Douglas Preston / Lincoln Child
Old Bones -
Tote lügen nie
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Benthack
Knaur e-books
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim »American Museum of Natural History« in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, »Relic«, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher (»Der Codex«, »Der Canyon«, »Credo«, »Der Krater«) und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der Ostküste der USA.
Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut, geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das »American Museum of Natural History« in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers »Relic«, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon, Fax und Internet. Lincoln Child publiziert darüber hinaus auch eigene Bücher (»Das Patent«, »Eden«). Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
© 2019 by Splendide Mendax, Inc. and Lincoln Child
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage unter Verwendung von Motiven von plainpicture/Markus Renner und c12 / shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45510-4
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13. Oktober
Die Nacht war früh über die »Stadt der Lichter« hereingebrochen, und um ein Uhr morgens, als der Mond hinter dichten Wolken lag, machte Paris seinem Namen keine Ehre mehr. Auch hier unten war es dunkel und menschenleer: zu spät an einem Wochentag für Anwohner, zu kalt für Touristen und die romantisch Gesinnten. Abgesehen von einem vorbeieilenden Fußgänger, der den Mantelkragen zum Schutz gegen die Kälte hochgeklappt hatte, und einem Schiff mit verglasten Seitenflächen, das lautlos auf dem Fluss dahinglitt – geisterhaft und leer, die Dinner-Ausflugsfahrt vorbei, unterwegs zu seinem Liegeplatz –, hatte der Mann die Uferpromenade ganz für sich allein.
Promenade – vielleicht ein allzu großes Wort für den mit uralten Steinen gepflasterten Gehweg, der knapp oberhalb der Wasserlinie an der Seine entlangführte. Doch auch spätabends bot dieser Flussabschnitt noch eine bemerkenswerte Aussicht. Denn unmittelbar auf der anderen Flussseite lag die Île de la Cité. Auf der Flussinsel ragten die dunkle Masse des Louvre und die teilweise von der Pont au Double verdunkelten Türme von Notre-Dame in den düster-bedrohlichen Himmel.
Der Mann saß auf einer schmalen Bank, neben einem hölzernen Gerüst, das aufgestellt worden war, damit Reparaturen an der uralten Brücke vorgenommen werden konnten. Hinter ihm erhob sich eine sieben Meter hohe Steinmauer bis zum Quai de Montebello, auf dem gelegentlich die Autos zu hören waren, die auf dieser Hauptverkehrsader südlich der Seine fuhren. Ungefähr im Abstand von vierhundert Metern führten abgenutzte Steintreppen von der Straße hinunter zur Uferpromenade. Hier und da warfen die hoch oben längs der Stützmauer angebrachten Straßenlaternen schmale gelbliche Lichtkegel auf das nasse Kopfsteinpflaster. Die dem Mann nächstgelegene Straßenlampe war aufgrund der Bauarbeiten an der Pont au Double entfernt worden.
In der Ferne erschien ein Polizist, er trug einen Mantel aus Ölzeug und pfiff im Näherkommen ein Lied von Joe Dassin. Lächelnd nickte er dem Mann zu, der den Gruß erwiderte, sich eine Gauloise anzündete und dem Polizisten nachblickte, der unter der Fußgängerbrücke weiterging, während die Klänge von Et si tu n’existais pas verhallten.
Der Mann nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, hielt sie dann ein Stück weit von sich weg und betrachtete die brennende Spitze. Seine Bewegungen wirkten langsam, er schien müde und erschöpft zu sein. Er war Ende dreißig und trug einen gut geschnittenen Wollanzug. Zwischen den modischen italienischen Schuhen stand ein Handkoffer, abgewetzt, von der Sorte, wie sie vielleicht ein geschäftiger Anwalt oder ein Arzt aus der Londoner Harley Street trug. Neben dem Mann, an die Sitzbank gelehnt, stand ein brandneuer Tretroller. Bis auf die Gesichtszüge – sie waren im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen –, die ein wenig exotisch wirkten, aber schwer zu bestimmen waren, vielleicht asiatisch oder auch kasachisch oder türkisch, unterschied ihn nichts von unzähligen anderen wohlhabenden Pariser Geschäftsleuten.
Jetzt wurden die Hintergrundgeräusche der Stadt vom Schwirren eines herannahenden Fahrrads durchbrochen. Der Mann hob den Kopf – oben an der nächstgelegenen Treppe erschien ein Fahrradfahrer. Dieser war mit schwarzen Nylon-Shorts und einem dunklen Radlertrikot bekleidet und trug einen Rucksack mit reflektierenden Streifen, die im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos aufleuchteten. Er stellte das Rad an das Geländer und schloss es daran fest, dann stieg er die Treppe hinunter und näherte sich dem Mann im Anzug.
»Ca va?«, begrüßte er den Anzugträger und setzte sich auf die Bank. Obwohl es nachtkühl war, hatte er sein Radler-Outfit durchgeschwitzt.
Der Anzugträger zuckte mit den Achseln. »Ca ne fait rien«, antwortete er und zog erneut an seiner Zigarette.
»Was soll das mit dem Tretroller?«, redete der Radfahrer auf Französisch weiter und nahm seinen mit Dreckspritzern übersäten Rucksack ab.
»Ist für meinen Sohn.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind.«
»Wer sagt, dass ich’s bin?«
»Geschieht mir recht, dass ich danach gefragt habe.« Der Radfahrer lachte.
Der Mann im Anzug schnippte seine Zigarette in den Fluss. »Wie war’s?«
»Viel schwieriger, als es sich nach Aussage Ihres Freundes angehört hatte. Ich hatte mir vorgestellt, dass es sich um einen entfernt gelegenen, menschenleeren Park handelt. Putain de merde! Der lag zwischen dem Gare Montparnasse und den Katakomben!«
Wieder hob der Anzugträger die Schultern. »Sie kennen sich doch aus in Paris.«
»Das schon, aber eigentlich laufen solche Sachen anders.«
Sie unterbrachen ihr Gespräch und blickten auf den Fluss; ein Liebespärchen schlenderte Arm in Arm vorbei, ohne sie zu beachten. Dann sagte der Mann im Anzug: »Aber es war doch niemand zu sehen, oder?«
»Nein. Mit dem eigentlichen Ort hatte ich Glück – er befand sich ganz nahe an der Mauer zur Rue Froideaux. Wäre ich weiter in den Park reingegangen, hätte man mich vom Mietshaus auf der anderen Straßenseite aus sehen können.«
»War’s schwer hinzubekommen?«
»Eigentlich nicht, allerdings musste ich die ganze Zeit extrem leise sein. Und … dieser gottverdammte Regen gestern. Sehen Sie mal!« Er zeigte auf seine Laufschuhe, die noch verdreckter waren als der Rucksack.
