Schublade auf , Schublade zu

Jens Förster

Schublade auf,
Schublade zu

Die verheerende Macht der Vorurteile

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jens Förster

Dr. rer. nat. habil. Jens Förster, geb. 1965, war langjährig Professor für Psychologie u.a. an der Jacobs University, Bremen, den Universitäten Amsterdam, Columbia und Bochum. Er ist Mitbegründer des Systemischen Instituts für Positive Psychologie. Dort arbeitet er seit 2017 als Systemischer Berater, Therapeut und Lehrtherapeut neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit.

Impressum

© 2020 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2020 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Wünsch

Covergestaltung: © www.lilliflux.de / M. Memminger

ISBN 978-3-426-45575-3

Endnoten

Namen von Personen und Orten aus meinem alltäglichen Leben sind normalerweise geändert. Gespräche mit Klienten beschreibe ich hier so, dass man sie nicht wiedererkennen kann. Die Anekdoten dienen der Illustration.

Hashtag, der sich gegen die Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund wendet. »Two« steht für zwei Identitäten oder zwei Kulturen, denen sich diese Menschen oft verbunden fühlen.

Beim Schreiben dieses Buches wurde Missbrauch an Studentinnen an den Musikhochschulen in Düsseldorf und Hamburg öffentlich …

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sexuelle-diskriminierung-ein- unmoralisches-angebot-1306414.html

https://www.eurosport.de/fussball/mesut-ozil-seine-zusammengefasste-erklarung_sto6859289/story.shtml

Beim Schlager und an der Oper aber weiß ich es sicher: Hier werden europäisch aussehende Weiße vorgezogen.

Dies führt, wie eigene Forschung an der Universität Amsterdam gezeigt hat, auch dazu, dass man sie gern abends und am Wochenende arbeiten lässt (»Die haben ja sonst nichts zu tun …«).

Ich zähle drei Sozialpsychologie-Professoren aus dem deutschen Osten.

Die Charta der Vielfalt war ursprünglich eine Selbstverpflichtung von vier Unternehmen und ist seit 2010 ein Verein unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin.

https://www.uni-frankfurt.de/66760835/Diversitätssensible_Mediensprache.pdf

Für sie fand ich noch nicht einmal eine angenehmer klingende Berufsbezeichnung. Toilettenfrau klingt, finde ich, auch nicht besser.

Oder dass auch Frauen zu Täterinnen werden können, wenn sie nur genügend Macht haben. https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/-metoo-thread--wenn-maenner-sexuell-missbraucht-werden- 8366020.html

https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/rechtswidrige-personenkontrolle-hautfarbe-100.html

Wobei aufmerksame Leser*innen hier vermutlich stutzen, denn die Prozesse waren den Fahrgästen nicht bewusst. Vermutlich war die Basis dafür ein im Gedächtnis schlummerndes Stereotyp.

https://www.zeit.de/arbeit/2017-09/anonyme-bewerbung-unternehmen-diversity-gleichberechtigung.

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/metwo-wo-kommst-du-eigentlich-her-darf-man-das-fragen-a-1222620.html

Ebda.

https://www.zeit.de/2017/20/rassismus-identitaet-integration-hautfarbe-herkunft

Siehe den Bericht aus der taz aus dem Jahr 2007. Seitdem scheint sich kaum etwas getan zu haben: https://www.tagesspiegel.de/politik/studie-wenig-bildungschancen-fuer-sozial-schwache/962868.html

https://www.zeit.de/karriere/2016-07/kinderarmut-eltern-einkommen -klassenfahrten-bildung/seite-2

Die Geschlechtsbezeichnung ist hier bewusst gewählt, es gibt ja kaum weibliche Professoren.

https://auslandskarriere.de/beste-laender-zum-auswandern-2017/

Dabei haben viele von uns schon einmal Mordgedanken gehabt. In einer Befragung, die wir vor einigen Jahren in Deutschland durchführten, waren es 60 bis 80 % der Teilnehmenden; das entspricht dem Prozentsatz in anderen, internationalen Studien. Aber wie wir wissen, setzt nur ein minimaler Teil diese Gedanken auch um. Die meisten von uns hätten gar große Probleme, anderen körperliche Schmerzen zuzufügen.

Um dem Eindruck entgegenzuwirken, das wäre kein aktueller Fall, sei darauf hingewiesen, dass in den USA derzeit ein Anwachsen von Morden gegenüber Homosexuellen und Transmenschen beobachtet wird. https://abcnews.go.com/US/recent-lgbtq-attacks-highlight-hate-crimes/story?id=63575407

Gegen diese These sprechen auch noch andere Befunde, auf die ich später zurückkommen werde.

Ich fand allerdings den Titel der taz noch genialer; sie hatte ein eingeschwärztes Titelblatt, worauf in weißen Lettern stand: »Oh, mein Gott!«

Oftmals bieten sich deshalb bei Paarberatungen Therapeuten-Tandems an. In unserer Praxis beraten wir oft Paare zu zweit, weil sich so etwaige Parteilichkeiten ausgleichen.

Üblicherweise werden die Versuchsteilnehmenden vor solchen Untersuchungen darüber aufgeklärt, dass sie vor und während der Studie nicht alles über den Untersuchungszweck erfahren und ihnen Informationen eventuell vorenthalten oder verzerrt geboten werden. Am Ende werden dann alle detailliert aufgeklärt und können beantragen, dass ihre Daten gelöscht werden.

Der Blogger Johannes Kram verfolgt den schwulenfeindlichen Humor schon seit Jahren. Der Nollendorfblog ist unter anderem ein Zeugnis der immer wiederkehrenden Homophobie im deutschen »Humor«. https://www.nollendorfblog.de

https://www.tagesschau.de/inland/luebcke-pegida-101.html

Tatsächlich stand mehrere Male im Netz, dass ich mich umgebracht hätte.

