Über R.T. Acron

R.T. Acron sind Frank Maria Reifenberg und Christian Tielmann, zwei renommierte Kinder- und Jugendbuchautoren.

 

Frank Maria Reifenberg, 1962 geboren, ist gelernter Buchhändler. Er ist heute freier Autor und verfasst vorwiegend Kinder- und Jugendbücher sowie Drehbücher für Film und Fernsehen.

 

Christian Tielmann wurde 1971 in Wuppertal geboren. Er studierte Philosophie und Deutsch in Freiburg und Hamburg und schreibt seit 1999 Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Über das Buch

PROJEKT KRONOX AKTIVIERT

 

Seit Tagen wacht Paul um Punkt 4:07 mit unerklärlichen Kopfschmerzen auf. Und dann geht er eines Morgens wie ferngesteuert zu dem Boot, an dem er seit Monaten mit Hingabe arbeitet – und steckt es in Brand. Er selbst kann in letzter Sekunde gerettet werden. Ihm fehlt aber jede Erinnerung. Kurz darauf tauchen Snoop, Yesim und Anh auf, die zum exakt gleichen Zeitpunkt ähnlich verstörende Erfahrungen gemacht haben. Alle vier tun plötzlich Dinge, die sie eigentlich nie tun würden, und sie nutzen Fähigkeiten, die sie eigentlich nicht haben. Dabei folgen sie einer Art inneren Stimme, gegen die sich keiner von ihnen wehren kann …

 

Ein aktueller Actionthriller der renommierten Autoren Frank Maria Reifenberg und Christian Tielmann

Impressum

Originalausgabe

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagbild und -gestaltung: Frauke Schneider

 

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eBook-Herstellung: datagrafix … (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43714-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76291-5

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423437141

News Magazine – 24. September 2029

von unserem Hauptstadtkorrespondenten

Till Bergner

Kometenhafter Aufstieg erreicht Höhepunkt – Tilda Blomberg wird Bundeskanzlerin

Berlin. Nur elf Jahre nachdem Umwelt-Aktivisten mit Fridays for Future eine neue Protestbewegung in Gang setzten, wurde heute Morgen ein Gründungsmitglied der daraus hervorgegangenen Partei als Bundeskanzlerin Deutschlands vereidigt. Sie ist mit 33 Jahren die jüngste Frau in diesem Amt. Die FfF-Partei mit Tilda Blomberg an der Spitze hatte bereits in den vorangegangen Wah-len beachtliche Stimmengewinne verzeichnet. Mit ihrer starken Fraktion im Deutschen Bundestag beeinflusste sie maßgeblich die Gesetzgebung hin zu einer konsequent klimafreundlichen Politik. Insbesondere wird Blomberg und ihren Unterstützern zugeschrieben, dass die Klimaziele von Paris, Nagasaki und Singapur doch noch erreicht wurden. Kritik hagelt es dabei vor allem aus der Energiewirtschaft, die den flächendeckenden Einsatz der sogenannten Nanozelle, den Blomberg im Wahlkampf angekündigt hat, als überstürzt und riskant ablehnt. Laut Blomberg stellt die Nanozelle einen Meilenstein in der Verwendung von Wasserstoff als Energiespeicher dar.

Tilda Blomberg, die bereits im Alter von 26 Jahren mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde und angeblich für den Nobelpreis im Gespräch war, war selbst an der nanotechnologischen Grundlagenforschung beteiligt, bevor sie 2025 das erste Mal in den Bundestag einzog. In der heutigen Pressekonferenz versprach die frisch vereidigte Bundeskanzlerin: »Wir werden in vier Jahren die gesamte Stromerzeugung auf die Nanozelle umstellen. Im zweiten Schritt können wir bis 2038 auch den Verkehrssektor transformieren. Wir dürfen uns nichts vormachen, liebe Bürgerinnen und Bürger: Das werden für viele Menschen und Unternehmen auch schmerzhafte Prozesse sein. Wir müssen uns und Teile unserer Gesellschaft ganz neu denken. Meine Regierung wird diesen Umbau so gestalten, dass es keine sozialen Verlierer geben wird. Sicher werden viele ihre gewohnte Arbeit verlieren. Aber sie werden neue Aufgaben bekommen, die vor allem eines sicherstellen: Wir werden auch unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten hinterlassen.«

Führende Vertreter der Wirtschaftsverbände, Sprecher einiger Großunternehmen aus dem Sektor Energie und Verkehr und nicht zuletzt Anton Versmolt, Parteivorsitzender der konservativen Bewegung für Aufrichtigkeit, meldeten starke Zweifel an, dass dies gelingen könne.

