Kate Moore
Mit Volldampf voraus,
Felix!
Die Abenteuer
der berühmten
Bahnhofskatze und
ihres samtpfötigen
Lehrlings
Aus dem Englischen von Jochen Schwarzer
Knaur e-books
Kate Moore ist Lektorin, Ghostwriterin und Bestsellerautorin aus England.
Felix lebt seit 2011 als Bahnhofskatze in Huddersfield. 2016 wurde sie Senior Pest Controller. Neben ihrer Tätigkeit als Chef-Mäusejägerin interessiert sie sich für die Taubenjagd, Nickerchen während der Arbeitszeit und freut sich, wenn sie am Bauch gekrault wird.
Bolt kam 2018 ins Team. Seine Hauptbeschäftigung besteht derzeit darin, zu schlafen, gestreichelt zu werden und Felix und die anderen Mitarbeiter zu ärgern.
Text Copyright © First TransPennine Express Limited, 2019
Written by Kate Moore www.kate-moore.com
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Zeichnungen im Textteil: Bahnhof: Aluna1/Shutterstock.com; springende Katze: VectorArtFactory/Shutterstock.com; Sitzende Katze, Pfoten: Michaela Lichtblau
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Rachel Oates; © David Litschel / Alamy Stock Foto; © Shutterstock
ISBN 978-3-426-45760-3
Gewidmet der gesamten Belegschaft
des Bahnhofs Huddersfield
1
Um fünf Uhr früh fielen die ersten Sonnenstrahlen auf den St George’s Square. In Huddersfield in Yorkshire brach im Juli 2016 ein neuer Sommertag an.
Das sanfte Morgenlicht erhellte die Bronzestatue in der Mitte des Platzes und die Skulpturen auf den umliegenden Dächern: Lady Britannia, die ihren Dreizack schwang, und die lockenmähnige Großkatze, die über das Lion Building stolzierte. Das markante Gebäude stand unter Denkmalschutz, was in dieser historischen Stadt aber nichts Ungewöhnliches war: Über zweihundert denkmalgeschützte Bauten gab es in Huddersfield – die höchste Zahl in ganz Yorkshire –, und die aufgehende Sonne tauchte sie alle in ihr goldenes Licht.
Es war noch recht friedlich in der Stadt zu dieser frühen Stunde, und nur hier und da zeigten sich erste Lebenszeichen: der Fahrer eines Lieferwagens, der mit Warnblinker hielt und seine Fracht auslud, und ein Grüppchen angeschlagener junger Männer, deren wackeliger Zickzackgang verriet, dass sie eine durchzechte Nacht hinter sich hatten. Auf ihrem Sitz unter einem Wellblechdach regte sich gurrend eine Taube. Eine große schwarze Krähe schwang sich in die Luft. Und während eine wachsame Katze durch ihr Revier patrouillierte, schnippte ihr flauschiger schwarzer Schwanz mit weißer Spitze stetig hin und her.
Felix, daheim auf Bahnsteig 1
© Alan Hind
Die kräftiger werdenden Strahlen der aufgehenden Sonne erfassten auch eine Handvoll einzelner Personen, die über den zur Fußgängerzone umgewidmeten Vorplatz des Bahnhofs eilten: ein Mann mittleren Alters im dunklen Anzug und mit Aktentasche, eine muntere junge Frau im pink-schwarzen Sport-Outfit und eine Schwangere im Sommerkleid mit einem großen Rollkoffer. Die unterschiedlichsten Leute zog es geradezu magnetisch hin zu dem wohl eindrucksvollsten denkmalgeschützten Gebäude von allen: dem Bahnhof Huddersfield. Er befand sich an der Stirnseite des St George’s Square, direkt vis-à-vis dem steinernen Löwen, und schien dem heraufdämmernden Tag mit einer Verlässlichkeit entgegenzusehen, die aus jahrhundertelanger Dienstbarkeit herrührte.
Das prächtige, 1850 fertiggestellte Gebäude verfügte über einen spektakulären klassischen Portikus mit majestätischen korinthischen Säulen, die sich entlang der gesamten, 127 Meter messenden Fassade erstreckten. Seine Sandsteinmauern schimmerten im Sonnenlicht und wirkten dabei ebenso einladend wie die vor Kurzem erst geöffnete blaue Tür des Haupteingangs. Zuverlässig wie der Lauf der Sonne, öffnete der Bahnhof Huddersfield allmorgendlich um Punkt fünf Uhr seine Pforten, und auch an diesem Tag lief dort wieder alles wie am Schnürchen.
Und so eilten die Fahrgäste weiter, die Freitreppe hinauf und in das Bahnhofsgebäude hinein, verschlafen dreinblickend oder frisch wie der junge Frühling, und allesamt fest entschlossen, ihr Fahrtziel zu erreichen. Ein Mann gähnte herzhaft, als er das Gebäude betrat, und strich sich dann müde den schwarzen Vollbart glatt. In aller Herrgottsfrühe hier unterwegs zu sein hatte nicht allzu viele Vorteile … aber einen davon sollten diese Fahrgäste sehr bald entdecken.
Hätten sie sich umgeschaut, hätten sie durchaus einige Anzeichen dafür bemerken können. Ein buntes Tütchen Dreamies-Snacks, das dem Mitarbeiter der Bahngesellschaft TransPennine Express (TPE), der an diesem Morgen an den Zugangssperren postiert war, aus der Tasche ragte … Ein fischförmiges, gelb-rot gepunktetes Spielzeug auf dem Boden der Bahnhofshalle … Und was war das da in der Ecke? Das Ding mit der Schwarz-Weiß-Zeichnung drauf und den fünf violetten Buchstaben über der Öffnung darin? War das etwa … eine Katzenklappe? In einem Bahnhof?
Jene, die Bescheid wussten, hielten auf ihrem Weg zum Bahnsteig die Augen offen und passierten die Zugangssperren mit einer gewissen Enttäuschung darüber, dass sie noch nicht erblickt hatten, was sie zu sehen hofften. Frühmorgens war sie meist am Haupteingang zur Stelle, um die Fahrgäste in Empfang zu nehmen, an diesem Morgen aber nicht. Oft ließ sie sich auch an einem der fünf Fahrkartenschalter gleich links daneben nieder, doch die öffneten erst um 5.45 Uhr, und daher war sie dort noch nicht im Dienst. Die Fenster der Schalter waren mit weißen Jalousien verhangen, was ihre Abwesenheit noch zusätzlich betonte.
Man sah förmlich, wer in das schlecht gehütete Geheimnis eingeweiht war und wer nicht. All jene, die durch die Sperren strömten und dabei nur auf die Anzeigetafeln achteten, gehörten nicht zum Kreis der Eingeweihten. Jene aber, die sich langsamer fortbewegten und dabei hin und her schauten, wussten, wonach sie suchten. Diese Leute bogen nach dem Passieren der Sperren meist nach links ab und schritten dann den Laufsteg aus Beton entlang, der offiziell die Bezeichnung Bahnsteig 1 trug.
