Für Michael. Vorwärts und aufwärts …
Es ist meine Überzeugung, dass die aus der Liebe erwachsenden Probleme – Verblendung, Eifersucht, Kummer, Verletzung, unangemessene Anziehung und Sucht, um nur wenige zu nennen – ernsthafte Aufmerksamkeit verdienen und dass die Grenze, die zwischen der normalen und der abnormen Liebe liegt, häufig fließend ist. Der kleinste Funken sexueller Anziehung kann ein Feuer auslösen, das die Macht hat, uns zu verzehren …
Dr. Frank Tallis, Der unheilbare Romantiker und andere Geschichten aus der Psychotherapie
I want you,
The truth can’t hurt you, it’s just like the dark,
It scares you witless,
But in time you see things clear and stark,
I want you,
Go on and hurt me, then we’ll let it drop,
I want you,
I’m afraid I won’t know where to stop …
Elvis Costello, I Want You
Tom Thorne sah zu, wie der Sack mit der Leiche der Frau so vorsichtig wie möglich von den Gleisen auf den Bahnsteig gehoben wurde. Das verräterische Durchhängen in der Mitte war nicht zu übersehen. Dorthin waren die vom Rumpf abgetrennten Körperteile gerutscht, dort hatte sich die Flüssigkeit gesammelt.
Was von der Toten übrig war …
Er sah, dass Detective Dipak Chall sein Gespräch mit einem Beamten der British Transport Police beendete und über den Bahnsteig auf ihn zukam. Er hatte einen durchsichtigen, von innen beschmutzten Plastikbeutel in der Hand. Vorsichtig hielt er ihn hoch, sodass Thorne den Inhalt betrachten konnte.
Eine braune Lederhandtasche, Schlüsselbund, Handy.
»Wir haben einen Namen«, sagte Chall.
Thorne hatte heute seine Schicht beim Homicide Assessment Team abzuleisten, einer mobilen Einheit, die zu jedem Schauplatz eines plötzlichen Todesfalls geschickt wurde, um zu entscheiden, ob die Umstände verdächtig waren und weitere Ermittlungen verlangten. Sobald das abrufbereite HAT von den Streifenpolizisten angefordert wurde, machten die Beamten – in diesem Fall Thorne und Chall – sich auf den Weg zum Fundort der Leiche, um eine Einschätzung abzugeben. An manchen dieser Schauplätze konnte selbst ein intellektuell etwas schwerfälliger Polizeischüler erkennen, dass ein Mord geschehen war, in anderen Fällen nahmen die Beamten dort, wo mit größter Wahrscheinlichkeit ein natürlicher Todesfall vorlag, die Räumlichkeiten genauer unter die Lupe, um nach Kampfspuren oder Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen zu suchen. Sie überprüften die vor Ort vorhandenen Medikamente – verschreibungspflichtig oder nicht –, übergaben den Fall dann dem jeweils zuständigen Team und warteten auf den nächsten Anruf. Ihr erster Fall hatte sie heute Morgen in eine Wohnung in Wood Green geführt, wo sie schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass der alte Mann, der zusammengesackt in einem Sessel vor der Jeremy Kyle Show saß, eines natürlichen Todes gestorben war. Als man sie später zur U-Bahn-Station Highgate gerufen hatte, war das Bild auf den ersten Blick genauso eindeutig gewesen.
»Die Kollegen haben sich die Überwachungsvideos angeschaut«, hatte Chall nach einem kurzen Gespräch mit den Beamten vor Ort erklärt. »Sie stand allein am vorderen Ende des Bahnsteigs.« Er deutete auf die betreffende Stelle. »Dort, wo der Zug einfährt. Unmittelbar bevor er aus dem Tunnel auftauchte, lief sie los und sprang.«
Thorne hatte kaum etwas gesagt und den Leuten zugesehen, die immer noch auf den Gleisen arbeiteten. Sie sammelten ein, was noch übrig war, nachdem Fleisch und Knochen von einem mit sechzig Stundenkilometern einfahrenden Zug erfasst und überrollt worden waren.
»Sieht alles ziemlich klar aus«, bemerkte Chall.
Thorne starrte auf den Beutel, den Schlüsselbund, das Handy. Jetzt sah er darin auch den undefinierbaren Brocken, der das Plastik verschmierte. »Ja, wahrscheinlich«, entgegnete er.
»Ich verstehe nicht, wie jemand sich so etwas antun kann.«
»Sich umbringen?«
»Auf diese Weise, meine ich.«
»In der Regel funktioniert es«, sagte Thorne. Allerdings nicht immer, wie er wusste. Die Frau im Leichensack hatte Glück gehabt, jedenfalls insofern, als sie vermutlich ihr Ziel erreicht hatte. Es gab viele, deren Timing nicht so gut war und die lediglich mehrere Gliedmaßen einbüßten.
»Es ist der Fahrer, der mir leidtut«, sagte Chall. »Er muss damit leben.«
»Da haben Sie allerdings recht.« Thorne hatte bei der Ankunft im Stationsbüro einen kurzen Blick auf den Fahrer geworfen. Bleich, kahl rasiert und mit einem Becher in den Händen, während jemand vom U-Bahn-Notfallteam auf ihn einredete. Der Fahrer hatte nur genickt, und jemand hatte ihm einen tätowierten Arm um die Schultern gelegt. Thorne wusste, dass man dem Mann psychologische Betreuung anbieten würde. Er hatte gelesen, dass jeder Fahrer, der dreimal erleben musste, wie ihm jemand vor den Zug sprang, sofort in den Vorruhestand gehen durfte, bei vollen Bezügen.
Wahrscheinlich bloß ein Großstadtmythos, dachte Thorne. Wie die geheime U-Bahn-Station am Buckingham Palace oder die Gruppe wilder Kannibalen, die durch die Tunnel geisterte.
Draußen vor dem Eingang zum Bahnhof hatte er ein paar Passagiere gesehen, die in Grüppchen beisammenstanden, nachdem sie aus dem Zug hatten aussteigen müssen. Ihnen würde man ebenfalls die nötige Unterstützung anbieten. Unwillkürlich fragte sich Thorne, ob auch die Frau, die Auslöser des Ganzen gewesen war, irgendwelche Hilfsangebote bekommen hatte. Und ob sie alle dann überhaupt hier stünden.
»Keine Ahnung, wie man so was hinter sich lässt. Sie wissen schon … wenn man nicht daran gewöhnt ist.« Chall trat an die Bahnsteigkante. Die Männer und Frauen in Warnwesten unten auf den Gleisen hatten es nach dem Abtransport der Leiche deutlich eiliger als zuvor. Der Strom musste wieder eingeschaltet werden, die Züge weiterfahren.
Chall betrachtete Thorne stirnrunzelnd. »Alles okay, Chef?«
»Ist bloß ein bisschen warm hier unten, das ist alles.«
Chall nickte und summte eine Melodie vor sich hin. Ohne nachzudenken, schwenkte er den Plastikbeutel sanft hin und her, wodurch an dessen Boden ein blutiges Rinnsal von einer Ecke in die andere lief. Als Chall es bemerkte, hörte er sofort damit auf.
