Saving Rapunzel_Final



SAVING RAPUNZEL

 

 

Rabea Blue

 

 

Märchenspinnerei Vol. 19

 

 

 

Märchenroman

Frei nach einem Märchen der Gebrüder Grimm

 

 

 

 

 

Weitere Informationen über die Märchenspinnerei:

www.maerchenspinnerei.de

 

 

 

Erstausgabe November 2019

 

Impressum

Texte: © Copyright by Rabea Blue

Lektorat: Eva-Maria Obermann

Druck: booksfactory.de

Umschlaggestaltung: Linda Grießhammer; www.lynbaker.de

Bildmaterial: mcarrel/depositphotos.com; Goodluz/depositphotos.com; slonme/shutterstock.

com; Vita Vladimirovna/shutterstock.com

Scherenschnitte: Shutterstock

 

 

 

 

 

Susanne Lehr

Ringstraße 13b

64839 Altheim

 

info@rabea-blue.de

 

 

 

 

 

Für Anne und Anne

 

Eine war die Muse meines Unterbewusstseins. Ohne sie hätte ich der Geschichte nicht diesen Hintergrund gegeben.

 

Die Andere hat mich dazu gebracht, nicht aufzugeben. Wegen ihr hat mein innerer Schweinehund jaulend das Weite gesucht.

13. Oktober 2019

 

Strafgericht des Staates Maryland

 

Richter Arthur Nelson - Leiter des Prozesses

 

 

Samuel Jones (»Alter Kreis«) - Ankläger

 

vertreten durch Staatsanwalt Jeffrey Miller

 

gegen

 

Jane Hall (Ehefrau des Opfers) und

Diego Torres (Gärtner des Opfers) - Angeklagte

 

vertreten durch Rechtsanwalt Dean Larsson

 

 

Zeugen:

 

Barbara Willow (Angestellte von Jane Hall)

 

Geraldine Mass (Angestellte von Theodore Hall)

 

 

 

Vorangegangene Vorladungen:

Annette Philipps (Haushälterin)

Quinn Mewes (Angestellter Küche)

Dr. Dave Fredricks (Mitglied »Alter Kreis«)

[...]

Kapitel Eins

 

 

»Ruhe bitte.« Erneut tönte die tiefe Stimme von Richter Nelson durch den Saal. Als er zusätzlich mit seinem Richterhammer auf den Resonanzblock klopfte, verstummte das Gemurmel schlagartig. »Wir beginnen den Prozess Jones gegen Hall und Torres. Mr. Jones tritt im Namen des Vereins ‚Alter Kreis‘ auf, sein Anwalt ist Mr. Jeffrey Miller.«

Ein Mann mit schwarzen Haaren nickte und sah grüßend in die Runde. Selbstgefällig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und warf den Angeklagten einen Blick zu. Sein Alter war schwer zu schätzen, sein akkurates Äußeres verlieh ihm etwas Jugendliches. Doch seine Mimik verriet keinerlei Aufregung.

»Die Verteidigung von Jane Hall und Diego Torres übernimmt Mr. Dean Larsson.«

Auch der Pflichtverteidiger grüßte stumm. Larsson war deutlich anzusehen, dass er wenig Erfahrung mit eigenen Prozessen hatte. Fast konnte man vermuten, dass er erst vor Kurzem sein Studium beendet hatte. Sein Anzug war viel zu groß und hing wie ein Sack an ihm. Auf seiner Stirn bildeten sich immer wieder dicke Schweißperlen, die er im Minutentakt mit einem Taschentuch wegwischte. Doch er war ohne Zweifel motiviert. Aufmerksam verfolgte er jedes Wort, beobachtete immer wieder die Geschworenen. Er saß leicht nach vorne gebeugt rechts neben den beiden Angeklagten, vor ihm ein großer Stapel an Heftordnern und losen Papieren.

Obwohl nur die stellvertretenden Anwälte vorgestellt wurden, merkte Jane Hall die Aufmerksamkeit der Anwesenden wie tausend Stiche auf der Haut. Sie spürte, wie das Blut in den Adern an ihren Schläfen pulsierte. Um sich abzulenken, holte sie ihren ellenlangen Zopf über die Schulter und begann, mit ihren Fingern darin herumzuspielen. Sie traute sich nicht, den Blick zu heben.

