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Sella beobachtet die Ankunft der Nachbarsfamilie. Sie lebt mit Arild in einem kleinen Haus, die Nachmittagssonne streift nochmal kurz den Garten, dann liegt er im Schatten. Arild bereitet den Griller vor, das Auto der Nachbarn fährt langsam vorbei, man sieht die Eltern, die beiden Brüder. Sie haben sie heimgeholt, denkt Sella, aber ein Platz im Auto ist leer. Ob sie etwas für die Familie backen sollte? Um sie willkommen zu heißen, um Anteilnahme auszudrücken? Später wird sie die frischen Waffeln in Alufolie wickeln und in den Brotkasten legen. Die kleinen Hagelkörner rasseln wie Glassplitter im Regenrohr. Es ist der 29. Juli 2011. Die Leute von der Insel sind endlich wieder zu Hause.

Es ist ein stiller, fast ereignisloser Roman, den Eivind Hofstad Evjemo neben jenes Ereignis stellt, das sich brutal und tief in das kollektive Gedächtnis Norwegens geschlagen hat: die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya. Mit nüchterner Behutsamkeit nähert er sich Sella und Arild an, sucht im Wirrwarr der alltäglichen Dinge und der allgemeinen Trauer nach ihrer ganz privaten, die unter der Anteilnahme wieder aufbricht. Ein berührender, genauer Text über Verlust und Trauer und die hartnäckige Einsamkeit, die zwischen den gewohnten Dingen haust.

EIVIND HOFSTAD EVJEMO, * 1983 in Levanger, studierte literarisches Schreiben an der Litterær Gestaltning in Göteborg. 2009 gewann er mit seinem ersten Roman Weck mich, falls ich einschlafe (Vekk meg hvis jeg sovner) den Tarjei Vesaas’ First Writers Award, Norwegens prestigeträchtigsten Debütpreis. Sein dritter Roman Vater, Mutter, Kim (Velkommen til oss) wurde 2014 in Norwegen von der Presse begeistert aufgenommen und in Frankreich für den Prix Femina nominiert. Eivind Hofstad Evjemo war 2015 unter den zehn besten Schriftsteller*innen Norwegens unter 35 Jahren. Er lebt in Oslo.

eivindhofstadevjemo.com

KARL CLEMENS KÜBLER, * 1992 in Basel, hat in Berlin und Oslo Literaturwissenschaft studiert und übersetzt seit 2015 Literatur aus dem Norwegischen ins Deutsche.

CLARA SONDERMANN, * 1990, studierte skandinavische und neuere deutsche Literatur in Berlin und Reykjavík. Sie arbeitet als Lektorin und Übersetzerin aus dem Schwedischen und Norwegischen.

Eivind Hofstad Evjemo

Vater, Mutter, Kim

Roman

Aus dem Norwegischen von
Karl Clemens Kübler und Clara Sondermann

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Titel der norwegischen Originalausgabe: Velkommen til oss

Copyright © CAPPELEN DAMM AS 2014, Oslo

This translation has been published with the financial support of NORLA.

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Der Autor dankt:

Danke an meinen Redakteur Dan Andersen für dein geduldiges, präzises Lesen während des ganzen Arbeitsprozesses.

Danke für deine Einfühlung und die Zeit, die du in das Projekt investiert hast. Danke an Jon Filip Fahlstrøm für all die geteilten Erfahrungen, für deine Freundschaft und für unsere Gespräche.

Danke auch an den Designer Jørn Aagaard und meine Verlagslektoren Elen Betanzo und Jens Bremseth.

Anfangszitat: Åsne Seierstads En av oss – en fortelling om Norge, Kagge 2013; Deutsche Übersetzung: Einer von uns: Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik, Kein & Aber 2016, Ins Deutsche übersetzt von Frank Zuber und Nora Pröfrock.

© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten

1. Auflage 2019

Umschlaggestaltung: Julian Tapprich – juliantapprich.com

Lektorat: Teresa Profanter

Satz: Luftschacht gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: Christian Theiss GmbH

Papier: Fedrigoni Arcoprint Milk 100 g/m2, Fedrigoni Sirio Color Nero 115 g/m2, Fedrigoni Cocktail Curacao 115 g/m2

ISBN: 978-3-903081-37-6

ISBN E-Book: 978-3-903081-72-7

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Wir glaubten, das Glück gefunden zu haben!

Wenche Behring Breivik

Inhalt

Prolog 29. Juli 2011

1. Januar 2014

1985

2014

1989

2014

1991

2014

2001

2003

2011/2014

Juli 2014 Epilog

Prolog

29. Juli 2011

Um halb fünf wird der letzte Rasenmäher abgestellt, Nachmittagssonne streift den Garten ein letztes Mal, wenig später liegt er wieder im Schatten. Jemand trägt Tische und Stühle nach draußen, spannt die Seile einer Hängematte. Die Lautsprecherkabel reichen genau bis zur Balkontür, alles stimmt. Ruhiger Jazz weht an Mückenschwärmen und Fliederbüschen vorbei in Richtung Planschbecken und Dartscheibe. Sella trägt Gläser, Teller und Besteck nach draußen und stellt einen Aschenbecher dazu; am Morgen hat sie in einer alten Jacke eine Schachtel Zigaretten gefunden und beschlossen, nach vielen Jahren wieder eine zu rauchen. Ein Glasvogel schmückt den Gartentisch, das Glas ist an seinem Bauch gesprungen. Auf dem Spielplatz schießt ein Erwachsener einen Ball so hoch in die Luft, dass es für einen Moment so aussieht, als würde er nie wieder auf dem Boden aufkommen. Gleich werden die Kinder darum wetteifern, den Ball in der Luft zu fangen, eines von ihnen wird sich am Zaun stoßen und bluten. Später wird sich ein anderes von ihnen beim Abendessen am Messer schneiden und ein Pflaster um den Finger bekommen. Einem weiteren werden schließlich Mutter oder Vater auf der Bettkante sitzend vorlesen.

