Emma Rowley

Ein gutes Mädchen

Psychothriller

Aus dem Englischen von Christoph Hardebusch

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Emma Rowley

Emma Rowley studierte in Oxford und London und hat als Journalistin und Gerichtsreporterin gearbeitet, bevor sie zu schreiben begann. Sie lebt in London.

Impressum

© 2020 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2020 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Catherine Beck

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Coverabbildung: shutterstock.com

ISBN 978-3-426-45531-9

Prolog

Die Nacht ist mild, aber das Mädchen zittert. Die wenigen Autos, die an ihr vorbeifahren, sehen so gemütlich aus, ihre Fahrer eingenistet in ihren eigenen kleinen Welten, nach Hause eilend, um alles hinter sich zu lassen.

Würde jemand von ihnen den Kopf drehen, um die schlanke Gestalt auf dem Bürgersteig zu betrachten, würde ihnen vielleicht auffallen, dass das Mädchen nervös wirkt. Oder sogar verzagt.

Aber niemand nimmt sie wahr, wie sie gerade außerhalb der gelben Lichtkegel der Straßenlaternen geht, das Gesicht von ihrem langen Haar verborgen.

Es schien eine so gute Idee zu sein. Die beste, um genau zu sein.

Aber jetzt? Jetzt war sie nicht mehr so sicher.

Das Mädchen schluckt sein Unbehagen herunter. Nun ja. Es war ohnehin zu spät, um umzukehren.

Er würde schon warten.

Artikel in der Manchester Evening News, 17. Februar 2017:

Spuren im Fall des vermissten Schulmädchens werden kalt

Aus der Redaktion

 

Die Detectives, die den Fall eines verschwundenen Schulmädchens aus Cheshire untersuchen, werden ihre Bemühungen reduzieren. Sophie Harlow, 16, wurde letztes Jahr vor ihren GSCEs als vermisst gemeldet, nachdem sie nicht in ihr Zuhause im grünen Dorf Vale Dean zurückgekehrt war. Das löste eine intensive Fahndung aus.

Allerdings wurde die Suche in den Wochen nach ihrem Verschwinden am Abend des 13. Mai letzten Jahres herabgestuft, nachdem die ehemalige Schülerin der Amberton Grammar School Kontakt aufgenommen hatte.

Obwohl der Fall offenbleibt, werden die Detectives nicht mehr aktiv nach ihrem Aufenthaltsort fahnden.

Eine Sprecherin der Greater Manchester Police verteidigte den Umfang und das Engagement der bisherigen Bemühungen. »Wir sind überzeugt, dass es keine verdächtigen Umstände beim Verschwinden von Sophie gibt«, erklärte sie. »Wir behandeln ihren Fall nun als den einer Ausreißerin. Wie bei jeder Vermisstenmeldung werden wir natürlich neuen Hinweisen nachgehen, und wir bitten Sophie, Kontakt mit uns oder ihrer Familie oder Freunden zu halten, um zu bestätigen, dass es ihr gut geht.«

Die Eltern von Miss Harlow wurden von dieser Entscheidung bei einer Besprechung mit den Detectives informiert.

Mark und Kate Harlow, die Berichten zufolge seit dem Verschwinden ihrer Tochter getrennt sind, haben eine Stellungnahme abgelehnt.

Teil 1

1. Kapitel

Zwei Jahre später

Ich bin eine schlechte Mutter. Das soll man nicht sagen. Alle waren sehr darauf bedacht, dass ich mir nicht selbst die Schuld gebe. Zu Beginn jedenfalls.

Und sie hatten recht, es gab viele Dinge, die wir – die ich – richtig machten. Gutenachtgeschichten, ausgewogene Mahlzeiten, ein schönes, elegantes Zuhause. Urlaub im Ausland, Tennis- und Klavierstunden, ein Nachhilfelehrer für Mathe, als Sophie in der Grundschule leichte Probleme hatte. Wir haben sogar einen mutigen Versuch mit der Geige gestartet, als Sophie sieben Jahre alt war, auch wenn sie so großartig schief klang, das Geräusch so schmerzhaft, dass Mark und ich einmal lautlos lachend vor der Wohnzimmertür standen. Unsere kleine Tochter hat das natürlich nicht mitbekommen. Aber auch wenn Sophie kein besonderes Ohr für Musik hatte, so hatte sie doch alles andere. Wir hatten sogar einen Hund – natürlich hatten wir einen –, einen schwarzen Labrador namens King, so lieb wie gierig. Mark hatte den Namen ausgesucht. Er war mit Hunden wie King aufgewachsen und wollte, dass Sophie auch einen hatte. Ich vermisse King.

Aber vielleicht schätze ich das alles falsch ein, sogar jetzt noch. Vielleicht lag es nicht an mir oder Mark, dass es uns so leicht erschien, dass unsere kleine Familienblase geradezu durchs Leben zu schweben schien – sondern an unserer Tochter, immer lachend und lieb, darauf bedacht, zu gefallen.

»Dein kleiner Schatten«, nannte Mark sie. Immer war sie da, lief hinter mir her, freudig an allem teilhabend, was ich tat. Sie hatte ein Talent dafür, glücklich zu sein. Als sie in die Teenager-Phase kam, gab es natürlich ein paar Ausreißer, aber das war normal. Es würde alles gut enden.

Ich irrte mich.

Aber ich suche nach Entschuldigungen. Denn alles, was ich getan habe, die Autofahrten, die geputzten Nasen, die Küsse, die Jahre der Liebe und Sorge, nichts davon zählt jetzt noch. Am Ende gibt es nur eine Erkenntnis: Ich habe versagt.

Morgens ist es am schlimmsten. Einfach nur in den Tag starten, entscheiden, dass es doch einen Grund gibt, aufzustehen.

»Ich weiß nicht, wie du es schaffst weiterzumachen«, sagten mir manche Leute. Ich weiß nicht, woher sie zu wissen glaubten, dass ich das tat. Lange Zeit empfand ich mich im Stillstand.

Darüber bin ich hinaus. Ich arbeite nicht mehr in einem Büro, aber ich beschäftige mich, auf meine Art. Es gibt so viel zu tun: Telefonanrufe, E-Mails, Briefe. Artikel, die ich lesen muss, Foren, die ich verfolgen muss.

Manchmal ist es überwältigend. Die Leute denken, ich verstecke mich und tue nichts, aber sie verstehen nicht, wie viel ich immer noch leiste. Wenn ich ehrlich bin, schaffe ich es allerdings nicht immer aus dem Bett, bevor die Katze anfängt, mich vor Hunger rauszutreiben.

Meiner Meinung nach liegt der Trick darin, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Heute half mir ein Streifen warmen Sonnenlichts quer über meinem Kopfkissen, zu hell für meine Augen. Der Himmel war bereits ein erschreckender blauer Streifen zwischen der Jalousie, die ich nicht ganz geschlossen hatte. Also zwang ich mich, beide Füße auf den Boden zu stellen, und saß dann einen Moment lang auf der Bettkante, der Kopf noch leicht vom Schlaf, und dachte über den kommenden Tag nach.

