Der Fremde
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ISBN: 978-3-95894-132-8 (Print) // 978-3-95894-133-5 (E-Book)
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2019/20
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Kennenlernen
Der Kampf mit den Behörden
Die Heirat
Essen ohne Besteck
Der Klang der fremden Sprache
Das zerknitterte Foto
Im Liegestuhl
Das Kainszeichen
Handtasche aus Krokoleder
Das Interview
Nüsse und schwarze Schokolade
Im Hause Mandelstamm
Besuch in der Moschee
So steht es im Koran
Auf nach Dhaka
Die Begrüssung
Auf der Dachterrasse
Der Segen des Imam
Ein Tag Ramadan
Das Zuckerfest
Das Kriegerdenkmal
Luftige Zukunftspläne
Eine zündende Idee
Im Theater
Die Versuchung
Die Segel zerreissen
Die Geschenke
Die Wende
Der Absturz
Es war Anfang August. Ella hatte das Bedürfnis nach Gesellschaft und wollte etwas erleben. Darum fuhr sie mit dem Tram in die Stadt und ging in die Disco, in die „Bunte Kuh“, wo es nebst Schweizerinnen auch junge Ausländer gab, die ebenfalls nicht allein zu Hause bleiben, sondern in die Stadt fahren wollten, um etwas zu erleben.
Ella schaute sich um und suchte einen Tisch, an dem noch ein freier Platz war. Gleich beim ersten Tisch sassen eine Frau und zwei Männer. Alle drei hatten schwarze Haare und dunkle Augen. Die Frau war bedeutend älter als die Männer, sie hätte deren Mutter sein können. Die beiden Männer hatten eine milchkaffeebraune Haut. Den kleinen Dicken fand sie lustig, den Grossen atemberaubend schön. Die fremde Frau, die etwa so alt war wie sie, lächelte ihr zu und lud sie ein, an ihrem Tisch, wo noch ein Stuhl frei war, Platz zu nehmen. Anscheinend war sie froh mit den jungen Männern nicht allein sein zu müssen.
Sie stellten sich gegenseitig vor:
„Ich heisse Ella.“
„Mein Name ist Anna.“
Anna hatte einen südamerikanischen Akzent. Beide Männer sprangen auf und reichten Ella die Hand. Der Kleine hiess Baba und hatte einen kräftigen Händedruck, der Grosse hiess Aylan und hatte einen schlaffen Händedruck. Beide sprachen ein korrektes Englisch. Sie wirkten gut erzogen und intelligent. Ella war neugierig auf die Beziehung zwischen Anna und den beiden Männern. Sahen sich heute alle drei zum ersten Mal, oder war Anna mit dem einen der beiden schon länger bekannt? Wenn ja, mit welchem? Hoffentlich nicht mit dem, der ihr gefiel! Baba lachte fröhlich. Aylan hatte dunkle, mandelförmige Augen und schwieg. Als die Musik wieder einsetzte, forderte Baba Anna auf zum Tanz. Aylan, der allein am Tisch blieb, schaute Ella so an, als würde er sie aus einem früheren Leben kennen. In dem Moment wusste sie, dass Anna mit Baba bereits vertraut war, und dass Aylan noch alleine war. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen stand sie auf und folgte ihm auf die Tanzfläche.
Aylan war schüchtern und selbstsicher zugleich. Als Ella fragte, woher er komme, antwortete er: „Aus Bangladesh.“
Bei diesem Wort zuckte in ihr eine Flamme auf, die in allen Farben leuchtete. „Bengalische Streichhölzer“, war das erste, das ihr zu diesem Land einfiel. Auch an Überschwemmungen konnte sie sich erinnern, bei denen Tausende von Menschen gestorben waren. Das hatte sie in der Zeitung gelesen. Aylan tanzte nicht besonders gut, aber seine schmalen Hüften fühlten sich gut an. Sie tanzten bis früh in den Morgen. Dann tauschten sie die Adressen. Aylan und Baba wohnten in einem Asylheim in der Gemeinde Ebikon, zu fünft in einem Zimmer. Ella wohnte allein in einer Zweizimmerwohnung am Rande der Stadt. Aylan versprach, sie nächste Woche anzurufen.