Das Wetter draußen war heute Morgen so unbarmherzig gewesen, wie man es in der letzten Januarwoche erwarten durfte. Als Thorne angekommen war, hatte der Atem der vor dem Bahnhof wartenden Fahrgäste, die nervös redend oder rauchend herumstanden, Wölkchen gebildet. Trotzdem fühlte er sich hier unten verschwitzt und unwohl, er hatte Kopfschmerzen. Als Chall in die andere Richtung schaute, zog er den Reißverschluss seiner Jacke herunter und atmete tief durch.
Selbstmord war ihm schon immer an die Nieren gegangen.
Seine erste Leiche war die einer Erhängten gewesen, und er hatte sie nie vergessen. Tatsächlich erinnerte Thorne sich an die meisten Leichen, die er in seiner Laufbahn zu Gesicht bekommen hatte. Auf jeden Fall an alle Mordopfer. Und so sehr er sich auch dagegen wehrte, an die Gesichter ihrer Mörder.
Es war eine Teenagerin gewesen, diese erste Leiche. Ein schmächtiges Mädchen, das am Ast einer Eiche im Victoria Park gebaumelt hatte. Ein zerrissenes blaues Kleid, Beine wie Streichhölzer und die schlammigen, sich berührenden Fersenkappen ihrer Turnschuhe.
Er sah sich selbst und einen Kollegen mit einer wackligen Trittleiter vor sich.
Und diesen dürren Körper, der so viel schwerer war, als er aussah.
»Und, was meinen Sie?«, fragte Chall.
In vielerlei Hinsicht konnte er mit Morden besser umgehen, denn die Fragen waren immer dieselben. Wer hatte es getan, warum und, vor allem: Wie würde er den Täter aufspüren? Die Fragen, die durch einen Selbstmord aufgeworfen wurden, setzten Thorne weit mehr zu, denn in neun von zehn Fällen blieben sie unbeantwortet.
»Bitte?«
»Sollen wir den Fall den Kollegen überlassen?« Der Detective deutete mit dem Kopf zum Ausgang. »Uns verabschieden …?«
»Wissen wir irgendetwas über die Tote?«
Chall öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. »Nein, aber wenn Sie mehr wissen wollen, dürfte das nicht allzu lange dauern.« Wieder hob er den Plastikbeutel hoch. »Immerhin wissen wir, wer sie ist.«
Jetzt entdeckte Thorne mehrere Kreditkarten, eine Oyster Card und einen blutbefleckten Führerschein. Er beugte sich näher heran, griff nach dem Beutel und schob ihn so zurecht, dass er das Passbild erkennen konnte. Im Gesicht der Frau meinte er die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. »Okay, es kann nicht schaden, ein bisschen herumzufragen.«
»Wirklich?« Challs Gesichtsausdruck verriet sofort, dass er ihre Arbeit an diesem Fall für getan hielt. Ein Todesfall, der zwar plötzlich eingetreten, aber nicht verdächtig war. Es bestand ebenso wenig Anlass, einen näheren Blick auf das Leben der Frau im Leichensack zu werfen, wie bei dem alten Mann in seinem Sessel in Wood Green. Er trat näher. »Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt für etwas Verdächtiges?«
Thorne schüttelte den Kopf.
»Ist mir was entgangen?«
Ein kleines Stück von ihnen entfernt kletterten zwei Männer auf den Bahnsteig. Dann drehten sie sich um, um ihren Kollegen hochzuhelfen. Zum hundertsten Mal verkündete eine durch den Lautsprecher verzerrte Frauenstimme, dass der Bahnhof bis auf Weiteres gesperrt blieb.
»Ich meine, die Videoaufnahmen waren ziemlich eindeutig.« Chall schaute zu der Kamera, die hoch oben über dem Ende des Bahnsteigs montiert war. »Niemand war auch nur in ihrer Nähe.«
»Ich will bloß … später noch ein bisschen herumstöbern, das ist alles.«
»Wie Sie wollen, Chef.«
Thorne machte sich auf den Weg zum Stationsbüro, um zu sehen, ob er ein paar Worte mit dem Fahrer wechseln konnte. Und wenn er schon dort war, konnte er vielleicht auch ein paar Aspirin schnorren. Er trat beiseite, um zwei Männer mit einer fahrbaren Krankentrage vorbeizulassen, und dachte über etwas nach, das Chall gesagt hatte.
Niemand in ihrer Nähe …
Sarah sitzt am Küchentisch, den sie eine Stunde zuvor gewachst und poliert hat, und betrachtet die Frau ihr gegenüber, die den Karottenkuchen verputzt, als hätte sie einen Monat lang nichts zu essen bekommen. Die Frau – Karen, wobei die erste Silbe wie car ausgesprochen wird – summt vergnügt vor sich hin und tupft sich den Mund mit einer der Servietten ab, die Sarah nach dem Polieren des Tischs extra noch gebügelt hat.
»Oh. Mein. Gott.« Die Frau lässt ihre Hände flattern, als hätte der einzigartige Geschmack sie vorübergehend der Kontrolle über ihre Gliedmaßen beraubt.
»Schön, dass er Ihnen schmeckt.«
Die Frau schluckt. »Haben Sie den selbst gemacht?«
Manche Dinge sind es nicht wert, dass man ihretwegen schwindelt. »Sainsbury’s, fürchte ich. Ich wünschte, ich hätte Zeit zum Backen.«
»Wem sagen Sie das.« Der Blick der Frau fällt auf den in einer Ecke zusammengeschobenen Haufen mit Legosteinen und die herumliegenden DVDs: Dino Man und Coco – Der neugierige Affe. »Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, stimmt’s?«
Sarah nickt lächelnd, doch für einen kurzen Moment hat sie so etwas wie Missbilligung in der Miene der Frau entdeckt. Eine Grimasse, die sie nicht ganz unterdrücken konnte und die zu sagen schien, dass es – Stress hin oder her – für Schludrigkeit einfach keine Entschuldigung gibt.
Vor allem, wenn man Gäste hat.
»Es ist lächerlich, oder?« Die Frau streicht sich die Haare aus dem Gesicht und pickt dann die Krümel von ihrem Teller. »Man setzt die Kinder ab, dann gleich zurück ins häusliche Chaos, mit Glück ein schnelles Mittagessen. Und ehe man weiß, wie einem geschieht, ist es schon wieder Zeit, die kleinen Plagegeister abzuholen.«
»Ist schon schwer genug, wenn man nur einen davon hat.«
»Klar, natürlich.« Die Frau leckt sich die Finger ab. »Ganz zu schweigen vom Hund, den man bei Wind und Wetter ausführen muss …«
Sarah nickt und nimmt einen Schluck Kaffee.
Über die Hunde haben die beiden sich kennengelernt, vor vierzehn Tagen oder so, im Park am Ende der Straße. Sarah schleifte ihren dummen alten Mischling um den See herum und begegnete dabei Karen, die mit großem Getue ihren kläffenden Cockapoo ausführte. Die Hunde beschnüffelten gegenseitig ihre Hinterteile, während die Frauen sich auf zivilisiertere Weise bekannt machten.