Im Herbst 2019 erschien eine Fromm-Biografie von mir: Journeys With the Greatest Thinkers of the World: Erich Fromm.

Hitler hat sich in Mein Kampf seitenweise Fragen der Erziehung gewidmet. Er forderte, das deutsche Kind im Bewusstsein einer Herrenrasse zu erziehen: »Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muss darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, anderen unbedingt überlegen zu sein.« Gleichzeitig soll das Kind lernen, dass es vor Ranghöheren nichts wert ist – die Unterwerfung gegenüber Schutzbefohlenen geht dabei so weit, dass »der junge Volksgenosse« sogar lernen muss, »zu schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern er soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht schweigend zu ertragen.« Treffender kann man die Mischung aus Sadismus (nach unten treten) und Masochismus (nach oben buckeln) nicht zusammenfassen.

WRX, der ja offensichtlich gar nicht in Gruppen denkt, zeigte in dem Test übrigens überhaupt keine Präferenz. Zwar mochte er bestimmte Namen besonders gern (Imke, weil ihn das an Bienen erinnerte, die er gern im Fell hat, Sepp, weil er mit meinem Neffen gern Kasperle spielt, etc.), aber diese individuellen Bewertungen glichen sich in den Gruppen jeweils aus. Es kann aber auch sein, dass er schummelte.

IATs zu mehreren Themen stellt z.B. die Website https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/ zur Auswahl.

Okay, WRX findet es insgesamt bedenklich, dass wir mit unserem anfälligen mentalen System Gesellschaften schaffen, in denen immer alles schnell gehen muss. Warum lässt man sich nicht Stunden Zeit, bevor man jemand anderen bewertet? Gut, ein Alien darf so etwas mal fragen …

https://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/beatrix-von-storch -afd-vizechefin-will-polizei-sogar-auf-kinder-schiessen-lassen-14044 186.html

Wortlaut des Vatikans (Papst Franziskus) in seiner Stellungnahme zur »Gender-Theorie« – https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/vatikan-veroffentlicht-kritische-stellungnahme-zu-gender-theorie

Höcke bedient sich immer wieder faschistischer Rhetorik. Ein anderes Beispiel: »Heute […] lautet die Frage nicht mehr Hammer oder Amboss, heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.« In der NSDAP-Zeitung Der Angriff schrieb Propagandaminister Joseph Goebbels: »… Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!« (https://www.bento.de/politik/afd-bjoern-hoecke- nutzt-goebbels-anspielung-beim-kyffhaeusertreffen-in-sachsen-anhalt- a-00000000-0003-0001-0000-000002539482)

Aber auch das hängt vom jeweiligen Kontext ab. In Sabine Nägelis religiösem Gedicht »Du hast mein Dunkel geteilt« stört es mich jedenfalls nicht – hier ging es ihr wohl darum, sowohl Männer wie Frauen sprachlich zu inkludieren. Und wer weiß, wenn wir uns in ein paar Jahren daran gewöhnt haben, fällt es vielleicht ja nicht mehr auf.

WRX erinnert auch an E. T., Mork vom Ork und Alf, wo »endlich« einmal die Wahrheit über Außerirdische gezeigt worden wäre. Nämlich, dass es sich dabei um freundliche Wesen handelt und nicht etwa um schleimige Feinde.

In meinem Buch Was das Haben mit dem Sein macht habe ich die Forschung zu den Nachteilen des Materialismus zusammengefasst.

Tatsächlich waren für das Pionierexperiment aus genau diesem Grund Eisbären gewählt worden, denn wenn der Effekt schon bei Eisbären auftritt, wie stark muss er dann erst bei relevanterem Material sein?

Psychologische Theorien sind wie Think Tanks, die immer wieder neue Ideen produzieren können. Ich kann dem wissenschaftlichen Nachwuchs nur empfehlen, sich an der Entwicklung von Theorien zu versuchen, auch wenn das an deutschen Universitäten verpönt ist. Ich muss zugeben, dass ich auch 20 Jahre nach der Erfindung unserer Unterdrückungstheorie noch immer stolz auf sie bin. Hunderte haben sie zitiert und als Basis für neue Forschungsideen genützt (s. https://scholar.google.de/citations?user=V51Qj1wAAAAJ&hl=de). Zudem konnten wir vielen Menschen helfen, aus der Bumerang-Falle herauszukommen.

Übrigens liegt das teils daran, dass Schwule in Domänen, die mit heterosexuellen Männern assoziiert werden, Angst vor Diskriminierung haben und auch deshalb diese Branchen meiden, wie Eddy Ng und Team zeigen konnten.

Auch in Spanien unterstützt die Bischofskonferenz Therapien gegen Homosexualität (https://hpd.de/artikel/spanien-bischofskonferenz- unterstuetzt-kurse-zur-heilung-homosexueller-16769). Und der Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn vom Frühjahr 2019, solche Therapien zu verbieten, zeigt, dass es sie auch in Deutschland immer noch gibt!

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Vorschlägen zur Umgangsweise mit Diagnosen in der systemischen Therapie findet sich bei Hans Lieb (2014).

Das ist, mit Verlaub, eine peinlich kleine Stichprobenzahl. Wenn »die Politik« tatsächlich denkt, dass das Forschung sei, wird klar, wie weit entfernt Deutschland von einem Forschungsland ist.

Um meine Alien noch mehr zu belustigen, könnte ich nun anführen, dass, so die Forschung, selbst in Armeen und bei der Bundeswehr das Aussehen bei der Bewerbung eine große Rolle spielt – und auch da ist es ja letztendlich egal, wer im Graben liegt oder, auf die Spitze gebracht, fürs Vaterland stirbt. Damit sie aber nicht vollends schlecht über uns denkt, hänge ich das hier einmal nicht an die große Glocke.