Nachts hatte Ella einen Traum:
Als sie im Gütschwald spazieren ging, fand sie unter einem Baum, in eine Decke gewickelt, ein nacktes Baby. Eine höhere Macht befahl ihr, es aufzuheben und in die Arme zu schliessen. Sie war für dieses Kind verantwortlich, doch sie fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Sie soll dieses Baby allein aufziehen und für sein Leben sorgen? Sie zitterte vor Angst und Unsicherheit. Da trat hinter dem Baum ein grosser Mann hervor, eine Erscheinung wie ein Guru mit strahlend blauen Augen. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm das Baby entgegen. Er sagte: „Ich helfe dir, gemeinsam schaffen wir es!“
Am Wochenende kam kein Anruf von Aylan. Ella war verunsichert und dachte, er habe sie vergessen oder wolle doch keinen Kontakt. Aber am Dienstag rief er an. Mit tiefer, selbstsicherer Stimme fragte er nach ihrem Befinden und schlug vor, dass sie sich treffen, zusammen mit seinen Freunden. Anna organisierte in ihrer Wohnung eine Party, zu der auch ihre erwachsenen Söhne und einige kubanische Migranten eingeladen waren. Sie selbst war in Kuba geboren, lebte aber schon seit 15 Jahren in der Schweiz und war von ihrem kubanischen Mann geschieden.
Es wurde ein fröhlicher Abend. Aylan erzählte, dass er in Dhaka Politologie studiert, aber das Studium nicht abgeschlossen habe, denn er sei schon als Student politisch aktiv gewesen und habe sich für eine linke Partei eingesetzt, welche gegen die nationalistische Regierungspartei gekämpft habe. Dies beeindruckte Ella. Er war kein Flüchtling, der in Europa ein besseres Leben suchte, sondern ein Revolutionär, der für eine gerechtere Welt kämpfte. Er sagte, er habe bei vielen Demonstrationen mitgemacht, aber keine Waffen getragen und nie Gewalt ausgeübt. Trotzdem habe ihn die Regierung verfolgt und „Terrorist“ in seinen Pass geschrieben, sodass er zu fliehen gezwungen gewesen sei. Wie Aylan ihr das erzählte, wurde er für sie zum Helden. Ella bewunderte ihn für seinen Mut.
Auf einem Spaziergang durch den Gütschwald mit den ordentlichen Joggingwegen sprach er von seinem Vater, zu dem er eine enge, emotionale Beziehung hatte:
„Er ist ein gläubiger Moslem und Besitzer einer kleinen Textilfabrik. Da ich der älteste Sohn bin, hat er mir Geld geliehen, damit ich nach Europa auswandern kann. Er hat die Vision, dass ich hier in der Textilbranche Arbeit finde und mit ihm zusammen ein Import-/Export-Geschäft aufbaue. Meine Eltern hoffen, dass ich in der Schweiz reich werde und eines Tages die ganze Familie unterstützen kann. Diese Erwartung meiner Eltern, meiner jüngeren Geschwister und der ganzen Verwandtschaft liegt schwer auf meinen Schultern.“
Die Vision seines Vaters gefiel Ella. Sie war vom romantischen Gefühl überwältigt, Aylan bei der Verwirklichung seiner Träume zu helfen. Sie sah eine Möglichkeit vor sich, ihrem kinderlosen Dasein ohne Familie einen Sinn zu geben. Gespannt hörte sie seiner Geschichte zu:
„Das Geld meines Vaters hat nicht lange gereicht. Schon in Hongkong musste ich meine Videokamera verkaufen, um eine Unterkunft bezahlen zu können. Unterwegs traf ich andere Bengalen, die auch auf der Flucht waren. Wir reisten manchmal zu zweit oder zu dritt und teilten das Geld, das wir noch hatten. So kamen wir über Russland nach Griechenland und dann mit dem Schiff nach Brindisi. Dort setzte ich mich allein in einen Zug und fuhr bis Chiasso. Mit dem letzten Geld rief ich in einer Telefonkabine - damals gab es noch keine Handys - die Nummer der Caritas Schweiz an, die mir in Bangladesh jemand auf einen Zettel geschrieben hatte. Ich hoffte, in der Schweiz Asyl zu finden. In Chiasso hatte ich nur noch 50 Dollar und ein Päckchen Zigaretten. Ich setzte mich in einen Schnellzug und fuhr die ganze Nacht. Kurz bevor der Schaffner kam, legte ich ein weisses Taschentuch über mein Gesicht und stellte mich schlafend. So kam ich bis Thun. Dort stieg ich aus und rief wieder die Caritas an. Die sagten mir, ich müsse nach Kreuzlingen fahren, dort gäbe es ein Empfangszentrum für Asylsuchende. Die Frau am Telefon war freundlich und sagte, sie werde am Bahnhof auf mich warten. Ich verpasste sie und fand das Empfangszentrum nicht. Da ich kein Geld mehr hatte, musste ich draussen im Freien übernachten. Zum Glück war es Sommer. Der Verpackungskarton eines Fernsehapparats, den ich am Strassenrand fand, diente mir als Decke. Das war für mich die grösste Demütigung meines Lebens, auf der Strasse schlafen zu müssen. Am andern Morgen rief ich wieder die Frau von der Caritas an. Sie kam mit dem Auto vorbei und nahm mich mit nach Hause zu ihrer Familie. Dort durfte ich drei Wochen bleiben. Ich konnte endlich wieder einmal duschen und bekam warmes Essen. Als ich mich von den Strapazen erholt hatte, fuhr sie mich zum Empfangszentrum. Dort erhielt ich, zusammen mit zwei anderen Bengalen, Notgeld und die Anweisung, nach Ebikon bei Luzern zu fahren, wo wir vorläufig aufgenommen wurden.“
Beim Zuhören wurde Ella ein bisschen eifersüchtig auf die sympathische Frau bei der Caritas, die Aylan für drei Wochen bei sich aufgenommen hatte. Das würde sie auch tun, wenn es denn nötig wäre. Dass es für ihn eine Demütigung war, auf der Strasse zu schlafen, gefiel ihr. Das war der Beweis, dass er kein Landstreicher, sondern ein vornehmer Mensch war, der sich nach einem geordneten Leben sehnte. Sie wäre bereit, ihm ein gesichertes Leben zu geben.
Während er Ella das alles erzählte, rannten die Jogger in ihren bunten Outdoorkleidern an ihnen vorbei. Ältere, alleinstehende Frauen führten ihre Hunde spazieren. Kinder hüpften an der Hand der Mütter von Wurzel zu Wurzel. Nach der Waldlichtung kam ein Acker. Die reifen Ähren des Kornfelds bogen sich im Wind. Unter den Apfelbäumen weideten Kühe. Auf der einzigen, noch leer stehenden Bank am Waldrand, wo es etwas schattig war, setzten sie sich hin. Aylan sass dicht neben Ella, sodass sie den Duft seiner glänzenden, blauschwarzen Locken, die ihm über die Stirn fielen, einatmen konnte. Seine Haare rochen süsslich-herb. Es war ein Duft, der sie irritierte. Er erinnerte sie an getrocknetes Gras. Seine Zähne blitzten schneeweiss. Die bläulichen Lippen waren geschwungen und voll. Die schmale Nase war leicht gebogen. Im Profil sah er aus wie ein indischer Prinz. In diesem Moment legte er seine Hand, die auffallend klein war, auf ihre Schulter, zog ihren Kopf an seine schmächtige Brust und küsste sie.