Ja, es ist wirklich schön heute, nicht wahr? Ich wünschte nur, die Stadt würde sich um den Müll kümmern und um die Jungs, die auf den Bänken Gras rauchen. Allein der Geruch. Ach du Scheiße, Monty jagt schon wieder den Enten nach, ich werd mal lieber rennen …
Am nächsten Tag noch ein bisschen mehr Geplauder, ein paar gemeinsame Spaziergänge, und jetzt sitzen sie hier.
Kaffee und Kuchen, alles wunderbar.
»Ich glaube, meine beiden sind ein bisschen älter als Ihrer, oder?«
»Ja, er ist erst sechs.«
»Oh, tut mir leid, ab da wird’s nur noch schlimmer. Dreckige Fußballklamotten in sämtlichen Zimmern, die Hausaufgaben und was weiß ich noch alles. Können Sie sich drauf freuen.«
Sarah lacht und verdreht die Augen, weil es ihr passend erscheint. »Wo gehen Ihre zur Schule?«
»St Mary’s. Ich glaube, die ist sehr gut. Sie sollten Ihren Jungen dort rechtzeitig anmelden.«
Karens Kinder gehen nicht auf dieselbe Schule wie Jamie. Es wäre ihr ein wenig unangenehm gewesen, aber sie wäre damit zurechtgekommen. Solche Situationen hat sie schon mehrmals erlebt und sie irgendwie immer gemeistert. Improvisieren ist inzwischen eine ihrer Stärken.
Die Frau hat sich ihr Handy geschnappt und scrollt eifrig herum. Ohne den Blick vom Display zu nehmen, greift sie nach ihrer Handtasche und sagt: »Gott, in einer Stunde muss ich sie abholen, es wird Zeit.« Sie hebt den Kopf und lächelt. »Es war wirklich schön, Sarah.«
»Hat mich gefreut, dass Sie kommen konnten.«
»Nächstes Mal bei mir, ja?«
»Wunderbar.« Sarah lacht. »Und keine Sorge, ich erwarte keinen selbst gebackenen Kuchen.«
Die Frau fällt in ihr Lachen ein, und es klingt wie ein kratziges Bellen. »Gut, Sie werden auch keinen bekommen.« Dann steht sie auf und wirkt so selbstzufrieden, als sei ihr gerade eine wunderbare Idee gekommen. »Warum kommen Sie stattdessen nicht einfach zum Abendessen? Sie wissen schon, Sie und Ihr …«
»Ich habe keinen Irgendwas«, erwidert Sarah.
»Oh, ach so.«
»Geschieden.« Sarah nimmt den leeren Teller der Frau und stellt ihn auf ihren eigenen. »Auf der Suche.«
»Na, ich hoffe, Sie haben Ihren Ex um den letzten Penny gebracht.« Die Frau schaut sich um. »Schätze, das haben Sie.«
»Ich habe mein Bestes gegeben«, sagt Sarah.
»Wie auch immer.« Karen nimmt ihren Mantel und geht Richtung Tür. »Kaffeetrinken ist auch schön. Für mich jedenfalls, wenn Sie einverstanden sind.«
Sarah lächelt.
Natürlich, denkt sie. Man kann eine einsame alleinstehende Frau doch nicht zum Abendessen einladen, oder? So was sollte man tunlichst vermeiden. Es wäre für alle Beteiligten bloß unangenehm und peinlich.
»Dann bis bald im Park.«
»Auf jeden Fall«, sagt Sarah.
»Ich bin die, die einem renitenten Cockapoo hinterherläuft und haufenweise Scheiße aufsammelt.«
Sarah macht einen Schritt auf sie zu, doch die Frau wedelt gnädig mit der Hand und legt sie dann ihrer Gastgeberin auf den Arm. »Seien Sie nicht albern, ich finde schon allein raus. Ich lasse Sie in Ruhe aufräumen.«
Den Weg zur Schule würde sie wahrscheinlich im Schlaf finden. Links auf die Hauptstraße, dann der Schleichweg zur U-Bahn-Station und geradeaus an den vornehmen Häusern vorbei, an der kleinen Wiese und dem überteuerten Lokal, im dichten Verkehr, in dem sie alle paar Hundert Meter zwischen überdimensionierten SUVs zum Stehen kommt.
Ein bisschen schämt sie sich wegen ihres Kleinwagens.
Das Parken in Brooklands Hill ist jedes Mal die Hölle. Die wütenden Gesten und das unablässige Hupen, mit denen ein Bataillon schwarz glänzender Chelsea-Traktoren um einen Parkplatz möglichst nah an der Schule kämpft. Sarah hat keine Lust darauf. Hin und wieder schießt jemand, der nicht weiß, wie man einen Blinker betätigt, gerade im richtigen Moment aus der idealen Parklücke hervor, doch Sarah fährt weiter und überlässt sie dem Wagen hinter ihr. Viel lieber parkt sie in einer der etwas weiter entfernten Straßen.
Sie stellt den Wagen ab, geht die Strecke in ein paar Minuten zurück und winkt auf dem Weg zur Schule ein oder zwei bereits wartenden Eltern zu. Eine Frau namens Savita spricht sie sofort an.
»Schon wieder die verdammten Läuse.«
»Oh Gott. Arjun?« Sarah kann sich die Namen der anderen Kinder gut merken.
»Bisher noch nicht, ist aber nur eine Frage der Zeit. Anscheinend gehen sie um. Am besten schaust du dir Jamie mal gründlich an.«
»Das mach ich.«
»Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.«
»Vielleicht betrifft es nur eine Klasse.«
»Keine Chance. Die breiten sich aus wie die verdammte Pest …«
Inzwischen ist Heather – eindeutig eine der netteren Mütter – eingetroffen, gleich danach kommt David, ein alleinerziehender Vater. Alle begrüßen sich mit Luftküssen, wie Schauspieler vor einer Premiere.
»Ich hab Sarah gerade erzählt, dass die Läuse umgehen«, sagt Savita.
David hat praktisch keine Zeit zu reagieren, da seine Tochter schon durchs Tor gerannt kommt, gefolgt von Savitas Sohn Arjun.
Sarah schaut an ihnen vorbei zur Schule und schüttelt den Kopf. »Lässt sich mal wieder Zeit.«
Sie und Heather verabschieden sich von David und Savita, die ihre Kinder zu den Autos bugsieren. Kaum sind sie weg, rauscht eine Frau namens Caroline heran, schick zurechtgemacht wie immer. Wenn Sarah Zeit hat, gibt sie sich vor dem Aufbruch zur Schule ein bisschen Mühe mit ihrem Äußeren, aber mehr als Schminken und Ugg-Boots kommt nicht infrage. Caroline beginnt schon zu reden, ehe die anderen auch nur Hallo sagen können.
»Dieses dämliche Meeting hat wieder länger gedauert. Das macht mich wirklich sauer, die wissen doch, dass ich losmuss.«
»Keine Panik«, sagt Sarah. »Jacob ist noch nicht rausgekommen.«
»Außerdem hab ich noch einen ganzen Berg Papierkram abzuarbeiten, wenn ich nach Hause komme.«
Caroline ist ein klein wenig selbstverliebt, sie kann gar nicht aufhören, von ihrem anspruchsvollen Job als persönliche Assistentin von diesem oder jenem zu reden, davon, dass sie es gerade so schafft, Karriere und Kind unter einen Hut zu bringen. Nach dem wenigen, was Sarah von ihrem Sohn Jacob mitgekriegt hat – er prahlt fast genauso gern wie seine Mutter –, ist der Apfel nicht allzu weit vom Stamm gefallen.