Für 2018 und 2019 waren beim Verfassen des Buches noch keine Zahlen verfügbar; https://www.rehadat-statistik.de/de/berufliche-teilhabe/Beschaeftigung/BA_Schwerbehindertenstatistik/index.html.

Für eine deutsche Pressemeldung siehe https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/universitaet-eindhoven-frauenfoerderung-extrem-16255 790.html.

Man kann sich vorstellen, was WRX befürchtet. Sie fordert »eine Gruppe des Universums« und merkt gleichzeitig, wie wenig das Mummendeys Logik widerspricht.

Für eine Chronik der Geschehnisse siehe http://socolab.de/main.php?id=66.

Wobei es natürlich immer im Auge des Betrachters liegt, was eine Stärke ist. Jedenfalls sollte Lob nicht mit der Gießkanne verteilt werden, sondern selektiv. Dies ist, so die Forschung, wirksamer.

Für Manfred, Frank und Jan und alle anderen mutigen, aufrechten Menschen

Einleitung:
Wenn Normale verrücktspielen

Der Applaus ebbt langsam ab. Ich trinke einen Schluck Wasser, bevor die Diskussion losgeht. Die Moderatorin, Frau Molitor[1], übergibt mir einen Blumenstrauß und eine »gute Flasche Wein vom besten Winzer des Ortes«, wie sie ins Mikrofon verlauten lässt. Noch bevor sie das Publikum zu Fragen ermuntern kann, winkt ein Mann, geschätzt Mitte dreißig, ungeduldig mit der Hand. »Wie wunderbar«, freut sich Frau Molitor, »Sie sehen, Herr Förster, wie sehr uns das Thema hier bewegt …« Der Mann unterbricht sie barsch. »Ich finde es, entschuldigen Sie, Herr Professor, ein Unding, dass Sie die Schuld am digitalen Wahn allein den Eltern geben. Mein Name ist René Wittlich, ich bin dreifacher Vater, JA!, dreifach! Das gibt es noch in diesem Land. Ich habe mich immer wieder bemüht, meine Kinder von Handys fernzuhalten. Und nun kommen Sie und sagen uns: ›Versucht’s mal mit Erziehung!‹ – Das ist, mit Verlaub, eine Unverschämtheit.«

Ich mag starke Reaktionen, räuspere mich kurz und will zur Antwort ansetzen, da erhebt sich eine feine Dame aus der ersten Reihe, die auch in dieser Gluthitze und nach zwei Stunden Vortrag noch einen Hut trägt. Sie pocht mit ihrem Stock auf den Boden und sagt zu dem aufgebrachten Herrn: »Sie haben doch gehört, was Herr Professor Förster gesagt hat! Dass in einer Familie Werte ganz deutlich kommuniziert werden sollen, und schon kann Erziehung ohne Strafen gelingen. Ich finde das fabelhaft!« Dann wendet sie sich nach vorn, zwinkert und raunt mir zu: »Ich war einmal Oberstudienrat.« Der dreifache Vater ist außer sich: »Das ist doch sonnenklar, dass die Regierung hier was machen muss, so wie in Frankreich. Handyverbot …« Er ist rot angelaufen. »Und ich lasse mir auch keine Erziehungstipps von jemandem geben, der homosexuell ist und selbst keine Kinder hat.« Im Saal rumort es. Eine ungefähr vierzigjährige, bunt gekleidete Frau mit Bad-Hair-Frisur dreht sich zu ihm um und ballt die Faust: »Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein, René, jetzt kommt schon mal ein renommierter Vorurteilsforscher zu uns in den Stadtsalon, fährt von Köln aus hier an den Mittelrhein für teuer Geld, und du kommst hier mir Stammtischparolen. Beleidigst den! Das geht gar nicht!« Herr Wittlich will antworten, wird aber von mehreren Seiten angeschrien.

Die Moderatorin geht dazwischen: »Meine Damen und Herren, es ist ja schön, wenn wir hier lebhaft diskutieren. Aber den Redner beleidigen, das geht nun wirklich nicht. Bleiben wir doch sachlich. Herr Professor Förster hat in seinem Vortrag ja auch gar nicht auf Erziehung abgehoben, sondern auf die Selbstregulation, also, wie es uns gelingt, uns selbst zu disziplinieren. Die Handys der Kinder, das war doch nur ein Beispiel, stimmt’s?« Sie lächelt mich an, als hätten wir die Kindheit miteinander verbracht. Der Mann neben der bunten Frau ist ebenfalls aufgestanden und wendet sich zuerst an Frau Molitor und dann an den Vater: »Das ist richtig, Lissy, und wenn hier in Rhein am Rhein Schwule diskriminiert werden, dann ist es ein Zeichen von Zivilcourage, wenn meine Frau Brigitte hier für die Opfer eintritt.« Ich würde jetzt gern sagen, dass ich mich gar nicht als Opfer fühle, da kommt mir die feine Dame dazwischen: »Herrn Professor Försters sexuelle Orientierung spielt hier doch überhaupt keine Rolle. Und als Oberstudienrat a.D. muss ich Ihnen jetzt allen einen Tadel aussprechen.« Sie hebt mahnend den Zeigefinger und lächelt verschmitzt: »Ihr Kinder habt alle das Thema verfehlt. Ungenügend.«

Das ist richtig, denke ich, denn in dem Vortrag ging es nicht um Vorurteile, sondern um Selbstregulation. Aber irgendwie hört das Publikum an diesem Abend wohl mein »altes Thema« heraus, das Thema, mit dem ich bekannt geworden bin. Ein übergewichtiger Mann in schwarzem Leder erhebt sich und krallt seine Hände in die Lehne des Vordermanns. Er schaut finster. Ich habe den Eindruck, mit dem ist nicht gut Kirschen essen. »Also, hier mal meine fünf Cent. Ich bin zwar nur ein asozialer, Bier saufender Biker, und ich habe auch überhaupt nichts gegen Schwule. Solange ihr die Pfoten bei euch behaltet, ist alles gut. Aber dieser ideologische Trip, auf dem der Herr Professor hier ist, ist doch komplett durchschaubar. Ich erinnere an Ihren Ausspruch in dieser Talkshow, in der Sie davon laberten, wir wären das reichste Land der Welt und so und dass wir es uns deshalb leisten könnten – nein, Sie sagten, dass wir sogar die Pflicht hätten, die Ausländer hier aufzunehmen. Putin lässt grüßen.« Er setzt sich hin und verschränkt die Arme vor der Brust. Die bunte Frau ist nicht mehr zu halten.