»Quel dommage.«
»Ganz meinerseits.«
Der Anzugträger blickte die Promenade hoch und runter – niemand da. Außer dem Liebespärchen, das langsam in der Ferne entschwand. »Lassen Sie mal sehen.«
Der Radfahrer griff nach seinem Rucksack und öffnete den Reißverschluss. Zum Vorschein kam etwas, das schichtweise in Plastikplane, Luftpolsterfolie und Fensterleder eingewickelt war. Es verströmte einen unangenehmen Geruch. Der Anzugträger zog eine Stiftlampe aus der Hosentasche und inspizierte den Inhalt des Rucksacks. Schließlich brummte er seine Zustimmung.
»Gut gemacht«, sagte er. »Wie lange haben Sie gebraucht, um mit dem Rad hierherzukommen?«
»Etwa zehn Minuten, auf Nebenstraßen.«
»Dann sollten wir nicht länger als nötig hierbleiben.« Der Mann beugte sich vor und ließ den Verschluss der Ledertasche, die auf seinen Knien lag, aufschnappen. Irgendetwas in der Aktentasche blitzte in dem indirekten Licht auf.
»Was ist das?«, fragte der Radfahrer und schaute in die Aktentasche. »Ich akzeptiere weder Plastikgeld noch Edelmetalle.«
»Nichts. Ihr Geld ist hier.« Der Anzugträger tätschelte die Brusttasche seines Jacketts.
Der Radler wartete; der Mann griff in seine Brusttasche. Dann blickte er, die Hand immer noch in der Brusttasche, unvermittelt auf.
»Warten Sie einen Moment!«, flüsterte er und beugte sich vor. »Da kommt jemand.«
Instinktiv beugte sich auch der Radler vor. Sein Gefährte legte ihm die Hand auf die Schulter, wodurch er zum Ausdruck brachte, dass sie einander nahestanden, außerdem konnten sie so ihre Gesichter leichter vor dem Fußgänger verbergen. Aber da war kein Fußgänger. Die Promenade war menschenleer. Der Anzugträger zog die andere Hand aus der Brusttasche – in der Hand hielt er ein Spyderco Matriarch 2, ein Militär-Messer, dessen dünne Reverse-S-Klinge allein einem Zweck diente. Ein in den Rücken eingebauter Mechanismus ermöglichte es, dass die Klinge bereits ausgeklappt war, wenn das Messer aus dem Jackett gezogen wurde.
Kaum mehr als ein schwarzes Huschen war zu erkennen, als die Klinge zwischen die zweite und dritte Rippe glitt, immer tiefer, und die Hauptarterien über dem Herzen durchtrennte, ehe sie wieder aus dem Körper herausgezogen wurde. Rasch wischte der Mann im Anzug das Messer an den Shorts des Radlers ab und steckte es in einer fließenden Bewegung wieder ein. Das Ganze hatte höchstens zwei Sekunden gedauert.
Der Radfahrer regte sich immer noch nicht, Verblüffung und Schreck standen ihm ins Gesicht geschrieben. Die Brusthöhle füllte sich bereits mit Blut, aber die Wunde selbst war so klein, dass aus dem Riss im Trikot nur sehr wenig Blut tröpfelte. Unterdessen griff der andere Mann in seine Gladstone-Tasche und zog eine Stahlkette und ein Vorhängeschloss hervor. Außer einem mit Gummi-Latex gepolsterten Rohr befand sich nichts in der Tasche. Der Mann stand auf, vergewisserte sich, dass niemand in Sichtweite war, packte den Tretroller aus Stahl, klappte ihn zusammen und drückte ihn gegen die Brust des Radfahrers. Dann schlang er die schlaffen, reglosen Arme des anderen um den Roller, fixierte die Arme mit der Kette, zog an den Enden der ummantelten Fahrradkette und verband diese mit dem Vorhängeschloss. Nach einem weiteren kurzen Blick die Promenade entlang und über den Fluss hob er den Radler von der Bank und zerrte ihn ins Dunkel unter die Brücke, in Richtung Flussufer. Nachdem er die Beine des Mannes über den Randstein gehoben hatte, ließ er die Leiche los, sodass sie langsam ins Wasser glitt.
Weitere zehn Sekunden waren vergangen.
Ein wenig schwer atmend sah der Mann zu, wie der Leichnam, beschwert mit dem Scooter und der Stahlkette, in den Fluten versank. Er ging zur Sitzbank zurück, legte den eingewickelten Gegenstand aus dem Rucksack sorgsam in den Handkoffer und schloss beides. Er hielt kurz inne, um sich die Krawatte zu richten und seine Anzugjacke glatt zu streichen. Und dann ging er raschen Schrittes die Promenade hinunter, die steinerne Treppe hinauf und an dem Fahrrad vorbei. Den Rucksack warf er in einen Mülleimer in der Nähe.
Er steckte sich eine weitere Gauloise an und umfasste den Griff seiner Aktentasche fester. An der Place Saint-Michel winkte er schließlich ein Taxi heran.
Eine Stunde später
Clive Benton drosselte die Geschwindigkeit seines Oldtimer-Ford Futura, bog von der Wild Irish Road ab und fuhr im Schritttempo auf dem Feldweg weiter, bis der Wagen von der Hauptstraße nicht mehr einsehbar war. Nachdem er ausgestiegen war, klappte er das Verdeck zu und schulterte seinen kleinen Rucksack. Er holte sein Smartphone heraus, lud eine Wander-App, fand seine Position und machte sich auf den Weg durch den Wald. Weil die hohen Tannen und die Küstenkiefern nicht allzu dicht standen, kam er auf dem offenen Waldboden gut voran. Trotz der Jahreszeit war es nicht kühl. Die Luft war noch recht stickig und verströmte eine schläfrig machende Wärme. Als Benton zwischen den Bäumen nach Osten schaute, sah er das Vorgebirge, das sich bis zu den fernen Gipfeln der Sierra Nevada erstreckte – graue Zähne vor blauem Hintergrund. Bald würden sie schneebedeckt sein.