Währenddessen biegt eine Familie nach mehreren Stunden auf Schnellstraßen an einer Kreuzung ab, die Lenkerin des Wagens schaltet in einen niedrigeren Gang, denn sie haben ein Wohngebiet erreicht; an Bäumen und Laternen hängen Schilder, Vorsicht – Spielstraße. Die Fahrt steckt ihnen in den Knochen, die Luft ist verbraucht, Eispapier und Take-Away-Boxen mit angetrocknetem Hamburgerdressing liegen auf dem Boden. Die Passagiere haben genügend Platz, denn eine Person fehlt. Die Wasserflaschen sind leer, die Limonade, inzwischen warm und ohne einen Rest Kohlensäure, steckt im Getränkehalter auf der Beifahrerseite. In der Windschutzscheibe des hellen Autos spiegeln sich Gartensträucher, Bäume und Hauswände; die Menschen dahinter sind kaum zu erkennen. Nichts hat sich verändert, die Hundesticker kleben noch an der Heckscheibe, wo sie das Mädchen vor Jahren angebracht hat, das Schlagloch in der Straße ist noch genauso tief, doch niemand regt sich darüber auf, als der rechte Vorderreifen hineingerät. Die Lenkerin flucht nicht, als die Limonadenflasche zu Boden fällt. Und die Sonne scheint und scheint. Die Leute von der Insel warten auf die Fähre, die sie nach Hause bringen wird, die Fähre wartet auf ein Schiff mit einer Ladung Beton, das im engen Sund dreht. Von der Schiffsbrücke hört man aufgeregte Rufe.

Arild steht im Garten und schüttet Brennflüssigkeit auf den Grill, als sich das Auto nähert; aus Rücksicht hält er kurz inne, um so etwas wie Respekt zu zeigen. Das Auto fährt etwas zu langsam vorbei, wie um sich wichtiger zu machen, als es eigentlich ist. Jedes Mal, wenn die Reifen in die Schlaglöcher geraten, schüttelt es den Anhänger durch, die Enden der Spannriemen schleifen über den Asphalt, ein Lastentier, das den Kopf hängen lässt. Vom Spielplatz fliegt ein Fußball hoch über den Zaun auf die Straße, und das Auto muss bremsen, denn ein Kind läuft dem Ball sofort hinterher. Für ein paar Sekunden gefriert das Bild; bleibt das Kind stehen, bleibt das Auto stehen, drehen sich die Rasensprenger vier Mal im Kreis, ohne dass etwas passiert. Rindenmulch wird auf die abschüssige Böschung geworfen. Schließlich bricht das Kind den Bann und läuft über die Straße. Es holt den Ball unter einer Hecke hervor und rennt zurück zu den anderen. Die Fahrt geht weiter, abwärts.

Sella kommt aus dem Haus. Sie bleibt auf der obersten Treppenstufe stehen und wartet. In den Händen hält sie eine feuerfeste Form mit einem Stück Fleisch, in Alufolie eingewickelt. In kleinen Glasbehältern: Zitronenscheiben, gehackte Mandeln, Basilikum aus eigenem Anbau. Sie kann die Eltern auf den Vordersitzen ausmachen, die Mutter umfasst das Lenkrad mit beiden Händen. Sie erkennt die Brüder, den kleinen mit einem Reisekissen im Nacken. Sie sind vor einer Woche losgefahren und kehren mit leeren Händen zurück. Im Haus hingen die Gardinen vor den Fenstern, ein Nachbar hat während ihrer Abwesenheit den Briefkasten geleert und den Rasen gemäht. Sie brauchten ihn nicht einmal darum zu bitten. Sie haben sie zurückgebracht, denkt Sella, sie haben sie heimgeholt.

Sella dreht sich um, geht zurück ins Haus und stellt die Musik leiser. Dann kommt sie wieder heraus und schleicht sich an Arild heran, der gerade ein Streichholz auf die Kohle geworfen hat und sich nach hinten lehnt, um sich vor den Flammen zu schützen. Es zischt und knistert, Arild klappert unruhig mit der Grillzange, kneift die Augen zusammen. Die Sonnenbrille liegt etwas verborgen im Gras neben dem Sonnenschirm, sobald er einen Schritt macht, tritt er fast darauf.

Sella sucht nach einer Stelle, von wo aus sie die Ankunft der Familie mitverfolgen kann. Sie sieht, wie sie den Anhänger auf dem Hof möglichst dicht neben die Eingangstür schieben. Sella sieht die Großmutter auf der Treppe sitzen, sieht die Brüder des Mädchens im Haus verschwinden und mit Arbeitshandschuhen herauskommen, sie sieht, dass sich hinter den Gardinen der Nachbarhäuser etwas regt; wie Fische, die nach einer Bewegung im Wasser an die Oberfläche drängen. Bald liegen dunkle Säcke und Zelte, nasse Joggingschuhe und dunkle Matten für jeden sichtbar auf dem Hof, aber die Männer arbeiten so schnell wie Techniker am Theater, die nur ein paar Sekunden für den Umbau der Bühne haben, bevor der Vorhang wieder aufgeht. Vollgestopfte Tüten, Kleidungsstücke, die noch schwach nach Erde, Salz, Gras und Meer riechen. Sicher haben sie einen Keil unter die Kellertür geschoben, damit sie nicht zufällt, denkt Sella, denn alles soll nach unten. Danach können die Jungs Badminton spielen über ein Netz, das sie von der Hauswand bis zu einem Baum im Garten hinter dem Haus gespannt haben, danach können sie Saft anrühren und noch mehr Stühle mit Kissen hinausstellen, das Leben muss trotz allem weitergehen.