Heather zwinkert Sarah zu. »Das kommt davon, wenn man alles auf einmal will, Caroline«, sagt sie.
Sarah grinst Heather an. »Leb deinen Traum.«
Dann unterhalten sich Heather und Caroline über einen geplanten Quizabend in der Schule, zu dessen Vorbereitung sie sich haben breitschlagen lassen. Ein Mikrofon muss organisiert werden, das Catering und die Preise für die Gewinner. Sarah ist froh, dass sie damit nichts zu tun hat. Sie war noch nie der Typ für Feste, Spendenaktionen, Komitees und solche Sachen.
Was in Ordnung ist, denn die Menschen sind nun mal verschieden.
Auch wenn sie selten in einem Gespräch den Ton angibt, genießt Sarah diesen Teil des Tages, wenn sie hier vor dem Tor warten und mit einem Haufen anderer Eltern quatschen kann. Heather und Savita mag sie richtig gern. Und dann gibt es noch einen ziemlich attraktiven Dad, Alex, mit dem sie hin und wieder ein bisschen flirtet, und eine Frau namens Sue, die sie einmal in eine faszinierende Diskussion über die Aussagekraft von polizeilichen Führungszeugnissen verstrickt hat.
Eine bunte Mischung.
Die meisten sind freundlich, sie haben ihr das Gefühl gegeben, willkommen zu sein, als Jamie neu an die Schule kam. Auch wenn die eine oder andere – sie wirft einen kurzen Blick auf Caroline – ihr manchmal etwas … unangenehm erscheint, genießt sie das Geplänkel, die Lästereien und das alberne Geplauder.
Als sämtliche Aufgaben für den Quizabend verteilt sind, tritt Sarah zum Tor, wirft einen letzten hoffnungsvollen Blick in Richtung Schulgebäude und sagt: »Ich schätze, ich muss reingehen und ihn suchen. Mal wieder!«
»Mach dir nichts draus, meiner ist genauso«, muntert Heather sie auf.
»Schick Jacob raus, wenn du ihn siehst«, sagt Caroline, die mit ihrem Handy beschäftigt ist.
Von mitfühlenden Äußerungen begleitet, tritt sie durchs Tor und überquert den Schulhof. Sie lächelt den herauskommenden, dick in Mützen und Mäntel eingepackten Kindern zu, grüßt nickend verschiedene Lehrer, öffnet die Schultür und tritt ein.
Für einen Moment schließt Sarah die Augen.
Die Wärme und der Geruch.
Hier fühlt sie sich am sichersten, hier fühlt sie sich wie ein Teil von etwas.
Mary Fulton wohnte in einem kleinen Haus in einer Seitenstraße der Shoot-Up Hill, nicht weit von der U-Bahn-Station Kilburn. Thorne klopfte und wartete frierend vor der Haustür. Er war dankbar, dass die Todesnachricht bereits überbracht worden war, dass die beiden Streifenpolizisten, die gestern als Erste am Fundort der Leiche gewesen waren, Fulton schon vom Selbstmord ihrer Schwester in Kenntnis gesetzt hatten.
Wie üblich hatten die Uniformierten die Arschkarte gezogen.
Als die Tür sich schließlich öffnete, zückte Thorne seinen Dienstausweis und stellte sich vor. »Herzliches Beileid«, sagte er und hoffte, die Frau würde ihm nicht anmerken, wie überrascht er war. Sie wirkte deutlich älter, als er erwartet hatte. Doch wie üblich verriet ihn seine Miene sofort.
»Pip war zwanzig Jahre jünger als ich«, sagte Mary. Sie schüttelte den Kopf und brachte ein dünnes, trauriges Lächeln zustande. »Sie nannte sich immer ›den Unfall‹.« Die Frau war schätzungsweise Ende sechzig und hatte sich das graue Haar modisch kurz schneiden lassen. Sie trug einen langen Rock mit Schottenkaros und eine dunkle Strickjacke über einer weißen Bluse. Ihr Lächeln verschwand, und sie begann, an ihrer silbernen Halskette herumzuspielen. »Das klingt jetzt richtig schrecklich, oder?«
»Na ja …«
»Wobei das gestern natürlich kein Unfall war.«
»Nein.«
»Eher das genaue Gegenteil.«
Thorne schaute über ihre Schulter hinweg ins Haus und sah eine jüngere Frau aus einem Zimmer treten. Sie blickte zu ihm herüber, verschwand dann aber in einem anderen Raum. »Ich würde gern einen Blick in die Wohnung Ihrer Schwester werfen«, sagte er.
»Oh.« Mary wirkte überrascht. »Brauchen Sie dazu meine Erlaubnis?«
»Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz sicher«, sagte Thorne. Wäre Philippa Goodwin ermordet worden, würde es bei ihr zu Hause längst von Polizisten und Kriminaltechnikern wimmeln. Doch wenn es um Selbstmord ging, gab es keine klaren Vorschriften. »Trotzdem wär mir wohler, wenn Sie es mir gestatten würden.«
»Dann … ja, warum nicht?«
»Vielen Dank.«
»Irgendwann muss ich sowieso mal zu ihr rüber.« Sie wandte sich kurz ab, als hätte sie etwas abgelenkt. »Um ihre Sachen zu sortieren.«
Thorne griff in die Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor, der – den Hygiene- und Sicherheitsvorschriften für den Umgang mit blutverschmierten persönlichen Gegenständen entsprechend – gründlich desinfiziert worden war. »Sie hatte die hier bei sich.«
»Oh.« Zögernd streckte Mary den Arm aus. Thorne legte ihr die Schlüssel auf die Handfläche, und sie schloss langsam die Faust darum.
»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, Sie würden mit mir kommen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Natürlich nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.« Er sah, wie die Frau ihre Faust öffnete, auf die Schlüssel ihrer toten Schwester blickte und mit den Fingern über den ledernen Anhänger strich. »Auf dem Weg würde ich mich gern mit Ihnen über Philippa unterhalten. Aber auch das natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Kann meine Tochter mitkommen?« Sie drehte sich zu der jüngeren Frau um, die wieder im Hausflur aufgetaucht war. »Seit wir die Nachricht erhalten haben, ist sie die ganze Zeit bei mir gewesen.«
»Natürlich.« Thorne sah, wie die beiden Frauen einen Blick wechselten. Die jüngere wirkte etwas widerwillig, signalisierte dann aber mit einem Achselzucken ihre Zustimmung.
»Geben Sie uns fünf Minuten«, sagte Mary Fulton.
Auf der Fahrt Richtung Tufnell Park saß die ältere Frau überwiegend schweigend auf dem Beifahrersitz von Thornes BMW, während ihre Tochter auf der Rückbank deutlich gesprächiger war. Ihre ausdruckslose Stimme deutete allerdings darauf hin, dass sie in erster Linie das Schweigen nicht auszuhalten schien. Thorne sah im Rückspiegel ihre roten, verquollenen Augen und vermutete, dass sie das Reden dem Weinen vorzog.