»Das ist doch genau das, was Deutschland ruinieren wird. Diese verdammte AfD. Diese Bier saufenden und pöbelnden Neofaschisten! Es ist echt zum Kotzen.« Ein paar Leute gehen. Der Biker grinst und öffnet zischend eine Bierdose. Ich denke: »Ich will auch eine.« Es ist heiß, zehn Uhr abends, und ich habe seit Mittag nichts gegessen. Sicherlich gibt es in dieser Kleinstadt keine Büdchen. Geschweige denn noch eine offene Küche um diese Zeit.

Die Moderatorin moderiert: »Unsere liebe Frau Günderode hier vorn hat recht. Wir sind alle nicht beim Thema!« Frau Oberstudienrat Günderode a.D. pocht mit dem Stock: »Ja, Lissy, dann wiederhole doch mal bitte das heutige Thema, damit es hier mal wieder manierlich vorangeht.« Lissy Molitor ist gerade überfordert, will in ihren Aufzeichnungen blättern, was ihr nicht gelingt, da sie in der einen Hand das Mikrofon hält. Die Blätter segeln auf den Boden, ich gehe auf die Knie und sammle sie auf. Beherzt ergreift sie das Wort: »Also, zur Erinnerung: Der Titel des Vortrags war ›Unser Autopilot. Wie wir unseren inneren Schwulenhund besiegen‹.« Tosendes Gelächter. Immer noch vor ihr kniend, schüttle ich den Kopf. Die Arme wendet sich vom Publikum ab, mit hochrotem Gesicht. Zu allem Überfluss muss sie auch noch husten. Sie hat sich verschluckt. Wieder gibt sie sich einen Ruck und dreht sich zum Publikum, das sich vor Lachen biegt. Die folgenden Sätze werden immer wieder von Lachsalven unterbrochen. »Pardon, Schweinehund, bei Herrn Förster ging es um seinen Schweinehund … ich meine, nicht um seinen, o Gott … um uns alle, um unser aller Schweinehund … wie wir ihn besiegen … O Gott, Herr Förster, wie mache ich das nur wieder … O Gott, wie konnte das passieren? … Gibt es denn noch Fragen zum Vortrag selbst Ihrerseits?« Dann muss zuerst ich laut lachen und dann sie selbst. Einige stehen schon vor dem Büchertisch Schlange. Ich wollte noch ankündigen, dass im nächsten Frühjahr wieder ein Vortrag zur multikulturellen Gesellschaft ansteht, hänge aber das Mikrofon in den Ständer und sage nur: »Ich wünsche Ihnen ein gutes Leben!«, woraufhin einige applaudieren. Dann marschiere ich zum Büchertisch.

 

In diesem Buch geht es um Vorurteile. Wieder einmal. Nachdem vor gut zehn Jahren mein erstes Buch Kleine Einführung in das Schubladendenken. Über Nutzen und Nachteil des Vorurteils herauskam, lässt mich das Thema nicht mehr los. Über hundert Vorträge habe ich in der Zwischenzeit gehalten, ich war in zig Talkshows zum Thema und werde immer wieder als Trainer und Gutachter für die Bereiche Diskriminierung, Normen der politischen Korrektheit und Diversity eingeladen. Neuerdings auch zu Inklusion, Faschismus, Sexismus, Frauen in Führungsetagen. Hat sich in den letzten zehn Jahren etwas grundlegend verbessert? Nein, mag man denken, wenn wir uns allein die Debatten der letzten Jahre anschauen. Im Gegenteil, hat sich die Lage nicht sogar verschlechtert? Der Begriff »Schubladendenken« wird nun standardmäßig für Diskriminierung benutzt, und wenn ich auch ein klein wenig stolz darauf bin, so kommt er mir doch wie eine Verniedlichung vor. Diskriminierung ist in Deutschland, und nicht nur hier, ein sehr ernstes Thema geblieben, und Ausgrenzung wird sogar noch leidenschaftlicher diskutiert als vor zehn Jahren, so kommt es mir vor. Wir haben eine nicht enden wollende Debatte über Geflüchtete, die unheilvollerweise mit einer »Islamdebatte« verwoben ist und wiederum als Grund dafür gesehen wird, warum in Deutschland rassistische Meinungen und sogar Parteien wieder salonfähig sind. Wir haben eine #MeToo-Bewegung und einmal mehr erfahren, dass Frauen immer noch massiv belästigt werden, hier und heute und nicht nur in den 50er-Jahren. Gleichzeitig empfinden manche diese Auseinandersetzung als übertrieben und sprechen von »Überempfindlichkeit« oder von einem »neuen Pranger«.