Nur wenige Zentimeter neben ihr saß Diego Torres. Er war der Mittäterschaft angeklagt. Ihre Stühle standen so dicht nebeneinander, dass sich ihre Beine fast berührten. Auch, wenn sie sich nicht berührten, gab die Nähe den beiden Kraft.

Immer wieder warf Diego Jane einen Blick zu, doch sie starrte bloß auf die Tischplatte vor sich. Während sie vor Nervosität ihre Hände nicht stillhalten konnte, verharrte er fast regungslos in seinem Stuhl. Nur sein Kopf bewegte sich je nachdem, in welche Richtung er sah.

»Die Staatsanwaltschaft beginnt mit der Befragung der Zeugen«, fuhr währenddessen der Richter fort. »Mr. Miller? Sind Sie so weit?«

Der junge Mann erhob sich und schloss einen seiner Jackett-Knöpfe. Seine Haare waren akkurat nach oben frisiert, das Gesicht gründlich rasiert. Für einen angeblichen Star-Anwalt sah er außergewöhnlich jung aus. Ein Außenstehender hätte niemals erwartet, dass er schon mehrere wichtige Prozesse gewonnen hatte. Lächelnd trat er hinter dem schweren Holztisch hervor. An ebendiesem Tisch saßen nun noch zwei grimmig dreinblickende Männer. Sie hatten die gleiche Gesichtsform und zogen auf dieselbe Weise die Augenbrauen zusammen. Einer von ihnen war Mr. Jones, der Hauptankläger, und er war offenbar gemeinsam mit seinem Bruder erschienen.

»Vielen Dank, Euer Ehren.« Selbstgefällig schritt Miller nach vorne und stellte sich vor den Zeugenstand, als würde er im Teleshopping ein besonderes Schnäppchen anpreisen. Mit einem Strahlen wandte er sich an den Bereich, in dem die Personen saßen, die per Zufall als Laienrichter eingeladen worden waren. Sie entschieden letztendlich, ob sie die Angeklagten als schuldig oder nicht schuldig ansahen. »Einen guten Morgen auch an Sie, werte Geschworene.« Dann nickte er in Richtung der Zuschauer. »Ich habe die Ehre, die Befragung bezüglich des zu klärenden Mordes an Mr. Theodore Hall zu eröffnen. Als erste Zeugin rufe ich Miss Barbara Willow auf.«

Im Zuschauerraum erhob sich eine blonde Frau, leicht stämmig, mit roten Wangen und einem Dutt. Festen Schrittes, doch mit gesenktem Kopf, trat sie durch das Schwingtor nach vorne, wurde vereidigt und nahm Platz. Ihr Blick huschte zu der Angeklagten, aber Jane sah noch immer gen Boden.

»Miss Willow«, begann Miller und lehnte sich mit einem Grinsen auf den schmalen Tresen vor Barbaras Sitz. »Sie sind nun fast ein Jahr die persönliche Assistentin von Mrs. Hall, ist das korrekt?«

Die junge Frau nickte. »Das stimmt. Ich habe ihre vorige Zofe Kassandra abgelöst, als diese unerwartet den Job wechselte.«

»Wie war es, für die Angeklagte zu arbeiten?«

Barbara zuckte mit den Schultern. »Recht einfach«, gab sie zu. »Ich hatte nicht viel zu tun. Mrs. Hall räumte täglich auf und putzte oft selbst ihre Zimmer. Ich versicherte ihr immer wieder, dass sie das nicht zu tun brauche, weil man mich dafür schließlich bezahle, aber sie konnte es sich nicht abgewöhnen. Oder sie wollte es nicht, ich weiß es nicht.«

»Was genau waren ihre Aufgaben?«, fragte Miller weiter.