Dann setzen Sella und Arild sich an den Tisch. Sie essen Bio-Chorizo und Bratwürste, die etwas teurer sind als die normalen Grillwürstchen. Sie haben sie direkt beim Bauern gekauft. Zartes Kalbsfilet, vierundzwanzig Stunden in Knoblauchmarinade eingelegt, Feta, Mandeloliven und selbstgemachtes Aioli. Ofenfrische Focaccia mit Rosmarin, dazu eine Karaffe mit spanischem Rotwein. Sie haben viel zu viel zu essen. Sella sagt:

„Wir haben viel zu viel zu essen.“

„Wie immer“, entgegnet Arild.

„Sch“, macht Sella.

„Was denn?“

„Ach, nichts.“

Die Katze bettelt unter dem Tisch.

Sella und Arild essen, und sie essen gut. Sie trinken den Wein aus und erwähnen die Familie mit keinem Wort. Sie sprechen nicht darüber, dass sie nach Hause gekommen sind und was das bedeuten muss, auch wenn Sella an nichts anderes denkt. Sie stellt sich den mit Jacken und Schuhen vollgestellten Gang vor, das Gedränge in der Küche, wo das Abendessen vorbereitet wird, sie findet es merkwürdig, dass Arild nichts dazu sagt, wo er doch von Anfang an alle Meldungen zu dem Unglück in den Zeitungen verfolgt hat und aufgehört hat zu kauen, wenn im Radio die Nachrichten gebracht wurden.

Als die ersten Regentropfen seine Stirn treffen, blickt Arild ungläubig zum Himmel: War das ein Regentropfen oder etwas anderes? Ein Tropfen vom Rasensprenger aus dem benachbarten Garten, vom Wind herübergeweht? Aber es ist zu hören, wie die Kinder vom Spielplatz gerufen werden, wie Sitzauflagen und Wäsche eingesammelt und in die Flure geworfen werden. Und es werden mehr und mehr Tropfen, immer mehr Tropfen, und plötzlich öffnet sich der Himmel, und ein milder Juliregen fällt herab; der Beginn eines Unwetters, das einer der Nachbarn schon lange durch sein Fernglas über dem Gebirge heranrollen sah und das nun endlich da ist. Und dann trommelt es auf die Dächer der Häuser und Autos, zuerst sachte, dann lauter und lauter, es trommelt auf die Abdeckungen der Briefkästen, und auf der Wasseroberfläche eines halbleeren Planschbeckens wimmelt es von Tropfen, als würden Millionen kleiner Kaulquappen schlüpfen und nach oben drängen. Man kann sehen, wie sich die Hunde an die windabgewandte Seite ihrer Zwinger kauern, wie der Regen in offene Dachfenster läuft, und man kann sehen, dass es gut ist.

Die Familie hat das Licht in der Küche angemacht, aber sie essen im hinteren Teil des Hauses, vor dem Fenster mit Blick auf den Garten, wo ein Spielhäuschen und eine Schaukel stehen. Einige Abende zuvor war Sella dort gewesen. Vom Gebüsch aus hatte sie in den Garten geschaut. Deswegen wusste sie, dass der Esstisch vor einem Fenster steht, das fast die gesamte Front einnimmt und den Gästen sicher das Gefühl gibt, im Freien zu essen; deswegen wusste sie auch von dem Spielhäuschen und der Schaukel und von den Blumen in den Beeten, die bereits blühten. Sella war vorsichtig gewesen, hatte sich hinter der Garage der Nachbarn versteckt gehalten und so lange gewartet, bis sie sicher war, dass niemand sie sah. Dann hatte sie einen Pfad entdeckt, der für die Kinder aus der Nachbarschaft eine Abkürzung zum Spielplatz bot, hatte beim Überqueren eines kleinen Kräuterbeets darauf geachtet, keine Fußabdrücke zu hinterlassen, und schließlich einen Kamtschatka-Rosenstrauch erreicht, an dem sie stehen blieb. Sie hatte alles sehen wollen, bevor es zu spät war, den Garten, der dalag, als wäre nichts passiert. Sie hatte eine behütete Kindheit vor sich gesehen, Wunschkinder; das Mädchen war von etwas mitgerissen worden, was sich außerhalb dieser Idylle befand. Der Rasen, die Bäume sind unschuldig, dachte sie, weder dem Türgriff der Balkontür noch den rüschenbesetzten Vorhängen im Spielhäuschen oder den Dornen der Rosen, die so viele Male die Haut des Mädchens aufgerissen hatten, hätte man in irgendeiner Weise Vorwürfe machen können. Sie stellte sich vor, wie ein Junge in den Garten rannte, schnell an ihr vorbeilief und den Arm wie einen Propeller kreisen ließ. Wie der Vater mit den Händen auf dem Rücken nach draußen kam und den Boden nach einem verlorengegangenen Zelthering absuchte. Und wie das Mädchen um die Hausecke bog, hübsch, so hübsch, mit einer Zelttasche in der Hand, in dünner Jacke und kurzen Hosen mit vielen Taschen; bleiche Beine, gelbe Turnschuhe. Um den Kopf eine Stirnlampe, die aussah wie eine keimende Kartoffel. Das Gesicht des Mädchens wäre ruhig und entspannt. Sie würde sich umschauen, die Landschaft in sich aufnehmen, ein paar Steine aufheben; vielleicht mit der Hand über den Stamm des Kirschbaums streichen, enttäuscht, weil es so still geworden war. Möglicherweise würde sie sich später auf den Boden legen und eine Weile in den Himmel starren und dann mit einem Mal aufspringen, weil ihre Haut von der Erde ganz feucht geworden war. Sie würde sich das Gras von den hinteren Hosentaschen wischen, sich in die Hand schnäuzen und sich auf die Suche nach einer geeigneteren Stelle machen, um sich hinzulegen, dieses Mal mit dem flackernden Licht der Stirnlampe vor sich auf dem Boden.