»Das ist ein schönes Auto«, sagte sie.
»Früher hatte ich ein älteres Modell. Das war noch viel schöner.«
»Polizisten scheinen deutlich mehr zu verdienen, als ich dachte.«
»Der hier war gebraucht.« Thorne bremste an einer Ampel und warf einen Blick in den Spiegel. »Ziemlich gebraucht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass Polizisten nicht gut bezahlt werden sollten. Ich meine, es ist ein schrecklicher Beruf, oder? Grässlich. Menschen in den schlimmsten Situationen zu sehen, all die entsetzlichen Dinge und die … Opfer. Ich kann mir kaum vorstellen, dass einen das alles nicht verändert, Tag für Tag aufs Neue, dass es keine unangenehmen Auswirkungen hat … und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass jemand diese Arbeit mag.« Sie lockerte ihren Sicherheitsgurt und beugte sich vor. »Mögen Sie Ihren Job?«
Thorne fuhr wieder an, und Mary drehte sich zu ihrer Tochter um.
»Ich weiß nicht, ob das –«
»Ich frage doch bloß.«
»Schon in Ordnung«, sagte Thorne.
»So ist sie immer, auch wenn’s ihr gut geht«, stellte Mary fest.
»Das ist nicht fair.«
»Und jetzt …« Mary packte die schwarze Handtasche auf ihrem Schoß noch fester. »Sie wissen schon, wo sie so aufgeregt ist …«
Thorne suchte Ellas Blick im Rückspiegel. »Standen Sie Ihrer Tante nahe?«
Ella lehnte sich ruckartig zurück und schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Frage?«
»Tut mir leid«, sagte Thorne.
»Mein Gott …«
»Es war eine dumme Frage.«
»Sie standen sich sehr nahe«, erklärte Mary.
Eine halbe Minute lang herrschte peinliches Schweigen, bis Ella seufzte und zu sprechen begann, als redete sie mit sich selbst. »Sie war für mich eher beste Freundin als Tante. Sie war ja nur ein paar Jahre älter als ich …«
Schweigend erreichten sie Chalk Farm, wo Thorne eine Reihe von Schleichwegen nahm, die er gut kannte, und schließlich auf die Kentish Town Road bog, gerade mal zwei Minuten von seiner eigenen Wohnung entfernt. Es hatte zu regnen begonnen, sodass sie noch schleppender vorankamen als gewöhnlich. Der dichte Verkehr hätte in jedem anderen Teil des Landes der abendlichen Rushhour Ehre gemacht.
»Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage«, nahm Thorne das Gespräch wieder auf, »aber haben Sie irgendeine Vorstellung, was Philippa dazu gebracht haben könnte, sich das Leben zu nehmen?«
Erneut machte sich lähmende Stille breit. Die Spannung war greifbar. Thorne schaute in den Spiegel und sah, wie Ella mit ausdrucksloser Miene auf die langsam vorbeiziehenden Geschäfte und Passanten starrte, die mit grimmigen Gesichtern durch den Regen huschten. Als ein Fahrer vor ihnen hupte, zuckte Mary auf dem Beifahrersitz zusammen.
»Willst du es ihm sagen?«, fragte sie ihre Tochter. »Oder soll ich es tun?«
Ella reagierte nicht.
»Was denn?« Thorne wartete.
Die junge Frau auf der Rückbank schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher –«
»Komm schon.« Mary drehte sich zu Ella um. »Wir reden um den heißen Brei herum, seit wir erfahren haben, was passiert ist. Du weißt genauso gut wie ich, was Pip durchgemacht hat.« Sie schlug energisch auf die Rückenlehne ihres Sitzes. »Ella …?«
Ella blies die Wangen auf, ließ die Luft entweichen und beugte sich zu Thorne. »Es gab einen Mann, mit dem sie sich getroffen hat.«
»Ich wüsste ein paar passendere Bezeichnungen für ihn«, platzte Mary heraus.
»Es hat kein gutes Ende genommen.«
»Hat er sie sitzen gelassen?«, fragte Thorne.
Mary schnaubte. »So kann man es ausdrücken.«
»Pip war extrem unglücklich«, sagte Ella. »Die ganze Sache hat sie ziemlich hart getroffen.«
Mary drehte sich auf ihrem Sitz, sodass sie Thorne voll im Blick hatte. »Also, ich kann Ihnen nicht nur sagen, warum meine Schwester vor diesen Zug gesprungen ist, ich kann Ihnen auch den Namen des Mannes nennen, der dafür verantwortlich ist.«
»Also dann«, murmelte Mary und öffnete die Tür zum Haus, in dem Philippa Goodwin gewohnt hatte. Der Regen hatte nachgelassen. Ella trat ein Stück vor und hängte sich bei ihrer Mutter ein. Dann gingen sie zusammen hinein.
»Warum ist sie den ganzen Weg bis Highgate gegangen?« Die Frage schien Mary besonders umzutreiben. Sie drehte sich um und streckte den Finger aus. »Gleich dort um die Ecke ist eine Haltestelle.«
»Ich schätze, das werden wir niemals erfahren«, sagte Thorne.
Sie wollte sich wahrscheinlich etwas Zeit verschaffen, um es sich doch noch anders überlegen zu können, dachte er. Oder um all ihren Mut zusammenzunehmen.
Als Mutter und Tochter die Post vom gefliesten Fußboden aufgehoben hatten, folgte er ihnen in die Diele. Eine Auswahl farbenfroher Hüte und Schals hing aufgereiht über einem großen Spiegel. Darunter lehnte ein glänzendes schwarzes Fahrrad an der Wand, das Schloss ordentlich aufgerollt im Korb. Thorne sah, wie Mary im Vorbeigehen über den Sattel strich.
In der Wohnung war es warm, und aus der Etage darüber war Folkmusik zu hören. Thorne glaubte, den Geruch von Karamell wahrzunehmen, oder von Vanille. Er schaute sich um und bemerkte auf einem niedrigen Tisch einen dieser gläsernen Raumduft-Diffusoren mit Stäbchen.
»Nur Werbung«, sagte Ella und ließ die Post auf den Tisch fallen.
Thorne wusste über Londoner Hauspreise eigentlich nur, dass sie aberwitzig hoch waren. Er fragte sich, wie eine Universitätsdozentin in der Lage gewesen war, sich eine solche Wohnung – das komplette Erdgeschoss eines großen Reihenhauses in Tufnell Park – zu leisten. Als sie ins Wohnzimmer traten, wusste Mary seinen Gesichtsausdruck einmal mehr zu deuten.
»Unseren Eltern ging es ziemlich gut«, erklärte sie. »Großes Haus in Hampstead und so weiter. Als sie starben, konnte ich mit dem Erbe die Hypothek abzahlen und Pip diese Wohnung hier kaufen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihre Tochter. »Und Ella konnte sich auch etwas zulegen.«
»Muss ja ein riesiges Haus gewesen sein, das Ihrer Eltern«, bemerkte Thorne.
»Eigentlich nicht.« Ella trat an eines der Fenster und zog ein Rollo hoch, hinter dem ein nicht allzu kleiner Garten zum Vorschein kam.