»Die Betten machen, staubsaugen, Staub wischen, solche Sachen eben. Und Mrs. Hall bei ihren Haaren oder beim Anziehen helfen. Mit solch einem langen Zopf kann das alleine ganz schön umständlich sein.«

»Da sprechen Sie ein interessantes Thema an, Miss Willow. Es gibt einige seltsame Eigenschaften, die ihre Chefin aufweist, nicht wahr? Die Haare von Mrs. Hall beispielsweise. Die sind ungewöhnlich lang, oder nicht?«

Die Zeugin nickte. »Das schon. Aber dafür kann sie ja nichts. Ich habe es selbst erlebt. Sie macht nichts anders als andere Frauen auch. Ihre Haare wachsen einfach ungewöhnlich schnell.«

 

 

»Jane? Du bist dran.« Grob schubste die Erzieherin mit dem Doppelkinn das schmächtige Mädchen in Richtung Frisierstuhl. Herablassend sah der Mann daneben sie an. Auf seinem Rücken drückte sich ein Buckel durch das Hemd, was ihn klein wirken ließ. Als Jane auf den Sitz kletterte, legte er ihr einen Umhang um den Hals und fixierte ihn mit zwei Haarklammern.

»Meine Güte. Deine Haare sehen schrecklich aus«, spottete er und strich mit den Fingern durch die nassen, blonden Strähnen. »Vollkommen verknotet.«

Jane sah verlegen zu Boden. »Ich weiß. Aber sie sind so lang, dass ich sie kaum mehr kämmen kann. Wenn ich sie bloß öfter schneiden …«

»Kommt gar nicht in Frage«, mischte sich sofort die Erzieherin ein. »Ihr alle kennt die Regeln des Kreises und somit auch die des Internats. Jeder muss sie befolgen. Nur ein Mal alle zwei Jahre die Haare schneiden, mehr nicht. Auch für dich gibt es keine Sonderwünsche.«

Der Friseur drückte Janes Kopf in die Position, die er brauchte, und kämmte die Haare durch. Mit heftigen Schwüngen zerrte er den Kamm immer wieder durch die verhedderten Stellen. Jane versuchte, sich zusammenzureißen, doch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Halte den Kopf gerade«, maulte der Mann und rückte ihr Gesicht an die Stelle zurück, an der er es haben wollte. »Bei allen werden nur die Spitzen geschnitten, auch bei dir. Wenn du deine Haare nicht pflegst wie vorgeschrieben, dann musst du da eben durch.«

Mit geschlossenen Augen krallte sich das Mädchen in die Armlehnen des Stuhls. Mittlerweile rannen ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinunter.

»Wie kann das sein?«, fluchte der Friseur und ließ frustriert den Kamm sinken. Während bei den anderen Mädchen aus Janes Zimmer die Haare nur höchstens bis zu den Knien reichten, kräuselten sich ihre Haare auf dem Boden. Und das obwohl der Stuhl bis zum Anschlag nach oben gefahren war. »Noch nie habe ich so lange Haare gesehen. Und dann auch noch so dicht. Schon gar nicht bei einem jungen Mädchen. Wie alt ist sie? Zehn Jahre? Unfassbar. Da kann etwas nicht stimmen.«

Janes Erzieherin kaute auf der Unterlippe. »Aber es darf nichts abgeschnitten werden. So ist die Regel.« Die beiden redeten über Jane, als säße sie nicht direkt vor ihnen.

»Das weiß ich selbst«, blaffte der Bucklige. »Aber es heißt auch, dass die Haare vorzeigbar sein sollen. Und das ist bei dieser Göre definitiv nicht der Fall. Wenn ich nur die Knoten entferne, die ich nicht beseitigen konnte, wird es nicht auffallen. Die Haare machen auch so einen kräftigen Eindruck, das merkt niemand.«

Wenig überzeugt zuckte die dicke Betreuerin mit den Schultern. »Wenn es sein muss. Aber ich werde alles leugnen, falls es doch auffliegt. Mit diesem Regelverstoß will ich nicht in Verbindung gebracht werden.«

Endlich hatten die Qualen für Jane ein Ende. An ein paar Stellen schnitt der Friseur winzige Strähnen ab und machte sich anschließend an den Haarspitzen zu schaffen.

»Überhaupt kein Spliss, bemerkenswert«, glaubte sie, ihn murmeln zu hören.