Sella hatte zunächst nach diesem Offenen gesucht, nach allem Lebendigen, das sichtbar wurde, wenn man nur gründlich genug danach suchte. Schneckenhäuser. Der Garten hatte direkt vor ihr gelegen, auch das Haus; würde Sonnenlicht auf die Nachbarhäuser fallen, könnten es die Markisen als Stichwort verstehen und sich wie von selbst ausfahren, sodass niemand beim Essen die Sonne im Gesicht hätte. Selbst ein Satz wie Bist du so lieb, mir die Salatschüssel zu reichen, würde aus dieser Perspektive eine unaussprechliche Bedeutung erhalten, denn in diesem Satz wären alle noch am Leben.

Sella macht den Kühlschrank auf und lässt den Blick über die verschiedenen Fächer gleiten.

„Willst du einen Nachtisch?“, ruft sie.

„Nein“, ruft Arild. „Ich bin satt.“

„Wir haben Vanillesoße.“

„Nein“, ruft Arild noch einmal.

Um der Familie etwas Gutes zu tun, könnte sie für sie backen. Das wäre eine Art, die Familie wieder willkommen zu heißen. Sella würde sich selbst zur Botschafterin ernennen für alle, die zum Ausdruck bringen wollen: Wir nehmen Anteil an eurem Kummer. Sie macht den Kühlschrank wieder zu und geht zu den Schubladen mit Mehl, Nüssen und Tacos, in denen Arild auch seine Müslimischungen aufbewahrt. Wenn Arild ihre Gedanken lesen könnte, würde er sagen, dieses Bedürfnis, etwas Gutes zu tun, ohne dass jemand darum gebeten hat, sei so typisch für sie. Aber das würde sie nicht daran hindern: In diesem Punkt waren sie einfach verschieden.

Sella stapelt Mehlpackungen auf die Küchenzeile, ohne zu wissen, was sie backen wird. Sie denkt an ihre Großmutter, die immer für trauernde Familien gebacken hatte. Sie war einfach bei den Betroffenen vorbeigegangen, selbst wenn sie diese nicht sonderlich gut gekannt hatte, und hatte ihnen Kuchen, Brötchen oder frisches Brot gebracht, damit sich die Familie in den Tagen der Trauer zumindest darum weniger sorgen musste.

Sella zieht Kochbücher aus dem Küchenschrank; Staub, der sich auf der Vorderseite angesammelt hat, wirbelt auf. Sie findet das richtige Kapitel und blättert es langsam durch. Mandelkranz ist zu weihnachtlich, findet sie. Zimtschnecken sind besser, aber am besten wären vielleicht ganz einfache Hefebrötchen. Die können pur gegessen werden oder mit einer Scheibe Käse und ein wenig Marmelade. Sie liest das Rezept noch einmal im Stehen durch. Nimmt Eier und Butter aus dem Kühlschrank, schneidet einen großzügigen Klumpen Butter ab und lässt ihn in einen Suppentopf fallen, sieht ihm beim Schmelzen zu und hilft etwas nach, indem sie hastig mit einer Gabel im Topf rührt. Während sie auf die Butter schaut, wird sie wieder unsicher: Kenne ich diese Leute überhaupt? Werden sie es als höfliche Geste verstehen oder sich in ihrer Privatsphäre gestört fühlen? Sie legt es nicht darauf an, einen Preis für ihre Barmherzigkeit zu bekommen. Sie stellt die Herdplatte wieder ab und setzt sich auf einen Stuhl. Ich sollte vorsichtig auftreten, denkt sie. Das hier ist eine Tragödie unvergleichlichen Ausmaßes, und ich kann mich nicht einfach hineindrängen.

„Hast du Lust auf Waffeln?“, ruft sie.

Aber sie bekommt keine Antwort. Sie steht auf, schlägt vier Eier in eine Plastikschüssel, rührt Mehl und Butter unter und schlägt den Teig so lange, bis er ganz glatt ist, stellt das Waffeleisen an, und als es warm genug ist, fettet sie die Platten ein und gießt Teig hinein. Die erste Waffel wird zu dick, quillt zwischen den Platten heraus und läuft über die Ränder. Als sie das Eisen öffnet, zerreißt das Waffelherz in der Mitte und es dauert eine Weile, bis sie die Teigreste aus den Kerben herausgekratzt hat. Aber die nächsten Waffeln werden besser, die letzte perfekt. Sie überlegt, dass ihre Großmutter allerdings auch zu einer Zeit gelebt hat, als die Wege zwischen den Häusern kürzer waren; wo es ganz natürlich, ja fast selbstverständlich war, ungefragt etwas zu geben.

Sella verarbeitet den ganzen Teig, denn sie und Arild können die Waffeln auch kalt essen. Mit Waffeln kann sie der Familie nicht kommen, das wäre zu einfach, fast peinlich, Waffeln können sie gut selber machen. Stattdessen packt sie die Waffeln in Alufolie, legt sie in den Brotkasten und schließt den Deckel, zieht schnell die Schürze aus und hängt sie an den Haken hinter der Tür. Sie stellt das Mehl zurück in die Lade, wischt mit dem Lappen über die Küchenzeile, schlägt mit dem Handrücken gegen den Lichtschalter, verlässt die Küche und geht ins angrenzende Zimmer.