»Tatsächlich blieb am Ende immer noch eine Menge übrig«, sagte Mary. »Genug, damit wir alle etwas für schlechtere Zeiten zurücklegen konnten.«
Thorne nickte. Zur Not hätte das Familienvermögen der Goodwins wohl auch ein paar vergoldete Regenschirme hergegeben.
Ella ließ sich seufzend auf ein altmodisches Sofa fallen, eines von verschiedenen Möbeln, die auf lässig-kunstvolle Weise nicht zueinander passten. Seit sie von ihrer Erbschaft sprachen, wirkte ihre Miene nicht mehr kummervoll, sondern eher mürrisch. »Meine Wohnung ist übrigens nicht ganz so hübsch wie diese hier. Ich meine, sie ist ein bisschen größer, liegt aber in einem nicht ganz so schönen Viertel.«
Im Stillen fragte sich Thorne, warum so viele Leute mit Geld – vor allem die, denen es in den Schoß gefallen war – deshalb Verlegenheit oder gar Scham zu empfinden schienen und einem wortreich versicherten, dass es ihnen nichts bedeute, dass sie sich nicht über materiellen Wohlstand definierten.
Dass der Reichtum sie nicht verdorben hatte.
Er schaute sich um und warf hin und wieder einen Blick auf Ella.
»Wonach suchen Sie?«, fragte Mary.
»Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht«, räumte Thorne ein.
Der Holzfußboden war fast komplett unter mehreren ausgeblichenen Teppichen versteckt, und an den Wänden hingen scheinbar wahllos zusammengewürfelt gerahmte Drucke, Bleistiftzeichnungen, mediterrane Landschaften, Plakate von Ausstellungen und Filmfestivals. Auf praktisch sämtlichen verfügbaren Flächen waren Zeitschriften verstreut, Bücher lagen neben einem zugestaubten Computer und füllten ein die ganze Raumhöhe einnehmendes Regal am Fenster. Er trat näher, um einen Blick darauf zu werfen. Von einzelnen Autoren hatte er gehört, aber nie etwas gelesen. Ein erkennbares Ordnungsprinzip schien es nicht zu geben – Belletristik stand neben Sachbüchern, gebundene Ausgaben neben Taschenbüchern. Unwillkürlich dachte er, dass mindestens eine Person, die er kannte, empört auf dieses willkürliche System, dieses Chaos reagieren würde.
»Er sucht nach einem Abschiedsbrief«, sagte Ella.
»Oh«, entfuhr es Mary. Sie nahm ihrer Tochter gegenüber auf einem alten Ledersofa Platz. »Ja, wahrscheinlich hat sie einen hinterlassen. So machen es die meisten, nicht wahr?«
Über einen Abschiedsbrief Philippa Goodwins wäre Thorne in der Tat ausgesprochen froh gewesen, hätte er doch ein paar Antworten gegeben. Doch er hegte keine große Hoffnung. »Nein«, sagte er, »das ist eher die Ausnahme«.
Tatsächlich hinterließ die Mehrheit derer, die sich das Leben nahmen, keine schriftliche Erklärung. Das gehörte zu den vielen Mythen über solche Fälle. Thorne wusste auch, dass die meisten Selbstmorde nicht in der Weihnachtszeit oder zwischen drei und vier Uhr morgens begangen wurden. Und dass sich zwar aufs Jahr gesehen mehr Männer als Frauen umbrachten, dass die Frauen es aber häufiger versuchten.
Er wusste, so dachte er, eigentlich viel zu viel darüber.
Thorne ging in den angrenzenden Raum und stellte fest, dass der leicht chaotische Zustand des Wohnzimmers in auffälligem Kontrast zur Ordnung in der kleinen Küche stand. Entweder hatte sich Philippa in den Tagen vor ihrem Tod zu Hause keine Mahlzeiten zubereitet, oder sie war der Überzeugung gewesen, dass Sauberkeit und Ordnung an manchen Orten wichtiger waren als an anderen. Ein schneller Blick ins Bad bestätigte die zweite Theorie.
In der Tür zum Wohnzimmer stehend bat er die beiden Frauen: »Erzählen Sie mir ein bisschen mehr über den Mann, von dem Sie im Wagen gesprochen haben.«
»Er heißt Patrick Jennings. Ich glaube, sie hat ihn vor ungefähr drei Monaten kennengelernt«, sagte Ella.
»Eher vor vier.« Mary beugte sich vor. »Im Pub, nach irgendeiner Uni-Veranstaltung.«
»Er machte einen netten Eindruck«, sagte Ella.
Mary schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls am Anfang.«
»Dann sind Sie ihm mehrmals begegnet?«, fragte Thorne.
»Ja, Pip zeigte ihn gern herum«, sagte Mary. »Sie war vorher ziemlich lange allein.«
»Er war charmant.« Ella schaute zu ihrer Mutter hinüber. »Das musst du zugeben. Ich meine, ich kann verstehen, was Pip an ihm gefiel. Ein richtiger Silberrücken, hat sie gesagt.«
Mary verzog den Mund. »Ja, er … ist auf elegante Art ergraut.« Sie sprach mit offenkundiger Abscheu, als würde sie eigentlich etwas sagen wie krankhaft adipös, mit dem Atem eines syphilitischen Hundes.
»Wahrscheinlich haben Sie kein Foto von ihm?«
Ella verneinte.
»Ich hatte den Eindruck, dass Patrick sich nicht gern fotografieren ließ«, sagte Mary. »Ich wollte ein Bild machen, als Pip und er einmal zum Abendessen kamen. Ich weiß noch, dass er nicht begeistert war.«
Ella nickte. »Manche Menschen sind einfach so.«
Thorne spürte ein Kribbeln im Nacken, für einen kurzen Moment schien ihm etwas über die feinen Härchen zu streichen.
»Aber ich bin sicher, dass es auf Pips Handy ein paar Fotos von ihm gibt. Haben Sie das Handy noch?«
Thorne nickte und erinnerte sich an den Anblick des Telefons in Challs Plastikbeutel, an das blutverschmierte Display. Er wusste nicht, ob das Gerät überhaupt noch funktionierte, und selbst dann war es wahrscheinlich gesperrt. Er nahm sich vor, einen Kollegen aus dem Technikerteam zu bitten, es für ihn zu checken, bloß um seine Neugier zu befriedigen.
»Was glauben Sie, warum er mit ihr Schluss gemacht hat?«
»Er hat nicht Schluss gemacht«, sagte Ella. »Er hat sie geghostet.«
Thorne hatte den Begriff schon einmal gehört, doch Mary schien verwirrt.