Benton war Historiker und kannte sich in der Geschichte dieser Region so gut aus wie kaum ein anderer. Sie war das Zentrum des Goldrauschs in Kalifornien gewesen, der 1848 einsetzte – Seifengold-Land. Benton sah, wo der hydraulische Goldabbau einst die Hügel mit Einschnitten und Hohlräumen entstellt und das Terrain durch gigantische Wasserstrahlen weggeblasen hatte, die den Kies durch riesige Waschrinnen schickten, um die Goldnuggets aufzufangen. Doch jene Zeit war längst vergangen, und die Ausläufer am westlichen Rand der Sierra Nevada, rund siebzig Kilometer vor Sacramento, waren weitgehend entvölkert. Den verstreut liegenden alten Goldgräberstädten – mit Namen wie Dutch Flat, Gold Run, Monte Vista, You Bet und Rad Dog – war es schlecht ergangen. Manche waren völlig verschwunden, in einigen anderen hatten die unerschütterlichen Bewohner die Hütten der Bergarbeiter und die Hotels mit Wänden aus billigem Lattenholz restauriert und zu Touristenattraktionen oder Sommerhäusern umgewandelt. Inzwischen begann die Region tatsächlich, Scharen von Touristen, Wanderern und Interessenten an Ferienhäusern anzuziehen. Seit Jahren schon wurde ein Bauboom vorausgesagt, jetzt schien er endlich eingesetzt zu haben.
Hier und da waren noch die Villen der wenigen Glücklichen zu sehen, die damals zu Reichtum gekommen waren; die Häuser lagen versteckt in Tälern und Ebenen, die Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt und verfielen. Benton blieb stehen, prüfte, ob er in die richtige Richtung ging, und strebte auf eines dieser verfallenden großen Häuser zu – das eine besondere Bedeutung für ihn besaß. Dem GPS zufolge lag die Villa einen Kilometer östlich von seiner Position, hinter einem Hügel. Man nannte sie das »Donner House«, weil sie einst der Tochter von Jacob Donner gehört hatte, dem Anführer des berühmt-berüchtigten »Donner-Siedlertrecks«.
Vorsichtig und leise ging Benton weiter, wobei er den Schutz der schattigen Abschnitte des Waldes nutzte. Er stieg den Hügel hinauf und ging langsamer. Zwischen den Bäumen zeichneten sich orangefarbene und gelbe Flecken ab, dazwischen glitzerte etwas Metallisches. Dabei handelte es sich, wie er wusste, um zwei große Bulldozer, die auf einer alten Bergbaustraße bereitgestellt worden waren. Sie sollten das Donner House abreißen und in einen Haufen Ziegelsteine, Stuckverzierungen und gesplitterte Holzbalken verwandeln, damit am Bear River für einen neuen Golfplatz und Eigentumswohnungen Platz geschaffen werden konnte.
Je näher Benton kam, umso deutlicher zeichneten sich die Umrisse der Bulldozer und des Schwerlasttransporters ab, der sie hierher befördert hatte. Der Motor des schweren Lkws lief im Leerlauf. Benton roch die Dieselabgase, vermischt mit dem Geruch von Zigarettenrauch, hörte das Gemurmel der Bauarbeiter. Er schlug einen großen Bogen um die Männer und lief über die Straße, dorthin, wo ihn niemand sehen konnte. Je weiter er den Hügel hinunterstieg, desto deutlicher zeichnete sich das alte Haus ab: ein frühes Beispiel des Spanish-Colonial-Revival-Stils. Benton gelangte zu einer niedrigen, am Waldrand gelegenen Mauer, die die Grundstücksgrenze markierte. Dahinter ging er in die Hocke und betrachtete das Haus genauer. Einst war es imposant gewesen mit seinem langen, niedrigen, weiß getünchten Eingangsportal, über das sich eine maurische Kuppel samt Glockenturm erhob. Doch das rote Ziegeldach war teilweise eingestürzt, die Fenster waren nur noch klaffende, schwarze Löcher, und der weitläufige Garten mit dem Arboretum war zu einem wilden und nahezu undurchdringlichen Dschungel aus Unkraut, abgestorbenen Büschen und Solitärgehölzen geworden, überwuchert von Rankgewächsen. Das Gebäude selbst war mit Efeu bewachsen, der an den Wänden emporrankte und aus Löchern im Dach spross. Das Haus ist der sichtbare Beweis, dachte Benton, für die Vergänglichkeit der Welt: sic transit gloria mundi. Was für ein Verbrechen, dass morgen um diese Zeit das alles hier verschwunden sein würde, planiert zu einem rauchenden Haufen aus Ziegelsteinen und Gips. Die Denkmalschützer hatten sich mächtig angestrengt, die alte Ruine zu retten, doch die zahlreichen Nachkommen, die sich fünfzig Jahre lang um die Immobilie gestritten hatten, konnten nur eine Lösung finden – den Abriss des Hauses und den Verkauf des Grundstücks. So stachen die Dollars des Projektentwicklers einmal mehr die Einsprüche der Denkmalschützer aus.
Noch einmal blickte Benton hügelan. Mittlerweile hatten die Bauarbeiter die Bulldozer abgeladen, der Lkw-Fahrer ließ den Motor aufheulen, der Truck stieß eine schwarze Dieselwolke aus und fuhr vom Gelände. Die Bauarbeiter – Benton sah vier – standen weiter unten an der Straße neben ihren Privatautos, machten aber keine Anstalten wegzufahren. Mehr noch, es sah so aus, als ob sie sich ein letztes Mal in dem Haus umschauen wollten.
Verdammt, er musste sich beeilen. Bei dem, was er vorhatte, handelte es sich im juristischen Sinne um Einbruch, aber er redete sich ein, dass es einem höheren Zweck diente. Und konnte man überhaupt in ein Haus »einbrechen«, dessen Abriss kurz bevorstand?
Benton sprang über die Mauer, lief durch den verwilderten Garten und suchte Schutz auf der zerstörten Veranda. Er schaute sich um und stellte fest, dass niemand ihn gesehen hatte. Dann trat er durch die offene Tür und stand in einer spärlich möblierten Eingangshalle, die nach Staub und altem Holz roch. Alle Wertsachen waren aus dem Haus entfernt worden, nur ein paar wertlose, kaputte Möbelstücke hatte man zurückgelassen. Benton sah sich kurz im Erdgeschoss um – im Salon, der Küche, dem Innenhof, dem Esszimmer, den Dienstbotenzimmern, Speisekammern und Nebenräumen – und fand nichts. Was ihm jedoch keine Sorgen bereitete; er hatte nicht damit gerechnet, das Gesuchte hier vorzufinden.
Rasch stieg er die halb verfallene steinerne Treppe in den ersten Stock hinauf. Er blieb stehen, schaute aus dem Fenster und stellte ein wenig entsetzt fest, dass sich die vier Arbeiter durch das Dickicht drängten und sich dem Haus näherten. Er hätte früher herkommen sollen. Es war siebzehn Uhr, er hatte angenommen, die Arbeiter hätten zu diesem Zeitpunkt schon Feierabend gemacht.
