Raehan gewidmet – dem Baby von Calais.
Und den Millionen Flüchtlingskindern auf der ganzen Welt, die ein sicheres und liebevolles Zuhause brauchen …
Und meiner Mutter und Zak. Für immer.
Früher gab es ganz hinten in meiner Klasse einen leeren Stuhl. Er war gar nichts Besonderes. Er war nur leer, weil niemand auf ihm saß. Aber dann, genau drei Wochen nach den Ferien, begann für mich und meine drei besten Freunde die aufregendste Zeit unseres bisherigen Lebens. Und alles fing mit diesem Stuhl an.
Das Beste an einem neuen Schuljahr ist, dass man Extrataschengeld bekommt, um sich davon neue Schreibsachen zu kaufen. In den Sommerferien machen meine Mum und ich immer einen Ausflug, damit ich mir ein neues Schreibset kaufen kann. Ich freue mich jedes Jahr so sehr darauf, dass sich meine Füße ganz zappelig anfühlen. In unserer Nähe gibt es nicht so viele schöne Schreibwarenläden – hier haben sie immer nur langweilige Dinosaurier- oder Prinzessinnen-Sets. Deshalb fährt Mum immer mit mir in die Stadt, wo es ganze Straßen voller Einkaufsläden gibt.
Letztes Jahr habe ich mir ein Weltraum-Set gekauft, mit Bildern von einem Astronauten, der am Mond vorbeifliegt. Es war heruntergesetzt, deshalb konnte ich mir ein Federmäppchen, ein Geodreieck, einen Zirkel, zwei Radiergummis und ein langes Lineal kaufen. Das Lineal mochte ich am liebsten, weil der Astronaut darin in Wasser mit Silbersternchen schwebte. Ich habe so viel damit gespielt, dass der Astronaut irgendwann in einer Ecke stecken blieb.
In diesem Jahr habe ich mir ein Tim-und-Struppi-Set gekauft. Ich liebe Tim. Auch wenn er nur eine Figur in einem Comicbuch ist, will ich so sein wie er, wenn ich groß bin. Reporter zu sein und Geheimnisse aufzudecken und Abenteuer zu erleben, muss der beste Beruf der Welt sein. Seit ich denken kann, habe ich zum Geburtstag immer das neueste Tim-und-Struppi-Heft bekommen. Und Mum bringt mir alle alten Comics mit, die ihre Bücherei wegwerfen will, deshalb habe ich jetzt schon eine ganze Sammlung. Ich habe sie alle mindestens schon fünfzig Mal gelesen. Allerdings werde ich mir ein anderes Tier aussuchen müssen, mit dem ich dann reise, weil ich allergisch gegen Hunde bin. Aber ich glaube nicht, dass Katzen oder Hamster oder selbst dressierte Mäuse auch nur halb so nützlich sind wie Tims Hund Struppi. Und obwohl ich schon sehr lange darüber nachdenke, ist mir noch keine Lösung für dieses Problem eingefallen.
Weil das Tim-und-Struppi-Schreibset viel teurer war als das Astronauten-Set, konnte ich nur ein Federmäppchen, ein kleines Lineal und zwei Radiergummis kaufen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, aber dann fand ich doch, dass es sich lohnen würde, mein gesamtes Taschengeld dafür auszugeben. Vor allem, weil Struppi bellt und Kapitän Haddocks Stimme »Hunderttausend heulende Höllenhunde!« ruft, wenn man auf einen Knopf auf dem Federmäppchen drückt. Ich habe schon Ärger bekommen, weil ich mitten im Matheunterricht darauf gedrückt habe, aber wenn man in Mathe nicht mal sein Federmäppchen bellen lassen kann, dann hat das alles ja überhaupt keinen Sinn.
Ich mag Mathe nicht. Einfache Rechenaufgaben sind in Ordnung, aber gerade lernen wir schriftliche Division und Quadratzahlen und solche Dinge, die mein Hirn einfach nicht gern tut. Manchmal frage ich noch mal nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Und zum Glück helfen mir Tom, Josie und Michael, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Sie sind meine besten Freunde. Wir machen alles zusammen.