»Vielleicht braucht sie beim Kämmen Unterstützung, damit solch ein Desaster nicht noch einmal vorkommt.«

»Wir sollen ihr auch noch helfen? Die Mädchen sollen zur Selbstständigkeit in Sachen Schönheit und Haushalt erzogen werden. Was wird es wohl für einen Aufschrei geben, wenn wir wegen einer eine Ausnahme machen?«

Der Mann mit der Schere zuckte mit den Schultern. »Dann muss wenigstens nicht mehr die Haarschneide-Regel gebrochen werden. Einen Tod müsst ihr so oder so sterben.«

»Ich kann das übernehmen«, hörte Jane eine bekannte Stimme. Eine ältere Frau mit drahtiger Statur trat neben den Friseur. Es war Emma. Sie war die einzige Erzieherin in dem Internat des Alten Kreises, die nett zu Jane war. »Es wäre ja eine Schande, wenn wir einen Regelverstoß in Kauf nehmen müssten.« Verschwörerisch zwinkerte sie Jane im Spiegel zu.

Tapfer lächelte Jane zurück. Sie wusste, dass selbst Emma nicht alle Knoten aus ihren langen Haaren bekommen konnte. Aber sie war ihr natürlich dankbar für das Angebot.

 

Nach einer Weile zupfte der Friseur Jane den Umhang vom Hals.

»Fertig«, verkündete die dicke Aufseherin. »Wenn du für heute schon mit deinen Aufgaben fertig bist, dann ab in euer Schlafzimmer. Wie immer hinsetzen. Und wehe, ich sehe einen von euch wieder den Rücken krumm halten. Dann gibt es zehn Schläge mit dem Rohrstock.«

Jane konnte Emma nirgendwo entdecken. Normalerweise gab sie in solchen Situationen den Kolleginnen Kontra. Sie war die Dienstälteste im Internat und trotz ihrer schmächtigen Erscheinung hatten die anderen Erzieherinnen und Lehrerinnen Respekt vor ihr.

Jane beeilte sich, den Raum zu verlassen. Rasch band sie sich die Haare zusammen, sodass sie nicht mehr auf dem Boden schleiften. Als sie den Schlafsaal betrat, huschten sämtliche Augenpaare zu ihr. Ihre Zimmerkameradinnen saßen allesamt stocksteif auf ihren Betten, die Beine in einem rechten Winkel stehend, die Handflächen auf den Knien. An ihrem Schlafplatz angelangt, tat Jane es ihnen nach. Erst letzte Woche hatte sie mit ansehen müssen, wie ein Mädchen wegen schlechter Körperhaltung mit dem Stock geprügelt wurde. Auf keinen Fall wollte sie heute noch einmal negativ auffallen. Ihre ungewöhnlichen Haare hatten für genügend Aufmerksamkeit gesorgt.

Dabei blieb sie am liebsten unsichtbar.

Kapitel Zwei

 

»Darf ich für die Geschworenen einmal zusammenfassen: Mrs. Hall hat offenbar eine Art Gendefekt, der ihre Haare ungewöhnlich schnell wachsen lässt. Niemand kann sich das erklären. Und sie kann sich schlecht von Verhaltensweisen lossagen, die sie sich angewöhnt hat.«

Barbara runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht gesagt …«

Miller unterbrach sie. »Aber insgesamt kann man sagen, dass sie eine typische Einzelgängerin ist.«

»Dass sie alleine war, hatte sicherlich andere Gründe.« Der Blick von Barbara huschte zu Mr. Jones.

»Sie hatte ihre Eigenarten, das können Sie nicht bestreiten, oder?«

»Das schon. Aber wer hat die nicht?«

»Was hatte die Angeklagte für absonderliche Eigenschaften?«, bohrte Miller nach.

Schulterzuckend schnaubte Barbara. »Nichts, was wirklich gestört hätte«, erklärte sie dann. »Sie lüftete auffällig oft ihre Zimmer. Ich weiß nicht, ob es mit der Lage des Flügels zusammenhing, aber es wurde unglaublich schnell warm bei ihr. Selbst im Winter hatte sie teilweise eine ganze Stunde lang ihre Fenster auf Durchzug. Mich fröstelte es öfter, wenn ich in dieser Jahreszeit zu ihr kam. Doch ihr schienen niedrige Temperaturen nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Selbst dann lief sie in Sommerkleidern herum.«