Seine Durchsuchung des ersten Stockwerks ergab ebenfalls nichts Interessantes. Die alten Truhen, die noch vorhanden waren, fielen praktisch unter seinen Händen auseinander, die Kämmerchen waren leer, ein paar verrottete Kommoden enthielten nichts als von Rattennestern durchsetzte Decken und Kleidungsstücke. Ein paar farbige Lithografien schmückten die Wände oder lagen – verschmutzt und braunfleckig – zerbrochen auf dem Boden.
Benton wusste, dass sich unter der maurischen Kuppel ein Dachboden befand, aber aus irgendeinem Grund fand er nicht die Treppe dort hinauf. Während er herumging, hörte er plötzlich aus dem Erdgeschoss Stimmen, untermalt von rauem Gelächter.
Würden die Arbeiter nach oben kommen? Natürlich. Mit Sicherheit hatten sie den Auftrag erhalten, das Haus ein letztes Mal zu durchsuchen, nach Wertsachen Ausschau zu halten und sich zu vergewissern, dass sich keine Hausbesetzer eingenistet hatten. Was bedeutete, dass sie überall nachsehen würden.
Er begab sich in den zentralen Flur im ersten Stock, ging langsam umher und sah sich die Wände genauer an. In diesen alten Villen gab es oft Geheimtüren. Und ja, da war so eine: ein in die Wand eingelassenes Bücherregal, in dem nur eine Handvoll wurmstichige Bücher standen. Wegen der Leere war der Spalt an der Seite des Bücherbords umso deutlicher zu erkennen. Als Benton mit der Schulter gegen diese Seite drückte, schwang die andere Seite nach vorn, so wie er gehofft hatte. Dahinter kam eine nach oben führende Treppe zum Vorschein. Er trat durch die Geheimtür und drehte das Bücherbord sorgfältig zurück in die vorherige Stellung, in der Hoffnung – in der Erwartung –, dass die Arbeiter nichts davon mitbekommen würden. Ihnen war doch nicht bekannt, dass es in der Kuppel einen Dachboden gab … oder?
Als er die Wendeltreppe hinaufstieg, huschte eine aufgescheuchte Maus quiekend davon. Oben an der Treppe befand sich eine Deckenplatte mit einer Falltür, die er aufstieß. Die rostigen Angeln quietschten laut. Benton blieb stehen und lauschte. Das Getrampel der Männer im Erdgeschoss setzte sich fort, ihr Gelächter ließ darauf schließen, dass sie nichts gehört hatten.
Das Dachbodengeschoss war klein und überraschenderweise noch immer voll mit Möbeln, Kisten, Kleiderschränken, zerbrochenen Spiegeln, Überseekoffern, einem achtseitigen Pokertisch und weiterem Krimskrams. Als Benton sich aufrichtete und begann, umherzugehen, flog ein Schwarm Tauben, die im Glockenturm oberhalb der Kuppel hausten, unter lautem Flügelschlagen davon. Hier gab es Dinge, die zumindest einen gewissen Wert besaßen; diesen Bereich mussten die Umzugsleute übersehen haben. Leider würde seine Suche bei all dem Krempel länger dauern. Und wegen der knarrenden Holzdielen könnte es sein, dass er Lärm machte. Besser, er wartete damit, bis die Arbeiter das Haus wieder verlassen hatten.
Er horchte weiter; die Stimmen kamen näher. Die Männer stiegen in den ersten Stock hinauf. Wieder Getrampel, der durchdringende Geruch von Zigarettenqualm. Er war sich sicher, dass sie die Tür nicht finden würden.
Aber da hatte er sich getäuscht. Benton setzte sich auf und lauschte angestrengt. Einer der Männer rief irgendetwas, und zwar sehr laut. Benton hörte, wie sie gemeinsam gegen das Bücherbord drückten, und das Geräusch des Schiebens, als dieses sich drehte.
Plötzlich bekam er Herzklopfen, er sah sich nach einem Versteck um und entdeckte einen großen Schrank, in dem er sich verstecken konnte – aber nein, in dem würden die Männer bestimmt nachsehen. Er hob den Deckel eines großen Schrankkoffers an, der aber voller Krempel war. Benton wurde klar, dass es hier kein gutes Versteck gab. Er saß in der Falle.
Jetzt wurden die Stimmen lauter. Allerdings waren die Männer die Wendeltreppe noch nicht hinaufgestiegen, sondern besprachen anscheinend, wer als Erster hinaufgehen sollte.
Sie waren zu viert, er war allein. Da entdeckte er in der Nähe der Falltür eine schwere Truhe. Ja, das war’s. Er packte die Truhe an einer Ecke und schob sie mit der Schulter über die Falltür, was ein lautes kratzendes Geräusch produzierte.
Plötzlich verstummten die Stimmen unter ihm.
Möglicherweise war die Truhe nicht schwer genug. Benton schob eine weitere Truhe über die Tür und stapelte mehrere schwere Möbelstücke obendrauf. Die Stille, die unten herrschte, verriet ihm, dass die Männer alles hörten, was er tat. Als er so viel Gewicht wie nur irgend möglich auf die Falltür gestapelt hatte, trat er einige Schritte zurück und wartete.
»Hey!«, rief einer der Männer. »Wer ist da oben?«
Benton bemühte sich, nicht zu atmen.
»Wer ist da?«, rief der Mann erneut. »Komm da runter!«
Stille.
»Nun mach schon!«
Er hielt die Luft an.
»Hey, Arschloch, wenn du nicht sofort runterkommst, kommen wir rauf und holen dich da raus!«
Er hörte einen dumpfen Schlag, dann noch einen: Die Männer versuchten, die Falltür aufzustoßen. Doch weil mindestens zwei Zentner Krempel darauf standen, bewegte sie sich nicht. Benton lauschte, seine Angst verwandelte sich in etwas wie Belustigung, als er hörte, wie die Männer die Tür mit den Schultern aufdrücken wollten. Als das nicht klappte, verlegten sie sich darauf, noch lauter gegen die Tür zu donnern.
»Na gut, Freundchen, wir rufen jetzt die Bullen!«
Tut das, dachte Benton. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis die Polizei eintraf, vielleicht mehr. Da konnte er die Zeit ebenso gut dazu verwenden, seine Suche zu Ende zu bringen.