Tom hat kurzes, stacheliges Haar und ein schiefes Grinsen. Er ist der Kleinste in unserer Gruppe, aber auch der Lustigste. Er ist erst letztes Jahr in unsere Klasse gekommen, weil seine Eltern aus Amerika hierhergezogen sind, aber wir haben uns sofort angefreundet. Er hat drei ältere Brüder, die ihn ständig ärgern. Nicht ernsthaft – nur zum Spaß. Aber ich habe den Verdacht, dass sie ihm auch das Essen klauen und dass er deshalb so dünn und immer superhungrig ist. Einmal hat er mittags eine ganze Pizza mit Extrabelag und einen doppelten Cheeseburger verdrückt, und danach hatte er immer noch Hunger! Deshalb verstecke ich lieber meine Pausenbrote und Schokoriegel vor ihm.
Josie hat große braune Augen und mindestens eine Million Sommersprossen im Gesicht. Sie ist groß und schlaksig und kaut immer auf ihren Haaren herum. Sie ist das schnellste Mädchen in unserem Jahrgang und kann von der entgegengesetzten Seite des Fußballfeldes einen Ball am Torwart vorbei ins Tor schießen. Sie ist der coolste Mensch, den ich kenne, und ich kenne sie schon, seit wir drei Jahre alt sind. Unsere Mums sagen, dass wir schon vom ersten Tag im Kindergarten an Freundinnen waren. Und deshalb wurden sie kurz darauf ebenfalls Freundinnen. Josie kommt in all meinen Erinnerungen aus der Schulzeit vor. Wir mussten letztes Jahr sogar zum ersten Mal zusammen nachsitzen – wegen eines Hamsters namens Herbert.
Josie hatte gehört, wie einer dieser Mobber aus der Stufe über uns sagte, dass er unseren Klassenhamster Herbert nach dem Unterricht in der Toilette runterspülen würde. Deshalb beschlossen wir, gemeinsam auf Hamsterrettungsmission zu gehen. Wir versteckten Herbert in meinem Rucksack und nahmen ihn einfach mit zu mir nach Hause. Aber natürlich fand Mum es heraus und zwang mich, ihn am nächsten Tag wieder zurückzubringen. Ich versuchte noch, dem langweiligen Mr Thompson zu erklären, was passiert war, aber der wollte mir gar nicht zuhören und erteilte mir zur Strafe Nachsitzen. Und obwohl Josie das gar nicht musste, stand sie auf und sagte, sie hätte mitgeholfen, Herbert zu klauen – nur damit wir zusammen nachsitzen konnten. Du weißt, dass eine Freundin deine beste Freundin ist, wenn sie freiwillig mit dir nachsitzt.
Dann ist da noch Michael. Er hat den tollsten, bauschigsten Afro von allen Jungs in unserem Jahrgang. Die meisten halten ihn für merkwürdig. Aber wir nicht. Seine Brille ist immer kaputt, und seine Schnürsenkel sind nie richtig zugebunden, sodass er ständig darüber stolpert und gegen Gegenstände stößt. Aber wir sind alle so daran gewöhnt, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Meistens ist er ganz still, aber wenn er dann doch etwas sagt, gucken die Erwachsenen immer ganz beeindruckt und sagen, das sei aber »genial« oder »komplex«, oder sie benutzen andere seltsame Wörter, die man nicht gleich versteht. Ich nehme an, dass sie ihn für schlau halten. Erwachsene finden es immer toll, schwierige Wörter für einfache Dinge zu erfinden.
Die anderen machen sich immer lustig über Michael, weil er nicht schnell laufen oder einen Ball gerade schießen kann, aber ihm ist das egal. Vielleicht macht es ihm nichts aus, weil er reich ist. Sein Dad ist Professor und seine Mum Rechtsanwältin, und weil sie immer viel zu tun haben, kaufen sie ihm die neuesten Geräte und Bücher und die allercoolsten Spiele. Als wir letztes Jahr zu seinem Geburtstag bei ihm eingeladen waren, waren wir zum ersten Mal in seinem Zimmer. Es sah darin aus wie in einem Spielzeugladen. Wahrscheinlich ist es viel leichter, sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute denken, wenn man sich mit so vielen Spielsachen ablenken kann.
Josie und Michael wetteifern immer miteinander, wer am meisten Sternchen und Einsen bekommt. Michael ist der Beste in Geschichte, und Josie ist die Beste in Mathe. Aber ich bin besser im Lesen und in Rechtschreibung als beide zusammen.
Josie hasst Lesen und liest außerhalb der Schule absolut nie. Sie sagt, dass ihr dafür die Fantasie fehle. Ich finde das merkwürdig, denn wie kann man bloß keine Fantasie haben? Vielleicht hat Josie sie verloren, als sie letzten Sommer vom Fahrrad gefallen ist. Mum sagt, Menschen ohne Fantasie sind innerlich tot. Ich glaube nicht, dass Josie irgendwo tot ist – dafür redet sie zu viel.