Diese Diskussionen waren alles andere als heiße Luft, hatten sie doch Konsequenzen, für politische Entscheidungen und Ereignisse und für viele Menschen. Weil sich Angela Merkel und Horst Seehofer in der Flüchtlingsfrage nicht einigen wollten, wäre fast die Regierung zerbrochen, mit einigen Schäden für die politische Glaubwürdigkeit. Weil sich Mesut Özil diskriminiert fühlte, verließ er die Nationalmannschaft und provozierte eine #MeTwo-Bewegung,[2] in der wir erfahren mussten, wie unsäglich unfair Deutsche mit sogenannten Ausländern umgehen. Und zahlreiche Männer verloren ihre Posten, weil herauskam, wie sie mit Mitarbeiterinnen und Kolleginnen umgegangen sind – es werden weitere folgen. So hat die #MeToo-Bewegung bestimmte Institutionen wie etwa die Universitäten noch gar nicht erreicht, und sie wird, wenn sie schließlich dort ankommt, die Alma Mater in ihren Grundfesten erschüttern, das kann ich schon jetzt prophezeien, denn schließlich habe ich über dreißig Jahre lang an Universitäten verbracht, darunter siebzehn als Professor.[3] Auch in Sachen Gleichberechtigung im Beruf hat sich an den deutschen Universitäten kaum etwas getan. Während achtzig Prozent der Psychologie Studierenden Frauen sind, gibt es immer noch nur zwanzig Prozent Professorinnen.

Während meiner Zeit an Universitäten in Deutschland, den Niederlanden und New York habe ich zig Forschungsprojekte über Vorurteile und soziale Kognitionen durchgeführt. Über hundert wissenschaftliche Artikel sind daraus entstanden. Über diesen langen Zeitraum hat sich auch die Wissenschaft weiterentwickelt.

Aus diesem Grunde habe ich mich entschieden, das alte Buch Kleine Einführung in das Schubladendenken nicht zu überarbeiten, sondern stattdessen ein neues Buch zu schreiben. Die Theorien zur Entstehung von Vorurteilen haben über die Jahre Bestand gehabt und sich als sehr nützlich erwiesen, weshalb ich sie hier noch einmal zusammenfassen und durch neue Ansätze ergänzen werde. Andere Forschungsbereiche haben sich vom Alltag entfernt und sind eine Art Elfenbeinturm-Forschung geworden, mit der ich Sie nicht belästigen werde. Es geht hier vielmehr darum, den neuesten Forschungsstand in verständlicher Weise – so wie im Ursprungsbuch – zu präsentieren, mit zahlreichen Anekdoten und Fallbeispielen zu veranschaulichen, sowie darum, zu ergründen, was die Wissenschaft zu den brennenden gesellschaftlichen Fragen beitragen kann. Ich bin mittlerweile nicht mehr allzu optimistisch, dass ich mit einem Buch die Welt verändern kann, hoffe aber, dass die wissenschaftliche Psychologie hilfreich ist, um Vorurteile und Diskriminierung im Alltag besser zu verstehen. Ich präsentiere Ihnen die wichtigen Befunde der internationalen Psychologie, die uns helfen könnten, Diskriminierung und Aggression gegenüber Minderheiten anzugehen. Das meiste wurde in den USA entwickelt und entdeckt. Es trifft jedoch, wie Sie sehen werden, auch auf Deutschland zu. Wann immer ich sie finden konnte und für relevant hielt, nutzte ich auch deutsche Forschung.

Mein Spezialgebiet ist die Sozialpsychologie, das heißt die Psychologie, die sich mit dem Alltagsleben der Menschen beschäftigt, die nicht als »klinische Fälle« betrachtet werden können. Sie beschäftigt sich vornehmlich damit, wie wir andere Menschen wahrnehmen, und dabei, so hat man in fast hundert Jahren intensiver Forschung festgestellt, spielen Vorurteile eine große Rolle. Ich habe diesen Bereich der Psychologie einmal »Alltagspsychologie« genannt, 2018 dann ein plastischeres Bild entwickelt: die »Alienpsychologie«. Sozialpsychologie ist demnach der Versuch, einem intelligenten Alien zu erklären, warum wir Menschen uns so und nicht anders verhalten, warum manche Menschen Blondinen doof finden, warum ärmere intelligente Kinder seltener an Universitäten studieren oder warum es so wenige Frauen in Führungspositionen gibt. Ich erkläre meinem Alien, der gern WRX genannt werden will, auch, was uns selbst selbstverständlich und teils sogar »gottgegeben« erscheint, denn ein Alien würde auch fragen, warum wir dabei zusehen, wie Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, im Meer ertrinken, warum Homosexuelle brutal zusammengeschlagen werden und warum ein Mann Präsident werden kann, der behauptet, sein Reichtum erlaube es ihm, Frauen in den Schritt zu greifen.

Das Bild des Aliens macht vielen meiner Zuhörer*innen auch deshalb Spaß, weil es dazu animiert, einmal darüber nachzudenken, wie alles auch ganz anders sein könnte. Warum eigentlich dürfen wir Autos auf der Straße abstellen, nicht aber unsere Kleiderschränke? Warum müssen sich alte Menschen in unseren Altenheimen einschränken? Das alles muss ich WRX immer wieder erklären. Er ist der festen Überzeugung, alles könnte auch ganz anders sein, es gebe immer viele verschiedene Perspektiven auf dieser Welt … vermutlich liegt es daran, dass er, im Gegensatz zu uns, viele Köpfe hat, die sich gegenseitig beobachten können. Und dass diese Köpfe verschiedene Charaktere haben – einer ist bescheiden, einer aggressiv, einer materialistisch, einer einfach grün schillernd und inhaltsleer … WRX meint, dass es in unseren Köpfen genauso aussieht. Es gebe immer verschiedene Teile in uns, und jeder hat eine andere Perspektive. Komischerweise nutzten wir aber meistens nur eine …

Teil I
Vorurteile, Diskriminierung und Stereotype –
Von was reden wir hier eigentlich?