Jetzt, da er nicht mehr heimlich und leise vorgehen musste, begann er, Truhen zu öffnen, in alten Kleidern und Decken zu wühlen, uraltes Spielzeug, ein Comic-Buch aus den 40er-Jahren, bröselige Brettspiele und alte Schulbücher hervorzuziehen. Er blätterte in einem wurmstichigen Stapel mit National Geographics, in alten Ausgaben von Life und Stag und Saturday Evening Post und Boys’s Own und in Bündeln mit Zeitungen, die bis in die Zeit des Goldrauschs zurückreichten. Gleichzeitig setzten sich das Donnern und Drohen von unten fort, doch schließlich stiegen die Bauarbeiter die Wendeltreppe wieder hinunter. Aus dem Fenster des Glockenturms sah Benton, wie sie auf den Innenhof traten, wobei einer von ihnen offenbar versuchte, mit seinem Mobiltelefon Empfang zu bekommen.
Benton setzte seine Suche fort. Hierzu ging er rasch, aber methodisch von einer Ecke des kleinen Dachbodens zur anderen. Es war entmutigend, nur einen Haufen Gerümpel vorzufinden, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf das Gesuchte. Vielleicht befand sich dieses Etwas ja doch nicht hier.
Und dann, ganz unten in einer Seemannskiste, unter einem Stapel Quilts, fand er eine Schatulle aus Metall. Noch ehe er sie öffnete, wusste er, dass sie es sein musste. Die Schatulle war mit einem Schloss versehen – aber mit einer rostigen Metallstange, durch den Bügel des Schlosses geschoben, war sie schnell aufgebrochen. Als er den Deckel hochklappte, zitterten Benton die Hände vor Aufregung. In der Schatulle lag ein Bündel Briefe, fest verschnürt mit einem Bindfaden, daneben ein altes Tagebuch mit dunkelgrünem, stark verschmutztem Leineneinband. Er nahm das Tagebuch heraus, schlug es auf und hielt es äußerst behutsam in der Hand.
Dort auf dem Titelblatt stand in akkurater Frauenhandschrift eine kurze Widmung.
Benton blieb beinahe die Luft weg. Dieser Schatz, der so gesucht war, ein heiliger Gral der Geschichte der Pionierzeit Nordamerikas, existierte also tatsächlich. Während er innerlich vor Freude und Überraschung jubilierte, ging ihm auf, dass er gar nicht gehofft hatte, so viel Glück zu haben und den Schatz zu finden. Bei seiner Suche hatte er zu keinem Zeitpunkt wirklich daran geglaubt, dass der sich hier befinden würde. Und doch hielt er ihn in Händen.
Mit größter Willenskraft unterdrückte er die Regung weiterzulesen. Dafür wäre später auch noch Zeit, jetzt aber musste er schleunigst von hier verschwinden.
Er legte das Tagebuch zurück in die Schatulle, steckte sie in seinen Rucksack und trat erneut ans Fenster. Drei der Bauarbeiter befanden sich noch draußen vorm Haus, einer, der jetzt auf einer zerbrochenen Plinthe stand, auf der einst eine Statue gestanden hatte, sprach lautstark ins Smartphone. Der Dummkopf hatte tatsächlich die Polizei angerufen.
Rasch schob Benton die Truhen von der Falltür herunter und lauschte. Wo steckte der vierte Mann? Wartete der auf ihn? Aber er hörte nichts und riss schließlich die Falltür hoch. Niemand zu sehen. Das Treppenhaus war leer. So leise wie möglich stieg er die Treppe in Richtung Bücherbord-Tür hinunter, die offen stand. Er schlich daran vorbei, blickte erst nach rechts, dann nach links. Auch der Flur war leer.
Er ging auf die Eingangshalle zu. Plötzlich kam der vierte Arbeiter hinter einer Ecke hervorgelaufen und stellte sich ihm in den Weg.
»Da bist du ja, du Dreckskerl!«, brüllte der Mann und versetzte ihm einen Fausthieb in den Magen.
Benton stürzte überrascht zu Boden, wand sich vor Schmerzen, versuchte, Luft zu holen und wieder zu Atem zu kommen.
»Hier ist er!«, schrie der Mann triumphierend. »Ich hab ihn!«
Er drehte sich zu Benton um, der sich mühsam aufrappelte, und versetzte ihm einen kräftigen Tritt gegen die Rippen. Die Gewalt – und die unnötige Heiterkeit, mit der der Mann sie ausübte – machten Benton enorm wütend. Als er hinfiel, war ihm der Rucksack von den Schultern gerutscht. Jetzt griff er danach, stand blitzschnell auf und schwang den Rucksack so, dass die eiserne Schatulle darin den Bauarbeiter am Kopf traf. Der Mann taumelte nach hinten und stürzte zu Boden.
»Ich mach dich fertig!«, schrie er und rappelte sich auf. Doch Benton rannte bereits wie der Teufel, den Rucksack in der Hand. Er lief die Treppe hinunter, dann zur Rückseite der Villa, sprang durch ein offenes Fenster und hielt auf die wuchernden Büsche zu, Richtung Bear River. Der Arbeiter lief dicht hinter ihm, und auch die drei anderen hatten sich an die Verfolgung gemacht, aber der drahtige Benton war viel in der Sierra Nevada gewandert und konnte die Männer mühelos abhängen. Er stürmte zwischen den Bäumen hindurch, rutschte die Uferböschung hinunter, lief platschend über die Sandbänke und durch die Flussrinnen. Vor der Hauptrinne angekommen, hielt er den Rucksack über den Kopf, sprang ins Wasser und schwamm so lange mit voller Kraft, bis seine Füße den Sand am anderen Ufer berührten. Nachdem er aus dem Wasser gestiegen war, drehte er sich um und sah die Arbeiter, die, Drohungen ausstoßend, am gegenüberliegenden Ufer standen.
Er zeigte ihnen den Finger, lief im Laufschritt in den Wald und schlug einen großen Bogen, bis er den Fluss weiter stromaufwärts schließlich erneut überquerte. Von dort gelangte er mithilfe des GPS in seinem Smartphone zurück zum Wagen, wobei er erleichtert feststellte, dass das glänzende Oldtimer-Cabrio nach wie vor in seinem Versteck stand. Er schloss den Rucksack im Kofferraum ein und bog auf die Wild Irish Road. Als er dreizehn Kilometer weiter auf den Highway bog, passierte er zwei Streifenwagen auf Blaulichtfahrt und musste unwillkürlich laut lachen.
20. November
Nora Kelly stand auf und streckte sich. Ihre Muskulatur war verspannt, weil sie stundenlang mit Kellen, Hacken und Pinseln ausgerüstet im Dreck gekniet und den vierten und letzten Raum einer prähistorischen Pueblo-Ruine ausgehoben hatte.
»Machen wir Schluss für heute«, sagte sie zu ihrem Feld-Assistenten Jason Salazar.