Miller ging gar nicht auf sie ein. »Sind Sie der Meinung, dass Jane Hall glücklich war?«

Barbara zögerte. Krampfhaft versuchte sie, nicht zu ihrer Chefin zu sehen. »Das kann ich nicht beurteilen«, lenkte sie ein. »So lange kannte ich sie ja noch nicht. Abwechslungsreich war ihr Leben nicht, wenn ich das sagen darf. Sie verließ kaum das Haus, hatte keine sozialen Kontakte …«

»Ja ja, schon gut«, wurde sie erneut von dem Anwalt unterbrochen. »Aber das meine ich nicht. Wenn Sie sagen müssten, was für eine Einstellung die Angeklagte gegenüber ihrem Ehemann hatte, was würden Sie dann antworten?«

Die Zofe sah nachdenklich auf ihre Hände. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass die beiden aus Liebe geheiratet haben«, sagte sie schließlich. Dann hob sie den Kopf und sah Miller fest in die Augen. »Alles andere wäre eine Unterstellung.«

Offensichtlich war das nicht die Antwort, die der Staatsanwalt sich erhofft hatte, doch er nickte und trat einen Schritt zurück. Sein Mund glich einer schmalen Linie. »Keine weiteren Fragen mehr, Euer Ehren.«

»In Ordnung«, nickte Richter Nelson. »Mr. Larsson? Ihre Zeugin.«

Janes und Diegos Pflichtverteidiger stand ruckartig auf, sodass sein Stuhl laut über den Boden kratzte. »Danke, Euer Ehren.« Vorne angelangt, stellte er sich freundlich lächelnd vor die Sitze der Geschworenen. »Auch von meiner Seite einen schönen guten Morgen an Sie, geschätzte Damen und Herren.« Er drehte sich zu Barbara, jedoch nicht, ohne sein Lächeln zu verlieren.

»Miss Willow, mein Kollege hat mit Ihnen bereits über die Persönlichkeit meiner Mandantin gesprochen. Was können Sie uns denn zu meinem Mandanten, Mr. Torres sagen?«

Barbara Willow überlegte. »Ich habe nie direkt mit ihm zusammengearbeitet. Zwar war er auch für kleinere Tätigkeiten im Haus zuständig, aber die meiste Zeit verbrachte er im Garten. Trotzdem hat er so gut wie jedes Mal mit uns, also mit seinen Kollegen, zu Mittag gegessen. Er ist sehr aufgeschlossen und hat uns oft zum Lachen gebracht. Seine Art Geschichten zu erzählen ist einzigartig lustig.« In Erinnerungen schwelgend blickte sie ins Leere.

»Was war mit dem vorigen Gärtner passiert?«

»Mr. Hall hat ihn gefeuert. Es war ein älterer Mann, der bereits lange Jahre auf dem Anwesen gearbeitet hatte. Doch der Chef war mit seiner Arbeit nicht mehr zufrieden gewesen. Der Garten sah verwahrlost aus. Fast so, als würde sich niemand mehr darum kümmern.«

»Finden Sie, dass Mr. Torres sein Handwerk versteht?«

Bevor sie antwortete, blies Barbara die Wangen auf und ließ die Luft dann geräuschvoll entweichen. »Tut mir leid, das kann ich nicht beurteilen. Er ist noch sehr jung, aber einer von den Kollegen hatte mal angedeutet, dass er bereits viel Erfahrung hat. Wenn ich es mir recht überlege, hat man nach ein paar Wochen sogar eine deutliche Besserung bezüglich der Pflanzen im Garten sehen können.«

 

»Und dies hier ist der Schuppen mit den Geräten für den Garten. Erde und Dünger sind dort neben dem Regal. Die Schubkarre steht unter dem Vordach hinter der Garage.«

Die Haushälterin der Halls, Annette Philipps, wies mit präsentierender Geste in den Holzverschlag und beobachtete Diegos Reaktion. Sie wirkte streng mit ihrem akkuraten Aussehen. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden und trug eine makellos weiße Schürze über ihrem marineblauen Kleid.

Diego nickte zufrieden und ließ den Blick schweifen. Alles sah gepflegt aus, die elektronischen Geräte wie der Rasenmäher und der Häcksler schienen so gut wie neu zu sein.