Draußen vor dem Fenster befindet sich der Gartentisch, an dem sie gerade noch gegessen haben, wieder in seinem gewöhnlichen Zustand; die Tischdecke ist glattgezogen, die Bank wurde unter den Tisch geschoben, der Aschenbecher ist unbenutzt und mit Regenwasser gefüllt; der große Keramiktopf mit orangefarbenen Ringelblumen steht jetzt auf dem Boden. Sie setzt sich, legt die Hände auf den Bauch und schiebt die Rückenlehne ein wenig zurück, um es bequem zu haben. Es dauert nicht lange, dann steht sie wieder auf. Sie legt die Wohnzimmerdecken zusammen und hängt sie über die Sofalehnen, dann geht sie in den Keller und wechselt mit dem Kehrblech das Katzenstreu – warum sie damit anfängt, weiß sie nicht –, die Mülltüte stellt sie auf die Treppe, fest verknotet. Dann kniet sie sich vor das Backrohr und fängt an, die Oberflächen mit der rauen Seite eines Schwamms zu schrubben. Sie erinnert sich an die Forelle, die sie einmal im Ganzen gebraten hat, das Fischfett war durch Risse in der Backfolie heruntergelaufen und auf den Boden getropft; anschließend hatte das Gratin dauphinois danach geschmeckt. Sie wringt den Schwamm über dem Eimer aus, bis das Wasser pechschwarz ist, und trocknet das Rohr, indem sie es auf 200 Grad erhitzt. Arild kommt hinzu und beugt sich vor. Zu gern würde er darin eine Kuchenform entdecken, doch er muss feststellen, dass der Ofen leer ist. Er legt sich vor den Fernseher, in Sellas Ecke, wo ihre ungelesenen Zeitungen und Zeitschriften in einem Korb auf dem Boden stehen. Gleich wird die Katze in Arilds Schoß springen und schnurren, denn sein Schoß ist immer noch der begehrteste Platz im ganzen Haus.

Der Gartentisch steht im Schatten. Der Grill steht im Schatten. Es regnet kleine Hagelkörner, sie treffen auf Dachziegel und rasseln wie Glassplitter in einem Staubsaugerrohr durch die Regenrinnen nach unten. Die Leute von der Insel sind endlich wieder zu Hause, aber die Handtücher rutschen weiter von Badezimmerhaken, wie aus Protest.

Von oben gesehen, könnte man denken, es sei gar nichts passiert.

1. Januar 2014

Eiskristalle an der Hauswand, das Licht eines Scheinwerfers gleitet darüber und wandert nach unten in die Büsche. Ein gefrorener Spaltklotz steht am Hang. In den Bäumen hüpfen die Elstern von Ast zu Ast. Durch eine Schiebetür aus Glas zeichnen sich die Umrisse einer CD-Hülle ab, ein Fernseher und ein schlecht instand gehaltenes Klavier. Eine leicht geöffnete Besteckschublade.

Sie würden irgendwann kommen.

Das Auto blinkt, fährt von der Hauptstraße ab und den Hang hinauf, vorbei an den Häusern der Unternehmer mit Briefkastenverkleidungen aus Eichenholz und mit Blick über die Stadt, vorbei an Reihenhäusern im Blickfeld anderer Reihenhäuser, und weiter, vorbei an einem kleinen Platz mit Bänken, einer Rutsche, einem eingeschneiten Kohlegrill. Ein Straßenbesen wurde scheinbar im Affekt nach draußen geschleudert und absichtlich liegen gelassen. Wärmepumpen an den Hauswänden bohren ihre Eckzähne in die Holzverkleidung und lassen dünne Luft in die Räume strömen. Besuch verabschiedet sich: Der Gastgeber hilft beim Ausparken aus der schmalen Einfahrt. Die Gastgeberin winkt vom Balkon und schwenkt eine Wunderkerze, ein Überbleibsel des gestrigen Silvesterabends. Ein Spielplatz, die Kinder im Bett, die Fenster gekippt. Der Grill der Nachbarn steht noch draußen, obwohl schon Winter ist, die Gasbehälter stehen vor dem Haus wie Munitionsreserven für ein Militärfahrzeug.

Eine Wäschespinne, ohne Wäsche, ohne Wind.

Das Auto bremst und biegt in einen schmaleren Schotterweg ein, gibt wieder ein wenig Gas und Kies fliegt auf, ein Geräusch von Maiskörnern, die im Topf zu Popcorn aufplatzen. Vor dem Haus angekommen, wendet der Fahrer schnell und routinemäßig, indem er in den Hof des Nachbarn einfährt, und bringt das Auto zum Stehen. Arild steigt aus und geht auf das Haus zu. Über dem einen Arm hat er seinen Anzug, im anderen hält er eine Tasche mit einer Flasche Barbaresco. Er trägt ein rotes Hemd und eine Anzugshose, seine Haare sind ungekämmt. Dann steigt sie aus: öffnet die Tür, setzt einen unsicheren Schritt auf den Boden und richtet sich auf, indem sie sich vom Sitz hochschiebt. Sella ist nach der langen, kurvenreichen Fahrt ein wenig bleich im Gesicht. Ihre Schuhe hatte sie vor der Abfahrt nicht gewechselt, hatte es einfach nicht geschafft, und sie im Hotel gelassen. Jetzt befinden sie sich in einer Ablage unter dem Empfangstisch, aber Sella weiß, dass sie sie niemals abholen wird. Daher steht sie jetzt in schwarzen Festtagsschuhen vor dem Haus und sieht in den Himmel. Die Kälte zieht ihr unter das Kleid, widerstandslos beginnt der Körper zu frieren. Sie denkt: Ist es wahr, dass Sterne das Echo von Sonnen sind, die vor Millionen von Jahren versiegt sind? Und wenn es so war: Wer hatte ihr das nochmal erzählt? Arild steckt den Kopf aus der Haustür und verschließt das Auto per Knopfdruck.

„Jetzt steh doch nicht hier draußen, du frierst doch“, sagt er.

Nein, das sagt er gar nicht. Er geht nur noch einmal nach draußen und fingert mithilfe seines Schlüssels den Klingelknopf heraus, den irgendjemand eingedrückt hat, während sie fort waren. Ein Zettel hängt auch daneben: Klingel kaputt. Anklopfen! Smiley.

Eine Sternschnuppe huscht ohne Schweif über den Himmel. Musste man sich jetzt etwas wünschen? Sie kneift die Augen zusammen, irgendetwas muss man sich wünschen, man weiß ja nie. Sie geht auf das Haus zu, die leichten Gardinen hängen zur falschen Jahreszeit, und es ist alles ihre Schuld. Die Leitungen des Rasensprengers bersten diesen Winter schon zum dritten Mal in drei Jahren.