In der Alltagssprache ist häufig von »Vorurteilen« die Rede, und auch die Fremdwörter »Klischee« und »Diskriminierung« haben es auf die Straße geschafft. Irgendwie wissen wir alle, was wir damit meinen. Und doch, wenn es relevant wird, wollen wir es genauer wissen. Wenn der schwarze Student Tori Reichel in einem offenen Brief an die Uni Wien beklagt, dass sie sein Foto nutzt, um ihre »internationalen Kontakte« anzupreisen – ist das übertrieben? Der in Oberndorf bei Salzburg geborene 23-Jährige fühlte sich durch diese Verwendung des Bildes »diskriminiert«. Oder was ist mit der Klage von Frauen gegen Banken wegen Diskriminierung? Sechs Mitarbeiterinnen warfen der Dresdner Kleinwort (die ehemalige Investmentsparte der Dresdner Bank) vor, niedrigere Bonuszahlungen als Männer für dieselbe Leistung erhalten zu haben. Mitarbeiterinnen unter anderem von Morgan Stanley, Merrill Lynch und der Deutschen Bank prangerten »eine Kultur der Diskriminierung« an, »Männerzirkel«, zu denen sie keinen Zugang gehabt hätten. In vielen Klagen war die Rede von Vertragsabschlüssen und Entscheidungen, die im Bordell verhandelt worden waren. Nicht wenige Frauen erhielten recht und Millionenbeträge als Schadensersatz.[4] Oftmals endeten die Prozesse in einem vorgerichtlichen Vergleich, wohl weil die Banken einen publikumswirksamen Prozess als große Gefahr einschätzten. Man hat also Angst davor, als diskriminierend angesehen zu werden. Diskriminierung beschäftigt freilich nicht nur Banken und Universitäten, sondern betrifft nahezu alle Lebensbereiche – auch den Sport.

»Schweren Herzens und nach gründlicher Überlegung werde ich wegen der zurückliegenden Vorkommnisse nicht länger für die deutsche Nationalmannschaft spielen, da ich Rassismus und fehlenden Respekt spüre«[5], so Mesut Özil am 22. Juli 2018. Diese Ankündigung traf das hitzegeplagte Deutschland wie ein Paukenschlag. Er fühle sich als Türke und Muslim diskriminiert, obwohl er Deutscher sei. Nicht angekommen in dieser Gesellschaft. In seinen drei Briefen, die er um diesen Austritt herum veröffentlichte, schildert er Beispiele für offenen Rassismus: »Ich wurde von Bernd Holzhauer (ein deutscher Politiker) als ›Ziegenficker‹ wegen meines Bildes mit Präsident Erdoğan und meines türkischen Hintergrunds bezeichnet. Außerdem sagte mir Werner Steer (Chef des Deutschen Theaters), dass ich mich ›nach Anatolien verpissen soll‹, ein Gebiet in der Türkei, aus dem viele Migranten stammen.« Und er zitiert einen »Deutschland-Fan, der mir nach dem Spiel gegen Schweden gesagt hat: ›Özil, verpiss dich, du scheiß Türkensau. Türkenschwein, hau ab.‹« Allerdings hatte es Kritik nicht allein gehagelt, weil Herr Özil sich mit Erdoğan abbilden ließ, auch sein Spiel missfiel vielen Fans und Sportjournalisten. Waren das etwa alle Rassisten? Wie definiert man ein Vorurteil? Und wer entscheidet, wann Diskriminierung vorliegt?

Das ABC der Psychologie

In der Psychologie untersuchen wir, wie Menschen denken, fühlen und handeln. Diesen Bereich des menschlichen Lebens kann man mit der ABC-Formel gut erfassen:

A wie Affect = Emotion, Stimmung, Gefühl

B wie Behavior = Verhalten und

C wie Cognition = Denken, Wahrnehmung, Erinnern

 

Man kann sich fragen, was Menschen fühlen (A), wenn sie Özil einen »Scheißtürken« nennen (Ärger? Neid? Wut? Schadenfreude? Mitleid? Hass? etc.), was sie über Türken denken (C) (»Die sollen nach Hause gehen«, »Die nehmen uns die Jobs weg« etc.) und wie sie sich ihnen gegenüber verhalten (B) (meiden, beleidigen, ignorieren etc.).

Unter einem Vorurteil versteht man in der wissenschaftlichen Sozialpsychologie, die sich mit dem Phänomen zentral beschäftigt, gemeinhin eine Abneigung oder Zuneigung gegenüber einer Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Eine soziale Gruppe bilden zum Beispiel Türken, Sinti, Deutsche, aber auch Frauen, Oberstudienräte, Pubertierende, Veganer, Mathematikerinnen, ein Organisationsteam, Übergewichtige etc. Offensichtlich müssen sich die Mitglieder einer sozialen Gruppe weder kennen – wie sollten sich beispielsweise sämtliche Pubertierende der Welt kennen? – noch miteinander interagieren (im Sinne eines Teams), sondern werden lediglich deshalb als Gruppe wahrgenommen, weil sie ein gemeinsames Merkmal tragen. Ein solches Merkmal kann erworben werden, wie zum Beispiel Porsche-Sammler oder Priester sein, oder angeboren sein wie Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung, um nur einige zu nennen.