Wenn man drei beste Freunde hat, macht die Schule selbst an den allerlangweiligsten Tagen Spaß. Wobei der Unterricht in diesem Jahr viel lustiger geworden ist – und das liegt an unserer neuen Lehrerin, Mrs Khan.
Mrs Khan hat ganz lockiges Haar und duftet nach Erdbeermarmelade – was viel besser ist, als nach alten Socken zu riechen, so wie Mr Thompson. Sie ist neu an der Schule und besonders schlau – viel schlauer, als Mr Thompson es jemals war. Und sie gibt uns freitags immer eine Belohnung, wenn wir uns Mühe gegeben haben. Die anderen Lehrer machen das nicht.
Mrs Khan denkt sich für uns immer alle möglichen interessanten Dinge aus, die wir noch nie gemacht haben. In der ersten Woche nach den Ferien half sie uns dabei, Musikinstrumente aus Sachen zu basteln, die wir in der Recycling-Tonne gefunden haben, und in der zweiten Woche las sie uns aus einem ganz neuen Comicbuch vor, das es noch gar nicht in der Schulbücherei gab.
In der dritten Woche passierte dann etwas, das uns so neugierig machte, dass es nicht einmal Mrs Khan schaffte, uns richtig für den Unterricht zu interessieren.
Es war am dritten Dienstag nach den Ferien. Mrs Khan hatte gerade das Klassenbuch aufgeschlagen, als es laut an der Tür klopfte. Es war Mrs Sanders, die Rektorin. Mrs Sanders trägt immer dieselbe Frisur und späht über den Rand ihrer Brille hinweg, wenn sie mit jemandem spricht. Alle haben Angst vor ihr, denn wenn man bei ihr nachsitzen muss, lässt sie einen lange Wörter aus dem Wörterbuch auswendig lernen.
Deshalb verstummten alle, als Mrs Sanders hereinkam. Sie sah sehr ernst aus und trat zu Mrs Khan, und wir überlegten alle, wer jetzt wohl Ärger bekommen würde. Sie flüsterte und nickte ein paar Sekunden lang, dann drehte sie sich plötzlich um, sah uns über ihre Brille hinweg an und zeigte auf den leeren Stuhl ganz hinten in der Klasse.
Wir drehten uns alle um, um einen Blick auf den leeren Stuhl zu werfen.
Wie ich schon sagte, war es ein ziemlich gewöhnlicher Stuhl, und er war leer, weil Dena kurz vor den Ferien nach Wales gezogen war. Niemand vermisste sie wirklich, nur ihre beste Freundin Clarissa. Dena war eine ziemliche Angeberin und erzählte ständig, wie viele Geschenke sie von ihren Eltern bekommt und wie viele Sporthosen sie hat und all solche Dinge, die niemanden interessieren. Sie saß gern in der letzten Reihe, weil Clarissa und sie dort heimlich Bilder von ihren Lieblingspopstars malen oder über alle reden konnten, die sie nicht mochten. Und da nach den Ferien niemand anderes neben Clarissa sitzen wollte, war der Stuhl leer geblie ben.
Mrs Khan und Mrs Sanders unterhielten sich noch ein paar Sekunden lang im Flüsterton, und dann ging Mrs Sanders wieder aus der Tür hinaus. Mrs Khan schien auf etwas zu warten, also warteten wir ebenfalls. Es war alles sehr ernst und aufregend. Aber bevor wir darüber rätseln konnten, was los war, kam Mrs Sanders schon zurück. Und diesmal war sie nicht allein.
Hinter ihr stand ein Junge. Ein Junge, den niemand von uns bisher gesehen hatte. Er hatte kurze dunkle Haare und große Augen, die kaum blinzelten, und blasse Haut.
»Alle mal herhören!«, sagte Mrs Khan. Der Junge trat neben sie. »Das hier ist Ahmet, und er wird von jetzt an in diese Klasse gehen. Er ist gerade erst nach London gezogen. Ich hoffe, dass ihr euch alle Mühe gebt, damit er sich willkommen fühlt.«
Wir schauten schweigend zu, wie Mrs Sanders ihn zu dem leeren Stuhl führte. Er tat mir leid, weil er es bestimmt nicht schön finden würde, neben Clarissa zu sitzen. Sie vermisste Dena immer noch, und alle wussten, dass sie Jungs hasste – sie sagt immer, dass sie dumm sind und stinken.