»Gefällt mir. Fast zu schön, um wahr zu sein, bei dem Gehalt. Wo ist der Haken?«, fragte er und lachte kurz auf. Lächelnd sah er die Angestellte an, die ihm das Grundstück sowie das Haus zeigen sollte, wo er in Zukunft möglicherweise seiner Tätigkeit als Gärtner nachkommen würde. Die Frau versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln, doch es scheiterte kläglich.

»Es gibt keinen Haken«, antwortete sie und knetete ihre Hände. Sie mied Diegos Blick. »Abgesehen davon, dass der Garten eine wirkliche Herausforderung ist. Mr. Hall war sehr unzufrieden mit dem letzten Gärtner, den er angestellt hatte. Er hat den Garten mehr und mehr verkommen lassen. Doch wenn alles gut läuft und Sie die Probezeit überstehen, wird er Ihnen sicherlich einen festen Arbeitsvertrag vorlegen.«

»Was meinen Sie mit Herausforderung?«, wollte Diego wissen. Er hatte zwar die Hofauffahrt gesehen, aber außer einer Menge Unkraut war ihm nicht viel Negatives aufgefallen. Er musste zugegeben, dass der Rosengarten von weitem ziemlich ausgedörrt aussah. Doch er wusste aus eigener Erfahrung, dass das schnell passierte, wenn man sich bei der Hitze nicht ausreichend um die Pflanzen kümmerte.

Anstatt zu antworten winkte ihn Mrs. Philipps mit sich. Gemeinsam gingen sie auf das Haupthaus zu. Vor der Fassade waren vereinzelt Blumen gepflanzt, außerdem Efeu, der sich einen Weg das Haus empor bahnte. Auch hier sahen die Blätter gelblich und trocken aus. Einige hatten sogar schwarze Flecken. Fast so, als wären sie mit einem Feuerzeug angesengt worden.

»Ach übrigens«, begann Annette Philipps. »Die optionalen Hausmeister-Aufgaben, die in der Stellenausschreibung erwähnt wurden – wäre das für Sie in Ordnung, die ebenfalls zu übernehmen?«

»Stimmt, da stand etwas zu Reparatur- und Ausbesserungsaufgaben. Also, wenn es sich im Rahmen hält, ist das für mich kein Problem.«

»Auf jeden Fall«, nickte Mrs. Philipps. »Es sind nur kleine Aufgaben, wie Leuchtmittel austauschen, Flüssigkeiten bei der Heizung prüfen. Solche Sachen eben. Und auch nicht im ganzen Haus. Der Westflügel zum Beispiel wird von dem normalen Personal nie betreten.«

»Tatsächlich?« Diego warf einen Blick auf die Seite des Hauses, auf das die Haushälterin deutete. Es sah nicht anders aus, als der Rest des Gebäudes.

Mrs. Philipps nickte. »Ja. Der Chef hat es vor Jahren angeordnet, und dabei ist es geblieben.«

Auf der Rückseite des Hauses angekommen blieb Diego stehen, schockiert von dem Anblick.

Vor den beiden erstreckte sich eine riesige Gartenanlage. Große Felder für Gemüsepflanzen, einige Obstbäume und ein großzügiger Kräutergarten. Allerdings wirkte alles komplett vertrocknet, vollkommen verbrannt. Noch nie hatte Diego gesehen, dass die Sonne so etwas mit Pflanzen machen konnte.
»Himmel«, entfuhr es ihm. »Wird hier denn nicht regelmäßig gegossen?«

»Doch doch«, versicherte Mrs. Philipps. »Der Garten sah nicht immer so aus. Es fing erst vor ein paar Monaten an. Der Zustand wurde zunehmend schlechter. Unser langjähriger Gärtner war zwar etwas schrullig und in die Jahre gekommen, doch er war noch immer ein Meister seines Fachs. Trotzdem bekam selbst er die Pflanzen nicht mehr in den Griff. Das ist mit ein Grund, warum Mr. Hall die Stelle ausgeschrieben hat.«

Diego nickte. Dieser Garten würde ihn definitiv an seine Grenzen bringen. Doch er war sich sicher, dass er der Aufgabe gewachsen war.