4 Jahre später

Schmerz. Unerträglicher Kopfschmerz, der sich von der Stirn über den Schädel bis in den Nacken zieht, weckt Paul Verhoven auch am 14. Juni. Schon wieder. Paul öffnet die Augen vorsichtig.

Draußen dämmert es. Paul will den Wecker gar nicht sehen. Er will die Uhrzeit nicht wissen, im Gegenteil würde er die Zeit am liebsten vergessen. Wie er so vieles vergessen will: den Schmerz, das verkorkste Zeugnis, die Sache mit seiner Mutter und sogar das Datum des heutigen Tages. Vor allem ist es aber dieser pünktlich einsetzende Schmerz, der ihm Angst einjagt. Er schaut nun doch auf den Wecker. 04:07 Uhr.

Exakt um diese Uhrzeit wacht er nun schon seit zwei Wochen mit diesen mörderischen Kopfschmerzen auf, gegen die, wie er inzwischen weiß, keine Tablette hilft. Er fühlt sich seit Wochen jeden Morgen so, als hätte jemand sein Gehirn durch den Fleischwolf gedreht. Paul weiß, dass auch diese Nacht für ihn gelaufen ist. Schlafen wird er nicht mehr. Und das ausgerechnet heute, an seinem 14. Geburtstag.

Wo kommen diese Schmerzen her?, fragt sich Paul. Warum verschwinden sie immer unten am See, wenn er am Boot von Friedrich Luft arbeitet? In der Schule dagegen ist ihm der Schädel einmal fast geplatzt. Aber als er sich krankmelden wollte, meinte die Mathe-Schuster nur, dass solche Manöver ihm auch nichts mehr nutzen würden. Sein Zeugnis sei das schlechteste der Jahrgangstufe. Das einzig Gute an diesem grässlichen Morgen seines 14. Geburtstages ist für Paul, dass es auch der erste Ferientag ist. Drei Monate dauern die Sommerferien nun. Vor zwei Jahren hat die Regierung die Ferienzeit noch einmal verlängert, weil die Schulen in den trockenen, heißen Sommermonaten sowieso wegen Hitzefrei geschlossen blieben.

Aber mit der Schule und dem Druck der Lehrer hat Pauls Vier-Uhr-sieben-Schmerz nichts zu tun, das ahnt Paul schon. Seinem Vater hat er nichts von seinen Befürchtungen erzählt. Auch wenn die Krankheit bei seiner Mutter nicht im Kopf begonnen hat, war sein erster Gedanke, dass die Schmerzen etwas mit einem Tumor zu tun haben könnten.

Seit seine Mutter die Diagnose Krebs bekommen hat, ist selbst Pauls sonst so entspannter Vater nicht mehr cool, wenn es um die Gesundheit geht. Er würde Paul sofort durch sämtliche Geräte der neurologischen Abteilung jagen, auf der seine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat.

Paul will seinen Eltern keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Seine Mutter hat sowieso genug mit sich und sein Vater genug mit seiner Mutter und ihrer Krankheit zu tun. Das Zeugnis, das Paul ihm gestern, am letzten Schultag vor den Sommerferien, vorgelegt hat, war hart genug. Ein bisschen bewundert Paul seinen Vater für die Lässigkeit, mit der er dieses »Katastrophen-Blatt«, wie die Mathe-Schuster es noch nennen musste, als sie es Paul auf den Tisch klatschte, aufgenommen hat. Er hat nur rasch draufgeschaut, Paul über den Kopf gewuschelt und gemurmelt: »Das ist den Umständen geschuldet, Paul.«

Paul schiebt die Decke weg, steht vorsichtig auf, bemüht sich, den Kopf nicht zu stark zu bewegen. Er tastet nach seinen Klamotten und schleicht sich rüber ins Badezimmer. Im Wohnzimmer schnauft Kowalski. Der Rauhaardackel hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Im Badezimmer wirft sich Paul eine Ladung Wasser mit den Händen ins Gesicht. Dann schaut er in den Spiegel und kriegt einen gewaltigen Schreck. Seine Augen sind blutunterlaufen, die Äderchen geplatzt.