Der Kalender ist im Moment nicht gerade voll. Nicht wie diese Wochenenden, an denen wir freitags und samstags unterwegs waren, auf Dinnerpartys und Events von der Arbeit und großen Geburtstagen – es gab immer was zu feiern. Mark war so sozial, und ich war immer glücklich damit, in seinem Fahrwasser mitgezogen zu werden.

Aber für heute Abend habe ich Pläne, das ist ja schon mal was. Und jetzt bin ich schon geduscht und habe mir einen starken Kaffee gebraut, um den Kopf zu klären, denn ich habe mir selbst eine Aufgabe für heute gestellt.

 

Das erste Fotoalbum ist von einer Schicht Staub bedeckt, die mich niesen lässt, als ich es aus dem Regal im Wohnzimmer ziehe. Es fiel mir immer leicht, sie aktuell zu halten und dafür zu sorgen, unsere digitalen Schnappschüsse in glänzende Ausdrucke zu verwandeln, die ich in die Seiten einfügen konnte. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, egal, was manche Leute denken. Ich sehe sie mir selten an.

Aber heute muss ich, denn ich habe entschieden, dass das Bild, das ich online und in den Briefen und E-Mails geteilt habe – Sophies letztes Schulfoto –, in die Irre führen könnte. Diesen Sommer wäre sie schon nicht mehr in der Schule, sondern hätte die Oberstufe beendet. Deshalb sorge ich mich, dass es einen falschen Eindruck erzeugen könnte – dass es sogar ungünstig sein könnte, so deutlich eine Schülerin zu zeigen: Sophies weiße Bluse im Kontrast zu ihrem dunkelblauen Pullover, ihr glänzendes blondes Haar zu einem ordentlicheren Pferdeschwanz zusammengebunden als sonst. Das Haar hat sie von mir, auch wenn meins schon lange die Hilfe eines Friseurs benötigt, um blond zu sein. Das Lächeln ist allerdings nur ihres – sonnig, mit einem Hauch von Schalk, der ihr rundes, süßes Gesicht erhellt.

Heute will ich ein gutes, klar erkennbares Bild von ihr ohne Schuluniform finden. Ich wische meine vom Staub grauen Fingerspitzen an den Shorts ab und nehme das Album mit zum Wohnzimmertisch, wo ich es vorsichtig öffne. Sofort wird mir flau im Magen. Ich dachte, ich hätte die Alben damals chronologisch ins Regal geräumt, aber das ist nicht das, was ich gesucht habe. Dieses Album ist eines der ersten, die Fotos sehen schon auf diese ganz bestimmte Art veraltet aus. Wieso ist das so? Es kann nicht nur unsere Kleidung sein – es sind T-Shirts und Flip-Flops, unvergängliche Sommermode.

Und doch gehört diese erste Aufnahme in eine andere Zeit. Sie zeigt Mark, Sophie und mich auf irgendeiner Parkbank sitzend, alle mit einer Waffel Eis in der Hand. Mark ist dünner als jetzt, und ich sehe runder aus, rosiger, aber nicht das lässt unsere Fotoabbilder wie Fremde auf mich wirken. Vielleicht ist es irgendwas in unseren Blicken: Wir sind beide so sorglos, so bereit für eine Zukunft, die ganz sicher nur mehr Gutes bringen würde. Und natürlich ist da Sophie, eine mollige Zweijährige mit einem Büschel heller Haare, mit Beinen, die aus ihren Latzhosen ragen, zu kurz, um die Kante ihres Sitzplatzes zu erreichen.

Ich blättere um.

Oh, daran erinnere ich mich auch. Ich habe dieses Bild aufgenommen. Sophie war auf dem Sofa eingeschlafen, eine Faust noch um Teddy gewickelt, den viel zu teuren Plüschbären, auf den Mark ein Weihnachten bestanden hatte. Das sind Sammlerstücke, keine Spielzeuge für Kinder, hatte ich lachend erwidert. Aber sie hatte ihren neuen Teddy geliebt, ihn am Bein durch das ganze Haus geschleift und darauf bestanden, nachts ihr Kissen mit ihm zu teilen. Nur wenn sie eingeschlafen war, konnte ich ihn vorsichtig nehmen und mit unparfümiertem Waschmittel waschen, damit er nicht anders roch. Sogar als sie älter wurde, endete Teddy jede Nacht irgendwie unter ihrem Kopfkissen.

Ich weiß nicht, wo Teddy jetzt ist. Als wir sie noch hatten, war es nicht so wichtig, auf diese Dinge zu achten …

In der Küche klingelt schrill das Telefon, und ich zucke zusammen, denn der Ton ist im stillen Haus zu laut. Ich schleiche hinüber, wische mir die Augen am Ärmel trocken – wie üblich habe ich kein Taschentuch dabei.

»Hallo?«

»Hallo, Schatz?«

Es ist Dad, seine Stimme rauer als früher.

»Dad, wie geht es dir?«

Ich bin froh, dass ich mich so ruhig anhöre.

»Gut, gut. Weißt du, wir haben uns gefragt, deine Schwester und ich, ob du heute Nachmittag vorbeikommen und hier schlafen magst. Wir dachten, wir könnten bei diesem neuen Italiener essen gehen. Da gibt es …«, er macht eine nachdenkliche Pause, »Sushi.«

»Italienisches Sushi? Bist du sicher?«

»Oh, irgendwie so was. Vielleicht auch Tapas. Ich kann mir das alles nicht merken. Aber es wäre sehr schön. Würde dir das gefallen? Charlotte meint, du kannst in ihrem Gästezimmer bleiben.«

»Oh. Danke, aber ich kann nicht.«

»Oder du könntest bei mir übernachten, wenn du denkst, es wäre zu laut mit den Jungs. Ich kann das Sofa beziehen.« Dad hatte sich zu einem Reihenhaus verkleinert, ein Cottage eigentlich, noch näher bei meiner jüngeren Schwester Charlotte und ihrer Familie. Er deutet öfter an, dass ich es ebenso halten sollte, und erwähnt immer, dass es »so einfach ist, ein kleines Haus zu pflegen«. Ich glaube, die beiden möchten mich näher bei sich haben, dort, wo ich aufgewachsen bin.

»Danke, Dad, aber ich kann nicht. Ich gehe aus.«

»Oh!« Er klingt erfreut und fragt jovial: »Und wohin geht es an einem Samstagabend?«

»Das Sorgentelefon«, erkläre ich kurz angebunden. »Du weißt schon, meine Nachtschicht.«

»Ja, natürlich. Ich dachte nur, dass du inzwischen … meinst du, es würde ihnen was ausmachen, wenn du heute Nacht nicht gehen würdest?«

»Ich wünschte, das ginge … aber ich kann sie nicht hängen lassen. Das wäre nicht richtig.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Tatsächlich bin ich sicher, dass es kein Problem wäre. Ich habe mehr als meinen Teil der Schichten übernommen und bin immer bereit, noch mehr zu machen, wenn herumgefragt wird, ob jemand tauschen kann. Es gibt mehr als nur ein paar Gefallen, die ich einfordern könnte.