Sie hielt ihre Augen geschlossen und spürte, wie die heisse, bengalische Flamme in ihr aufstieg und in allen Farben zu leuchten begann. Am Abend begleitete er sie nach Hause und betrat wie selbstverständlich ihre Zweizimmerwohnung. Er ging in die Küche, fragte, wo der Reis sei und fing an zu kochen.
Er brauchte Gewürze. Sie stellte ihm ein Gläschen von der Migros hin, mit gelblichem Pulver, angeschrieben mit Curry-Mischung. Da lachte er sie aus.
„My god, no, that’s nothing, I need real spices, Chili, Kardamon and Ginger!“
Sie rannte in das nächste Lebensmittelgeschäft und kaufte noch am selben Abend alles ein, was er brauchte. Um Mitternacht dampfte ein Nachtessen auf dem Tisch, mit Basmati-Reis, Rindfleisch und brennend scharfer, öliger Sauce. Von da an kehrte Aylan nie mehr ins Asylheim nach Ebikon zurück. Nun wohnte er bei ihr und kochte jeden Tag. Auch sein Freund Baba kehrte nicht mehr nach Ebikon zurück, sondern wohnte bei Anna und kochte für sie jeden Tag.
Als sie eine Woche später zur Postfinance ging, um Geld zu abzuheben, traf sie ihren Nachbarn, den Anthroposophen Kaspar. Er war 30 Jahre älter als sie und hatte am gleichen Tag Geburtstag. Am 7. Mai schenkten sie sich jeweils gegenseitig einen Strauss Rosen. „Ich muss dir ein Kompliment machen, du hast einen guten Geschmack! Ich habe dich neulich im Gütschwald gesehen, in Begleitung eines schönen, jungen Mannes. Ihr sasst auf einer Bank am Waldrand und er hat dich geküsst. Pass bloss auf! Als Liebhaber mag so ein junger Inder gut sein, aber heiraten solltest du ihn nicht. Meine Nichte in Lausanne hat einen bildhübschen, jungen Singalesen geheiratet. Der schlief jeden Morgen bis 12 Uhr und wollte nicht arbeiten. Am Ende musste sie ihn mit Hilfe der Polizei rausschmeissen; allein wäre er nie gegangen.“
Eines Nachts, nachdem sie sich fest umarmt hatten, fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Das gab ihr einen Stich ins Herz. Da sie noch nie verheiratet war, fand sie diese Idee verlockend, aber auch gefährlich, denn sie kannte ihn erst drei Wochen! Was ist, wenn sie ins Messer läuft? Als Frau fühlte sie sich geschmeichelt: Ein 27-jähriger, atemberaubend schöner Mann will sie, eine 47-jährige Frau heiraten. Ella war keine Schönheit, aber sie legte Wert auf ihr Äusseres und gab sich Mühe, in der Öffentlichkeit gut auszusehen, nach dem Motto „Frau sein ist Berufung“. Meinte er das ernst oder war es nur ein Spiel? Da sie mit ihrer Antwort zögerte, fuhr er fort: „Ich habe von den Behörden einen Negativ-Entscheid bekommen. Ich bin kein anerkannter Flüchtling und sollte innerhalb von vier Wochen die Schweiz verlassen. Aber ich kann nicht in mein Land zurück, denn ich habe keinen Pass mehr. Ich habe ihn ins Meer geworfen, weil die bengalischen Behörden ‚Terrorist‘ hineingeschrieben hatten. Sie würden mich in Bangladesh verhaften, weil ich in einer linken Partei war und gegen die Regierung demonstriert habe. Ich müsste von einem europäischen Land zum anderen ziehen und immer wieder in Asylheimen oder auf der Strasse leben. Ich habe keinen Boden unter den Füssen. Meine grösste Sehnsucht ist es, eines Tages ein sicheres, geordnetes Leben zu führen.“