»Verdammt, du musst zu einem Arzt«, flüstert Paul seinem Spiegelbild zu. Alles, was er sich in den letzten Wochen eingeredet hat, dass es Migräne oder Stress oder der Druck wegen Mama ist oder doch nur die Schule schuld sein könnte, ist vermutlich Unsinn. Auch wenn er es seinem Vater und seiner Mutter gern ersparen würde: Er hat ein Problem.

Er klatscht sich noch eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und schaut erneut in den Spiegel. Plötzlich ist alles wieder ganz normal: Seine Augen sind klar, der Augapfel weiß. Der Schmerz ist etwas dumpfer. Aber noch da. Also war es doch nur falscher Alarm?

Paul lässt die Haare, wie sie sind, knotet sie einfach nur zu einem Bun in die Höhe und stülpt die Baumwollmütze, die er auch im Sommer fast immer trägt, darüber.

Er schreibt seinem Vater einen Zettel. »Konnte nicht mehr pennen, bringe später Brötchen mit. Paul«

Dann angelt er sich seine Jacke vom Haken, steckt die Schlüssel ein und zieht die Wohnungstür leise ins Schloss.

Bis zum See braucht er mit dem Fahrrad nicht lang. Die Sonne taucht den Morgenhimmel schon in ein hoffnungsvolles Graublau. Die Luft ist klar und Berlins Straßen sind fast menschenleer.

Paul tritt in die Pedale. Alle paar Meter lächeln ihn Politiker von den riesigen Werbe-Displays an. Mal dieser Anton Versmolt, ein älterer Typ, dessen Partei mehr Sicherheit auf Berlins Straße verspricht, mal eine Frau, die den Weltuntergang vorhersagt, und immer wieder Tilda Blomberg, die Bundeskanzlerin.

Tilda ist nicht schlecht, findet Paul. Sie hat dafür gesorgt, dass man nun schon mit 16 wählen darf. Bei dieser Wahl wird er noch nicht sein Kreuzchen machen, aber in zwei Jahren ist es dann so weit. Im Politikunterricht haben sie darüber gesprochen. Je jünger die Wähler, desto mehr Stimmen bekommt Tilda. Die braucht sie, weil diese Wahl darüber entscheiden wird, ob sie mit ihrer Nanozelle, die die Energieprobleme lösen soll, weitermachen kann. Null Emissionen, null Luftverschmutzung, das sind ihre Versprechen. Hoffentlich schafft sie es, denkt Paul und übersieht fast den weißen Lieferwagen, der ihm den Weg abschneidet.

»Alter!«, schreit Paul, aber der Typ ist schon um die nächste Ecke verschwunden.

Als Paul am See ankommt, atmet er auf. Die Kopfschmerzen lassen langsam nach. Paul wird den alten Fritz oben in der Villa nicht wecken, sondern gleich hinunter zum Bootshaus gehen. Die Kajüte der Giselle muss noch ihren letzten Schliff und dann den ersten Anstrich bekommen. Seit Wochen hat Paul jede freie Minute in dieses schmale, elegante Segelboot gesteckt. Plus einiger Stunden, die er eigentlich in der Schule hätte sein sollen.

Aber er lernt bei Friedrich Luft viel mehr als bei all den Lehrern, die ihm Zeug eintrichtern wollen, das ihn nicht interessiert. Fritz ist vor seiner Pensionierung vor 20 Jahren selbst Lehrer gewesen. Aber ein anderer.

»Wenn du deine Hände beschäftigst«, sagt Fritz immer, »läuft es in deiner Birne wie geschmiert. Den ganzen Gedankensalat, der dich ablenkt, leitest du in die schmirgelnde Hand. Dein Kopf ist frei.«

Paul bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn er daran denkt, dass sein Vater Friedrich Luft Geld für Nachhilfe in Latein und Mathe zahlt. Dabei lernt Paul hier keine einzige Vokabel. Er verbringt ja nur die Stunden damit, den alten Lack von der Kajüte dieses Bootes zu kratzen.

Paul genießt noch ein paar Augenblicke die Aussicht auf die spiegelglatte Oberfläche des Müggelsees, dann zieht er sich aus und springt kopfüber ins Wasser. Die Schmerzen scheinen am Ufer zu bleiben.