»Das nächste Mal vielleicht.«

»Ja, das nächste Mal.«

Plötzlich kann ich ihn vor mir sehen, ordentlich in dem karierten Hemd, das er immer zur Arbeit im Garten trägt, allein in der aufgeräumten kleinen Küche, inzwischen ein wenig zusammengesunken. Es ängstigt mich, wie sehr er in diesen letzten Jahren gealtert ist. Es ist nett von ihnen, dass sie es versuchen.

»Tatsächlich wollte ich schon längst vorbeikommen«, erkläre ich. »Neulich hatte ich eine Idee. Erinnerst du dich an den Abend, als wir im Cottage waren?«

»Hm, welcher Abend war das?«

»Der, als du dachtest, du hättest Sophie gesehen.« Darüber will er nicht mehr reden, aber irgendwas in mir will ihn drängen. »Ich weiß, du sagst immer, dass du dich nicht an das Modell des Autos erinnern kannst, dass es zu dunkel war, aber ich habe nachgedacht – ich habe einige Ausdrucke von Autobildern aus dem Internet, und ich könnte sie vorbeibringen, und dann sehen wir, ob irgendeines deinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Ich glaube mich nicht zu erinnern, dass die Polizei das jemals gemacht hat, oder?«

Einige Sekunden lang schweigt er.

»Katie … es tut mir leid. Du weißt, das war nicht sehr fair von mir.«

»Was meinst du?«

»Ich hätte das nie erwähnen sollen und damit falsche Hoffnungen wecken. Mir war nicht bewusst, dass es dich noch so beschäftigt.«

»Nun, natürlich, ich suche immer nach neuen Hinweisen.«

»Weißt du, Kate, es geschieht sehr häufig, wenn jemand verschwindet, dass Freunde und Familie glauben, denjenigen irgendwo zu sehen.«

»Ich weiß das, aber …«

Zur Abwechslung unterbricht er mich mal mit fester Stimme: »Katie, bitte. Wir haben das schon so oft besprochen. Ich bin zwischendurch umgezogen. Es gibt keinen Grund, warum Sophie das wissen könnte, selbst wenn sie nach mir suchen sollte. Es war dunkel, und ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Tatsächlich ist das nicht ungewöhnlich – es ist Teil des Trauerprozesses.«

Therapie-Sprech.

»Du warst wieder bei dieser Gruppe.«

Ich versuche, meine Stimme neutral zu halten, aber sie klingt kalt.

»Es hat deiner Schwester und mir sehr geholfen. Und ich denke, es würde auch dir helfen, wenn du es nur noch einmal probieren würdest.«

»Vielleicht. Irgendwann demnächst – oh, einen Moment. Entschuldige, es klingelt an der Tür. Ich melde mich später, Dad. Ich wünsche dir einen schönen Abend, und richte Charlotte und Phil und den Jungs liebe Grüße aus.«

»Tschüss, Katie.«

Er klingt traurig.

»Tschüss.«

Ich lege auf. Lügen war noch nie meine Stärke.

Dieses Gruppending habe ich ausprobiert, aber ich bin nur einmal hingegangen. Es war unerträglich. Die einzigen Geschichten, die ich hören wollte, mussten ein Happy End haben.

Ich wollte nicht in einer zugigen Kirche sitzen, mit einem Haufen Fremder, die versuchten, mit dem klarzukommen, was ihnen zugestoßen war. Natürlich konnten sie es nicht. Die ganze Angelegenheit war so dämlich.

Außerdem wusste ich, wie das läuft. Ich hatte die Broschüren gelesen, und einiges davon war am Ende durchaus irgendwie nützlich. »Für ein paar wenige Familien«, erklärte eine, »ist es ein Weg, mit der Intensität und alles vereinnahmenden Natur der Suche umzugehen, sie gar nicht erst aufzunehmen oder schnell wieder einzustellen.«

Das tat ich nicht. Ich konnte es nicht, nicht mal, wenn ich gewollt hätte. Aber ich nehme an, es hat mir geholfen, Mark zu verstehen, wenigstens ein kleines bisschen, nachdem Sophie fort war. Denn das war die letzte Sache, über die wir uns nicht einig werden konnten.

Wann man aufgeben sollte.

2. Kapitel

Das Problem mit Vermissten ist, dass sie nicht immer gefunden werden wollen. Das erklären sie allen Neuen hier, und das sage ich mir, wenn ein weiterer Samstagabend vorbeigeht, ohne dass uns wenigstens Spaßanrufe etwas aufmuntern.

In ihrer Ecke strickt Alma an einem weiteren riesigen gelben Rechteck, ein Pullover, wie sie mir erklärt, während die bösartig aussehenden Nadeln blitzschnell klappern. Ich hoffe, dass sie nicht vorhat, ihn mir zu schenken.

Man braucht uns wirklich nicht beide, aber es ist die beste Vorgehensweise, sagt die Hilfsorganisation. Verantwortungsbewusst. Es ist ihnen sehr wichtig, uns Ehrenamtlichen das Gefühl zu geben, dass man sich um uns kümmert und sorgt und wir sicher sind.

Dafür ist es ein wenig zu spät, will ich sagen, aber ich tue es nicht. Nicht alle hier kennen meine Umstände.

Neue Leute sind für gewöhnlich überrascht, wie still es hier ist. Sie denken, es gibt hier jede Menge Drama, klingelnde Telefone und Leute, die herumrennen und dringende Nachrichten aufschreiben.

Ich nicht. Ich wusste, wie selten Anrufe reinkommen würden. Es ist nicht der Samariterbund. Aber das lässt die Zeit auch nicht schneller vergehen. Heute bekomme ich vom Starren auf den Bildschirm Kopfschmerzen; ich surfe durch meine üblichen Webseiten, hinterlasse Nachrichten.

Vorsichtig reibe ich um meine Augen herum, damit ich nicht mein Make-up verschmiere, und bewege den Kopf von links nach rechts. Durch das Fenster hier im sechsten Stock sieht man einen spektakulären Sonnenuntergang über Manchester.

Seufzend legt Alma ihr Strickzeug zur Seite und schiebt sich von ihrem Schreibtisch weg.

»Zeit für meine Pause, liebe Kate. Schaffst du es allein? Ich brauche nicht lange, ich gehe nur kurz zu Marks und Sparks.«

Wie ein Uhrwerk – genau um neunzehn Uhr.

Obwohl ich denke, dass ich es gerade eben schaffen kann, lächle ich breit.

»Das wird schon. Keine Eile.«

Ich lausche ihren getragenen Schritten, die sie zu den Aufzügen unseres nicht gerade glamourösen Bürogebäudes führen. Regionale Wohlfahrtseinrichtungen haben nicht das nötige Geld für schicke Hauptquartiere. Dennoch sollte man meinen, dass sie uns ein paar Kekse kaufen könnten.

Mein Blick fällt auf die Pinnwand: Da hängt der lobende Artikel, den die Zeitung letztes Jahr Weihnachten über uns geschrieben hat. Auf dem Bild sind wir alle drauf, ein lächelndes Team. Ich stehe in der hinteren Reihe. Sie fürchten, dass wir uns hier im Norden vergessen fühlen. Der Hauptsitz ist in London, Teil einer viel größeren Organisation, in die unser Sorgentelefon vor einigen Jahren eingegliedert worden war. Aber mir ist Bestätigung egal, genauso wie Teambildung. Mir war nur nicht schnell genug eine Ausrede eingefallen, um mich zu drücken.