Sie ist so erschöpft, so über die Maßen erschöpft.

Arild kommt aus dem Keller, eine Tiefkühlpizza in der Hand.

„Eine der Gefriertruhen ist durchgeschmort“, sagt er. „Der ganze Boden da unten ist voller Blut.“

Und sie wollte doch einfach nur zu Hause ankommen und sich hinlegen. Jetzt steht sie in der Waschküche und lässt Eimer mit Wasser volllaufen. Geht mit jeweils einem Eimer in der Hand die Treppe hinunter. Arild hat überall Licht gemacht, aber es ist immer noch zu dunkel zum Arbeiten. Regale mit Koffern, Taschen und Winterausrüstung, die niemand mehr braucht, Strandstühle, einer davon mit verkohlter Armlehne nach dem Einsatz eines Einweggrills. Schatten wandern über die grauen Zementwände, zwei Menschen verrichten mit ihren Händen unfreiwillige Arbeit.

Die Katze taucht auf, wie jedes Mal, wenn die Kellertür offen steht. Sie reckt die Nase, ist aber blitzschnell verschwunden, als Arild einen Eimer umstößt.

„So eine Scheiße“, ruft er.

Das Wasser fließt unter die alten Ordner mit Rechnungen. Spinnen bewachen die Ecken mit langen Beinen, hier liegen die Schulbücher von Kim. Einmal hatte sie versucht, sich von ihnen zu trennen, es aber gleich bereut, als sie zu Bett gegangen war. Noch in derselben Nacht war sie aufgestanden, hatte sich angezogen und alles wieder hineingetragen. Und hier stapeln sich die Bücher jetzt, wie in einem Lager der einfachsten Grabsteine der Welt.

Sella geht in die Hocke, taucht den Lappen in die Pfütze, wringt ihn aus. Das Wasser in einem der beiden Eimer ist schon dunkelrot. Arild ist gereizt, er drückt den Lappen hart gegen den Boden. Sella geht ins Bad, um mehr Küchenrolle zu holen, greift stattdessen zu einem Stapel Handtücher in allen Farben, die man sowieso wegschmeißen kann. Ihre Wangen sind blutverschmiert. Sie sollte sich besser umziehen, aber sie zieht das Neujahrskleid nicht aus, es tut doch jetzt nichts zur Sache.

Das Ganze dauert über eineinhalb Stunden. Zuerst müssen sie die Gefriertruhe mit dem Fleisch ausräumen. Einige Male müssen sie die Truhe verrücken, um an alles heranzukommen, und damit verteilen sie Blut und dreckiges Schmelzwasser noch mehr über dem Boden. Das Gefühl, niemals fertig zu werden. Die Schneehuhnherzen rutschen in ihren Gefrierbeuteln herum wie glitschiger Mozzarella, die Hühnchenfilets aus Schweden riechen nach offenen Wunden. Aber noch schlimmer steht es um das Fleisch, das sie für spezielle Anlässe aufgehoben hatte: Fleisch vom Elch, vom Kalb, einen ganzen Truthahn. Sogar die Lammkeulen müssen sie wegwerfen. Sie muss einige Male raus zur Mülltonne. Es tropft aus den Beuteln, ein Tropfen Hühnerbrühe läuft ihr zwischen die Brüste. Sie übergibt sich hinter der Mülltonne. Als sie hereinkommt, fragt Arild, hast du geweint, nein, das fragt er gar nicht; sie erkennt an seinem Blick, dass er es vermutet. Er hatte ja schon immer ein Auge dafür.

Warum sie unbedingt im Hotel in Røros hatten Silvester feiern müssen, konnte sich Arild am besten selbst beantworten. Er hatte von einem Einfall gesprochen und gesagt, man könne das ja einfach mal machen, und so hatten sie für die Silvesternacht ein großes Zimmer für zwei Personen mit Westbalkon und einer Badewanne gebucht. Er habe so viel Gutes über das Hotel in Røros gehört, und Morten habe das Buffet vorzüglich genannt. Und was hätte eine arme Frau anderes tun können, als die Lammkeulen einzufrieren, die sie gekauft hatte? An irgendeinem Sonntag im Januar würde man sich über ein besseres Mittagessen doch wohl ebenso freuen wie jetzt nach den ohnehin schwer im Magen liegenden Festtagen. Im Kühlschrank waren die letzten Reste des Weihnachtsessens. Das flache Rippchen auf seiner Untertasse, wie alte Eisenbahnschienen, in einer Pfütze aus weißem Fett. Daneben eine Portion Sauerkraut (es war ein schöner Abend gewesen, er war ruhig vorübergegangen, dachte sie zufrieden). Die Lammkeulen waren ruiniert, die Gefriertruhe musste ihren Geist aufgegeben haben, als sie losgefahren waren, meinte Arild: „Oder bevor wir uns überhaupt ins Auto gesetzt haben.“