Ein Vorurteil beinhaltet eine Emotion oder – wie wir Sozialpsycholog*innen sagen – einen affektiven positiven oder negativen Wert, der sich in Abneigung (»Ich mag keine Türken«) oder Zuneigung (»Ich finde Türken klasse«) ausdrücken kann. Daraus entwickeln sich Meinungen. »Ich finde, die Türken integrieren sich nicht genug und wollen mit uns Deutschen nichts zu tun haben« wäre ein Beispiel oder »Türken sind sehr kinderlieb«. Nicht immer – aber häufig – basieren Urteile über andere auf dürftigem Wissen. Man fällt ein Urteil, obwohl man wenig über die Person und oft auch wenig über die Gruppe weiß. »Beamte sind faul«, »Frauen können kein Unternehmen führen«, »Schwule machen nur Party« oder »Fußballspieler haben nichts in der Birne« sind solche Vorurteile. Auf Personen angewandt wäre es so etwas wie: »Der neue Nachbar ist Lehrer – na, der wird sicherlich genug Zeit haben, sich über den Balkon zu hängen und die Kinder anzumeckern!«

Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch gibt es auch positive Vorurteile: »Homosexuelle sind kreativ und haben Geschmack«, »Dicke sind lustig und gute Kumpel« oder »Schwarze sind die besten Sportler« gehören dazu. Letztendlich resultieren negative Emotionen wie Ekel, Angst, Neid in einer negativen Meinung und positive Gefühle wie Neugier, Freude, Erregung in einer positiven Meinung.

Manche Affekte sind uns aber auch nicht bewusst. Vor allem dann, wenn wir uns schnell negativer Vorurteile entledigen wollen, die wir während unserer Kindheit entwickelt haben. An der Jacobs University Bremen begegnete ich einer Studentin, die aus einem Land kam, in dem Homosexuelle wie Aussätzige behandelt werden. Sie erzählte, wie ein schwuler Mitschüler gefesselt und halb tot geschlagen wurde, vor den Augen aller Dorfbewohner. Irgendwann wandte sie sich an mich und sagte: »Ich habe Ihre Vorlesung besucht und habe mich total verändert. Ich akzeptiere jetzt Homosexuelle, und darauf bin ich auch ein wenig stolz. Vielen Dank, dass Sie mich so wachgerüttelt haben.« So sehr mich das rührte, so wenig erkannte ich das in ihrem Verhalten. Als einmal auf dem Campus ein Film gezeigt wurde, in dem zwei Männer sich küssten, zuckte sie zusammen und hielt sich die Hände vor die Augen. Diese Verhaltensweise war allerdings für jemanden, der jahrelang einer homophoben Kultur ausgesetzt war, zunächst völlig »normal«, denn unser Langzeitgedächtnis speichert Emotionen, die mit bestimmten Verhaltensweisen oder sozialen Gruppen zusammenhängen. Dies erlaubt es uns, schnell auf Eindrücke von außen zu reagieren. Wenn wir gelernt haben, dass große schwarze Männer gefährlich sind (egal, ob das stimmt oder nicht), dann wechseln wir, wenn uns ein solches Exemplar nachts entgegenkommt, eher die Straßenseite, als wenn eine 1,50 Meter große Chinesin auf uns zuläuft. Unser emotionales Langzeitgedächtnis radiert nicht einfach und sofort Gedächtnisspuren aus, die uns seit Jahren dabei geholfen haben, in unserer Kultur »gut« und »böse« voneinander zu unterscheiden. Es braucht vielmehr Zeit und bedarf einiger Arbeit an sich selbst, um spontane negative Reaktionen durch positive zu ersetzen. Selbst wenn man den festen Willen hat, dauert es, ein Vorurteil zu zertrümmern.

Auch einmalige traumatische Erfahrungen können zu starken Vermeidungsreaktionen oder Abneigungen führen. Viele Kölnerinnen haben berichtet, dass bei ihnen Vorurteile durch die sogenannte Silvesternacht in Köln entstanden waren: dass sie nachts besonders empfindlich reagierten, wenn ihnen ein Mann mit dunkler Haut begegnete, und sie manchmal sogar starke Angst entwickelt hatten. Manche waren durch diese Empfindungen ganz verwirrt, denn sie wollten gar nicht so reagieren, hielten sich für tolerant und gehörten sozialen Gruppen an, die Geflüchtete eher begrüßen wollten und das Leid dieser Menschen verstanden. Dies ist nicht verwunderlich, denn unser emotionales Gedächtnis vergisst Angstbesetztes, aber auch Ekel oder Unwohlsein nicht so schnell, auch wenn unsere Vernunft das vielleicht möchte. Wir kennen das von Lebensmittelvergiftungen: Viele Menschen können nach einer Muschelvergiftung keine Meeresfrüchte mehr essen. Und so gesteht der linke Shooting-Star der französischen Literaturszene Edouard Louis voller Scham, dass er, nachdem er von einem Algerier vergewaltigt worden war, rassistische Gefühle entwickelt hätte, die er auf der Kopfebene vehement ablehne.

 

In der Sozialpsychologie sprechen wir zudem von Stereotypen. Sie betreffen das C, die Cognition, also das Denken über bestimmte soziale Gruppen. Stereotype sind mit einer sozialen Gruppe assoziierte Eigenschaften, die starke Abneigung oder Zuneigung beinhalten können, aber nicht müssen, wie »Türken essen Döner«, »Schwarze leben in den USA in ärmeren Vierteln« oder »Frauen reden mehr als Männer«. Ich habe diese assoziativen Netzwerke einmal Pseudowissensstrukturen genannt, die im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Pseudowissen deshalb, weil wir ständig allen möglichen Informationen über soziale Gruppen ausgesetzt sind und sie manchmal einem Test standhalten, oftmals aber auch nicht. Auf der anderen Seite nutzen wir diese Stereotype wie ein Wissen um Objekte oder Situationen, das heißt, wir richten uns häufig danach. Wenn wir so etwas abgespeichert haben wie »Frauen sind kommunikativer als Männer«, stellen wir unter Umständen lieber eine Frau in unserem Callcenter ein als einen vielleicht gleich qualifizierten Mann. Und wir würden Pizza eher in einem italienischen Restaurant bestellen als in einem Brauhaus. Im Gegensatz zum Affekt, der bei Vorurteilen eine starke Rolle spielt, entsprechen Stereotype rein gedanklichen Konstruktionen. Man hat Vorurteile »heiß« und Stereotype »kalt« genannt, weil Letztere recht verkopft daherkommen können. Die Annahme etwa, dass Italiener*innen Pizza mögen, mag nicht unbedingt zur Folge haben, dass ich sie gern mag oder der Meinung bin, Italiener*innen sind tolle Europäer*innen.