Seit einiger Zeit helfe ich jetzt schon aus, übernehme die späten Wochenendschichten, wenn andere Menschen mit Familie und Freunden beschäftigt sind. Ich lasse sie glauben, dass ich den Rest der Zeit arbeite. Ich will diese Blicke nicht.

Die Schicht hat um fünf angefangen, und jetzt bin ich auch hungrig. Erst werde ich mir noch eine Tasse Tee aufbrühen, und sobald Alma wieder da ist, gehe ich zu Pret, überlege ich. Alma ist streng. Sie macht nicht mal Toilettenpausen, solange kein Mitarbeiter am Telefon ist, was wohl richtig ist, wie ich vermute. Kurz überlege ich, ob ich nicht nachher eine dieser kleinen Weinflaschen für uns mitbringen soll, ein halber Plastikbecher für jede von uns im Angesicht der Nachtschicht. Aber nein, Alma und ihre Regeln, sie …

Als das Telefon klingelt, zucke ich regelrecht zusammen. Das erste Gespräch des Abends für mich. Ich hebe innerhalb der ersten drei Klingeltöne ab, wie wir es versprechen. Es gibt nicht mal Kopfhörer und Mikrofon.

»Hallo«, beginne ich mit warmer, ruhiger Stimme. »Du hast die Flaschenpost-Hotline erreicht. Ich bin Kate.«

Ein Klicken. Das passiert manchmal, sie verlieren die Nerven, hat man uns im Training erklärt. Weniger wurde uns über die Scherzanrufe gesagt, gelangweilte Teenager und Männer, die sich nach einer fremden Stimme sehnen.

Heute war es bislang ruhig. Alma hatte die letzten paar an der Strippe und hat sich mit geübter Lockerheit um sie gekümmert: »Oh, ich weiß, meine Liebe, es ist schwer, nicht wahr, aber es ist niemals zu spät, Brücken zu bauen, weißt du. In der Zwischenzeit werden sie so glücklich sein zu erfahren, dass du in Sicherheit bist. Bist du sicher, dass du mir nicht deine Nummer geben magst, um zu sehen, dass es dir gut geht, so in ein, zwei Tagen …?«

Genau das machen wir hier: Menschen, die ihr Zuhause verlassen haben, rufen uns an, und wir reichen ihre Nachrichten an Angehörige und Nahestehende weiter.

 

WEGGELAUFEN?

Schick eine Nachricht, dass du in Sicherheit bist

KEINE FRAGEN

Ruf einfach an und übergib uns deine Nachricht

Wir leiten sie weiter

Schicke eine FLASCHENPOST

 

Das ist unsere Anzeige. Man findet sie überall, wenn man weiß, wo man nachsehen muss: in Kirchen, Gemeindezentren und Bürgerhäusern, manchmal sogar im Lokalblatt, wenn sie Geld dafür haben.

Tatsächlich ist Alma darin brillant und bekommt die Namen von Eltern heraus, halb vergessene Postleitzahlen, »Wie geht es dir gerade?«, skizziert die traurigen Details von Behandlungszentren und »kein fester Wohnort«, das Strandgut zerbrochener Leben, und dabei klingt sie wie eine einfühlsame Großtante auf einer Familienfeier. Sie mag aussehen wie die Präsidentin des Ortsverbands für Frauenrechte – genau das war sie –, aber Alma weiß, was sie tut. Brücken bauen, Kommunikationslinien offenhalten, Nachrichten an Familien liefern, die verzweifelt etwas, irgendetwas über den geliebten Vater, Cousin oder Sohn wissen wollen … oder über die geliebte Tochter.

Ich hingegen habe Schwierigkeiten, zu Anrufern eine Verbindung aufzubauen. Man sagt mir, ich kann etwas kühl wirken – laut eines Rückmeldungsformulars (das ist hier sehr wichtig, denn es gibt eine endlose Anzahl an Besprechungen und Nachbesprechungen) mangelt es mir an »Empathie«, wenn es um die Lebenssituationen von Anrufern geht. Was ich einigermaßen ironisch finde, um es nett auszudrücken.

Aber wenn ich schon nicht die Beliebteste sein kann, bin ich wenigstens verlässlich.

Wieder klingelt das Telefon, reißt mich aus meinen Gedanken, und ich hebe ab. Das Rauschen knistert in meinem Ohr, lässt mich zusammenzucken, dann wird es leiser.

»Hallo«, sage ich erneut. »Du hast die Flaschenpost-Hotline erreicht.« Ich weiß, der Name ist viel zu niedlich. »Ich bin Kate.«

Keine Antwort. Nur eine weitere Runde Knistern.

»Ist jemand am anderen Ende?«

Vielleicht hat sich jemand verwählt, oder ein automatisches System in einem Callcenter hat sich vertan, bevor sich ein Mitarbeiter aus Glasgow oder Mumbai dazuschaltet und versucht, mir etwas zu verkaufen.

»Hallo?«

Wieder ein Anschwellen des Rauschens, aber darunter kann ich gedämpfte Geräusche wahrnehmen, als würde jemand unter Wasser reden.

Hoffentlich war es kein Scherzanruf. Natürlich haben wir Regeln, man darf nicht mal zu betrunkenen Kids unhöflich sein – »Man weiß nie, warum jemand anruft«, erklärt Alma Neulingen immer ernst. »Sogar ein Scherzanruf kann ein Hilferuf sein.«

Selbst wenn ich hin und wieder den Schweratmenden dran habe, der Obszönitäten flüstert, oder ein paar Teenager, die in den Hörer kichern – solange Alma nicht in der Nähe ist, teile ich ihnen mit ein paar klaren Ansagen meine Meinung mit und sage, dass wir Anrufe verfolgen können, bevor ich auflege. Sie müssen ja nicht wissen, dass wir das gar nicht können.

Die Leitung wird wieder leise, dann ist da jemand, plötzlich real und schnell atmend.

»Hallo, Flaschenpost hier. Du sprichst mit Kate.« Wieder Rauschen, ich nehme den Hörer ein Stück vom Ohr. »Soll ich jemanden für dich anrufen?«

Mehr Knistern.

»Die Leitung ist leider ganz furchtbar. Gibt es jemanden, dem du eine Nachricht schicken möchtest?«

Es klingt, als würde jemand sehr weit entfernt reden, aber ich kann keine Wörter verstehen. Ich kann so lange dranbleiben, wie ich meine, dass es nötig ist. Ich drehe den Bürostuhl und blicke aus dem Fenster. Das letzte Fitzelchen Sonne gleitet hinter die gezackte Skyline, ein paar Strahlen zeichnen Muster auf die Wand hinter mir, als es verschwindet.

Wieder versuche ich es, beginne, mich durch unsere Fragen zu arbeiten: »Bist du an einem sicheren Ort?«

Eine Pause, dann »… mich hören?«

Die Stimme einer Frau, ein blechernes Flüstern gegen das Rauschen.

»Ja, kann ich. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Ich nehme einen Schluck meines kalt werdenden Tees. Natürlich will ich sie nie verscheuchen.