Ein Hauch von Glück, ein Schimmer von Geburtstag durchströmen Paul. 14 und schmerzfrei. So einfach kann es sein, wenn das Leben für einen Augenblick schön ist. Paul will es auskosten, er schwimmt, taucht ab und versucht, seinen Rekord zu brechen. Zug um Zug taucht er, das Wasser ist heute sehr klar. Die Strecke bis zu der Holzplattform wird er nicht komplett schaffen, aber wenn er in diesen Ferien jeden Tag hierherkommt, wird es irgendwann klappen. Immerhin, bis zu der im schlammigen Boden des Sees steckenden Tonne schafft er es dieses Mal. Nach Luft japsend taucht er auf, atmet ein paarmal durch und schwimmt auf dem Rücken liegend zurück. Am Bootshaus trocknet er sich mit einem schmuddeligen Handtuch ab. Gleich ein bisschen schleifen. Dann zurück, um 6:30 Uhr die Brötchen holen und seinen Vater wecken. Drei Monate Sommerferien liegen vor ihm und die Kopfschmerzen will er einfach jeden Morgen im See ertränken.

Doch in diesem Augenblick schlägt er wieder zu. Der Schmerz. Schlimmer als je zuvor. Paul drückt sich die Handballen auf die Augen, aber der Terror in seinem Kopf ist nicht mehr zu bändigen. Und dann passiert etwas Neues. Etwas, was Paul noch nie erlebt hat. Er sieht, fühlt, denkt Zahlen:

52° 260″ N 13° 390″ E 33U 408221 5810094 32,3 m 7,433 km² 4,3 km 2,6 km 36.560.000 m³ 7,7 m 4,9 m 52° 260″ N 13° 390″ E 33U 408221 5810094 32,3 m 7,433 km²

Die grünstichigen Zahlenreihen schieben sich in sein Gesichtsfeld. Als flimmerten sie über einen Monitor, der sich direkt in seinem Gehirn befindet, hinter den Augen. Pauls Herzschlag beschleunigt sich, sein Puls rast. Verliert er gerade den Verstand? Ist das ein Anfall? Ein Hirntumor? Wo kommt das her?

4,3 km 2,6 km 36.560.000 m³ 7,7 m 4,9 m 52° 260″ N 13° 390″ E 33U 408221 5810094 32,3 m 7,433 km² 4,3 km 2,6 km 36.560.000 m³ 7,7 m 4,9 m 52° 260″ N 13° 390″ E 33U 408221 5810094 32,3 m

Hinter den grünen Zahlenreihen erkennt er nur noch grauschwarz verschleiert seine Umgebung. Paul will nur noch, dass es aufhört.

Paul krümmt sich. Er wimmert: »Aufhören. Bitte, bitte, lass es aufhören!«, fleht er. Und spürt, dass er am ganzen Körper zittert.

Er nimmt den Kopf in die Hände, massiert die Schläfen. Das bringt nichts. Die Augen. Was ist nur mit den Augen los? Er berührt ganz vorsichtig die geschlossenen Lider. Es ist, als würde eine gigantische Welle, ein Tsunami sein Gehirn fluten und alles durcheinanderwirbeln.

So plötzlich, wie es kam, ist es vorbei. Die Zahlen sind weg. Der Schmerz wie ausgeschaltet.

Paul atmet auf und nimmt die Hände vom Gesicht. Er wischt sich über die Augen. An seinen Fingern entdeckt er Blut. Blut, das aus seinen Augen kommen muss.

Paul spürt in sich hinein. Etwas fehlt ihm. Ein Gefühl. Erst kommt er nicht drauf, aber dann versteht er es: Er hat keine Angst mehr. Das ist merkwürdig. Er hatte eben noch Panik wegen der Kopfschmerzen, der Uhrzeit, der merkwürdigen Zahlen bei diesem Anfall, und jetzt ist er auf einmal die Ruhe selbst, obwohl seine Augen bluten! Paul versteht es nicht, aber auch das ist ihm plötzlich völlig gleichgültig.

Sein Mund ist trocken, die Zunge pelzig, ein modriger Geschmack macht sich breit. Wasser. Im Bootshaus steht ein Kühlschrank, meistens gut gefüllt mit Mineralwasser, Limonade und Weißwein, den Friedrich Luft gerne trinkt. Paul will nur ins Bootshaus. Sofort.