Stereotype sind üblicherweise in einem gesellschaftlichen Kontext entstanden und beinhalten sozial geteiltes Pseudowissen. Uns Deutschen sind Stereotype wie »Alte sind weise, aber vergesslich«, »Manager sind männlich und Materialisten«, »Biker tragen Lederjacken« oder »Amerikaner sind häufig übergewichtig« bekannt – dies bedeutet, dass die meisten in unserem gesellschaftlichen Kontext ein solches Pseudowissen im Gedächtnis gespeichert haben. Wenn man an ein Stereotyp glaubt und es vertritt, also zum Beispiel tatsächlich meint, dass Amerikaner übergewichtig und unwissende Cowboys seien, und darüber hinaus Übergewichtige unattraktiv oder gar eklig findet, dann würde aus dem Stereotyp ein Vorurteil. Wenn man diese Assoziationen eher fragwürdig findet, handelt es sich immer noch um ein Stereotyp, aber nicht um ein Vorurteil. Man weiß, dass andere so über Amerikaner denken, hat also »stereotypes Wissen«, findet es jedoch gleichzeitig nicht nützlich oder sogar verwerflich, so über andere zu denken.

Diese Unterscheidung ist für viele Leser*innen sicherlich nicht so wichtig, denn im Alltag lassen sich Vorurteile und Stereotype oftmals nicht voneinander trennen. Wenn mir irgendwann meine Musiklehrerin vermittelt hat, dass Schwarze besser Jazz singen als Weiße, dann vertrete ich vielleicht auch diese Meinung und fühle mich wohl, sobald Louis Armstrong in einem Café erklingt. A, Affect, und C, Cognition, überlappen sich also häufig.

Allerdings werde ich später über Forschung berichten, die zeigt, dass die kalte, emotionslose Assoziation »Schwarze = Getto« selbst bei toleranten Menschen zu Diskriminierung führen kann. Aus diesem Grund machen wir in der Forschung einen Unterschied zwischen A und C, denn um zu diskriminieren, braucht man keine Rassistin oder ein Sexist zu sein – manchmal, so gruselig das klingen mag, diskriminieren wir alle.

Im Alltag würde man häufiger das Wort »Klischee« benutzen. Während allerdings das Klischee eindeutig unwahre oder übertriebene Vorstellungen beinhaltet und daher niemals zutrifft, kann ein Stereotyp der »Wirklichkeit« entsprechen oder sich ihr annähern – oder auch nicht. Natürlich müssen wir bei der Personenbewertung mit Begriffen wie »Wahrheit« und »Wirklichkeit« vorsichtig umgehen, denn letztendlich ist unklar, wer eigentlich bestimmt, wann jemand dumm, attraktiv, aggressiv oder kreativ ist, um nur ein paar Beispiele zu nennen. WRX hat umgehend erkannt, dass solche Urteile immer auf die Perspektive ankommen. Er mag das Wort ist sowieso am wenigsten und meint, nach dem nächsten Evolutionsschub würden wir Menschen nur noch danach beurteilen, was sie tun.

Stereotype sind die Schubladen, die wir in unserem Gedächtnis vorfinden. Treffen wir auf eine fremde Frau, scannt unser Wahrnehmungsapparat sie zunächst nach gruppentypischen Merkmalen. Wir erkennen, so die Forschung, innerhalb von Millisekunden, noch bevor wir einen Menschen überhaupt bewusst wahrnehmen, ob es sich bei ihm um einen Mann oder eine Frau handelt, ob er jung oder alt ist, weiß oder schwarz, ob er ärmlich oder teuer gekleidet ist. Eine Fremde wie Frau Günderode kommt also zunächst in die Schublade »alte, wohlhabende Frau«, in der passende Assoziationen herumliegen wie »liest gern Romane«, »spricht Fremdsprachen« oder »kocht gut«. Damit haben wir in Millisekunden einen groben Eindruck von ihr. Will ich mit ihr ins Gespräch kommen, spreche ich sie vermutlich nicht auf die letzten Bundesliga-Ergebnisse an, weil »Fußball« in ihrer Schublade schlichtweg nicht zu finden ist, sondern mache ihr vielleicht Komplimente bezüglich ihres schicken Kleides oder rede über meinen Hundewelpen, der gerade meine Prada-Schuhe zerlegt hat.

 

Diskriminierung bezeichnet ein unterschiedliches Verhalten gegenüber einer Person aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit. Diskriminierung gründet auf Stereotypen und Vorurteilen: Viele von uns haben in ihrem Kopf gespeichert, dass Fußball ein Männersport ist (C: Stereotyp), viele sind auch der Meinung, dass Frauen nicht so gut Fußball spielen (A: Vorurteil) – deshalb schauen sich viele die Frauenfußball-WM gar nicht erst an (B: Diskriminierung). Viele würden ihre Tochter eher dazu motivieren, in den Ballettunterricht zu gehen, statt dem Fußballverein beizutreten, obwohl sie den so klasse findet (B: Diskriminierung). Diskriminierung beinhaltet die Wendung »einen Unterschied machen«. Dies kann auf eher harmlos erscheinende Beispiele zutreffen: »Weil sie eine Tochter und kein Sohn ist (Unterscheidung), schicke ich sie eher zum Reiten als zum Fußball.« Diskriminierung ist auch, dass der schwarze Student Tori Reichel in der Uni-Broschüre nur in Kontexten auftaucht, in denen es um die Internationalität der Universität geht. Hier wird ein Unterschied gemacht, der noch dazu der Realität nicht standhält, da Reichel gebürtiger Österreicher ist.