»Du bist da!«

Die Erleichterung in der leisen Stimme ist fast greifbar. Sie klingt jung – das sind sie oft.

»Keine Sorge, ich bleibe«, versichere ich. »Wann immer du reden willst.«

Der gelbe Zettel, den ich ans Telefon geklebt habe, erinnert mich an unsere neueste Ansage, angeordnet durch Chrissie, die gestresste Koordinatorin der Freiwilligen bei der Hotline.

»Wenn du lieber eine SMS schicken willst, kein Problem. Wir bieten jetzt …«

Sie unterbricht mich.

»Ich muss schnell sein. Sie müssen ihnen sagen, dass sie sich nicht mehr um ihre Tochter zu sorgen brauchen. Dass sie … dass es mir gut geht …«

Wieder verlieren sich die Worte im Rauschen.

»Wem? Wem soll ich das sagen?« Mit einem Mal rast mein Herz.

Stille, dann die Stimme, winzig nun, wie sehr weit weg: »… keine Sorgen machen, wenn sie dann nicht mehr von mir hören, es schmerzt nur …«

Und wieder ist sie weg.

»Ich kann dich nicht verstehen, Süße.«

Meine Finger krallen sich um den Hörer, drücken ihn an mein Ohr, fester und fester, als könnte ich so besser hören. Die Leitung knistert und summt.

Dann wieder diese Stimme, jetzt deutlich, die ich besser kenne als jede andere: »… sind Kate und Mark Har…«

Meine Haut wird am ganzen Körper kalt.

»Sophie?«, frage ich. Erlaube mir endlich, es zu fragen: »Bist du das, Sophie?«

Wieder schwillt das Rauschen an. Es ist unmöglich zu sagen, ob sie noch redet.

»Bist du noch da?« Ich warte, während mir mein Herz in der Brust schmerzhaft laut pocht. »Bist du noch da?«

»Ja, ja, ich bin noch dran«, antwortet sie. »Ich bin noch da.«

»Ich liebe dich, So.«

Am Ende ist das alles, was ich ihr sagen will. Ich weiß nicht, was sie antworten wird, aber dann dröhnt das Freizeichen in der Leitung, viel zu laut in meinem Ohr. Ich atme aus, lege langsam auf.

Jeder Faser in mir kennt diese Stimme.

Meine Tochter. Sophie.

 

Als Alma zurückkommt, bin ich ruhiger, zumindest nach außen hin. Darin bin ich gut. Du bist so gefasst, sagen mir die Leute immer. Und dann: Ich kann nicht glauben, wie ruhig du bist. Es ist kein Kompliment.

Aber ich stelle fest, dass ich nicht wirklich ruhig sitzen bleiben kann. In meinem Kopf werden diese paar Wörter wieder und wieder abgespielt: »Kate und Mark Har…« Sie war im Begriff gewesen, Harlow zu sagen, da bin ich sicher. »Kate und Mark Harlow.«

Sofort erzähle ich Alma, was geschehen ist, dass mein Anruf endlich kam, der, den ich immer erwartet hatte. Der Grund für mein Ehrenamt, wie sie jetzt weiß, ohne dass ich es ihr erklären muss.

»Nun, ich bin so glücklich, meine Liebe«, sagt sie nach einer Pause. »Ich weiß, dass du lange warten musstest.«

Ich erwidere ihre Umarmung, damit sie nicht sieht, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Ihr weicher Cardigan riecht nach ihrem Parfüm – Rose und Vanille.

Dann gibt sie mir den Rest der Schicht frei: Sie denkt, es ist am besten, wenn ich nach Hause gehe. Das hier schafft sie schon allein. Für Alma, die Veteranin des Sorgentelefons, sind Brüche und Zusammenschlüsse von Familien alltägliches Geschäft, so wie Einkaufen im Supermarkt und Spaziergänge mit ihrem Dackel.

Ich stelle fest, dass ich zittere, trotz der zwei Löffel Zucker in dem Tee, den Alma mir gemacht hat (»gegen den Schock, meine Liebe«). Ich will hier raus, will was tun. Und dann ist da noch was am Rande meines Denkens, wenn ich es nur zu fassen bekommen würde …

Ich schüttle den Kopf. Sei vernünftig. Zuerst hinterlasse ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der zuständigen Polizeibeamtin. Falls es noch nicht zu spät ist, fahre ich vielleicht zu Dad. Ihm will ich es persönlich, von Angesicht zu Angesicht sagen. Und dann muss wohl ich Mark informieren. Es ist das Richtige. Als Vater von Sophie muss mein Ex Bescheid wissen.

Sobald sie aufgelegt hatte, hatte ich versucht, die Anruferkennung zu bekommen, obwohl ich die Antwort schon kannte. »Der gewünschte Dienst ist nicht verfügbar.«

Selbst wenn wir wollten, können wir unsere Anrufer nicht identifizieren – es ist eine der Grundregeln, und das System ist so eingerichtet, dass es unmöglich ist.

Aber diese Stimme würde ich immer und überall erkennen. Vielleicht war sie leise, und die Verbindung war schlecht, aber sie war es. Sie möchte eine Nachricht an Kate und Mark schicken: an mich und ihren Dad. Dass wir uns keine Sorgen machen sollen – und uns keine Sorgen machen sollen, wenn wir nichts mehr von ihr hören. Was bedeutet das?

In mir wird das Verlangen unerträglich, roh und schmerzhaft. Wenn ich doch nur länger mit ihr hätte reden können. Dann hätte ich sie überreden können, nach Hause zurückzukehren. Ich weiß es. Komm nach Hause, Sophie, bitte ich mit Nachdruck, als könne ich sie allein durch die Intensität meiner Gefühle überzeugen. Komm nach Hause.

Erst als ich schon fast am Auto bin, erkenne ich es. Mitten auf dem Parkplatz halte ich inne, mit einem Mal steif. Jetzt verstehe ich, was mich plagt.

An diesen Anruf habe ich schon oft gedacht, ihn mir so häufig vorgestellt, auf jede Art. Wie sie sein könnte. Entfernt. Wütend. Aufgebracht.

Aber niemals zuvor habe ich mir vorgestellt, dass sie so klingen würde, so … verängstigt.

3. Kapitel

Der Kaffee, der schon lauwarm aus dem Automaten kam, ist inzwischen kalt. Das verbessert seinen Geschmack kein bisschen. Da ich mit dem Rücken zu ihm stehe, verziehe ich das Gesicht.

»Nun, irgendwas müssen Sie doch unternehmen können, um sie zu finden«, stelle ich ruhig fest und drehe mich um. »Es muss doch was geben. Irgendeine Art von Speicherung beim Telefonanbieter vielleicht – irgendwas.«

Ich klinge zuversichtlicher, als ich bin, denn auch das kann ich gut.

»Ich meine, die Polizei verfolgt doch alle naselang Anrufe.«

»Ich verstehe Ihre Frustration, Mrs Harlow, wirklich.«

Der junge Beamte, der den Bericht über meinen Anruf verfasst, ist höflich, sogar beflissen, fragt nach jedem Detail. Ihn dazu zu bringen, mit den Informationen auch etwas anzufangen, ist aber eine ganz andere Sache.