Dort erblickten sie, gleich nachdem sie das Coffee Xpress – einen kleinen Kaffeeausschank, der die Bahnhofsluft bereits mit dem verführerischen Aroma frisch gemahlener Kaffeebohnen erfüllte – passiert hatten, ein Schild, das bedeutsam aus der Sandsteinmauer hervorragte. »Kundeninformation und -betreuung« stand darauf. Durch eine offenstehende Tür gelangte die Kundschaft in einen kleinen, mit grauem Teppichboden ausgelegten Vorraum, in dem sich ein einzelner Auskunftsschalter befand. Wenn man vom Haupteingang des Bahnhofs kam, konnte man von außen nicht bis zu dem Schalter sehen. Erst von der Tür des Vorraums aus sah man, ob sie da war oder nicht.
Und an diesem Morgen war sie da. Mit stolz geschwellter Brust und majestätischer Miene saß sie dort auf dem Pult, bereit zu helfen, wo sie nur konnte. Ihre schneeweißen Vorderpfoten standen akkurat nebeneinander, als wäre sie der Auffassung, dass sie sich im Dienst um ein professionelles Erscheinungsbild zu bemühen habe – kein Herumlümmeln und keine abgespreizten Gliedmaßen, bitte schön. Ihr weißes Lätzchen strahlte im Morgenlicht und bildete einen starken Kontrast zu dem ebenholzfarbenen Fell, das ihren so ungemein flauschigen kleinen Körper andernorts bedeckte. In Amerika bezeichnet man diese Färbung mit dem Fachausdruck tuxedo, übersetzt »Smoking«, und es wirkte tatsächlich, als hätte sie, bevor sie zur Arbeit erschien, ihren teuersten Designer-Smoking angelegt. Für ihre Kundschaft nur das Beste.
Ihre langen weißen Schnurrhaare zuckten, während sie die Gerüche dieses Morgens erschnupperte. Und ihre wunderschönen Smaragdaugen blinzelten träge, als nun ein Fahrgast nach dem anderen herbeikam, um ihr Hallo zu sagen. Die Augen der Fahrgäste erstrahlten, wenn sie ihr begegneten – was aber keinesfalls ankam gegen das Funkeln ihres violetten Glitzerhalsbands oder den goldenen Schein der Namensplakette an ihrem Hals. Vorsichtig streichelten die Leute ihr das seidig weiche Fell und gurrten ihr ganz aufgeregt Grüße und alle nur erdenklichen guten Wünsche in die weiß getupften Ohren. Sie ergingen sich in Ahs und Ohs und seufzten voller Zufriedenheit, begeistert, dass ihre Schatzsuche diesmal von Erfolg gekrönt war. Anschließend gingen sie beglückt und beschwingten Schrittes in den Tag hinaus, der ihnen nun nichts mehr anhaben konnte.
Und wie sollte es auch anders sein? Denn sie zählten ja zu den wenigen Auserwählten. Ihnen war gerade eine Audienz gewährt worden bei niemand Geringerem als Felix, der Bahnhofskatze von Huddersfield.
Also, mal ehrlich: Was konnte es Schöneres im Leben geben?
Ein weiteres Lieblingsplätzchen
© Angie Hunte
Nach einer Weile beschloss Felix an diesem Morgen, dass es nun Zeit sei, sich anderen Dingen zuzuwenden. Sie war schließlich eine viel beschäftigte Katze, die auf dem gesamten Bahnhof gefragt war, und konnte nicht den ganzen Tag an einem Ort verharren. Ihren Dienstplan stellte sie tagtäglich selber zusammen und war nun offenkundig der Auffassung, dass sie ihren Pflichten am Auskunftsschalter fürs Erste ausreichend nachgekommen war. Bald würde der Ansager, mit dem sie sich diesen Schalter teilte, seine Schicht antreten, und daher konnte sie den Dienst am Kunden hier nun ihrem Kollegen überlassen. Mit einem einzigen sportlichen Satz sprang sie auf den Boden hinab und trottete dann auf den Bahnsteig hinaus.
Ihr Auftauchen dort wurde sogleich bemerkt. Ganz in der Nähe richtete eine ältere Dame, die einen waldgrünen Anorak und braune Gesundheitsschuhe trug, ihr Handy, mit dem sie eben noch mühsam, Buchstabe für Buchstabe, eine Textnachricht getippt hatte, etwas ungelenk auf die Bahnhofskatze und knipste verstohlen ein Bild von ihr. Felix zuckte mit keiner Wimper. Seit Juli 2015 hatte sie eine eigene Facebook-Seite, die im Laufe des vergangenen Jahres auf phänomenale achtzigtausend Follower angewachsen war. Ihre Popularität hatte enormen Auftrieb erhalten, als sie im Januar 2016 von ihrem Arbeitgeber TransPennine Express zur Leitenden Schädlingsbekämpferin befördert worden war und Abertausende Fans aus aller Welt ihr dazu gratuliert hatten. Ihr Status als Social-Media-Star hatte nicht wenige dieser Fans auch dazu bewegt, dem Bahnhof einen Besuch abzustatten, weshalb Felix längst an das Klicken und die Kamerablitze gewöhnt war, die ihre Anwesenheit hervorzurufen schien.
Felix war schon immer überaus fotogen –
kein Wunder, dass die Paparazzi ihr nachstellen
© Amy McWalters & Rachel Oates
Unbeirrt senkte sie den Kopf und beschnupperte den Bahnsteigboden. Keinerlei Krümel. Schade. Sie hob den Kopf wieder und spähte zu den Tauben hinauf, die unter dem Wellblechdach über den Bahnsteigen hausten. Die hatten wahrscheinlich längst sämtliche Speisereste aufgepickt; das kannte man ja von diesen lästigen Viechern. Leicht verstimmt schüttelte sich Felix, woraufhin sich etliche lose Haare aus ihrem flauschigen Fell lösten; sie tanzten durch die Luft wie Konfetti um eine Braut und reizten ihr Samtnäschen zu einem energischen Niesen. Dann trottete Felix weiter und streckte dabei die Zehenspitzen, um die kleinen schwarzen Ballen darunter herzuzeigen, als wäre sie eine Ballerina auf der Bühne des Royal Opera House und wüsste, dass alle Blicke auf ihre Füße gerichtet waren.