Es gehört bestimmt zu den schlimmsten Dingen auf der Welt, irgendwo neu zu sein und neben jemandem sitzen zu müssen, den man nicht kennt. Besonders neben jemandem, der einen böse anstarrt, so wie Clarissa es tat. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich mich mit dem neuen Jungen anfreunden würde. Ich hatte an dem Morgen zufällig ein paar Zitronendrops in meiner Jackentasche und nahm mir vor, ihm in der Pause einen davon zu geben. Und ich würde Josie, Tom und Michael fragen, ob sie auch seine Freunde sein wollten.
Immerhin sind vier neue Freunde besser als keiner. Besonders für einen Jungen, der so verängstigt und traurig aussah wie der, der jetzt ganz hinten bei uns in der Klasse saß.
Den Rest des Tages schaute ich immer wieder heimlich über die Schulter zu dem neuen Jungen und merkte, dass alle anderen dasselbe taten.
Die meiste Zeit hielt er den Kopf tief gesenkt, aber hin und wieder erwischte ich ihn dabei, wie er zu mir herübersah. Er hatte die merkwürdigste Augenfarbe, die ich je gesehen habe – wie ein Meer, aber an einem halb sonnigen, halb bedeckten Tag. Sie waren grau und silbrigblau mit goldbraunen Flecken darin. Sie erinnerten mich an einen Film, den ich einmal über Löwen gesehen hatte. Der Kameramann hatte so nah an das Gesicht des Löwen herangezoomt, dass man nur noch seine Augen sehen konnte. Die Augen des neuen Jungen waren genau wie die Löwenaugen. Man wollte gar nicht mehr aufhören hineinzustarren.
Als Tom letztes Jahr in unsere Klasse kam, habe ich ihn auch oft angestarrt. Ich stellte mir vor, dass er aus einer amerikanischen Spionfamilie kam – so wie die aus den Filmen. Er erzählte mir später, dass er schon dachte, dass ich eine Meise hätte. Das dachte der neue Junge vermutlich auch, aber es ist schwierig, neue Leute nicht anzustarren, besonders, wenn sie Löwenaugen haben.
In der ersten Stunde hatten wir Erdkunde, deshalb konnten wir nicht aufstehen und den neuen Jungen begrüßen. In der Pause suchte ich dann auf dem Pausenhof nach ihm, konnte ihn aber nirgends finden. In der zweiten Stunde hatten wir Sport, aber der neue Junge machte nicht mit; er saß in der Ecke und starrte seinen Rucksack an, der rot und sehr schmutzig war und einen schwarzen Streifen darauf hatte. Bestimmt hatte er seine Sportsachen vergessen, weil sein Rucksack ganz leer und schlaff aussah. Ich versuchte, ihm zuzuwinken, aber er schaute überhaupt nicht hoch, nicht ein einziges Mal.
Beim Sport stelle ich mir immer vor, dass ich für ein Abenteuer mit Tim und Struppi trainiere und deshalb superschnell sein muss. Das Problem dabei ist bloß, dass meine Beine noch nicht so lang sind, wie ich sie gern hätte. Selbst wenn ich so stark abspringe, wie ich kann, bleibe ich irgendwie immer mitten im Sprung hängen. Jedes Mal wünsche ich mir zum Geburtstag, dass ich mindestens zehn Zentimeter wachse, und ich trinke auch so viel Milch, wie ich kann, damit sich meine Knochen strecken. Aber obwohl ich jetzt schon neundreiviertel bin, bin ich seit meinem letzten Geburtstag nur knapp vier Zentimeter gewachsen. Ich versuchte also mit aller Kraft, vor den Augen des neuen Jungen schon beim ersten Mal über die Stange zu springen, blieb aber hängen. Zum Glück bekam er das aber gar nicht mit, weil er die ganze Zeit seinen Rucksack anstarrte.
Danach hatten wir Mittagspause, und Josie, Tom, Michael und ich beschlossen, den neuen Jungen zu suchen, damit er nicht ganz allein war. Wir warteten direkt neben dem Tor zum Schulhof, aber er kam nicht. Tom ging sogar in die Jungentoilette, um nachzuschauen, weil er sich an seinem ersten Tag selbst dort versteckt hatte, als er noch niemanden kannte. Aber da war auch niemand.