Salazar erhob sich aus dem Ausgrabungsfeld, in dem er herumgeklopft hatte, und schlug sich den Staub von der Jeans. Er nahm den Cowboyhut ab, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn und setzte den Hut wieder auf. Es war schon ziemlich spät im Jahr, die Temperatur lag aber immer noch bei 15 Grad.
Nora hob den Wasserbeutel aus Leinen an, der am Spiegel des Field-Trucks des Instituts hing, und trank einen großen Schluck. Das Ausgrabungsgelände selbst war nichts Besonderes, doch die Ausblicke waren spektakulär. Die uralten Bewohner des Pueblos, dachte sie, hatten ihre Siedlungen immer dort erbaut, wo sich ihnen schöne Aussichten boten. Die sehr kleine Ruine lag auf einer Anhöhe am Fuße des Cerro Pedernal, des Berges mit abgeflachtem Gipfel, der durch die Gemälde von Georgia O’Keeffe Berühmtheit erlangt hatte. Majestätisch, durchzogen von tiefen Canyons, die höheren Lagen baumbestanden, erhob er sich hinter Nora. Vor ihr erstreckte sich das Land bis in eine weite Ebene, die die Spanier Valle de la Piedra Lumbre, Tal des Leuchtenden Steins, genannt hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite schien es, als ob die roten, orangefarbenen und gelben Hügelkuppen der Ghost Ranch im goldenen Nachmittagslicht leuchteten.
Als Nora zum Arbeitstisch hinüberging, sah sie in der Ferne eine Staubfahne, die sich auf der alten Uran-Bergwerksstraße näherte, die zur Ausgrabungsstätte führte.
Salazar gesellte sich zu ihr. »Wer kann das sein?«
»Keine Ahnung.«
Sie packten ihr Werkzeug ein und stellten es in den Lagerschuppen, den sie neben der Ausgrabungsstätte aufgebaut hatten. Nach einer Weile tauchte das Auto selbst auf, es fuhr im Schritttempo einen Hügel hinauf. Sie schauten zu, wie es sich näherte, vorsichtig über die sandige Buckelpiste gelenkt wurde. Irgendeine Art Oldtimer, wie Nora erkannte. Der Fahrer steuerte ihn neben den Field-Truck und wartete einige Augenblicke, bis sich die Staubwolke gelegt hatte. Dann ging die Tür auf, und ein hochgewachsener, schlaksiger Mann stieg aus. Dichter schwarzer Haarschopf über markanten Gesichtszügen, strahlend blaue Augen, ein wenig unsicher um sich blickend. Er trug das hässlichste Paisley-Hemd, das Nora je gesehen hatte, nichts als violette und orangefarbene Wirbel. Der Mann war wohl Ende dreißig, ein paar Jahre älter als sie.
»Haben Sie sich verfahren?«, fragte Nora.
Er sah sie an und ließ den Blick auf ihr ruhen. »Nicht, wenn Sie Dr. Nora Kelly sind.«
»Das bin ich.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich so unangekündigt hier auftauche. Clive Benton.« Er holte einen Rucksack aus dem Wagen, trat einige Schritte auf Nora zu, streckte die Hand aus und schüttelte kurz ihre. »Wirklich, ich hätte anrufen sollen, aber …« Er zögerte. »Na ja, das Institut hat mir mitgeteilt, Sie seien hier draußen, und anscheinend gibt es hier keinen Handy-Empfang, außerdem hatte ich die Sorge, ich könnte Ihnen die ganze Sache am Telefon sowieso nicht richtig erklären –«
Zurückhaltend unterbrach Nora seine nervös vorgebrachte Begrüßung. »Na kommen Sie, setzen Sie sich und trinken Sie einen Kakao.« Sie ging ihm voraus zu dem im Schatten liegenden Arbeitstisch, auf dem eine Thermoskanne und mehrere Plastikbecher standen.
Benton nahm auf der Kante eines Stuhls Platz.
»Was ist das für ein Auto?«, fragte Nora – ein Versuch, dem Mann seine Befangenheit zu nehmen.
»Ein Ford Futura, Baujahr 1964.« Seine Miene hellte sich auf. »Hab ich selber restauriert.«
»Für die Straße hier kann man sich sicher geeignetere Autos vorstellen.«
»Stimmt. Aber was ich Ihnen zu sagen habe, kann nicht warten.«
Nora nahm ihm gegenüber am Tisch Platz. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«
Benton warf Jason Salazar einen kurzen Blick zu. »Hm, was ich Ihnen sagen möchte, ist vertraulich.«
»Jason arbeitet als Assistenz-Kurator am Institut, ich kann für seine Diskretion garantieren«, sagte Nora. »Vieles von dem, was wir als Archäologen tun, ist vertraulich, Sie müssen sich also keine Sorgen machen.«
Benton nickte; der Wind fuhr ihm ins schwarze Haar. Er war noch immer ein wenig nervös, so, als wüsste er nicht, wo er anfangen sollte. Schließlich stand er auf, griff nach unten, machte den Rucksack auf und zog einen Ziplock-Beutel hervor. Er öffnete ihn, holte ein altes, in Seidenpapier eingewickeltes Buch heraus, das er ehrfürchtig zwischen ihnen auf den Tisch legte, und faltete das Seidenpapier behutsam auseinander.
»Das originale Tagebuch«, sagte er, »von Tazmine Donner.«
Nora starrte verständnislos auf das Buch. Der Name sagte ihr nichts. »Von wem?«
»Tazmine Donner.« Er sah zur Seite, erst zu Nora, dann zu Salazar. »Sie wissen schon, die Ehefrau von George Donner, der die sogenannte Donner-Gruppe angeführt hat. Die Siedler, die im Winter im Schneesturm in der Sierra Nevada festsaßen und zu Kannibalen wurden.«
»Ach so. Diese Donner-Familie. Demnach ist das Tagebuch von historischer Bedeutung?« Worauf lief dieses Gespräch eigentlich hinaus?
»Von unschätzbarer Bedeutung.«
Dieser Erklärung folgte eine kurze Stille.