Felix näherte sich der Bahnsteigkante. Obwohl sie schon lange in der Lage war, die Gleise sicher zu überqueren (und einen eigenen Personal Track Safety-Ausweis besaß, der ihr die Befugnis dazu verlieh), verharrte sie diesmal ganz vernünftig an der gelben Linie, die den Bahnsteigrand markierte, und ließ sich dort nieder. Mit großen Augen sog sie den Anblick des allmählich erwachenden Bahnhofs ein. Sie blickte nach Norden, zum Bahnsteig 2 und der dunkel klaffenden Einfahrt der Eisenbahntunnel. Auch das »Head of Steam« befand sich in dieser Richtung, doch zu dieser frühen Stunde hatte der Pub geschlossen, und es wurden dort auch nicht, wie es manchmal geschah, Bierfässer mit lustigem Geschepper verladen. Dann blickte sie in die entgegengesetzte Richtung, wo sich ein Bahnviadukt auf fünfundvierzig Bogen in so weite Ferne erstreckte, dass selbst Felix’ enorm sehstarke Katzenaugen nicht dessen Ende zu erspähen vermochten. In dieser Richtung war deutlich mehr los, denn nun trafen die ersten Berufspendler ein und strömten gleich einer Meereswoge durch die Sperren, um ihre gewohnten Züge zu erwischen. Das alles war Felix an diesem Morgen ein bisschen zu geschäftig, weshalb sie den eintreffenden Fahrgästen den Rücken zukehrte und stattdessen nachdenklich über die Gleise hinweg zum Bahnsteig 4 hinüberschaute, als wägte sie ihre Möglichkeiten ab.
Eine davon bestand darin, den Bahnhofsgarten zu besuchen, der gleich gegenüber auf Bahnsteig 4 blühte und gedieh. Dieser Garten war das Werk und das Vermächtnis eines allseits beliebten und schmerzlich vermissten Kollegen: Billy Bolt, der 2015 verstorben war. Felix und er waren dick befreundet gewesen, und sie versteckte sich gern in dem hohen Gras dort oder wälzte sich in der Katzenminze – aber nein, heute nicht, beschloss sie. Stattdessen erhob sie sich geschmeidig, kehrte dem Garten den Rücken zu und zog sich an den Ort zurück, der ihr vielleicht der allerliebste war: die silbrigen Fahrradständer gleich neben dem Auskunftsschalter. Diesen Ort hatte sie schon als kleines Kätzchen geliebt.
Felix lebte auf dem Bahnhof Huddersfield, seit sie acht Wochen alt war. Sie war dort aufgewachsen und hatte sich ganz allmählich an das Dröhnen der Loks und das ewige Kommen und Gehen der Fahrgäste gewöhnt. Sie war dem Bahnhof nicht etwa als Streunerin zugelaufen und kam auch aus keinem Tierheim, sondern war, nachdem die Firmenzentrale grünes Licht für ihren Arbeitsplatz gegeben hatte, bereits als Katzenkind per Headhunting für diesen Job ausgewählt worden. Doch obwohl sie ein offizielles Namensschild trug, auf dem auch ihre Funktion vermerkt war – »Felix, Leitende Schädlingsbekämpferin« stand dort neben dem schicken, blau-violetten Firmenlogo der Bahngesellschaft TPE –, war sie nicht minder auch ein Haus- und Schmusetier. Nach inzwischen fünf absolvierten Dienstjahren war sie ein heiß geliebtes Mitglied des Teams. Ja, sie war jedermanns Liebling.
Ihr Name bedurfte immer mal wieder einer kurzen Erläuterung. Als Felix damals in Huddersfield anfing, hielten ihre neuen Kollegen sie zunächst für einen Jungen. Sämtliche Eisenbahner und auch die ganze TPE-Belegschaft wurden aufgefordert, Namensvorschläge für den kleinen Kater einzureichen, unter denen dann ausgelost wurde. Dabei fiel die Wahl auf den Namen Felix – und erst hinterher stellte sich heraus, dass sie weiblichen Geschlechts war. Da aber hatte sich der Name schon durchgesetzt. Und glücklicherweise passte er sehr gut zu ihr.
An diesem Sommermorgen schlängelte sich Felix zwischen den Metallstreben der Fahrradständer hindurch und ließ sich dann mit einem Seufzer dazwischen nieder, den schwarzen Rücken an die gelbe Ziegelmauer gelehnt. Um diese Uhrzeit waren die Fahrradständer so gut wie leer, und nur hier und da hatte sich jemand mit einem Bügelschloss ein Plätzchen reserviert – wie Urlauber es bei den Sonnenliegen am Pool mit einem Handtuch tun. Bald jedoch, das war Felix klar, würden sich diese Ständer füllen, wenn Pendler, die zum Bahnhof radelten, ihre Räder dort ließen, bevor sie ihre Züge nahmen. So gefiel es ihr dann am besten, denn dieses Versteck zwischen den Fahrrädern bot ihr einen idealen Aussichtspunkt, um das Kommen und Gehen auf dem Bahnhof – ihrem Zuhause – zu beobachten.
Nun sah sie zu, wie die Kolleginnen und Kollegen der Frühschicht zum Dienst erschienen. Angesichts ihres verborgenen Standortes – sie hatte sich hinter dem einzigen Fahrrad dort versteckt – wirkte es eher, als würde sie stichprobenartig kontrollieren, ob alle pünktlich zur Arbeit kamen, wobei sie jede Verspätung sorgfältig vermerkte. Ihren smaragdgrünen Augen, die manchmal aufleuchteten, wenn sich das Licht der aufgehenden Sonne darin fing, entging nichts. Da kam ein Lokführer mit fröstelnder Glatze, der sich an seinen Sandwiches fürs Lunch festhielt. Trotz Felix’ Bemühungen, sich unsichtbar zu machen, bemerkte er sie sofort und rief ihr, während er vorüberging, ein fröhliches »Hallo, mein Mädchen!« zu. Ein anderer Kollege, der einen orangefarbenen Signaloverall trug, grüßte sie lediglich mit einem flüchtigen Blick, den sie ebenso wortlos erwiderte. Und während sie das morgendliche Treiben beobachtete, wandte Felix immer wieder den Kopf hin und her, als würde sie ein Tennismatch verfolgen. Und sie lauschte auch sehr aufmerksam. Sie hörte das Klirren der Schlüssel in den Taschen der Leute und das Brummen der Loks, mit dem eben noch schlafende Züge zum Leben erwachten, und den Takt der Schritte der Passanten auf dem Bahnsteig.
Auf einen bestimmten Klang musste sie aber noch ein wenig warten.
Stimmen waren im Bahnhof weithin zu hören. Felix hörte Schaffner aus den Zügen heraus dem Bahnsteigpersonal etwas zurufen und umgekehrt, und hin und wieder hörte sie auch das Gelächter gemeinsam reisender Freunde. Ihre zuckenden Ohren registrierten jeden einzelnen Laut. Und daher war Felix, als sie plötzlich eine ganz bestimmte Frauenstimme hörte, die ihr in vergnügtem Ton »Guten Morgen, du Schöne!« zurief, augenblicklich bereit und reckte wie auf ein Stichwort munter den Kopf zwischen den Fahrrädern hervor. Dann sprang sie aus ihrem Versteck, wie eine Sprinterin aus den Startlöchern, und eilte herbei, um einen ihrer absoluten Lieblingsmenschen zu begrüßen: die Gruppenleiterin Angie Hunte.