»Vielleicht isst er aus Versehen mit den Kleinen?«, fragte Josie. Aber im Speisesaal fanden wir ihn auch nicht.
Am Nachmittag hatten wir Geschichte und wurden in Gruppen eingeteilt. Der neue Junge durfte allein sitzen und musste nicht mitmachen. Mrs Khan saß länger bei ihm als bei den Gruppen, und sie zeigte ihm Dinge in einem neuen Arbeitsheft.
»Vielleicht ist er taub?«, flüsterte jemand.
»Vielleicht kann er kein Englisch?«, murmelte jemand anderes.
»Irgendetwas ist auf jeden Fall nicht in Ordnung mit ihm«, wisperten alle.
Ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns an diesem Nachmittag irgendetwas über Gladiatoren zur Zeit der Römer lernte, weil wir alle viel zu sehr damit beschäftigt waren, uns über den neuen Jungen zu unterhalten. Er bekam das bestimmt mit, weil sein Gesicht die ganze Zeit rot war. Dann, in der letzten Pause, verschwand er wieder.
»Er muss drinnen sein«, sagte Michael, nachdem wir den ganzen Schulhof schon zum dritten Mal abgesucht hatten. Inzwischen waren die Zitronendrops in meiner Jackentasche ganz klebrig geworden und sahen aus wie knallgelbe Fussel.
Nach Schulschluss redeten immer noch alle über den neuen Jungen und überlegten, wer er wohl war. Ich glaube, das lag daran, dass ein ganzer Tag vergangen war und niemand irgendetwas über ihn herausgefunden hatte, abgesehen von seinem Namen. Nicht einmal Clarissa – und die saß immerhin direkt neben ihm!
Die Leute waren den ganzen Tag über ständig zu ihr gerannt, um sie zu fragen, ob der neue Junge ihr irgendetwas erzählt hätte, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, dass er ein Arbeitsheft für die Kleinen benutze und dass er vermutlich nicht besonders gut im Lesen und Schreiben sei.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle sahen wir, dass alle um Jennie herumstanden. Jennie ist in der Schule berühmt dafür, immer über alles Bescheid zu wissen, also rannten auch wir zu ihr, um zu hören, was sie zu sagen hatte.
Jennie geht in unsere Parallelklasse und hat die längsten Haare der ganzen Schule. Sie spioniert den Leuten gern hinterher und erzählt dann Geschichten über sie. Manchmal stimmen die Geschichten, aber meistens sind sie nur halb wahr, weil sie noch Dinge dazuerfindet. Aber trotzdem glauben ihr alle. Manchmal denke ich, dass die Leute gern eine Lüge glauben, selbst wenn sie wissen, dass es eine Lüge ist, weil Lügen aufregender als die Wahrheit sind.
Als wir näher herankamen, hörten wir, wie Jennie allen erzählte, dass der Junge an seiner alten Schule etwas Schlimmes getan habe und es zu gefährlich sei, ihn zu uns auf den Schulhof zu lassen. Aber ich glaubte ihr nicht, und Michael auch nicht, weil er sie fragte, woher sie das so genau wisse. Jennie wurde wütend und schwor hoch und heilig, dass sie gehört habe, wie Mr Owen vor dem Lehrerzimmer mit Mrs Timms sprach, und dass beide gesagt hätten, wie sehr ihnen Mrs Khan leidtue. Und wie froh sie seien, dass der neue Junge nicht in ihrer Klasse sei, weil es nicht leicht werden würde, mit ihm zurechtzukommen. Aber bevor wir ihr noch weitere Fragen stellen konnten, hupte Jennies Dad in seinem Auto nach ihr, und sie rannte los.
Wir schauten wieder auf das Schultor, um zu sehen, ob der neue Junge endlich herausgekommen war. Aber wir konnten ihn nirgends entdecken.
»Er ist bestimmt schon weg«, bemerkte Josie.
Tom und Michael nickten. »Lasst uns noch zwei Minuten warten«, sagte ich und hoffte, dass er doch noch drinnen war. Und ein paar Sekunden später kam der neue Junge tatsächlich aus der Tür! Er ging an Mrs Khans Hand und hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Eine Frau, die bei den Bänken gewartet hatte, rief plötzlich »Huhuuu!« und rannte zu ihnen hinüber. Sie trug einen langen braunen Mantel, eine Wollmütze und einen knallroten Schal. Sie stand lange bei Mrs Khan und redete mit ihr und nickte furchtbar oft, aber wir standen zu weit weg, um zu hören, was sie sagten.