»Vielleicht sollte ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen geben«, sagte Benton. »Ich bin freischaffender Historiker, der sich auf die Besiedlung des amerikanischen Westens spezialisiert hat. Darüber hinaus bin ich zufällig auch ein ferner Nachkomme von Überlebenden der Donner-Gruppe, einer Familie namens Breen. Aber das ist nicht wichtig. Ich stelle seit Jahren Nachforschungen zu dieser Tragödie an. Wie auch immer, zu den wenigen Tatsachen, in denen sich die Überlebenden der Donner-Gruppe einig waren, gehört, dass Tazmine Donner Tagebuch geführt hat, in dem sie jede Einzelheit der Trecks aufzeichnete. Historiker vermuten schon seit Langem, dass einer der Überlebenden ihr Tagebuch gefunden und aus dem Camp mitgenommen haben muss, doch ist es nie gefunden worden – bis jetzt.« Mit einer ziemlich dramatischen Handbewegung trat er auf das verschmutzte, abgewetzte Buch zu, das auf dem Tisch lag. »Nur zu – schlagen Sie es auf.«
Ganz vorsichtig streckte Nora die Hand aus und schlug das Tagebuch auf dem Titelblatt auf.
»Sehen Sie, was sie geschrieben hat? Tazmine Donner, Mein Tagebuch, 12. Oktober 1846 bis … Beachten Sie, dass es kein Enddatum gibt, denn sie ist ja verhungert und wurde anschließend …«, er hielt inne und räusperte sich, »… von einem Mann namens Keseberg verzehrt.«
»Wurde Keseberg nicht auch beschuldigt, sie umgebracht zu haben, damit er sie verspeisen konnte?«, fragte Salazar dazwischen.
Benton drehte sich überrascht zu ihm um. »Ja, das stimmt. Offenbar kennen Sie die Geschichte.«
Salazar zuckte mit den Schultern. »Die Geschichte der Donner-Gruppe wurde an der Goleta-Highschool unterrichtet. Ich hab die echt faszinierend gefunden.« Er lächelte kurz. »Wer würde das auch nicht?«
Nora stimmte ihm zu. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Na ja, ich bin gekommen, um Sie um etwas zu bitten.«
»Gut. Schießen Sie los.«
Statt zu antworten, hielt Benton kurz inne. »Am wichtigsten ist: Sie haben mehrere archäologische Ausgrabungen in der Sierra Nevada geleitet. Sie kennen diese Berge.«
»Bis zu einem gewissen Grad.«
»Sie sind eine Top-Feldarchäologin, die zudem Erfahrungen mit Ausgrabungsstätten hat, an denen es zu Kannibalismus gekommen ist, darunter Quivira – diese Felsenwohnungen, die Sie in Utah gefunden haben.«
»Stimmt.«
»Außerdem haben Sie die Genehmigung und Unterstützung des Instituts.«
Nora lehnte sich zurück. »Ich habe allmählich den Eindruck, mich in einem Bewerbungsgespräch zu befinden.«
»Sie haben den Job bereits – wenn Sie ihn wollen. Sie sind die ideale Person für das, was mir vorschwebt.«
»Und das wäre?« Dieses ganze Um-den-heißen-Brei-Gerede ging Nora allmählich auf die Nerven.
»Ich muss Sie dafür um Ihr Ehrenwort bitten – zumindest fürs Erste –, dass alles, was ich sage, unter uns bleibt.«
»Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
»Entschuldigung«, sagte Benton hastig, der jetzt wieder recht nervös wirkte. »Ich weiß, wie das alles klingen muss, aber wenn Sie erst einmal gehört haben, was ich Ihnen zu erzählen habe, werden Sie verstehen, warum ich die Sache geheim halten möchte. Es ist eine lange Geschichte … und, ich warne Sie, eine beunruhigende.«
Nora sah auf die Uhr. Noch nicht halb fünf. Ihnen blieb noch eine halbe Stunde Sonnenlicht, und es war angenehm hier draußen in der Wüste. Mit leisem Lächeln verschränkte sie die Arme. Wider Willen fand sie die Ernsthaftigkeit des Mannes faszinierend. »Also gut. Dann lassen Sie mal hören.«
Clive Benton atmete tief durch, legte die Hände auf die Knie und begann langsam, in gesetztem Tonfall zu erzählen. Offensichtlich war es eine Geschichte, die er auswendig kannte.
Das erste Mal habe ich die Geschichte der sogenannten ›Donner-Gruppe‹ als kleiner Junge gehört, als ich außerhalb von San Francisco aufwuchs«, begann Benton. »Wie ich Ihnen gegenüber bereits erwähnt habe, stammt meine Familie mütterlicherseits von der Familie Breen ab, die zur Donner-Gruppe gehörte. Meine Mutter hat mir die Geschichte erzählt, und sie hat mich sofort ungeheuer fasziniert. Später habe ich dann Geschichtswissenschaft studiert und in Stanford meinen Doktor gemacht.
Der Untergang der Donner-Gruppe zählt zu den größten Tragödien der Besiedlung des nordamerikanischen Westens. Da hatte es sich eine Gruppe von Siedlern zum Ziel gesetzt, ein wildes Land – Kalifornien – zu zivilisieren, doch am Ende wurde sie von einer unaussprechlichen Barbarei heimgesucht. Es war der Amerikanische Traum, nur eben auf den Kopf gestellt.
Die beiden Hauptpersonen in dem Drama waren George Donner und seine Ehefrau Tazmine. George war ein stattlicher Mann, dem es um Landerwerb ging. Sein ganzes Leben lang wollte er immer nur eins: mehr Land besitzen – um Landwirtschaft darauf zu betreiben. Seine Frau war Lehrerin. Sie war klein und schlank und hatte die Umgangsformen und die Bildung einer feinen Dame. Doch darunter war sie eine Frau mit eisernen Überzeugungen, was richtig und was falsch ist. Die beiden hatten drei gemeinsame Töchter, George hatte noch zwei weitere Töchter aus einer früheren Ehe.
1846 gehörte Kalifornien zu Mexiko. Doch die Zeichen standen auf Krieg, und alle rechneten damit, dass es nicht lange dauern würde, bis sich die Vereinigten Staaten das Territorium einverleibt hätten. Donner sah eine Gelegenheit, sozusagen an vorderster Front mitzukämpfen und einen Teil dieses fruchtbaren Landes in die Finger zu bekommen. Er konnte gut reden und überzeugte seinen Bruder Jacob und dessen Familie von seiner Vision.
Im Frühjahr 1846 verließen George, Tazmine und die fünf jungen Töchter Independence im Bundesstaat Missouri, zusammen mit einer großen Gruppe weiterer Siedler. Es war aber keine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Habenichtsen, nein, diese Leute besaßen Geld. Es waren wohlhabende, ja reiche Pioniere, die mit dem Besten von allem ausgerüstet waren. Tazmine plante, eine höhere Schule für Mädchen zu gründen, und hatte Bücher, Schulbedarf, Tafeln und Kreide im Gepäck, religiöse Schriften und Bibeln, sogar Öl- und Wasserfarben. George hatte einen der Planwagen mit Stoffballen mit Samt, Seide und Satin beladen, die er mit hohem Gewinn an die ›Kalifornios‹ verkaufen wollte. Einige Leute führten große Summen Bargeld mit sich. So nahm ein Mann namens Jacob Wolfinger eine Geldkiste voll Goldmünzen mit, mit denen er beabsichtigte, Land zu kaufen, ein Haus zu bauen und ein Unternehmen zu gründen.