Angie hatte eine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass Felix auf diesem Bahnhof gelandet war, und umsorgte und bemutterte sie seitdem. Und obwohl die Katzendame inzwischen fünf Jahre alt und längst ausgewachsen war, nannte Angie sie immer noch »mein kleines Mädchen«. Angie, eine warm- und offenherzige, aus Barbados stammende Frau, war seit über zwei Jahrzehnten auf dem Bahnhof Huddersfield tätig und dort längst die unangefochten regierende Matriarchin (an zweiter Stelle nach Queen Felix natürlich, neben der jeder die zweite Geige spielte). Dass Felix ihr einen ganz besonderen Empfang bereitete, versüßte Angie jeden Morgen den Tag. Die flauschige schwarz-weiße Katze strich ihr liebevoll um die Beine und forderte beharrlich Angies ungeteilte Aufmerksamkeit ein.
»Na, dann komm mal her«, sagte Angie fröhlich, als sie nachgab und die Katze kräftig hinter den Ohren kraulte, woraufhin Felix’ Schwanz dankbar hin und her schnippte. »Kommst du mit?«, fragte sie.
Angie Hunte (links) und Angela Dunn, zwei von Felix’ ältesten Freundinnen
© Angie Hunte
Das musste sie Felix nicht zweimal fragen. Als Angie zum Auskunftsschalter ging und dann durch eine Tür in dem kleinen Vorraum den Bürobereich betrat, folgte die Katze ihr auf dem Fuße. Angie hielt ihr die Tür auf, und Felix flitzte hindurch und blickte sich dann besorgt um, ob Angie ihr auch folgte. Gemeinsam betraten die beiden Freundinnen das Büro, das sich die sechs Gruppenleiter, die während ihrer Schicht jeweils die Verantwortung für den Betrieb des Bahnhofs innehatten, turnusmäßig teilten.
Angie machte sich sofort ans Werk, druckte Fahrgastlisten aus und bereitete sich auf die Übergabe mit dem Gruppenleiter der vorigen Schicht vor. Eher untypisch für sie, verfolgte Felix das alles ganz geduldig vom Fußboden aus, wobei sie jede Bewegung und jedes Wort von Angie mitbekam, die bei der Arbeit ein wenig mit ihr plauderte. Und dann wurde Felix’ Geduld endlich belohnt.
»Komm her«, sagte Angie schließlich zu der Katze. »In einer Minute muss ich raus, die Sicherheitskontrollen erledigen. Jetzt ist deine Chance.«
Mehr musste sie Felix nicht sagen. Augenblicklich sprang sie auf den Schreibtisch, wollte die Gelegenheit zum Kuscheln nicht verpassen, ehe ihre Mutti wieder auf die Bahnsteige hinausging.
»Komm knuddeln«, sagte Angie liebevoll mit einem neckischen Lächeln. Sie saß an ihrem Schreibtisch und reckte das Kinn vor. Felix, die dieses Spielchen schon lange kannte, schritt über den Tisch auf Angie zu, wobei ihre schneeweißen Pfoten selbstbewusst auftraten. Die Katze kam Angies Gesicht sehr, sehr nahe, bis ihre großen grünen Augen nur noch Millimeter von Angies braunen Augen entfernt waren. Dann beugten sich beide nach vorn, sodass ihre Stirnen sich sanft berührten. Felix rieb liebevoll ihren Kopf an Angies. Ein lautes Schnurren erfüllte ihren ganzen Körper. Wie ein Herzschlag schien es tief aus Felix hervorzudringen, glücklich, wohlig und zufrieden.
Doch leider musste sich Angie nur allzu bald wieder von Felix lösen. Sie hatte ja schließlich auch noch andere Pflichten, ungeachtet dessen, was Felix vielleicht dachte. Sie war nicht dazu angestellt, dieser Katze den ganzen Tag lang zur Verfügung zu stehen. Angie zog sich ihre schicke marineblaue Dienstjacke und ihre gelbe Signalweste an und wandte sich dann noch einmal zu der Katze um. Oft schloss Felix sich ihr morgens bei diesem Gang an, doch an diesem Tag hatte sich die Katze quer auf dem Schreibtisch ausgestreckt, wie eine Königin auf einem Thron, der den gesamten Raum ausfüllte. Nur gut, dass Angie ihren Rechner gerade nicht benutzen musste …
»Da sieht aber jemand entspannt aus«, scherzte die Gruppenleiterin. Sie beugte sich über Felix und sah ihr ein wenig neidisch in die Augen. »Wollen wir tauschen?«
Doch die Bahnhofskatze hatte fürs Erste genug von der Arbeit. Der Bahnhof Huddersfield ist rund um die Uhr besetzt, und Felix hatte gerade, wie es ihre Gewohnheit war, die Nachtschicht abgeleistet. Obwohl Angie nun zu den Sicherheitskontrollen aufbrach, verriet Felix’ Dienstplan ihr, dass es Zeit für ein Nickerchen war. Und während draußen die Sonne aufging, fielen Felix drinnen im Büro die Augen zu. Angie streichelte sie noch ein letztes Mal, verabschiedete sich dann liebevoll und schloss leise die Tür hinter sich.
Nun allein im Büro, zuckten hin und wieder Felix’ Ohren, während sie schläfrig den fernen Geräuschen lauschte, wenn die Kolleginnen und Kollegen zum Dienst erschienen oder draußen am Taxistand Motoren ansprangen. Hin und wieder erklang, mit der Genauigkeit eines Uhrwerks, eine Bahnhofsansage, die von der Ein- oder Abfahrt eines Zugs kündete. Der Bahnhofsbetrieb ging weiter, so unaufhaltsam wie der Lauf der Sonne, doch einstweilen musste der Bahnhof ohne seine Katze auskommen. Sie hatte viel wichtigere Dinge zu tun. Die regelmäßigen Ansagen lullten sie ein wie ein Wiegenlied, und während sie dem lauschte, sank Felix in tiefen Schlaf.
Genau so, wie sie es gerne hatte.
2
Felix’ Kopf ruckte nach rechts. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt – etwas sehr, sehr Interessantes. Sie saß draußen auf dem Bahnsteig und reckte nun den Hals, um besser sehen zu können, rückte dann noch etwas weiter vor und spähte in die Richtung des »King’s Head« am südlichen Ende von Bahnsteig 1. Dann war sie plötzlich auf den Beinen und brach zu einer Erkundungstour auf.
Rumpel, rumpel, rumpel! Da war es wieder, was sie hatte aufhorchen lassen. Rumpel, rumpel, rumpel! Als sie sich der Quelle des Lärms näherte, stellte sie zu ihrer Begeisterung fest, dass er von einigen Leuten verursacht wurde, die gelbe Signalwesten trugen – das Outfit, das ihre heiß geliebten TPE-Kollegen stets bei der Arbeit draußen auf den Bahnsteigen anlegten. Sie eilte zu ihnen und hob den Blick himmelwärts in der Erwartung, einen ihrer Lieblinge zu erblicken. Als sie jedoch stattdessen einen rotblonden jungen Mann vor sich sah, blieb sie enttäuscht stehen. Oh, schien ihr plötzlicher Stopp zu besagen, kleine Verwechslung, sorry.
