Pfeife Platz.« Ein »Faschingssscherz« sei dies nur gewesen, versuchte der FPÖ-Funktionär später diese brutale Drohung zu entschuldigen.10
Bei der Kampfabstimmung auf dem Innsbrucker Parteitag konnte sich der völkisch-nationale Flügel in der FPÖ klar gegen die wirtschaftsliberalen Kräfte in der Partei durchsetzen. Haider wurde am 13. September 1986 kurz vor Mitternacht mit den Stimmen von 263 Delegierten, das waren 57,7 Prozent, zum neuen FPÖ-Chef gewählt.11 Von da an ging es mit der Partei steil hinauf. Zwar kündigte die SPÖ nach Haiders Wahl der FPÖ sofort die Koalition, denn auch Haider war in der Vergangenheit regelmäßig mit verharmlosenden Aussagen zum Nationalsozialismus aufgefallen. »Wenn Sie wollen, dann war es halt Massenmord«, antwortete er etwa im Jahr 1985, nachdem er vom Nachrichtenmagazin Profil mehrfach auf den Holocaust angesprochen worden war.12 Doch die WählerInnen schien das nicht zu stören. Bereits bei den auf den Wechsel an der Parteispitze folgenden Neuwahlen 1986 verdoppelte sich die FPÖ von 4,9 auf 9,7 Prozent. Bei fast allen darauf folgenden nationalen Wahlen unter Haiders Parteivorsitz legte die FPÖ massiv zu.
Dabei veränderte Haider die FPÖ auch inhaltlich stark, um neue Wählerschichten anzusprechen. Jahrzehnte hindurch war die FPÖ eine Pro-EG/EU-Partei gewesen, nicht zuletzt, um mit einem Beitritt zur Europäischen Union den gewünschten Anschluss an Deutschland durch die Hintertür vollziehen zu können. Haider drehte die FPÖ hingegen kurz vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt 1994 um zur einzigen offenen Anti-EU-Partei, um so das Protestwählerpotenzial im Land stärker an sich binden zu können.