Fest steht, dass es sich – einmal abgesehen vom Reichtum der Leute – um einen recht gewöhnlichen Treck in Richtung Westen handelte. Er wäre nicht in die Annalen der Geschichte eingegangen, wenn es da nicht eine Sache gegeben hätte: die verhängnisvolle Entscheidung, die die Mitglieder während des Trecks trafen. Donner und die anderen entschlossen sich nämlich, eine Abkürzung zu nehmen, den sogenannten ›Hastings Cutoff‹, den zu jener Zeit ein Berater namens Lansford Hastings anpries. Donner und etwa neunzig Personen stimmten dafür, die Abkürzung zu nehmen. Die restlichen Mitglieder des Wagenzugs wollten weiter der regulären Route folgen.
Und so spaltete sich die Gruppe auf. Die Donner-Gruppe zog in südwestlicher Richtung nach Utah, wobei sie der Abkürzung folgte. Auf dem neuen Trail ging es durch die unwirtlichen Wasatch Mountains. Donner und die Übrigen erkannten, dass etwas nicht stimmte, als sich diese Berge als sehr viel schwierigeres Gelände erwiesen, als Hastings ihnen geschildert hatte. Doch es war zu spät, um umzukehren. Sobald sie das Gebirge hinter sich gelassen hatten, waren sie gezwungen, die Great-Salt-Lake-Wüste zu durchqueren. Während sie nur mühsam vorankamen, begannen sie, ganz furchtbar unter dem Wassermangel zu leiden. Einigen Kindern gab man platt geschlagene Kugeln zum Lutschen, um ihren enormen Durst zu lindern. Der Gruppe gingen die Lebensmittel aus. Die Lage wurde immer ernster. Es kam zu Streitigkeiten. Indianer stahlen mehrere Ochsen und erschossen andere mit Pfeilen. Auch wurden mehrere Siedler getroffen, Schüsse auf gut Glück, die aus der Deckung von Felsen und Bäumen abgegeben wurden und zu Verletzungen führten. Ein Mann, der nicht mehr weiterkonnte, wurde aus seinem Planwagen gezerrt und sterbend neben dem Trail zurückgelassen. Und während dieser ganzen Zeit hat Tazmine Donner die Geschehnisse sorgsam in ihrem Tagebuch festgehalten.
Als der Treck die Nevada-Wüste durchquerte, blieb Wolfingers Planwagen im Sand stecken. Der übrige Treck zog weiter, Wolfinger blieb zurück, um seinen Wagen wieder flottzumachen. Kurz darauf meldeten sich zwei Männer namens Reinhardt und Spitzer freiwillig, zurückzugehen und Wolfinger zu helfen. Sie blieben mehrere Tage fort. Als sie später wieder zum Treck aufschlossen, erklärten sie, sie seien von Indianern angegriffen und Wolfinger sei getötet worden.
Als die Siedler Ende Oktober die Ausläufer der Sierra Nevada erreichten, lagen sie weit hinter dem Zeitplan, und die Ersten aus der Gruppe waren am Verhungern. Aber die Berge waren noch schneefrei, weshalb die Hoffnung bestand, sie vor dem ersten regelrechten Wintereinbruch überqueren zu können.
Fast wäre es ihnen gelungen. Doch weniger als eine Tagesreise von der Passhöhe entfernt gerieten sie in einen Schneesturm, der sie am Vorankommen hinderte. Zu dem Zeitpunkt zog sich der Treck mit den Packtieren über die ganze Länge des Hochgebirgspfads hin. Doch der Blizzard schneite alle ein, sie steckten buchstäblich im Schnee fest – und blieben dort. Neunundfünfzig Menschen in der Vorhut saßen unweit des Truckee Lake fest und mussten sich in Sicherheit bringen. Weitere zweiundzwanzig, darunter George und Tazmine und die fünf kleinen Töchter, steckten zehn Kilometer dahinter auf einer Gebirgswiese mit einem Bach namens Alder Creek fest. Diese beiden Camps haben Archäologen gefunden und untersucht.
Jedoch erwähnt der historische Bericht ein drittes Lager – heute in der Regel als das ›Lost Camp‹ bezeichnet. Es handelte sich um eine kleine Gruppe am Ende des Trecks, die unter anderem aus Reinhardt und Spitzer, einer Familie namens Carville sowie einem gewissen Albert Parkin bestand, der seine Familie verlassen hatte, um in Kalifornien ein neues Leben zu beginnen. Zwar weiß niemand genau, was damals geschah, aber es ist wahrscheinlich, dass die Gruppe in dem durch den Schneesturm hervorgerufenen Chaos vom Weg abkam und hinauf in eine Sackgassen-Schlucht zog, die jenseits der Einmündung des Little Truckee River lag. Am Ende wurden die Leute eingeschneit, tief im Gebirge, kilometerweit entfernt von der Hauptgruppe. Manche behaupten, das Lost Camp läge in einem dunklen Tal, abgeschnitten von der Sonne, umgeben von schroffen Felsklippen. Es ranken sich derart viele Geschichten um dieses Lager, dass es schwerfällt, die Wahrheit herauszufinden.
Die Siedler steckten jedenfalls monatelang im Schnee fest, während ein Blizzard nach dem anderen insgesamt zwischen sieben und neun Meter Neuschnee auf sie ablud. Der Schnee begrub die Hütten und behelfsmäßigen Unterkünfte unter sich, die die Menschen gezimmert hatten. Da kauerten sie in ihren schmutzigen Bruchbuden und verhungerten und starben, einer nach dem anderen. Sie aßen ihre letzten Vorräte. Dann aßen sie die Ochsen und Pferde. Dann aßen sie die Hunde. Und schließlich begannen sie, die gefrorenen Leichen ihrer Gefährten auszugraben.
Sie schälten das Fleisch von den Knochen und kochten es, entnahmen die inneren Organe, aßen die Leber und Herzen, die Lunge, zerbrachen die Knochen, um an das Mark heranzukommen, und spalteten die Schädel, um ans Gehirn zu gelangen. Und als sie das alles verzehrt hatten, kochten sie die Knochen aus.«
Benton ließ sich ein wenig Zeit, bis er sein Gewicht auf dem Stuhl verlagerte und zum fernen Horizont blickte. Nora und Salazar schwiegen.