»Aber wir können nichts tun, bis wir nicht einen Blick in die Akte geworfen haben und da auf dem Stand der Dinge sind. Was noch diese Woche passieren wird, das versichere ich Ihnen.«

»Diese Woche?« Ich sehe den Ausdruck in seinem Gesicht. »Okay, ich weiß, wie sich das anhört. Aber es war nicht das, was sie gesagt hat. Sondern, wie sie es gesagt hat.«

»Ja, das haben Sie erwähnt. Sie haben da ein Gefühl«, wiederholt er meine Worte.

Ich schenke ihm einen bösen Blick, aber er verzieht keine Miene.

»Aber hat sie um Hilfe gebeten? Nach der Polizei gefragt? Hat jemand sie bedroht, sie angegriffen?«

»Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, erwidere ich und versuche, meine Frustration im Zaum zu halten. Er weiß längst, dass sie nichts davon gesagt hat. »Sie sagte, wir sollen uns keine Sorgen um sie machen. Aber … aber sie hat nicht gesagt, dass sie in Sicherheit ist.«

»Und niemand sonst hat sie gehört oder wenigstens den Anruf mitbekommen?«

»Nein, wie gesagt, Samstagnacht ist nur die kleine Besetzung da. Meine Kollegin war gerade in der Pause.«

»Und diese Anruferin …«

»Sophie«, unterbreche ich ihn.

»Wie Sie sagen, Sophie … sie hat den Anruf beendet …«

»Ja, natürlich habe nicht ich aufgelegt. Das würde ich nie tun.«

»Also sie hat den Anruf beendet, als sie erkannt hat, dass sie mit Ihnen spricht?«

»Ich denke schon, ja, aber das muss natürlich ein Schock gewesen sein.«

»Nun denn. Vielleicht ruft sie wieder an?«

Ich knirsche mit den Zähnen. Vorher war ich immer so dankbar, so schuldbewusst. Ich bin die Mutter, deren Tochter weggelaufen ist. Aber jetzt bin ich nur aufgebracht. Wütend.

Tatsächlich weiß ich nicht, was ich erwartet hatte, aber jedenfalls mehr als das. Zumindest ein Gefühl der Dringlichkeit.

Auf meine Nachricht hatte es keine Antwort gegeben. Ich hatte die Nummer von Kirstie, unserer bisherigen Beamtin, gespeichert. Als es keine Reaktion gab, bin ich einfach direkt zu der Wache in Amberton gefahren, dem nächsten Städtchen bei Vale Dean, dem Dorf, in dem ich wohne. Man hatte mich in das Zimmer geführt, und dann war der Polizist gekommen, um den Bericht aufzunehmen. Noch war es früh genug und ruhig, die Säufer waren noch nicht auf dem Marktplatz unterwegs.

Jetzt allerdings nicht mehr. Es kam mir vor, als ob ich stundenlang gewartet hätte, gewartet, dass was passiert. Und jetzt ist klar, dass ich noch länger warten werde.

»Sie sagen, sie hat Ihnen gesagt, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen«, stellt er fest. Er spielt mit einer Seite seines Notizblocks. »Wissen Sie, mit achtzehn, wenn da jemand nicht zurück nach Hause kommen will … nun ja. Die Wahrheit ist, Mrs Harlow, dass es vielleicht gar keine Angelegenheit für die Polizei …«

»Keine Angelegenheit für die Polizei? Meine Tochter, die seit zwei Jahren vermisst wird, ruft mich an, und es ist keine Sache der Polizei?«

Meine Stimme bricht, und er senkt den Blick. Er schämt sich für mich. Er glaubt, ich klammere mich an einen Strohhalm.

»Sie verstehen das nicht«, sage ich niedergeschlagen. »Ich kenne meine Tochter. Oder kannte sie. Bitte, Constable …«, ich versuche mich an seinen Namen zu erinnern, »Jesson. Wissen Sie …« Ich zögere, während sich ein Gedanke langsam in meinem Kopf entfaltet. »Haben Sie eine Schwester namens Jessica? Ist Cross-Country für die Grafschaft gelaufen?«

»Oh, nein, Jessica ist meine Cousine«, erklärt er mit etwas mehr Wärme in der Stimme. »Der Name ist schwierig, aber dafür vergisst man ihn nicht. Sie ist jetzt an der Uni, Jura.«

Als ihm der wahrscheinlichste Grund dafür einfällt, dass ich den Namen kenne, hält er inne.

»Sie muss ein paar Jahre älter sein als Sophie. War sie auch Läuferin?«

»Ist sie«, erwidere ich. »Nicht war.«

»Ist«, korrigiert er sich, dann fährt er leiser fort: »Okay, es gibt wirklich nichts, was wir heute Nacht noch tun können. Das geht an unsere Ermittler, verstehen Sie? Es ist keine kleine Sache, Anruflisten zu besorgen, sogar in …«

Sogar in Fällen mit Priorität, beende ich seinen Satz in Gedanken. Anders als dieser.

»Sogar wenn es kein Samstagabend ist. Aber ich habe Ihre Bedenken eingetragen. Wir kontaktieren Sie.«

Mehr werde ich heute Abend nicht erreichen. Was kann ich schon noch tun?

»Vielen Dank«, sage ich und stehe auf. Es ist sinnlos, mich mit ihm anzulegen.

 

Als ich die Polizeiwache verlasse, ist es dunkel. Auf dem Weg zum Auto muss ich mich durch eine Junggesellinnen-Partygruppe schlängeln, die durch die Straßen torkelt. Ich bin daran gewöhnt, nicht im Einklang mit dem Rest der Welt zu sein.

Auf dem Heimweg schalte ich das Radio ein, arbeite mich durch die Sender mit Discomusik, bis ich eine Anrufsendung mit hirnlosem Geplapper finde, die mich ablenkt.

»… also haben es Teenager heutzutage schwerer als zu unseren Zeiten? Eine neue Studie behauptet, dass Probleme mit psychischer Gesundheit unter jungen Menschen ansteigen – aber was denken Sie? Rufen Sie mich an. Und jetzt hat Bob aus Stockport eine ziemlich kontroverse Ansicht über die Körperwahrnehmung, nicht wahr, Bob? Er ist jetzt dran und …«

Ich schalte wieder aus. Während ich die Ausläufer der Stadt hinter mir lasse und die Häuser Feldern weichen, kommen die Erinnerungen zurück.

Damals war ich unterwegs, auf einem überdrehten Mädelswochenende, bei dem ich unsicher war.

»Sie ist eigentlich eher Charlottes Freundin«, hatte ich gesagt, während ich mir das geplante Programm ansah: Wellness, zur Rennbahn.

Sophie hatte mich ermutigt mitzumachen: »Du solltest gehen. Vielleicht gefällt es dir.«

Später hatten die Polizisten gesagt, dass sie wohl schon wusste, dass sie dann verschwinden würde: Vielleicht – und sie formulierten das sehr vorsichtig – war eine Mutter einen Hauch aufmerksamer als ein Vater.