Er tastet nach dem Schlüssel auf dem Türsturz. Ein mieses Versteck, denkt Paul, aber jetzt ist er froh, dass der Schlüssel dort liegt. Als Paul die Tür öffnet, ist der Durst plötzlich verschwunden. Er steht im Dunkel der Hütte, die Fensterläden sind noch verschlossen. Was wollte ich hier?, fragt sich Paul. Wie komme ich hierher? Ein stechender Geruch zieht ihm in die Nase. Er schnuppert, dann merkt er, dass er ein paar von den mit Terpentin und Farbresten versetzten Lappen in der einen Hand hält. Paul erinnert sich noch daran, wie oft Fritz ihn ermahnt hat, er solle diese Lappen nicht mit in die Hütte nehmen.

»Sie sind so leicht entzündbar«, hört Paul Friedrich Lufts Stimme und sieht das Feuerzeug in seiner anderen Hand.

Die Dunkelheit tut gut. Ein tiefes, undurchdringbares Schwarz umgibt Paul. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, das ist gut, aber stattdessen scheint sein Inneres mit Watte gefüllt zu sein, vom Scheitel bis zur Sohle ein weiches, pludriges Gefühl. Nicht darüber nachdenken, sagt sich Paul, halt es fest. Was für ein wunderbarer Zustand, keine Zeit, kein Raum, keine Kopfschmerzen. Für einen Herzschlag lang glaubt Paul, dass diese Fragen nicht mehr wichtig sind. Stirbt er gerade? Oder ist er schon tot? Aber nein, das kann nicht sein, denn er spürt genau diesen Herzschlag.

Er kann nichts sehen. Er wird die Dunkelheit nicht mehr los. Aber da tauchen die Zahlen wieder auf. Die grün flimmernden Zahlen. Er kann sie jetzt entschlüsseln, es ist ganz einfach: Es sind Koordinaten, die die Position eines Ortes bestimmen. Der Ort ist der Große Müggelsee. Knapp 22 Kilometer vom Berliner Alexanderplatz entfernt, 1600 sind es bis zum Kreml in Moskau, 900 bis zum Eiffelturm in Paris. Die grünen Zahlen liefern ihm die genaue Position des Müggelsees:

World Geodetic System 52° 260″ N 13° 390″ E Universal Transverse Mercator 33U 408221 5810094 Höhe über Meeresspiegel 32,3 m über NHN-Fläche 7,433 km² Länge 4,3 km Breite max. 2,6 km Volumen 36.560.000 m³ maximale Tiefe 7,7 mittlere Tiefe 4,9 m

Wenn das sein Erdkundelehrer wüsste, denkt Paul, weil er sich für Erdkunde zumindest in der Schule nicht die Bohne interessiert.

Mit der Erinnerung an den Müggelsee baut sich aber auch der Rest der Ereignisse wieder in seinem Gedächtnis zusammen. Mit einem Schlag kommen die Bilder zurück und peitschen seinen Puls in die Höhe. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Was ist passiert?

Feuer, es war ein Feuer! Und Wasser. Er war unter Wasser. Er spürt, wie es in ihn dringt, ihn im wahrsten Sinn abfüllt. Was er gerade noch wattig und weich in sich fühlte, ist jetzt eine kalte, brackige Flut. Die Luft wird knapp, er wird sterben. Er kann nicht mehr atmen. Das Wasser, das kalte Wasser drückt ihm die Brust zusammen. Über sich sieht er den Schein eines Feuers. Und doch ist er versunken im kalten Wasser. Niemand kann ihn hören. Niemand kann ihn retten. Pauls Puls rast. In blanker Panik versucht er, aus der Dunkelheit der Erinnerung zu entkommen.

»Paul?«, holt ihn eine Stimme aus seiner Welt.

Paul, das ist er. Sein Name. Wo ist er? Er ist nicht im Wasser. Aber er hat diese Panik. Er wird ersticken. Er kann nicht mehr atmen.

Ein hektisches Piepsen gesellt sich zu den grünen Ziffern und Buchstaben in seinem Kopf und bringt alles durcheinander.

»Zur Seite«, befiehlt eine zweite Stimme.

Jemand fummelt an Pauls Arm. Er spürt den Latex der Handschuhe. In seiner Armbeuge steckt ein Zugang, über den etwas in seine Vene gepumpt wird.

»Wir haben ihn«, sagt jemand und wiederholt diese Worte mehrmals.