Um acht Uhr hatten sie im Restaurant des Hotels zu Abend gegessen. Drei Gänge. Zur Vorspeise Lachs in Dillmarinade mit Senf und Zitrone, serviert auf dem leicht süßlichen, papierenen Brot der Region. Als Hauptgericht hatte es Rentiersteak in Rotweinsauce gegeben, mit Silberzwiebeln, süß eingelegten Birnen und Mandelkartoffeln. Zum Dessert Schokoladenfondant mit einer Sauce aus Beeren, Kaffee und Cognac. Den Cognac hatten sie dann mit nach nebenan genommen, in einen Raum mit Kaminfeuer und einer Ansammlung anderer Gäste. Ausgestopfte Tierköpfe hingen an den Wänden, sie hatten sich in tiefe Ledersessel sinken lassen, deren Armlehnen von den Brandlöchern abendlicher Zigarren gezeichnet waren. Genau genommen hatte sie den Cognac mitgenommen, er hatte einen Kaffeelikör und ein Stückchen italienischen Gewürzkuchen bestellt; und das Kaminzimmer hatte streng genommen nicht direkt nebenan gelegen, sondern am Ende eines Korridors mit dicken Teppichen, und war von Vanille-Zimt-Stumpenkerzen beleuchtet worden. Kurz vor zwölf waren sie dann mit dem Fahrstuhl nach oben auf das Dach gefahren, wo sie das Hotelpersonal erwartet hatte, die Daumen unter den Champagnerkorken. Die anderen Gäste hatten sich schon eingefunden, Frauen mit Wunderkerzen, Männer mit braunem Alkohol in fettigen Gläsern. Dort hatten sie einander zugenickt, in einer Art Schicksalsgemeinschaft, auf dem Dach dieses Hotels in Røros. Die Kälte hatte im Gesicht gestochen. Røros, Norwegens kältester Ort, ohne Zweifel. Man hatte ihr eine Wunderkerze in die Hand gedrückt, und gleich danach ein Sektglas, das sie dem Kellner entgegenstrecken konnte, wenn er mit der sprudelnden Flasche vorbeikam. Er war ungefähr in Kims Alter gewesen. Schon nach ein paar Schlucken hatte sie sich angetrunken gefühlt und den Rest Arild gegeben. Sella und Arild hatten mit den Anderen die Sekunden heruntergezählt und sich Punkt zwölf einen Kuss gegeben. Sie hatte Arilds kalte Wangen gespürt und gleich einen kleinen Tropfen von seiner Nasenspitze gewischt. Die Umarmungen der Fremden waren ihr unangenehm gewesen, Wange an Wange, aber es war Teil des Rituals. Arild hatte sie im Arm gehalten, während man unten in Røros die Raketen abfeuerte; ein schöner Anblick, wie die magische Stadt da unten im Nebel lag und leuchtete. Nachdem dem Feuerwerksmeister des Hotels der Zündstoff ausgegangen war, und er seine Schutzbrillen abnahm, waren die Leute fröstelnd ins Haus zurückgegangen. Arild und Sella waren langsam die Treppen zu ihrem Zimmer hinabgestiegen – der Fahrstuhl war von lärmenden Jugendlichen blockiert – und hatten sich dort auf die Bettkante gesetzt und eine kleine Flasche Prosecco geleert, die Sella dabeihatte. Im Fernsehen lief die Übertragung der Neujahrsfeierlichkeiten, sehr weit weg von Røros, und sie legten sich früh schlafen in dieser ersten Nacht des neuen Jahres.

Es ist nach drei, als Arild endlich das Licht ausmacht, die Tür schließt und den Keller verlässt. Sie stellt die Eimer in die Waschküche und wirft die Lappen in den Schnee. Er schenkt sich ein Glas Cola ein und liest das Programmheft über die laufende Vierschanzentournee. Sie geht ins Badezimmer, zieht das Kleid aus und übergibt sich erneut, dieses Mal eine kleine Menge ins Waschbecken. Sie wäscht sich die Hände, steckt das Kleid in eine Tüte und stellt sie raus auf den Gang. In der Küche hat sich Arild auf einen Stuhl gesetzt und sein Kopf bewegt sich langsam nach unten.

„Du solltest nicht mehr so lange hier sitzen bleiben“, sagt sie.

Er blickt sie aus roten, leicht unfokussierten Augen an. Eine Frau im Türrahmen in Nachtwäsche aus Fleece. Er sagt: „Ich komme gleich“, und wendet sich wieder der Zeitung zu.

„Also, Gute Nacht.“

Sie legt sich hin, zieht die Decke ganz über sich, reibt ihre Beine an der Matratze, damit es wärmer wird, und bemerkt gar nicht, dass Arild kommt und sich hinlegt.

Ein Geräusch vor dem Haus weckt sie. Arild sitzt schon aufrecht im Bett. Sie sieht seine Augen im grauen Licht.

„Was ist das?“, fragt sie.

„Schhh“, sagt er.

„Wie spät ist es?“

„Schhh!“

Er fährt aus dem Bett und hastet aus dem Zimmer. Reißt die Haustür auf und schlägt sie wieder zu. Es muss ein Tier sein, das jetzt den Abhang herunterläuft – bestimmt nur eine Katze, denkt Sella –, direkt unter dem Schlafzimmerfenster, und Arild läuft auf dem harten Schnee hinterher. Dann wird die Garagentür geöffnet und etwas Schweres herausgetragen, etwas fällt zu Boden, es hört sich an wie ein Bleigewicht, und die Garagentür wird wieder zugeschlagen. Als er wieder ins Schlafzimmer kommt, umgibt ihn eine Wolke kalter Luft.

„Wildkatzen.“ flüstert er. „Haben natürlich das Fleisch gerochen.“

Oder eigentlich ist sie sich nicht sicher, ob er das sagt, denn sie schläft, oder sie tut so, als würde sie schlafen. Ihre Augen sind geschlossen, sie sieht Herden wilder Tiere vor sich, wie sie jetzt in der Dunkelheit anhalten und wittern, ob der Verfolger noch in der Nähe ist, oder ob sie sich wieder zum Haus begeben und sich über die Mülltonnen hermachen können. Aber Arild hat einen Autoreifen auf den Deckel gelegt und das Ganze mit einer Plane umhüllt, um die Tonne halbwegs zu verstecken.