Es war immer ein Streitpunkt zwischen uns gewesen: Ich war ständig darauf bedacht, unsere Tochter zu Hause zu halten, sicher, nah, besorgt über ihre schulischen Leistungen; Mark vertraute immer darauf, dass schon alles gut werde, darauf bestehend, dass Teenager ihren Freiraum benötigten, dass ich sie am Ende nur wegstoßen würde.

Vielleicht war es ihr Alter. Vielleicht konnten Teenager außerhalb von London in ebenso viel Ärger geraten wie in der Hauptstadt, auch wenn ich mir das nicht vorstellen konnte. Und sie schienen so viel Freiheit zu haben, hier in Vale Dean, alle rasten mit ihrem Führerschein, kaum dass sie siebzehn wurden, über die Landstraßen. Es hatte mich mit großer Angst erfüllt.

Ständig gab es Streit: Sophie, das Make-up von Tränen verschmiert, weil ich sie an einer weiteren Party oder einem weiteren Konzert gehindert hatte.

»Aber alle gehen. Holly geht. Danny fährt uns, du musst das nicht mal machen.«

»Oh, das macht es natürlich gleich besser. Ein Siebzehnjähriger, der gerade erst den Führerschein gemacht hat!«

»Es wäre dir doch egal, wenn es andere wären. Sei doch ehrlich, du kannst nur meine Freunde nicht leiden.«

»Es ist einfach nicht sicher, Sophie. Ich kann dir das nicht erlauben.«

Und dann der letzte Streit, über nichts eigentlich. Ich wollte, dass sie mit uns Abendbrot aß, aber sie wollte in ihrem Zimmer essen.

»Um nebenbei Hausaufgaben zu machen.«

Ich erinnere mich an das Ende, es war wie immer: Sophie schmiss die Tür hinter sich zu.

»Lass mich doch einfach in Ruhe. Ich ertrage das nicht mehr! Verstehst du nicht? Ich will einfach meine Ruhe!«

»Sophie …«

Auch wenn sie danach ein wenig ruhiger war als sonst, dachte ich, dass es vorbei war, als ich ging. Als Charlotte mich am Donnerstagabend abholte, umarmte sie mich richtig. Charlottes hellbrauner Bubikopf war sorgfältig frisiert. Sie hasste es, wie ihre Haare sich kräuselten, und wollte lieber glattes Haar, wie Sophie und ich es haben.

»Wir sehen und Sonntag«, rief ich. »Hab dich lieb, So.«

»Bis Sonntag«, antwortete sie über meine Schuler. »Hab dich lieb, Mo.«

Unser kleines Ritual, schon seit sie ein Kleinkind war und ich sie abends ins Bett brachte. So war mein Spitzname für sie; Mo, für Mum, war ihre Idee, einfach nur, weil sie den Reim lustig fand.

Es blieb hängen. Ich vermisse es immer noch.

 

Als wir schon wieder auf dem Rückweg vom Wochenende waren, mit Charlotte hinter dem Steuer, rief Mark an. Einfach nur, um sich »mal zu melden«, aber es klang zu gezwungen unbesorgt.

»Also, äh, Sophie war letzte Nacht bei Holly, hat sie gesagt. Gibt es noch eine andere Holly in der Schule? Verwechsel ich sie?«

Er konnte sich ihre Freunde nie merken.

Natürlich kam dann alles raus: Am Tag zuvor, Freitagmorgen, hatte Mark sie wie immer zur Schule gefahren – Amberton Grammar lag auf seinem Arbeitsweg im Stadtzentrum. Als er schon mit laufendem Motor auf sie gewartet hatte, war sie noch mal ins Haus gelaufen, erzählte er später, mit der Behauptung, etwas vergessen zu haben.

»Sophie«, rief er und hupte. »Beeil dich!«

Später erklärte er, ihm sei nichts aufgefallen.

Aber als er sie am Schultor abgesetzt hatte, hatte sie Schwierigkeiten, den Rucksack über die Schulter zu werfen, und die Klappe war ein Stück runtergefallen.

»Ist der Rucksack wirklich groß genug?«, hatte er sie aufgezogen. »Was hast du denn alles da drin?«

Immer schien sie die halbe Welt mit sich rumzutragen, den gesamten Inhalt ihres Spinds auf dem Rücken.

»Ach, nur … nur ein paar Schlafsachen«, erwiderte sie. »Du weißt doch noch, dass ich bei Holly übernachte, oder?«

»Nein.« Er blickte sie fragend an. »Sophie, weiß Mum davon?«

»Ja. Sie sagt, es geht in Ordnung.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. »Wir gehen nur den Stoff noch mal durch, mampfen Pizza. Das ist okay, oder?«

»Ich weiß nicht, Sophie«, entgegnete er und dachte nach.

Ein wenig schuldbewusst sah sie aus, erklärte er später, aber er bezog es auf das Offensichtliche: Sie beide wussten, dass es mir nicht gefallen würde. Aber er war schon spät dran, wollte sich beeilen, und was konnte schon groß passieren? Sie hatte viel Stress in der Schule. Und natürlich gab es da noch einen anderen Grund, warum es ihm passte, wenn sie nachts nicht zu Hause war.

Hinter ihm hupte jemand.

»Also, darf ich?«

»Na gut, aber komm morgen nicht so spät zurück. Spätestens zum Mittagessen«, rief er ihr nach.

»Okay, danke, Dad. Bis morgen.«

Erst als sie am späten Samstagnachmittag immer noch nicht wieder da war, rief er auf ihrem Handy an. Und als er sie nicht erreichte, bei Hollys Eltern. Ich hatte die Nummer an die Pinnwand geheftet – Sophie war so oft dort. Sollte jemand Sophie abholen?

Nein, Sophie sei gar nicht da. Hollys Mutter hatte sie ans Telefon gerufen. Nein, wiederholte sie, Sophie habe nicht bei ihr übernachtet. Tatsächlich hatte sie sie seit Freitagmorgen nicht mehr gesehen.

»Ich bin sicher, dass alles gut wird«, sagte Charlotte immer wieder, nachdem Mark aufgelegt hatte, während ich immer wütender wurde – und darunter immer besorgter. Es fiel mir schwer zu glauben, dass er sie so kurz vor den Abschlussarbeiten hatte gehen lassen.

Als er ungefähr eine Stunde später wieder anrief, stellte ich mein Handy auf Lautsprecher. Ich wusste sofort, dass sie nicht wieder aufgetaucht war.

»Katie …«, hatte er gesagt und klang fast schon verwirrt. »Sophie. Sie hat einen Brief dagelassen.« Er räusperte sich.

Einen seltsamen Moment lang fragte ich mich, ob er weinen würde.

»Sie ist weggelaufen.«

 

Zwei uniformierte Beamte – professionell und ernst – kamen noch am selben Abend nach meinem Anruf bei der Notrufnummer. Nein, man müsse nicht 48 Stunden warten, versicherten sie uns. Das sei nur eine urbane Legende. Wir hätten das Richtige getan.

Während wir auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen und uns an Tee festhielten, überschütteten sie uns mit Fragen.