Diese Reden berührten Ella im Innersten. Aylan war also kein anerkannter, er war ein abgewiesener Flüchtling! Nach Ablauf der Gnadenfrist würde seine Anwesenheit in der Schweiz illegal, die Justiz könnte ihn als kriminelles Element verfolgen und verhaften. Er flehte sie mit der Kraft seines Herzens an und beteuerte immer wieder, dass er nicht in die Illegalität abstürzen möchte. Er wolle mit allen Mitteln um die Erlaubnis kämpfen, in der Schweiz leben und arbeiten zu können. Er sei bereit, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm anbiete. Wenn er Geld verdiente, könnte er auch einen finanziellen Beitrag für ihr Zusammenleben leisten, dann müsste sie nicht mehr für ihn aufkommen wie für einen Bettler. Dieser Gedanke überzeugte sie. Mit ihrer Einwilligung zu einer Heirat würde sie einem jungen Menschen aus dem ärmsten Land der Welt die Chance geben, dass er hier arbeiten, sich entwickeln und weiterbilden könnte. Sie hätte einen jungen, schönen, intelligenten Mann an ihrer Seite und wäre nie mehr allein. Sie wäre mit 47 Jahren eine verheiratete Frau mit Hochzeitskleid und Ehering. Ihr Single-Leben wäre ein für alle Mal beendet! Diese Heirat hätte auch eine politische Dimension. Sie würde zu einer „Schweizermacherin“, denn nach fünf Jahren bekäme er nach geltendem Recht den Schweizer Pass. Bangladesh, das ärmste Land der Welt, hätte einen Bürger weniger zu ernähren, das wäre Entwicklungshilfe auf persönlicher Ebene. Sie, ihre alleinstehende Mutter und Aylan bildeten zusammen eine kleine Familie, eine Zelle des privaten Glücks. Selbst wenn diese Ehe aufgrund des Alters- und Kulturunterschiedes nicht ewig dauern würde, so wäre sie doch im Alter lieber eine „geschiedene Frau“ als „än alti Jumpfer“ (eine unverheiratete Frau). „Geschieden“ klingt besser als „ledig geblieben“. Dann wäre sie in der gleichen Situation wie ihre Mutter. Sie geht als geschiedene Frau durchs Leben und leidet nicht darunter.
In der nächsten Nacht stürmte und regnete es. Der Wind löste den Fensterladen, so dass er in regelmässigen Abständen an den Fensterrahmen knallte. Ella konnte nicht einschlafen. Im Rütteln des Fensterladens hörte sie Stimmen, die wirr durcheinander schrien:
Der will dich doch nur ausnutzen! Das ist Prostitution auf höchster Ebene. Der hat eine kriminelle Energie, er will dich hypnotisieren, damit du seinen Willen erfüllst. Dieser schmächtige, feingliedrige Mann hat Macht über dich, merkst du das nicht? Nach fünf Jahren wird er dich verlassen und eine junge Frau heiraten. Dann sind deine Ersparnisse weg und du bist wieder einsam. Vielleicht wird er nie Arbeit finden, und du musst ihn ernähren? Weisst du überhaupt, ob er Drogen nimmt? Vielleicht hat er Aids und wird dich anstecken? Er ist faul. Er hat sein Studium nicht abgeschlossen. Er ging auf die Strasse und hat demonstriert. Er war in seiner Familie das schwarze Schaf. Er wollte nicht in der Textilfabrik arbeiten, die dem Vater gehört und die nach jeder Überschwemmung wieder neu aufgebaut werden muss. Er sass ihm auf der Tasche. Die waren froh, als er endlich ging. Du bist naiv. Merkst du nicht, wie du ins Messer läufst?“
Am anderen Morgen hatte sich der Sturm gelegt, aber auf der Terrasse war die Stehlampe umgestürzt und der Glasschirm in tausend Splitter zerbrochen. Ella wischte die Glasscherben zusammen und dachte „Scherben bringen Glück“. Sie wollte sich die Sache gut überlegen und sowohl ihre Mutter wie auch ihre Freundinnen fragen, was die dazu meinten. Die Meinung anderer Menschen, das Prestige in der Gesellschaft, waren ihr wichtig.