Paul wird langsam klar, wo er sich befindet. Er weiß auch, wer nun seine Hand hält und immer wieder flüstert: »Junge, mein Junge. Es wird alles gut.« Das ist die Stimme seines Vaters.

Das ist gut, denkt Paul. Papa ist da. Und er klingt nicht panisch.

Langsam ordnet sich der Wirrwarr in seinem Kopf ein bisschen. Wahrscheinlich liegt er in der Charité, dem größten Krankenhaus von Berlin. Vor ihrer Diagnose arbeitete seine Mutter dort in der neurologischen Klinik, schob den ganzen Tag lang Patienten in die Hightech-Geräte, die das Gehirn in ultragenaue Bilder zerlegen, scannen, scheibchenweise, nichts bleibt verborgen. Auch die geringste Abweichung in der Struktur der Windungen dort oben im Kopf entdecken diese mit Magnetwellen arbeitenden Monster.

»Ich kann mir den plötzlichen Aussetzer nicht erklären, Herr Verhoven«, sagt die Stimme und jetzt erkennt Paul, wer das ist. Mamas Chef, Professor Krieglstein. »Er hat keinerlei Verletzungen, die diesen Zustand erklären könnten. Was wir aber ausschließen können, ist ein Tumor. Den hätten wir im Scan gesehen.«

Paul hört seinen Vater aufatmen. Kein Tumor. Kein Krebs. Nicht noch ein Krebs.

»Ihr Sohn ist hier in besten Händen. Ich kümmere mich um alles persönlich«, sagt Krieglstein. »Sie können jetzt nichts für ihn tun. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Sie sitzen seit vorgestern hier.«

»Danke, Professor Krieglstein. Sie haben absolut recht, aber …«

»Kein Aber, Herr Verhoven.«

Paul hat Professor Dr. Martin Krieglstein schon oft gesehen. Als kleiner Knirps hat der Spezialist für Neurochirurgie Paul mit dem Modell eines Gehirns spielen lassen, wenn Paul nach der Schule seine Mutter abholen kam und sie mal wieder bei einem Patienten festhing. Andere fanden das eklig, aber Paul nicht. Was sollte daran eklig sein? Plastik, bunt eingefärbt. Der Professor hatte ihm die einzelnen Bereiche gezeigt: das Seh- und das Sprachzentrum, den Bereich, der wichtig ist, um Worte zu formen, und wo das Sozialverhalten gesteuert wird. Er hatte ihm erklärt, wo der Fehler liegt, wenn jemand sein Kurzzeitgedächtnis verliert. Und was bei einem Schlaganfall passiert. Wenn Paul ihn später auf seine Forschungen ansprach, dann hörte Krieglstein gar nicht mehr auf zu reden: Er galt als einer der Revolutionäre der Neurologie, hatte im Team von Nobelpreisträgern mitgeforscht und es endlich geschafft, das Neuronenfeuerwerk im Nervensystem so genau zu entschlüsseln wie keiner vor ihm. »Vor den Entdeckungen von 2021 war alles, was wir über das Denken und Fühlen wussten, wie eine grobe Landkarte von Hirnarealen. Wir hatten vor lauter Kartierung übersehen, dass wir es mit einem System zu tun haben, einem Netz. Aber jetzt reden wir von Codes. Codes des Fühlens, Codes des Lernens, dem Code der Anpassung an eine Aufgabe.« Wenn Krieglstein einmal in Fahrt kam, war er schwer zu stoppen.

»Wenn er stabil ist, scannen wir sein Gehirn noch einmal. Das eben war nur ein kleiner Aussetzer«, sagt der Professor.

Ein kleiner Aussetzer?, fragt sich Paul. Er hat das Gefühl, dass es mehr als ein Aussetzer ist. Warum kann er die Augen nicht öffnen, obwohl er es will? Und warum bringt er keinen Ton hervor? Er weiß zwar, welcher Teil in seinem Gehirn dafür zuständig ist, aber er kann ihn nicht aktivieren.

»Wir legen ihn jetzt für achtundvierzig Stunden in ein künstliches Koma und dann sehen wir weiter«, sagt der Professor.

Nein. Nicht. Im Gegenteil! Ich will aufwachen. Aber Pauls Rufe hallen nur in seinem Kopf und er verliert eine Sekunde später das Bewusstsein.

Paul lehnt sich an die Liege mit dem rissigen Lederpolster in Professor Krieglsteins Zimmer.