Der junge Mann hieß Adam Taylor und war, wie die kluge Felix sofort erkannt hatte, kein TPE-Kollege. Adam war vielmehr ehrenamtlicher Mitarbeiter und gehörte den Friends of Huddersfield Station an, einer Initiative, die in der Bahnhofshalle einen Informationsstand zu lokalen Themen betrieb und sich auch um die vielen Pflanzen kümmerte, die in blauen Kübeln auf den Bahnsteigen standen. Wenn sie dort gärtnerten, mussten sie die gelben Signalwesten tragen – daher nun der sehr verwirrte Blick auf dem Gesicht der Katze.
Trotz ihrer Enttäuschung interessierte sich Felix weiterhin für das, was Adam da trieb. Als er sich von ihr abwandte und weiterging, ertönte wieder dieses faszinierende Rumpel, rumpel, rumpel! Felix schlich ihm neugierig nach, den Kopf zur Seite gewandt, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Aha! Jetzt hatte sie’s. Adam und seine ehrenamtlichen Kollegen zogen eine große, blau-weiße Wassertonne mit sich herum, die achtzig Liter fasste und deren schwarze Räder auf dem Betonboden der Bahnsteige für dieses Gepolter sorgten. Und hin und wieder bückte sich Adam und füllte an einem kleinen Hahn unten an der Tonne seine leuchtend rote Gießkanne nach.
Adam war noch recht neu bei der Gartenarbeit auf dem Bahnhof, hatte sich erst im Mai 2016 dafür freiwillig gemeldet, nachdem er schon seit dem vorigen März bei den Friends dabei war. Die waren wirklich ein Rettungsanker für ihn gewesen. Gut acht Jahre zuvor, im Alter von neunzehn Jahren, war bei ihm Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden, was ihn in eine lähmende Depression stürzte. Von Zukunftsangst gepackt und von den körperlichen Beeinträchtigungen, die seine Hoffnungen sehr einschränkten, schwer gebeutelt, zog er sich bald von der Welt zurück und saß tagelang nur noch bei zugezogenen Vorhängen und ohne Licht in seiner Wohnung herum. Er war in diesem Zustand nicht mehr arbeitsfähig, schien aber auch mit niemandem mehr kommunizieren zu können. Er kapselte sich ab, sprach kaum noch mit jemandem, allenfalls noch online am Computer. Dabei stellte er jedoch fest, dass ihn das ewige Herumhocken in der Wohnung nur noch depressiver machte – was einige Male bis hin zu Selbstmordgedanken ging. Dank Pathways, einer in Mirfield ansässigen psychotherapeutischen Tagesklinik, bekam er sein Leben schließlich nach und nach einigermaßen wieder in den Griff.
Man wies ihm einen sehr fürsorglichen Herrn als Berater zu, der Adam behutsam die Vorstellung nahebrachte, dass er seine Wohnung auch mal wieder für etwas anderes als nur das Allernötigste verlassen könnte, und ihm half, wieder Selbstvertrauen zu fassen. Nachdem sie fast ein Jahr lang miteinander daran gearbeitet hatten, begab sich Adam auf Jobsuche, auch wenn ihm klar war, dass seine Möglichkeiten beschränkt waren, da er nicht mehr Vollzeit arbeiten und keine körperlich anstrengenden Tätigkeiten mehr ausführen konnte. Als das Arbeitsamt erfuhr, dass er ein Faible für das Transportwesen hatte, vermittelte man ihn an die Friends, die stets auf der Suche nach ehrenamtlichen Helfern waren, die Lust hatten, sich um den Bahnhof zu kümmern. Adam war sofort Mitglied geworden, und einfach nur jeden Freitagmorgen auf dem Bahnhof zur Arbeit zu erscheinen, anderen zu helfen und Teil eines größeren Ganzen zu sein, hatte ihm sehr geholfen und das Gefühl gegeben, dass er draußen in der Welt doch noch zu etwas nütze war.
Dann hatte kürzlich eine langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin angekündigt, dass sie sich gerne von der Gartenarbeit zurückziehen würde, da ihre Knie das allmählich nicht mehr mitmachten. Adam hatte lange mit sich gehadert, ob er an ihre Stelle treten sollte. Die Multiple Sklerose brachte es mit sich, dass er weite Strecken nur unter großen Schmerzen gehen konnte, und die Bahnsteige in Huddersfield sind, wenn man sie vom einen Ende bis zum anderen abschreitet, tatsächlich erstaunlich lang. Die MS wirkte sich auch auf seinen Tastsinn aus; fast jeden Morgen musste er aufs Neue herausfinden, wie viel Druck er bei der Verwendung seiner Hände und Füße ausüben musste. Würde die Gartenarbeit ihm helfen – oder sich als zusätzliche Belastung erweisen?
Adam hatte seine ehrenamtliche Tätigkeit auf dem Bahnhof bisher sehr genossen und wollte sich dort gern stärker engagieren. Bei seinen Pflanzen zu Hause hatte er durchaus so etwas wie einen grünen Daumen bewiesen; vielleicht ließe sich das ja in einem größeren Rahmen auch auf die Pflanzen auf den Bahnsteigen übertragen? Seine Ärzte hatten ihm gesagt, er müsse sehr darauf achten, dass seine Muskeln nicht verkümmerten, und Adam hoffte, dass die Gartenarbeit sie kräftigen würde. Leicht nervös meldete er sich freiwillig und schloss sich dem kleinen Team an, das sich um die Pflanzen des Bahnhofs kümmerte.
Die erste Zeit war hart. Die Pflanzen wurden einmal wöchentlich gegossen. Anfangs hatte Adam dabei sehr zu kämpfen, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, und wenn er vor der Arbeit ein bestimmtes Medikament einnahm, konnte er das alles ohne allzu große Schmerzen bewältigen. Und dass er es gelegentlich in der Gesellschaft einer schwarz-weißen Katze tat, ließ die Stunden natürlich wie im Flug vergehen.
Adam hatte Felix im Jahr zuvor kennengelernt, als sie einmal durch die Bahnhofshalle schlenderte, während er gerade am Informationsstand tätig war. Sie war geradewegs zu ihm gekommen, und er hatte sie ein wenig gestreichelt.
Das blieb keine einmalige Angelegenheit. Als Adam seine ehrenamtliche Tätigkeit aufnahm, hatten ihn seine psychischen Probleme noch ziemlich im Griff; zwar genoss er seine Zeit auf dem Bahnhof, aber Selbstzweifel und Ängste nagten an ihm. Wenn ihm allzu viele unwillkommene Gedanken durch den Kopf kreisten, entschuldigte er sich manchmal und ließ sich irgendwo abseits auf einer Bahnhofsbank nieder.