»Er ist irgendwann einfach verschwunden und hat jeglichen Kontakt abgebrochen.« Ella beugte sich zu ihrer Mutter. »Er hat keine Anrufe oder SMS mehr beantwortet, so als hätte er nie existiert. Wie ein Geist, Mum.«
Mary nickte. »Verstehe. Na, egal wie man es heute nennt, es war auf jeden Fall ein Schock. Gerade noch sind er und Pip ein Herz und eine Seele und reden davon, zusammen eine Firma gründen zu wollen. Und im nächsten Augenblick habe ich sie weinend am Telefon.«
Wieder spürte Thorne dieses Kribbeln. »Was für eine Firma?«
»Etwas mit Computern, glaube ich.« Ella schaute zu ihrer Mutter hinüber. »Videos?«
»Unterrichtsmittel«, erklärte Mary. »Sie wollten Vorlesungen online stellen, damit die Studenten sie sich anschauen können. Pip hielt es für eine tolle Idee.«
»Die Idee ist ja auch wirklich gut«, sagte Ella. »Schade nur, dass sie sich getrennt haben, bevor sie richtig loslegen konnten.«
»Ja, schade.« Mary wartete, bis Ella sich abgewandt hatte, dann schaute sie Thorne an und riss die Augen auf, als wolle sie wortlos einen Verdacht zum Ausdruck bringen, dem ihre Tochter sich offenbar nicht stellen wollte. »Ich schätze, wir sollten anfangen zu überlegen, was wir mit all den Sachen anfangen.« Mary warf einen Blick ringsum und klammerte sich an ihre Handtasche. Plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. »Pip hatte so viel Zeug …«
Thorne erklärte, er werde sie natürlich gern nach Hause fahren. Er wolle im Auto warten und sie für ein paar Minuten allein in der Wohnung lassen.
»Das ist sehr nett«, sagte Mary.
Thorne schloss die Tür hinter sich und ging schnell zum Wagen, da der Regen jeden Moment wieder stärker zu werden drohte. Noch im Gehen wählte er Nicola Tanners Nummer.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Sag mir erst, worum es geht«, erwiderte Tanner.
»Würdest du für mich einen schnellen Blick auf Philippa Goodwins Finanzen werfen? Kontoauszüge, Kredite, was auch immer.«
»Der Selbstmord?« Tanners Tonfall erinnerte ihn an den von Chall am Tag zuvor. Sie wollte wissen, warum Thorne einem Todesfall nachging, dessen Untersuchung ihn, streng genommen, nichts anging.
»Es wird dich keine fünf Minuten kosten«, sagte Thorne.
»Wie viel Zeit es mich kostet, ist mir schon klar«, erwiderte Tanner. »Aber das ist nicht der Punkt, oder?«
»Ich war bloß gerade in ihrem Haus, und –«
»Gibt es ein Problem, Tom?«
»Eigentlich nur mit der Ordnung in ihrem Bücherregal.« Thorne entriegelte den BMW. »Du würdest einen Nervenzusammenbruch kriegen.«
Es ist nicht so, als herrschte um Brooklands Hill herum ein Mangel an Cafés, doch kaum war Sarah Teil der morgendlichen Elternbrigade geworden, hatte sich gezeigt, welches Etablissement deren Meinungsmacher bevorzugten. Wie auf den Hauptstraßen der allermeisten Stadtviertel finden sich auch hier zwei Filialen der bekannten Coffeeshop-Ketten, dazu eine Bäckerei, die einen anständigen Café Latte im Angebot hat. Und doch würde HazBeanz immer die erste Wahl bleiben. Der Kaffee ist gut, natürlich, das Essen bekommt enthusiastische Kritiken, und die Einrichtung ist wie zu erwarten etwas … verschroben. Nicht zueinander passende Metalltische und freigelegte Ziegelmauern. Der Laden ist freundlich, auf nette Weise unkonventionell, vor allem aber unabhängig, was natürlich zwangsläufig etwas über die Kundschaft aussagt.
Es sagt der Welt, dass sie, die Kunden, unabhängig sind, dass sie nicht auf Marken achten und ihr Bestes tun, um die Geschäftswelt vor Ort zu unterstützen. Es zeigt, dass sie eine bewusste Wahl treffen. Vor allem aber lässt es an der simplen Tatsache keinen Zweifel aufkommen, dass sie es sich leisten können, für ihren handgemahlenen Espresso und das extravagante Gebäck ein bisschen mehr auszugeben, und das jeden Morgen.
All das ist Sarah ziemlich egal. Sie würde sich ihren Kaffee auch an der Tankstelle holen oder, noch besser, gratis im Supermarkt, wo sie eine Kundenkarte besitzt. Letztlich trinkt sie sowieso am liebsten einen einfachen, starken Tee. Und ein Bacon-Sandwich ist ihr lieber als ein Macadamia-Muffin. In ihren Augen ist das alles irgendwie hohles Getue. Mehr Stil als Inhalt, so wie es in vielen anderen Bereichen längst alltäglich ist.
Aber das ist für Sarah nicht entscheidend. Sie will einfach mit den anderen zusammen sein.
Manchmal muss sie noch ein bisschen Zeit totschlagen und sich vor den Schaufenstern herumtreiben, denn sie kommt nicht gern als Erste. Heute allerdings sieht sie zu ihrer Freude, dass Savita, Heather und Caroline schon da sind.
An ihrem üblichen Fenstertisch.
Kaffee und Kuchen.
Small Talk …
Winkend geht sie am beschlagenen Fenster vorbei und setzt, ehe sie die Tür öffnet und eintritt, die passende Miene auf. Sie wirkt froh, die anderen zu sehen, aber natürlich, wie sie alle, auch reichlich genervt. Denn es ist wirklich ein Albtraum, die Kinder an der Schule abzuliefern. Kein Wunder, dass nachher alle ihren überteuerten Kaffee brauchen, eine süße Leckerei und die Chance, mal abzuschalten und sich ein bisschen zu entspannen.
»Ehrlich gesagt bin ich jeden Tag völlig erledigt, wenn ich Jacob endlich so weit habe«, hatte Caroline ihr einmal erzählt. »Fix und fertig. Wenn er in der Schule ist, brauche ich diesen Koffeinschub, weil ich immer noch den kompletten Arbeitstag vor mir habe.«
»Ja, ich weiß, was du meinst«, hatte Sarah mit einem mitfühlenden Nicken entgegnet und Heather einen wissenden Blick zugeworfen. »Manchmal fahre ich nach Hause und lege mich gleich wieder ins Bett.«
Caroline hatte ausgesehen, als wollte sie Sarah am liebsten ohrfeigen.
Sobald Sarah bestellt hat – einen Skinny Latte und einen Zimtbagel –, setzt sie sich an einen Einzeltisch den anderen gegenüber. Hin und wieder ist sie mutig genug, um sich zu ihnen zu setzen, aber meistens ist ihr mehr nach etwas Platz und Zeit für sich selbst. Heather bedeutet ihr mit einer Geste, sie solle ihnen Gesellschaft leisten, weil sie nett ist und wahrscheinlich genug von Caroline hat, doch Sarah schüttelt den Kopf. Sie bläst die Wangen auf, lässt die Luft ausströmen und hebt demonstrativ die Laptoptasche, die sie mitgebracht hat. Heather nickt zum Zeichen, dass sie verstanden hat, und Sarahs Lippen bilden ein stummes Sorry. Sie hat noch dringende Arbeit zu erledigen, das verstehen sie immer. Und wenn eine von ihnen am Tisch vorbeikommt oder sich auf ein kurzes Schwätzchen zu ihr setzt, klappt sie den Laptop zu, ehe irgendjemand sehen kann, was sie wirklich macht. Dass sie sehen, wie sie ihn zuklappt, ist nicht weiter schlimm. Alle wissen, warum sie ihre Arbeit geheim hält.