»Ob das wohl seine Mum ist?«, fragte Josie. Ich glaubte es nicht, weil der Junge sie überhaupt nicht umarmte und noch immer ganz schüchtern wirkte.
»Komm mit«, sagte Michael. Er zeigte auf seine Armbanduhr, die wie ein U-Boot piepte. Michael hat eine besondere Uhr, die ihm sagt, wann der nächste Bus kommt. Sie soll ihm eigentlich dabei helfen, pünktlich zu sein, aber in Wirklichkeit stößt er ihretwegen nur noch häufiger gegen Gegenstände.
»Nein! Warte!«, sagte ich. Und bevor ich noch darüber nachdenken konnte, rannte ich zu dem neuen Jungen hinüber.
»Hallo!«, sagte ich und tippte ihm auf die Schulter.
Mrs Khan und die Frau mit dem roten Schal schauten auf mich herunter. Ich holte die Zitronendrops heraus. »Hier!«, sagte ich und hielt sie ihm hin. Es war mir ein bisschen peinlich, weil sie ganz aufgequollen waren. Aber sie würden immer noch gut schmecken.
Vielleicht hatte ich zu laut gesprochen, denn der neue Junge trat erschrocken einen Schritt zurück.
»Ist schon gut, Ahmet, du kannst eins nehmen«, sagte die Frau und bewegte dabei die Hände wie in Zeichensprache.
Aber der Junge nahm nur ihre Hand und versteckte sich hinter ihr. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, weil ich noch nie jemanden so erschreckt hatte, dass er sich vor mir verstecken wollte. Die Frau sprach wieder ganz sanft mit ihm, und nach ein paar Sekunden nahm er den Drops und sah mich direkt mit seinen Löwenaugen an. Dann versteckte er sich wieder.
»Danke«, sagte die Frau. Sie lächelte mich an. Ich mochte ihre dunkelbraunen Augen, weil sie so freundlich schauten, und ihre rosigen Wangen. »Ahmet wird ihn sicher schon auf der Fahrt nach Hause essen.«
Ich nickte und rannte zurück zu Josie und Tom, die auf mich warteten. Ich war besonders froh, weil Mrs Khan mich angelächelt und mir sogar zugezwinkert hatte – genau wie mein Dad früher, wenn er fand, dass ich etwas besonders gut gemacht hatte, oder wenn er meine Mum auf den Arm nahm. Wenn ich erwachsen bin, werde ich anderen Menschen auch so zuzwinkern wie er, damit sie sich besonders fühlen. Und als wir nach Hause gingen, beschloss ich, Ahmet so oft wie möglich zuzublinzeln, wenn er mich ansah.
Am nächsten Tag, und an den Tagen danach auch, lächelte ich Ahmet an und zwinkerte ihm freundlich zu, sooft ich konnte. Mein Ziel war es, ihm mindestens vierzig Mal am Tag zuzuzwinkern, aber nach einer Weile fühlten sich meine Augenbrauen ganz komisch an. Ich merkte, dass Ahmet niemand anderen mehr ansah, nur noch mich. Er fand mein Zwinkern also bestimmt interessant. Aber dann sah Michael, wie ich versuchte, mit beiden Augen zu zwinkern, erst mit dem einen, dann mit dem anderen, und sagte, ich sähe aus, als müsste ich zum Arzt. Ich muss wirklich etwas komisch ausgesehen haben, weil ich nicht so gut mit dem linken wie mit dem rechten Auge zwinkern kann. Also beschloss ich, nicht mehr ganz so viel zu zwinkern.
In dieser Woche brachte uns Mrs Khan alles über Fotosynthese bei und gab jedem von uns einen kleinen Topf mit einem winzig kleinen Keimling darin, um den wir uns kümmern sollten. Alle freuten sich sehr, vor allem, weil derjenige mit der schönsten Pflanze einen Preis bekommen würde. Ahmet bekam auch einen Topf, und ich glaube, dass er sich freute, weil er den Keimling die ganze Zeit anschaute. Ich flüsterte meiner Pflanze eine Menge fröhlicher Worte wie »Regenbogen« und »Popcorn« und »Marshmallows« zu, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Pflanzen schneller wachsen, wenn man ihnen von schönen Dingen erzählt. Ich hatte noch nie einen Preis gewonnen. Nicht mal auf dem Jahrmarkt. Ich hoffte, dass ich diesmal gewinnen würde, wenn ich mich wirklich richtig stark bemühte und ständig mit meiner Pflanze redete. Aber wenn ich nicht gewinnen würde, wollte ich, dass es zumindest Ahmet tat, weil er seinen Keimling wirklich zu mögen schien.