Sie kaufte für Aylan ein Halbtaxabonnement und fuhr mit ihm durch die halbe Schweiz, bis hinauf aufs Jungfraujoch. Er sollte doch, auch wenn er nur noch kurze Zeit in der Schweiz blieb, die Berge sehen! Sie besuchten gemeinsam die Grosstante im Pflegeheim. Sie war begeistert von dem reizenden, jungen Mann und rauchte im Krankenbett mit ihm eine Zigarette. Tante Tina aus Zürich meinte, der Junge sei nicht nur schön, sondern auch smart und begabt. Ella’s Mutter solle ihm Geld geben, damit er sich ein Auto kaufen könne. Ein alter Freund, der lange in Indien gelebt hatte, bemerkte zynisch:
„Diese Leute aus armen Ländern können nicht mit Geld umgehen. Sobald dein Aylan eine eigene Kreditkarte hat, wird er sich bis über beide Ohren verschulden. Diese Flüchtlinge wollen doch hier in unserem Wohlstand nichts anderes tun als konsumieren!“
Ella’s Freundin, die damals schon zwanzig Jahre mit einem Schweizer verheiratet war, riet ihr, den smarten Kerl als Liebhaber zu behalten; eine Ehe töte nur die Leidenschaft.
„Liegt ein Mann jede Nacht neben dir, stört dich am Morgen sein Mundgeruch, und die Lust auf Intimität ist weg!“
„Der ist gar nicht so schön, wie du meinst, der hat ja abstehende Ohren!“, bemerkte die Yoga-Lehrerin argwöhnisch, nachdem sie Aylan zum ersten Mal gesehen hatte.
Ella hörte alle diese Einwände und dachte: „Vielleicht sind diese Frauen nur neidisch und gönnen mir das Eheglück mit einem zwanzig Jahre jüngeren Mann nicht? Darum reden sie so böse.“
Dann hob sie Geld vom Bankkonto ab und begab sich mit Aylan auf Reisen. Von einer alten, jüdischen Deutschprofessorin, die vor den Nazis nach Amerika geflüchtet war, hatte sie einmal 10.000 Franken bekommen, als Notvorrat. Solange die Freundin nicht in die Schweiz kam, durfte Ella, da sie als freischaffende Dramaturgin in Luzern nicht viel Geld verdiente, von dieser Summe, die sie „Poetenkonto“ nannte, zehren. Sobald aber diese Freundin eines Tages in die Schweiz zu Besuch kommen würde, müsste sie ihr die Schulden zurückzahlen. Doch jetzt war die Professorin krank und nicht in der Lage zu fliegen, also konnte sie unbesorgt von diesem Kuchen knabbern. Später, wenn Aylan Geld verdiente, würde sie die Löcher wieder auffüllen können.
Sie begannen, multikulturelle Paare zu besuchen, die bereits verheiratet waren und deren Männer Arbeit gefunden hatten, sei es als Koch, Kellner, Taxifahrer oder Lagerarbeiter. Diese Schweizerinnen, die in der Regel älter waren als ihre bengalischen Ehemänner, schienen glücklich. Nach Jahren der Einsamkeit, nach Scheidung oder Tod des Gatten, blühten sie auf wie vertrocknete Blumen und wurden von innen heraus schön. Waren sie noch jung, bekamen sie Kinder mit milchkaffeebrauner Haut, dunklen Augen und schwarzen Locken. Sie lebten in bescheidenen Wohnungen, die mit Geschenken aus Bangladesh dekoriert waren. Aus den CD-Playern - damals gab es noch kein „you tube“ - klang bengalische Musik. In den Küchen duftete es nach Knoblauch, Kardamom und Ginger. Überall, wo Ella mit Aylan auftauchte, waren Besucher da, gemischte Paare und Geflüchtete, die allein lebten und noch keine Schweizer Freundin gefunden hatten. An freien Wochenenden luden sich die frisch verheirateten Ehepaare mit ihren Kindern aus erster und zweiter Ehe gegenseitig ein. Es wurde gemeinsam gekocht, diskutiert, geraucht und getanzt. Das war für sie der beste Anschauungsunterricht. So würde sie, die Kleintheater-Dramaturgin mit Spielverpflichtung, auch einmal leben, wenn sie sich zu einer Heirat mit Aylan entschliessen könnte.