Oft kam Felix dann zu ihm und schmiegte sich an ihn. Das war keineswegs eine Forderung nach Aufmerksamkeit, wie sie es divenhaft immer bei Angie Hunte machte. Nein, sie war einfach nur für Adam da, und wenn er ihr dann über den schwarzen Rücken strich, merkte er mit einem Mal, dass es ihm wieder besser ging. Katzen hatten immer schon diese Wirkung auf ihn gehabt. Seine Großmutter – mit der er viele Jahre zusammengelebt hatte – hatte zwei gehabt, Jet und Mitty, eine schwarz, die andere schildpattfarben. Verspielt und voller Leben, wie sie waren, hatten sie ihn unweigerlich aufgeheitert, und nun schien Felix entschlossen, das Gleiche zu tun.
Je mehr Zeit Adam auf dem Bahnhof verbrachte, desto klarer wurde ihm, dass Felix nicht nur ihm half. Während er sie dort ihren Dienstgeschäften nachgehen sah, fiel ihm auf, dass sich Felix oft neben Personen auf dem Bahnsteig niederließ, die aussahen, als könnten sie eine kleine Aufmunterung gebrauchen. Eines Morgens beobachtete er sie mit einem Mann mittleren Alters. Der Herr wirkte sehr niedergeschlagen und starrte unverwandt zu Boden, so in seine düsteren Gedanken vertieft, dass er die flauschige schwarz-weiße Katze, die ihn beäugte, gar nicht bemerkte. Felix hatte ihn aber definitiv bemerkt. Langsam ging sie zu ihm und strich ihm um die Knie, ehe sie schließlich neben ihn auf die Metallbank sprang und sich dort zum Kuscheln niederließ. Damit munterte sie den Mann augenblicklich auf.
In Briefen an die Bahnhofsbelegschaft schilderten Fahrgäste, wie Felix ihnen auf schwierigen Reisen beigestanden hatte – zum Beispiel, wenn sie Abschied von einem todkranken Angehörigen nahmen oder wenn sie am Morgen nach dessen Tod ihren Arbeitsweg antreten mussten. »Es fiel mir an diesem Morgen sehr schwer, zur Arbeit zu fahren«, berichtete John Rooney in einem solchen Brief. »Mein Großvater war in den frühen Morgenstunden verstorben. Ich stand auf dem Bahnsteig und wartete auf meinen Zug, und mit einem Mal kam Felix zu mir, schmiegte sich an mein Knie und ließ sich von mir streicheln. Dadurch ging es mir gleich viel besser, und es war, als hätte sie meine Trauer gespürt. Bitte geben Sie ihr ein paar Dreamies von mir.«
Da Felix also eine ganz besondere Katze mit ganz besonderen Fähigkeiten war, schätzte sich Adam an diesem Sommertag 2016 durchaus glücklich, dass sie beschlossen hatte, ihn bei seinen Bewässerungspflichten zu begleiten. Gemeinsam schritten sie den Bahnsteig ab, und Adam kümmerte sich gewissenhaft um jede einzelne Pflanze. Aufgrund ihrer Freundschaft mit Billy Bolt und den vielen Stunden, die sie an seiner Seite verbracht hatte, während er den Bahnhofsgarten anlegte, hielt sich die Katze womöglich auch selbst für eine erfahrene Gärtnerin. Zumindest war sie sich in ihrer arttypischen Arroganz sicher, schlechthin alles besser zu wissen – und erwartete daher wahrscheinlich eher nicht, bei diesem kleinen Ausflug mit Adam noch etwas dazuzulernen.
Da aber hatte sie sich getäuscht.
Wenn Felix bei der Bewässerung »half«, sah das meist so aus, dass sie neben den Pflanzkübeln stehen blieb, als wäre sie eine unabhängige Kontrolleurin. Dann blickte sie zwischen den Pflanzen und den ehrenamtlichen Mitarbeitern in ihren violetten Hemden hin und her, und wenn sie gelegentlich fand, dass deren Arbeit zu wünschen übrig ließ, setzte sie eine finstere Miene auf. Als zuständige Bahnhofskatze schien sie die Bahnsteigpflanzen als ihre Schutzbefohlenen anzusehen. »Das sind meine! Wehe, ihr krümmt denen auch nur ein Blatt!«, schien ihr drohender Blick zu besagen.
Bei den größeren Pflanzkübeln jedoch hüpfte Felix auch gerne mal auf den Rand hinauf. Da balancierte sie dann behände, schaute sich genauer an, was dort vor sich ging, und schnupperte manchmal auch begeistert in den Begonien herum.
Felix »hilft« den Friends of Huddersfield Station bei der Gartenarbeit
© Alan Hind
An diesem Tag sprang Felix jedoch mitten hinein in einen Kübel. Ob es ein Versehen war oder sie vielmehr die weiche Landung auf der Blumenerde genießen wollte – Adam wusste es nicht, und Felix verriet es nicht, und so rekelte sie sich schließlich in einem kleinen Rosmarinbeet, dessen Pflanzen, von der Katze in Bewegung versetzt, ihr unverwechselbares Aroma verströmten.
Zumindest war es für Adam, der genau wusste, worum es sich handelte, unverwechselbar. Felix hingegen schien nicht so ganz zu begreifen, wo sie da gelandet war. Sie riss die grünen Augen auf, als wäre sie schockiert von diesem neuen Geruch. Dann blinzelte sie verwirrt, schien keine Ahnung zu haben, woher er kam. Neugierig geworden, nestelte sie weiter an den Nadelsträuchern herum, woraufhin die noch mehr von ihrem Aroma verströmten. Nun guckte sich Felix recht grimmig um, als hätte der Geruch ihr Zartgefühl verletzt, und steckte den Kopf noch einmal zwischen die Zweige, wobei ihre Nase wütend zuckte.
Da sie Adam bei diesem Kübel zuvorgekommen war und er die Pflanzen noch nicht hatte zurückschneiden können, baumelten etliche Zweige umher, was Felix nur noch mehr in Rage brachte. Immer eindringlicher schlug sie auf diese Zweige ein, wie eine Polizistin, die im Unterholz nach Spuren suchte. Das Aroma war nun wirklich stark – selbst Adam mit seinen über eins achtzig konnte riechen, wie es in den Bahnhof hinausströmte!
Felix schien geradezu besessen davon zu sein und verzog das Gesicht zu einigen unglaublich verwirrten Grimassen, die wirklich lustig anzusehen waren. Was war das für ein Geruch, der sie schier in den Wahnsinn trieb? Irgendwann fand sie schließlich heraus, woher er kam – aber erst, nachdem sie die Rosmarinpflanzen verhört hatte, wie nur sie es konnte: indem sie abwechselnd auf sie einprügelte und sich darin wälzte, so innig sie nur konnte, ohne aus dem Kübel zu fallen. Einige Male war es knapp, aber der Ringkampf mit dem Rosmarin schien ihr wichtiger als schickliches Betragen.