»Was machst du eigentlich genau?«, hatte Heather vor einigen Wochen gefragt.
»Ich, äh … schreibe.«
»Wirklich? Das ist ja toll.«
»Ich bin nicht besonders erfolgreich oder so was. Bloß ein paar Kurzgeschichten.«
»Ich würde so gern mal eine lesen. Ich besuche regelmäßig einen Lesekreis, wir könnten vielleicht …«
»Keine Chance.« Sarah hatte gelacht. »Ich gebe grundsätzlich niemandem, den ich kenne, meine Sachen zu lesen. Um ehrlich zu sein, fällt es mir schon schwer genug, sie den Leuten zu zeigen, die sie mir abkaufen. Nicht dass es viele wären. Außerdem schreibe ich unter Pseudonym, du brauchst dich also gar nicht erst auf die Suche zu machen.«
»Ich hab immer schon mit dem Gedanken gespielt, vielleicht selbst was zu schreiben«, hatte Heather gesagt.
»Warum tust du es dann nicht?«
»Na ja, ich glaube, es ist schwieriger, als die meisten glauben.«
»Man denkt sich bloß was aus, wirklich.« Sarah wollte das Thema abschließen. »Darin war ich schon immer gut.«
In diesem Moment klappt sie ihren Laptop auf und starrt auf den vertrauten Bildschirmschoner. Als sie aufschaut, sieht sie, dass David durch die Tür tritt. Er lächelt, als er sie entdeckt, dann geht er zur Theke, um sich etwas zu bestellen. Sie erwidert sein Lächeln, ist aber ein bisschen enttäuscht, dass Alex nicht aufgetaucht ist. Er kommt nicht regelmäßig, schaut aber ein- oder zweimal pro Woche vorbei. Wäre er heute hier, würde sie sich der größeren Gruppe, zu der er sich meist gesellt, anschließen. Die Sache hat keinen Sinn, das ist ihr schon klar. Er ist ein glücklich verheirateter Hausmann. Und doch spürt sie dieses Kribbeln, und ein kleiner Flirt tut keinem weh.
Eine kleine … Fantasie.
Sie sieht, wie David sich zu den drei Frauen am Fenster setzt. Erst jetzt registriert sie den Mann am Nachbartisch. Zumindest bemerkt sie erst jetzt, dass er sie anschaut.
War er schon hier, als sie reinkam? Sie ist sich nicht sicher.
Er beugt sich zu ihr herüber und sagt: »Entweder Sie schreiben einen schonungslosen, literarisch anspruchsvollen Roman oder …«
»Wie bitte?«
»Ich meine, auf keinen Fall Chick lit.«
Sie schaut ihn an.
»Oder Sie hängen bloß auf Twitter rum.«
Sie zuckt die Achseln und versucht, keine Panik aufkommen zu lassen.
Er lächelt und nimmt einen Schluck Kaffee. »Ich rate bloß.«
Er gehört definitiv nicht zu den Eltern von Brooklands Hill. Da ist sie sicher, weil sie alle vom Sehen kennt. Das ist ihr wichtig. Also kann er auch nichts von dem wissen, was sie den anderen über sich erzählt hat. Gleichzeitig aber ist sie sicher, dass sie ihn auch nicht aus einem anderen Zusammenhang kennt. Wie kann es also sein, dass er überhaupt etwas über sie weiß?
Sie spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
Dieses Gefühl hat sie noch nie gemocht.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben«, sagt sie und wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu.
»Okay, mach ich.«
Er muss ungefähr Mitte vierzig sein, denkt sie, ein paar Jahre älter als sie. Er trägt einen Anzug mit Nadelstreifen, dazu allerdings ein Hemd mit Blumenmuster, oberster Knopf offen, und eine ausgebeulte Schiebermütze. Elegant, aber lässig, voll im Trend, vermutet sie. Ein Look, an dem er wahrscheinlich sorgfältig gefeilt hat. Er trägt einen silbrigen Kinnbart und einen kleinen Ohrstecker. Hinter einer Brille mit dickem braunem Rand sind leuchtend grüne Augen zu erkennen.
»Ich muss zugeben, dass ich Mühe habe«, sagt er nach ungefähr einer Minute.
»Wie schade«, entgegnet sie.
»Um sicher zu sein, müsste ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Sie schaut hinüber zum Fenstertisch und bemerkt, dass Caroline sie beobachtet. Das macht sie glücklich. Langsam klappt sie den Deckel des Laptops herunter und sagt: »Ich gebe Ihnen drei.«
»Drei?«
»Das ist ein einmaliges Angebot.«
Er nickt und lehnt sich zurück, als würde er darüber nachdenken. »Wie heißen Sie?«
Sie braucht ein paar Sekunden. »Sarah.«
»Wohnen Sie hier in der Nähe?«
»Nicht weit weg.« Sie beißt in ihren Bagel und kaut. »Noch eine Frage …«
»Dann wähle ich wohl besser eine gute.«
»Ja, das sollten Sie.«
Erneut beugt er sich vor und senkt die Stimme ein wenig. »Geben Sie jemals fremden Männern Ihre Telefonnummer?«
Sie spürt, dass sie wieder rot anläuft. Aber diesmal ist der Grund ein anderer, und es macht ihr nichts aus. »Sind Sie denn fremd?«
»Auf jeden Fall«, sagt er.
»Dann geben Sie mir Ihre.«
Er rattert eine Zahl herunter, und sie tippt die Ziffern in ihr Handy. Kurz darauf klingelt sein Telefon. Er schaut auf das Display, nickt und drückt den Anruf weg.
»Fremd, aber ehrlich«, sagt sie.
»Ist das gut?«
»Es ist okay«, sagt sie.
Danach schweigen sie, als seien sie beide zu dem Entschluss gelangt, dass genug geredet wurde. Sie schaut sich um und stellt fest, dass auch Heather und Savita sie inzwischen beobachten. Nicht schlecht. Sie genießt den Umstand, dass ausnahmsweise sie es ist, die das Thema vorgibt, dass sie ihnen Gesprächsstoff für später bietet, wenn sie die Kinder wieder aufgabeln.
Sie lächelt.
Wird sie hier gerade tatsächlich von diesem Typen angemacht?
Jedenfalls fühlt es sich so an, und sie ist selbst überrascht, wie sehr sie das freut. Es ist eine ganze Weile her.
Als der Mann aufsteht, bindet er sich ein Halstuch um und sagt: »Ich heiße übrigens Conrad. Oh, und ich tippe definitiv auf etwas Literarisches.«
Sie sieht ihm beim Rausgehen hinterher, klappt ihren Laptop wieder auf und weiß, ohne hinzusehen, dass das Müttertrio am Fenster sie weiter im Blick behält. Ihr Bildschirmschoner leuchtet wieder auf, und sie gibt sich keine Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. Ein dunkelhaariger Junge in einem Chelsea-Trikot. Mit Zahnlücke, herumalbernd, die Daumen hochgereckt. Er blinzelt gegen die Sonne, hinter ihm das ungebrochene Blau des Meeres und eines wolkenlosen Himmels.
Jamie …
Der Gesichtsausdruck von DCI