Allerdings machte ich mir Sorgen wegen Brendan-dem-Quälgeist-Brooks. Das ist unser Klassenschläger. Seine Wangen sind immer rot, weil er die meiste Zeit damit verbringt, Kleinere über den Schulhof zu jagen. Er ist nicht besonders schlau und hasst alle, die es sind. Wenn jemand eine Eins oder einen Preis bekommt, versucht er, denjenigen nach Schulschluss zu verhauen. Als er Ahmets Topf ansah, verengte er die Augen zu Schlitzen. So macht er es immer, wenn er etwas Gemeines vorhat. Und das gefiel mir überhaupt nicht.
Sein Lieblingstrick ist es, einem ein Bein zu stellen. Er schlägt auch gern mal gegen das Tablett mit dem Mittagessen, sodass das Essen einem auf die Brust schwappt wie Eierpampe. Das hat er schon ein paar Mal mit mir gemacht. Manchmal wird er dabei erwischt. Aber meistens nicht. Und selbst, wenn er erwischt wird, muss er nicht nachsitzen.
Die meisten Lehrer scheinen ihn irgendwie zu mögen. Wenn er lächelt, sieht er so aus wie einer von den Jungen, die im Fernsehen im Kirchenchor auftreten. Vielleicht liegt es daran. Mr Thompson nennt ihn immer einen »Bengel«, was ein gutes Wort sein muss, weil er Brendan-dem-Quälgeist dabei zuzwinkert, ihm auf die Schulter klopft und ihn dann wieder laufenlässt. Seitdem hassen ihn alle in der Klasse noch viel mehr – außer natürlich Liam und Chris, das sind seine einzigen Freunde. Selbst die Mobber aus den höheren Klassenstufen finden ihn nervig. Es ist schon lustig, dass die meisten Mobber andere Mobber nicht leiden können. Vielleicht fühlen sie sich dann nicht mehr so besonders. Aber in der Schule wissen alle, wer die Mobber sind, und auch, wen sie am liebsten mobben. Trotzdem mobben niemals zwei Mobber dieselbe Person. Es ist schon ein seltsames System. Aber so sind nun mal die Regeln, und alle halten sich daran. Und die Lehrer bekommen davon nichts mit.
Aber Mrs Khan ist anders.
Sie scheint Brendan-den-Quälgeist nicht so gern zu mögen wie die anderen Lehrer. Sie hat ständig ein Auge auf ihn, und seit sie unsere Klassenlehrerin ist, ist er viel vorsichtiger. Aber ich passe trotzdem lieber auf.
Kurz nachdem Ahmet in unsere Klasse kam, kursierten eine Menge Gerüchte über ihn. Sie gingen auf dem Schulhof herum wie bei der Stillen Post.
Die meisten glaubten Jennie und sagten, der neue Junge sei bestimmt gefährlich und dürfe deshalb in den Pausen nicht raus. Aber dann erzählten andere, dass er eine superansteckende Krankheit habe. Das Krankheitsgerücht jagte Clarissa solche Angst ein, dass sie versuchte, sich so weit wie möglich von ihm wegzusetzen, ohne vom Stuhl aufzustehen. Einmal beugte sie sich so weit weg, dass sie auf den Boden fiel!
Ich fand überhaupt nicht, dass Ahmet auch nur im Geringsten gefährlich oder ansteckend aussah. Das Gerücht, das am wahrscheinlichsten klang, war, dass er aus einer superreichen Familie stammte und dass seine Eltern ihn undercover auf unsere Schule geschickt hätten, damit er nicht entführt würde. Michael sagte, dass Entführer nicht an unserer Schule nach ihm suchen würden, weil sie nicht in einer schicken Gegend liegt, und Tom war ganz seiner Meinung.
Ich wollte Ahmet fragen, ob die Gerüchte über die Entführer stimmten und ob er uns als Bodyguards brauchte. Aber er machte immer noch all seine Aufgaben allein, und in jeder Pause und zum Mittagessen verschwand er, sodass niemand außer Clarissa mit ihm reden konnte. Und die wollte nicht mit ihm reden! Ich versuchte, ihm zuzulächeln und »Hallo« zu flüstern, aber Mrs Khan erwischte mich dabei und sagte, ich solle mich gefälligst auf meine Arbeit konzentrieren.