Nachdem sie aber die Quelle des Geruchs ermittelt hatte, wurde schnell klar, dass sie ihn absolut nicht mochte. Und so bezahlte Felix ihre Katzenneugier zwar nicht mit dem Leben, aber sicherlich mit einem sehr unangenehmen Kribbeln in der Nase. Nach einem letzten stolzen Schütteln ihres königlichen Haupts sprang sie schnellstens aus dem Pflanzkübel und stolzierte auf dem Bahnsteig von dannen, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Adam oder der Pflanze umzusehen, die ihr so zugesetzt hatte.
Trotz Felix’ Ablehnung verblieb der Rosmarin auf dem Bahnhof. Hin und wieder kam sie auf einem Patrouillengang daran vorbei, doch Adam sah sie nie wieder auf oder in diesen Pflanzkübel springen. Anscheinend fand sie, dass dieses Abenteuer nicht wert war, wiederholt zu werden.
Kopf hoch, Felix! Und lass dir nicht die Petersilie verhageln!
3
Mit einem unbekümmerten Gurren pickte der Täuberich den Bahnsteig entlang und berichtete damit seinen Gefährten von all den Köstlichkeiten, die er dort fand. Felix beobachtete den Vogel mit zusammengekniffenen Augen aus der Ferne.
Felix befand sich mit den Tauben im Kriegszustand. Zwar war in diesem Krieg noch kein Blut geflossen, aber es deutete bei dieser langjährigen Feindschaft auch nichts auf einen baldigen Waffenstillstand hin.
Die Tauben waren schon lange in Huddersfield ansässig gewesen, als die Schädlingsbekämpferin ihren ersten Dienst antrat. Und egal, was Felix gegen ihre Invasionen auf das, was sie als ihr eigenes Territorium ansah, zu unternehmen versuchte, gaben sie der Bahnhofskatze doch nicht im Mindesten nach.
Nicht dass Felix nicht ihr Bestes gegeben hätte, um sie zur Strecke zu bringen oder zu verscheuchen. Wann immer sie eine Taube auf dem Bahnsteig erblickte, erhob sie sich vorsichtig und senkte den Bauch auf den Boden hinab, als wäre sie eine übers Schlachtfeld robbende Kommandosoldatin. Ehe sie auch nur einen einzigen Schritt tat, wackelte sie erst mal mit dem Hintern – womit sie zugleich Schwung holte, ihre Hüften, Beine und Pfoten lockerte und sich bereitmachte zuzuschlagen. Den TPE-Kollegen, die das mit ansahen, kam es vor, als führe sie dabei ein aufmunterndes Selbstgespräch. »Diesmal kriege ich dich. Du gehörst mir …« Doch bei jedem Angriff, den sie startete, war es für die betreffende Taube ein Leichtes, die Katze als verschwommene schwarz-weiße Erscheinung herannahen zu sehen und mit ein paar Schlägen ihrer grauen Flügel beiläufig zu entschweben, sodass Felix der Jagderfolg abermals verwehrt blieb.
Das war ausgesprochen frustrierend – nicht zuletzt deshalb, weil Felix die Beförderung zur Leitenden Schädlingsbekämpferin mehr als verdient hatte. Nachdem sie es als Berufsanfängerin eher langsam hatte angehen lassen – es hatte ein Weilchen gedauert, bis die kleine Katze auf dem Bahnhof Fuß gefasst hatte –, war sie inzwischen eine Meisterin des Mäusefangs und hinterließ regelmäßig kleine »Geschenke« für Angie Hunte. (»Sehr schön, Felix«, sagte Angie dann in aufgesetztem Ton – nur um wenig später um Hilfe zu rufen. Sie liebte Felix sehr, aber nicht ihre schaurigen Geschenke.)
Andere brachten Felix’ beruflichen Leistungen mehr Respekt entgegen. So hatte sie beispielsweise Dale Woodward während einer gemeinsamen Nachtschicht draußen auf dem Bahnsteig schwer beeindruckt. Dale war ein Mann von Mitte fünfzig mit schütterem Haar und markanten Gesichtszügen, der schon seit über einem Jahrzehnt am Bahnhof tätig war. In jener Nacht waren die beiden auf dem Bahnsteig 1 unterwegs gewesen, als Dale plötzlich sah, wie Felix ihre Jagdhaltung einnahm – die Hinterbeine angespannt und eng beieinander und den Blick starr auf das übernächste Gleis gerichtet, das Gleis vor Bahnsteig 4. Dale schaute ebenfalls dorthin. Was soll denn da sein? Ich seh nix, dachte er verwirrt. Doch nur Sekunden später flitzte Felix von ihrer Position los, sprang auf das Gleisbett hinab, lief zu Gleis 4 hinüber und kehrte schließlich, nachdem sie ihre Mission mit geradezu chirurgischer Präzision ausgeführt hatte, mit einer toten Maus im Maul zurück. Quietschvergnügt trabte sie sodann den Bahnsteig entlang zum Auskunftsschalter, wo sie mit kaum verhohlenem Stolz ihr Opfer niederlegte. Das war immer die Stelle, an der sie ihre Gaben darbrachte; manchmal fanden die Kollegen der Frühschicht, wenn sie zum Dienst erschienen, zwei oder drei tote Mäuse dort auf der Fußmatte vor – was zu dieser frühen Stunde garantiert dafür sorgte, dass sich ihnen der Magen umdrehte.
Felix jagte überall auf dem Bahnhof nach Mäusen. Auf den Bahnsteigen. Auf den Gleisen. Ihr liebstes Jagdrevier aber war wahrscheinlich Billys Garten. Der war nicht mehr ganz so gut gepflegt wie zu Billys Lebzeiten – auch wenn Adam und seine ehrenamtlichen Kollegen sich gelegentlich darum kümmerten, waren sie doch in erster Linie für die Pflanzkübel zuständig, was sich oft als so zeitraubende Tätigkeit erwies, dass es ihnen schwerfiel, auch noch den Garten in Schuss zu halten. Felix störte sich aber sicherlich nicht an der mangelnden Pflege; ja, ihr gefielen die wuchernden Pflanzen und hohen Gräser sogar – boten sie doch eine ideale Deckung für ihre Jagdausflüge. Wenn das TPE-Team nach ihr suchte und sich fragte, wo um alles in der Welt sie jetzt wieder stecken mochte, kam es durchaus öfter vor, dass sie plötzlich einen flauschigen schwarz-weißen Kopf erblickten, der aus einem Versteck inmitten hoher Gräser hervorlugte, wenn die Katze drauf und dran war, sich auf ein weiteres ahnungsloses Opfer zu stürzen.
Doch trotz ihrer Tüchtigkeit als Mäusejägerin blieb Felix ein vergleichbarer Erfolg bei den Tauben weiterhin verwehrt. Das war für die Leitende Schädlingsbekämpferin eine überaus peinliche Enttäuschung, denn ihr Versagen lag ja schließlich klar auf der Hand. Während ihre Kollegen voller Stolz verkündeten, dass sie dank Felix’ harter Arbeit lange schon keine lebende Maus mehr auf dem Bahnhof gesehen hätten, stolzierten die Tauben weiterhin dreist über die Bahnsteige, als würde ihnen der ganze Laden gehören.