Marlies, die Schriftstellerin, die im gleichen Haus wohnte wie Ella und sich mit Entwicklungshilfe befasste, war schon oft in Südindien gewesen, in Kalkutta. Das ist eine Region, die ähnliche Probleme hat wie Bangladesh. Marlies lud Ella zum Tee ein und erzählte: „Weisst du, die Menschen, die in diesem Subkontinent leben, sind so arm, dass wir es uns gar nicht vorstellen können. Die haben keine Perspektive, keine Hoffnung. Immer, wenn sie etwas aufgebaut haben, kommt eine Flutwelle, die alles zerstört und Tausende von Menschen tötet. Wenn da ein junger Mann die Chance hat, nach Europa auszuwandern und dort zu heiraten, so bedeutet das für die Familie und das Dorf, aus dem er stammt, das höchste Glück. Den Behörden in Europa erzählen sie oft die absurdesten Geschichten, nur damit sie Asyl bekommen und nicht abgewiesen werden. Kriegsflüchtlinge haben es leichter, die werden aus humanitären Gründen aufgenommen. Aber Armutsflüchtlinge, die ihre Familien zurücklassen in der Hoffnung, dass sie in Europa Arbeit finden und Geld nach Hause schicken können, die brauchen unsere Hilfe, weil sie arm sind. Arm sein heisst: Kein Geld, keine Ausbildung, keine Aussicht auf bezahlte Arbeit, keine reichen Eltern, keine Sozialhilfe vom Staat. Aus reiner Verzweiflung greifen sie zu Notlügen und erfinden Geschichten von Verfolgung und Folter. Deshalb sind sie noch keine Verbrecher. Aber die Voraussetzungen, eines Tages aus Frustration Verbrecher oder Terroristen zu werden, die sind gegeben. Um standhaft zu bleiben gegen die Versuchungen von Korruption, Prostitution, Drogenhandel und Kleinkriminalität braucht es einen starken Charakter. Die Lügen, die sie ausdenken, sind Teil ihrer Persönlichkeit. Sie glauben selbst an diese Geschichten. Sie erfinden für sich eine neue Identität, um zu überleben. Gemessen an der grossen Zahl von Menschen, die nach Europa flüchten, ist der Prozentsatz derjenigen, die kriminelle Handlungen begehen, gering. Auch weisse, reiche Menschen, die in der Schweiz geboren sind, können Verbrecher werden, wenn der Charakter schwach ist. Aber dein Aylan ist ein lieber Kerl! Ich bin ihm schon oft im Treppenhaus begegnet. Er hat mich jedesmal freundlich begrüsst. Hatte ich eine schwere Tasche, half er mir beim Tragen. Gib ihm doch eine Chance Ella, heirate ihn! Es ist doch schön, für jemanden da zu sein. Du hast ja nichts zu verlieren, du kannst nur gewinnen!“
Aylan wartete geduldig. Er wollte Ella nicht drängen. Er bettelte auch nicht um Mitleid. Er gab ihr zu bedenken, dass eine Ehe nichts weiter sei als ein Vertrag, den man auch wieder auflösen könne, wenn es die Umstände verlangten. „Nichts ist für die Ewigkeit, aber im Moment wäre es für uns beide das Beste, wenn wir heiraten könnten.“