Als Nächstes versuchte ich, ihm einen Zettel zu schicken, den ich zu einem Flieger gefaltet hatte – das kann ich nämlich gut –, aber stattdessen knallte er Nigel an den Kopf. Nigel ist eine alte Petze und hat mich sofort verraten. Mrs Khan kam zu mir und nahm mir den Zettel weg und las ihn. Sie schüttelte den Kopf, aber ich glaube, dass sie meine Zeichnung auch ein bisschen lustig fand, weil ihr Mund ein wenig lächelte, was aber nur ich sehen konnte. Es war allerdingst zu riskant, noch mehr Zettel per Luftpost zu schicken. Zumal ja eine Petze in der Nähe war.
In der Pause am nächsten Tag beschlossen Josie, Tom, Michael und ich, Ahmet zu folgen und herauszufinden, wohin er ging. Aber Mrs Khan erwischte uns dabei und verbot es uns. Sie wirkte nicht besonders wütend, aber sie sagte, dass Ahmet gerade noch viel Rückzugsraum brauche und dass es zu seinem eigenen Besten sei, also versprachen wir, ihm nicht mehr zu folgen.
»Was heißt ›Rückzugsraum‹?«, fragte Josie, als wir wieder auf den Schulhof hinausgingen. Keiner von uns wusste das so genau, nicht einmal Michael, obwohl er sagte, dass Ahmet vielleicht ein spezielles Zimmer benötige, so wie ein sehr kranker Mensch im Krankenhaus. Vielleicht hatte er also doch eine ansteckende Krankheit.
Aber bald fanden wir heraus, was »Rückzugsraum« wirklich bedeutete und warum Ahmet so viel davon brauchte.
Mein Dad sagte immer, dass, wenn man etwas wirklich, wirklich will, man es immer wieder versuchen muss. Und weil er außerdem immer sagte, dass er alles hatte, was er sich nur wünschen konnte, glaube ich, dass er genau wusste, wie man sich seine Wünsche erfüllt.
Ich wusste jedenfalls, dass ich mit Ahmet befreundet sein wollte. Ich wusste zwar nicht genau, wieso, aber ich wollte es einfach. Ich versuchte nicht mehr, während der Schulzeit mit ihm zu sprechen – wegen des Rückzugsraums –, aber ich fand, dass es nach der Schule in Ordnung wäre, weil mich Mrs Khan bei meinem ersten Versuch angelächelt und mir zugezwinkert hatte. Zwei ganze Wochen lang wartete ich also nach der Schule am Schultor.
Sobald Ahmet und Mrs Khan herauskamen, um sich mit der Frau mit dem roten Schal zu treffen, rannte ich zu Ahmet und gab ihm einen Zitronendrops, manchmal auch einen ganzen Schokoriegel. Aber egal wie viele Süßigkeiten ich ihm schenkte oder wie sehr Mrs Khan ihn auch ermutigte, mit mir zu reden – Ahmet sagte kein einziges Wort und lächelte mich kein einziges Mal an. Nicht mal, als ich ihm eine ganze Tüte voller weißer Mäuse schenkte, die ich am liebsten mag. Er nahm sie nur schweigend an, starrte zu Boden und stellte sich hinter die Frau mit dem roten Schal.
»Vielleicht mag er keine Süßigkeiten«, überlegte Michael am Freitag der zweiten Woche.
»Sei nicht albern«, sagte Josie und kaute auf einer Haarsträhne herum. »Jeder mag Süßigkeiten!«
»Vielleicht hat er eine Allergie?«, schlug Tom vor. Ich hatte noch nie davon gehört, dass man allergisch gegen Schokolade und Süßigkeiten sein konnte, aber andererseits war ich auch allergisch gegen Hunde, obwohl niemand sonst das war.
Danach beschloss ich, Ahmet das Obst zu schenken, das wir immer zum Mittagessen bekamen. Also nahm ich am nächsten Montag die dickste Orange, die ich in der Kantine finden konnte, und wartete nach der Schule vor dem Schultor. Ich war besonders aufgeregt, weil ich ein Smiley auf die Schale gemalt hatte, und Tom hatte mir einen Dinosaurier-Sticker geschenkt, den ich daraufklebte – also war die Orange etwas ganz Besonderes.