Sie waren auch nicht die einzigen Vögel, mit denen Felix sich herumschlagen musste. Der Bahnhof Huddersfield war außerdem die Heimstatt eines Grüppchens großer schwarzer Krähen, die sich mit Vorliebe neben den Tauben auf dem Gewirr aus Eisenträgern niederließen, das sich unter dem Wellblechdach des Bahnhofs befand. Sie hatten Felix terrorisiert, als sie ein kleines Kätzchen war, doch inzwischen hatte Felix einen Waffenstillstand mit ihnen geschlossen. Zwar versuchten sie immer noch ab und zu, Felix zu verhöhnen, indem sie zu zweit oder dritt von ihren Sitzstangen herabgesegelt kamen, aber Felix ließ sich nicht mehr ködern. Wenn sich diese Krähenschar wieder mal in ihrer Nähe niederließ und höhnisch zu ihr herüberkrächzte, sah sie einfach nur mit ihren großen grünen Augen gleichmütig zu ihnen hinüber in dem Wissen, dass die Krähen trotz aller Großtuerei nicht wagen würden, sie anzugreifen. Die Krähen hatten keine Macht mehr über sie, denn schließlich hatten sie ja offenkundig den Schutz der Überzahl nötig, wohingegen Felix sich ganz allein als Regentin behauptete.
Doch ihre Fehlschläge bei der Taubenjagd wurmten Felix. Ein ums andere Mal versuchte sie, sich erfolgreich anzupirschen, und ein ums andere Mal scheiterte sie dabei. Allmählich hatte sie wahrscheinlich das Gefühl, dass sie ihr Ziel niemals erreichen würde.
Im Sommer war auf dem Bahnhof Huddersfield immer viel los. Die Kinder hatten Schulferien, Familien fuhren in den Urlaub, und an manchen Tagen waren die Bahnsteige so voller Reisender mit sperrigen Koffern, dass kaum noch ein Durchkommen war. An eben so einem Tag war Felix gerade schwer damit beschäftigt, auf Bahnsteig 1 Fahrgäste zu begrüßen. Gekonnt und souverän schlängelte sie sich zwischen all den neuen Hindernissen hindurch, als wäre das Gepäck ausschließlich zu ihrer Belustigung dort abgestellt worden, als sie auf eine sehr entspannte Familie stieß, die auf ihren Zug zum Flughafen wartete. Sie waren bereits so in Urlaubsstimmung und hatten nur noch Sonne, Sand und Sangria im Sinn, dass sie die schwarz-weiße Katze, die zwischen ihren Gepäckstücken umherschlich, überhaupt nicht bemerkten.
Jemand anderes bemerkte sie auch nicht: ein gewisser Percy Pigeon, der vor ebenjenen Gepäckstücken auf und ab stolzierte und dabei unbekümmert irgendwelche Krümel aufpickte …
Felix sah den Täuberich und erstarrte. Und während sie hinübersah, schlang Percy einen weiteren Leckerbissen hinunter und gab dann ein zufriedenes Gurren von sich. Felix kniff die grünen Augen zusammen, und ihre Gliedmaßen spannten sich.
Hinter ihr befand sich das Coffee Xpress. Das Feld ihrer Pirschjagd war damit klar umgrenzt, als befände sie sich in einem Schützenloch – direkt dem Feind gegenüber.
Einem Feind, der sie nicht sehen konnte.
Das Gepäck bildete eine perfekte Deckung. Während die Familie angeregt über ihren bevorstehenden Urlaub plauderte, machte Felix einen einzigen, langsamen Schritt nach vorn und achtete dabei sehr darauf, in der Deckung der Gepäckstücke zu bleiben. Die hatte die Familie unbeabsichtigterweise genauso abgestellt, dass Felix ihren Angriff planen und vorantreiben konnte und zugleich den Täuberich im Blick behielt.
»Gurr, gurr!«, machte Percy frohgemut.
Und hinter dem Gepäck tat Felix einen weiteren Schritt nach vorn.
»Gurr, gurr!«, tönte es wieder. Der Täuberich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er in Lebensgefahr schwebte.
Wie die Ruhe vor dem Sturm hielt Felix einen bedeutungsschwangeren Moment lang inne und kalkulierte Reichweite, Geschwindigkeit und Entfernung. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, und binnen Sekunden hatte sie die komplexen Berechnungen vollzogen, die ihr, wie sie hoffte, zum Erfolg verhelfen würden. Nie zuvor hatte sie so eine Gelegenheit gehabt. Und sie wusste nur zu gut, dass sie womöglich auch nie wieder so eine Gelegenheit haben würde.
Direkt voraus klaffte zwischen den Koffern eine kleine Lücke. Felix beäugte sie aufmerksam und angespannt. Ihr war klar, dass sie nur eine einzige Chance hatte, dass es auf Anhieb klappen musste; sie musste durch diese Lücke huschen, vor welcher der Täuberich auf und ab stolzierte, und ihn genau im richtigen Moment mit einem Pfotenhieb festnageln.
»Gurr, gurr!«, rief Percy, wie um sie zu ermuntern. Versuch’s doch! Und Felix war bereit dazu.
Sie spannte ihre Beine an, bis ihre Muskeln zitterten. Sie befand sich nun direkt hinter der entscheidenden Lücke, sodass fast schon ihr schwarzes Samtnäschen aus dem Versteck hervorlugte, und gab sich größte Mühe, ihre Schnurrhaare stillzuhalten, damit sie ihre Position nicht verrieten. Wenn Percy in diesem Moment in ihre Richtung geblickt hätte, hätte er Felix gesehen. Und dann: Game over.
Doch Percy war viel zu sehr damit beschäftigt, die Krümel vom Bahnsteig aufzupicken. Er blickte sich nicht um.
Im Geiste ließ Felix, obwohl ihr Zahlen fremd waren, sicherlich einen Countdown ablaufen, während sie den richtigen Moment zum Zuschlagen wählte. Was sie jedoch nicht wusste: Ihr lief die Zeit davon. Denn auf der Anzeigetafel über ihrem Kopf änderten sich die orangefarbenen Ziffern. Der Zug nach Manchester Airport traf bald ein. Wer würde zuerst in Aktion treten – die Lokomotive oder die löwenartige Katze, die Jagd auf ihre Huddersfielder »Gazelle« machte?
Drei, zwei, eins …
Ein Schrei durchriss den Bahnhof.
4
Felix stürzte sich auf den Täuberich. Und sie hatte Erfolg. Sie krallte sich in den Rücken des Vogels, und es gab ein Federgestöber, als wäre auf dem Bahnsteig ein Daunenkissen geplatzt. Die Urlauberfamilie, die von Felix’ Pirsch nichts mitbekommen hatte, schrie erschrocken auf. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, woher die Federn kamen und was um alles in der Welt dieses seltsame Phänomen ausgelöst hatte. Die Familie wich ängstlich zurück und ließ ihr Gepäck unbeaufsichtigt, und aller Augen richteten sich auf den Tumult.