Nein, wir wissen nicht, wohin sie gegangen ist. Ja, wir haben ihre Freunde angerufen, alle, die uns eingefallen sind. Nein, sie ist nicht bei meiner Schwester, und ihr Großvater hat auch nichts von ihr gehört, er macht sich große Sorgen. Nein, andere Verwandte gibt es nicht. Nein, sie ist vorher noch nie weggelaufen. War sie zu Hause glücklich? Ja. Zumindest glauben wir das. Gab es zuletzt Streit? Nun, ja, aber sie ist ein Teenager …

Es fiel mir schwer, über das Irreale der Situation hinwegzukommen, mit diesem Gefühl, dass ich jeden Augenblick den Schlüssel in der Hintertür hören könnte, und dann stünde Sophie in der Küche.

Sowohl ihre EC-Karte als auch ihr Handy waren noch da – ich hatte sie in der Schublade ihres Nachttischs gefunden. Charlotte behauptete, dass das ein gutes Zeichen sei. Sophie musste bald zurückkommen. Aber auch wenn sie nicht viel mitgenommen hatte, war das, was sie dabeihatte, wichtig. Ihr Reisepass war weg. Das war eine der ersten Fragen gewesen: wo wir ihn aufbewahrten. Ich hatte ihnen die Schreibtischschublade im Wohnzimmer gezeigt.

Irgendwann fragten sie, auf wie viel Geld Sophie Zugriff hatte.

»Nicht viel, sie ist ja letzten Monat erst sechzehn geworden, sie geht noch zur Schule.«

Mark war fahrig, verlegen. Ich hatte ihm immer vorgeworfen, sie zu verziehen. Währenddessen rechnete ich im Kopf zusammen. Da war ihr generöses Taschengeld, das Geld ihres Ferienjobs als Kellnerin vom letzten Sommer, Geburtstagsgeschenke.

»Wir haben sie ihr eigenes Konto führen lassen«, erläuterte Mark den Polizisten und wurde unter ihren Blicken rot. »Sie hat auf ein Auto gespart.«

Wir klangen so naiv. Behaglich, vertrauensselig – und unverzeihlich naiv. Später erfuhren wir, dass sie ihr Konto leer geräumt hatte. Alles in allem war es eine stattliche Summe.

Und natürlich gab es da noch den Brief. Ihre runde, sprudelnde Handschrift auf einem herausgerissenen Blatt eines ihrer Schulhefte.

 

Es tut mir sehr leid, aber ich muss weggehen. Bitte versucht, Euch keine Sorgen um mich zu machen. Alles wird gut. Ich liebe Euch alle, Sophie xxx

 

Drei Küsse, wie wir sie immer in unsere Geburtstagskarten und die Notizzettel am Kühlschrank schrieben. Einer für Dad, einer für mich, einer für sie. Und eine kleine Blume, wie ein Gänseblümchen, schnell mit dem Kugelschreiber gemacht, neben ihrem Namen. Das machte sie immer, schon seit sie klein war. Sie hatte es für mich angefangen, denn sie wusste, dass mich Blumen glücklich machten.

Die beiden Polizisten hörten nicht auf, jedes Details wieder und wieder mit Mark durchzusprechen.

»Und wann haben Sie den Brief gefunden, Mr Harlow?«

»Heute Nachmittag, nachdem ich bei Hollys Eltern angerufen hatte.« Er konnte niemandem in die Augen sehen. »Es lag auf dem Kopfkissen, deshalb habe ich es zuerst nicht bemerkt.«

Ich glaube, Charlotte hatte geschnauft.

»Es hätte doch keinen großen Unterschied gemacht, oder?«, fragte er beinahe bettelnd.

Sie hatten ihm versichert, dass sie zuversichtlich seien und so weiter. Aber ich wusste es, zahllose Nachrichtensendungen und Fernsehverfilmungen zuckten durch meinen Kopf: Die ersten Stunden waren entscheidend.

Das war der Anfang vom Ende für uns. Selbstverständlich hatte er zugeben müssen, was mir längst klar war. Als Sophie noch mal hineinlief, während er im Auto wartete, hatte sie den Brief auf ihr Kissen gelegt, wohl wissend, dass er ihn frühestens am Abend sehen würde. Aber er hatte seine eigenen Übernachtungspläne – woanders –, und so hatte er ihn erst gefunden, als er am nächsten Tag nach Hause kam und besorgt alles absuchte.

»Es hätte bestimmt nichts geändert, selbst wenn er ihn früher gefunden hätte«, versicherte mir Charlotte in den folgenden Tagen. Und vielleicht hatte sie recht.

Aber ich konnte es ihm nicht verzeihen.

4. Kapitel

Es ist schon zu spät, um Dad aufzuwecken, rede ich mir ein, während ich vor dem Haus parke. Ich ertappe mich bei einem Seufzen. Nach Hause zu kommen hebt schon lange nicht mehr mein Gemüt. Das Haus ist zu groß für mich, aber ich kann auch nicht weg. Was, wenn sie wiederkommt und wir alle fort sind?

In der Einfahrt kommt mir eine kleine Gestalt entgegen, und ich bücke mich, um Tom zu streicheln – einen roten Kater. Als wir uns trennten, nahm Mark den Hund mit. Es ist verrückt, wie sehr ich ihn vermisse, erzählte ich meiner Schwester. King, nicht Mark. Sie lachte nicht.

Zumindest bedeutete das, dass ich Tom aufnehmen konnte. Meine Nachbarin Lily hatte im Supermarkt einen Aushang gesehen, der »ein kostenlose Kätzchen« anbot, und ich rief die Nummer an; eine Frau kam angehetzt, einen Karton in den Händen, aus dem es wild fauchte. Sofort erkannte ich, dass der Kater schon halb ausgewachsen war, und fand später heraus, dass er nicht stubenrein war. Lily hatte sich über all das sehr aufgeregt.

Vielleicht war die Geschichte ein Hinweis: Sie war impulsiv, nicht ihr übliches, vernünftiges Selbst. Wenigstens verlangt der Kater nicht viel von mir. Mit einem Mal bin ich erschöpft, als das Adrenalin, das mich durch den Abend getragen hat, aus mir verschwindet wie Blubberblasen aus Limonade.

Als ich das Licht unten ausmache, höre ich im Halbdunkel die Geräusche des Hauses um mich herum: leises Knarzen und Summen, das sich setzt, während die Wärme des Tages entschwindet. Auf dem Weg die Treppe hoch erinnere ich mich daran, dass ich die Jalousien-Firma anrufen muss. In einem seltenen Ausbruch von Aktivität habe ich die alten Vorhänge des Fensters an der Treppe abgenommen. Mehr habe ich nicht geschafft, und jedes Mal, wenn ich daran vorbeikomme, fällt es mir ein.

Draußen in der Dunkelheit kann ich den Umriss des Nachbargebäudes sehen, Parklands, die Türme von Gerüsten umgeben, fremdartige Formen vor dem Nachthimmel. Natürlich ist kein Licht an. Die Kurve der Straße sorgt dafür, dass wir an der anderen Seite nicht mal Nachbarn haben, zumindest nicht richtig.

Ein Schmerz des Verlangens zuckt durch meinen Leib, nach unserer schicken Wohnung in London – viel zu klein für uns, haben wir gedacht, mit Teenager und Hund.