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Sella putzt sich die Zähne, ihr Mundwinkel ist eingerissen. Sie spuckt Blut. Sie geht in die Waschküche und riecht an den Eimern. Der Geruch von Blut und Seife provoziert einen milden Brechreiz, aber sie kann ihn gerade noch kontrollieren. Danach schrubbt sie ihre Hände mit desinfizierendem Spiritus, stellt die Eimer in den Schnee auf der Treppe und fühlt sich bereit für den Tag. Arild ist schon auf und sitzt beim Frühstück. Im Radio erzählt ein Junge von einem Unfall mit einem Feuerwerkskörper, wie ausdrücklich er es jetzt bereut; im einen Moment ein gesunder und lebendiger Student, im nächsten ein Invalide, ein schlafloser Achtzehnjähriger, der plötzlich gezwungen ist, seine komplette Zukunft neu zu überdenken. „Das ist es echt nicht wert“, sagt er, „setzt verdammt nochmal Schutzbrillen auf!“ Am Ende der Sendung zieht der Radiosprecher eine Bilanz der Neujahrsrede des Staatsministers: „Sieht so aus, als könnte das ein gutes Jahr für unsere Geldbeutel werden“, sagt er. „Und die Kommunalverwaltung wird hoffentlich alles tun, um das Wachstum noch weiter anzukurbeln.“

Arild gibt ihr den Kulturteil – mit einem Lächeln schiebt er ihn über den Tisch –, lehnt sich vor, stützt sich auf die Ellbogen, den Blick auf die Zeitung gerichtet, wo der Star-Skispringer auf einer Doppelseite abgebildet ist. Ab und zu sieht sie zu ihm hin, wie er isst, gleich fertig, das Kratzen des Löffels am Grund der Schüssel. Dann hebt er die Schüssel an, stellt sie seitlich auf und schiebt den Löffel in die Flüssigkeit am Boden, wo sich der letzte Rest Milch mit der Süße von Honey Smacks und Marmelade vermischt hat.

„Hast du etwas von Ivar gehört?“

„Er hat auf Godlia gefeiert.“

„Und, war es gut?“

„Er wollte nicht mit mir reden. Der Pfleger meinte, er sei draußen, Raketen sammeln.“

„Ah.“

Nach den Nachrichten wird angekündigt, dass es im heutigen Neujahrsprogramm um Verlust gehe, man wolle mit einer Familie über die Katastrophe 2011 sprechen. Sella sieht auf, legt die Zeitung beiseite.

„Hör mal“, sagt sie.

Er starrt auf die Zeitung: „Hmm.“

„Das sind unsere Nachbarn.“

Zuerst hört man die Stimme des Vaters. Sella hat bereits Anfang August ein Radiointerview mit ihm gehört, darin hatte er kritisiert, wie die Gedenkveranstaltungen abliefen. „Zu viel Show, an uns Betroffene wird dabei wenig gedacht“, hatte er gemeint. Auch mit gebrochener Stimme hatte er einen sicheren und würdigen Eindruck gemacht. „Da läuft etwas nicht richtig, wenn wir das Gefühl haben, dass man nicht an uns denkt“, hatte er bestimmt gesagt. „Was wir jetzt brauchen, ist Ruhe.“ Später wurde diese Aussage in allen nationalen Medien verbreitet. Was wir jetzt brauchen, ist Ruhe. Unter dem Zitat eine Nahaufnahme, die durch die Medien ging. Eine der ersten Fotografien, die zeigten, wie der Terroranschlag Gesichter verändert hatte.

Die Mutter sitzt etwas weiter vom Mikrofon entfernt, als hätten sie vorher vereinbart, dass überwiegend er spricht. Ihre Stimme klingt distanzierter, nach innen gerichtet. Sella fand schon immer, dass sie eine sehr schöne Frau war. Schnell und dynamisch. Der Vater erzählt, dass er im Naturschutzverband als Aufseher von Gewässersystemen, Bachläufen und Flüssen arbeite und durchschnittlich 231 Tage im Jahr unterwegs sei.

„Ich habe tatsächlich nachgezählt“, sagt er. „Rückblickend hätte ich gern mehr Zeit für die Familie gehabt. Das tut vielleicht jetzt am meisten weh, zu wissen, dass man vieles aus dem Leben des Kindes nicht mitbekommen hat. Das Gefühl, nicht da gewesen zu sein, als es drauf ankam.“

Er erzählt von Tagen oben auf der Finnmarksvidda und stundenlangen Fahrten mit dem Schneescooter, nur um irgendeinen Bachlauf auszumessen, den niemand kannte, außer vielleicht die Samen im Umkreis. Und er habe damals schon gedacht: Mit der Familie wäre es jetzt noch besser.

Er habe die Kinder oft mitnehmen wollen, damit sie wussten, was er eigentlich machte, und um ihnen diese unglaublichen Orte zu zeigen.

„Im Unterschied zu früher“, sagt er, „möchte ich jetzt viel öfter zu Hause sein. Mir fallen kleine Dinge auf. Ich freue mich zum Beispiel, wenn ich sehe, wie einer Sportlerin gelingt, wofür sie lange trainiert hat, oder wenn ich an einem Sonntagmorgen ein Sauerteigbrot backe und es meiner Frau ans Bett bringen kann.“

Der Journalist stellt die nächste Frage.

„Ja, ich habe mich draußen in der Natur immer sehr wohl gefühlt, auf langen Skitouren zum Beispiel. Aber nach allem, was passiert ist, hat sich das auch geändert, vielleicht finde ich inzwischen den Gedanken an die Natur besser als die Natur selbst. Es fühlt sich an, als sei die Natur zu groß geworden, zu bedrohlich, ich bin auf jeden Fall ängstlicher geworden.“

Die Mutter übernimmt. Sie sagt, sie sei jetzt regelmäßig auf dem Reiterhof, wo die Tochter zuletzt Reitstunden genommen hatte.

„Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt sie. „Das hat mir viel bedeutet.“ Sie sagt, dass sie neulich am gleichen Reitkurs teilgenommen habe wie die Tochter einige Jahre zuvor.

„Damals habe ich sie einfach immer vor dem Stall rausgelassen und bin heimgefahren.“