Der Professor steht vor ihm. Er hat Paul noch einmal durchgecheckt und schüttelt jetzt nachdenklich den Kopf. »Wir haben dich zwei Tage im künstlichen Koma gehalten und alles durchgecheckt. Du bist kerngesund, Junge. Aber es gibt da Auffälligkeiten.« Er zögert, schaut Paul mit einem durchdringenden Blick an. »Paul, du solltest offen reden. Verschweige mir nichts. Nichts, was du mir hier sagst, dringt aus diesem Raum, auch nicht zu deinen Eltern. Ich weiß, wie es deiner Mutter geht. Ich kenne euch ja gut. Die ärztliche Schweigepflicht gilt auch für unser Gespräch. Also starke Kopfschmerzen hattest du.«

Halt den Mund, sagt Paul ein Gefühl, aber er nickt.

Krieglstein fragt nach dem Ort der Schmerzen. Der Häufigkeit. Da sie verschwunden zu sein scheinen, fällt ihm nicht viel mehr ein, als ein Migränemittel aufzuschreiben. »Nur für alle Fälle.«

Er sieht Paul wieder ernst an. »Sonst noch was?«

Die blutenden Augen verschweigt Paul, er kann sich selbst nicht mehr richtig erinnern. Hat er das erlebt? Oder hat er das geträumt? Wenn er von den Zahlen erzählt, landet er bestimmt in der Psychiatrie. Da will Paul nicht hin. Er hat Ferien. Also hält er lieber die Klappe.

Der Professor geht zu seinem Schreibtisch, auf dem drei riesige Monitore stehen. Sie zeigen Pauls Gehirn in zigtausend Schnitten und Darstellungen.

»Ich gebe es ungern zu, aber das ist mir alles ein Rätsel, was ich hier sehe«, sagt der Professor. »Was ist an deinem Geburtstag in diesem Bootshaus passiert? Dein Vater sagt, dass du da Nachhilfestunden nimmst. Aber nicht so früh am Morgen, oder?«

Paul zuckt mit den Schultern. »Da draußen am See hatte ich keine Kopfschmerzen mehr. Ich war schwimmen. Das tat gut.«

»Was ist dann passiert?«, fragt der Professor, wendet sich aber, ohne auf eine Antwort zu warten, den Monitoren zu und tippt etwas in die Tastatur des Computers. Die Bilder verschwinden und bauen sich neu auf. »Schau es dir an. Den Unterschied erkennt selbst ein Laie.«

Das stimmt. Das erste und das dritte Bild sehen zum Verwechseln ähnlich aus. Auf dem mittleren fallen Paul sofort die dunklen Flecken auf.

Der Professor nimmt das Modell des menschlichen Gehirns von seinem Schreibtisch und hält es Paul hin. »Weißt du noch, wie wir das auseinandergenommen haben damals? Da warst du acht oder neun Jahre, stimmt’s?« Mit hastigen Griffen öffnet er das Plastikgewirr, nimmt den roten, den gelben und den violetten Teil heraus und wirft sie neben Paul auf die Liege. »Das alles ist auf dem mittleren Bild weg, tot, unwiederbringlich verloren.« Er tippt auf das rote Stück Plastik. »Der Stirnlappen …«

»Lobus frontalis«, murmelt Paul. Es ist der lateinische Name für diese Hirnregion. Paul hat keinen blassen Schimmer, woher er das weiß.

Der Professor schaut ihn überrascht an. »Ich bin beeindruckt. Habe ich dir das damals gesagt? Du scheinst ein gutes Gedächtnis zu haben, was mich sehr wundert, denn der dafür zuständige Teil ist ebenfalls einer dieser schwarzen Flecken. Genau wie der Scheitellappen und der Hinterhauptlappen. Du müsstest ein völlig gestörter Zombie sein, der nichts mehr sieht und spürt, aber einen Tag später ist alles wieder in bester Ordnung. Es gibt absolut keine Erklärung dafür.«

Paul schaut den Professor fragend an. Er hat auch keine.

»Ich frag einfach mal ganz direkt, Paul: Hast du Drogen genommen, mit irgendeinem chemischen Zeugs experimentiert? Wir haben in der letzten Zeit oft Fälle …«

»Nein, Professor, ganz sicher nicht.« Paul isst kein Fleisch, überhaupt keine tierischen Produkte. Er zieht nur gebrauchte Klamotten an, steigt in kein Flugzeug und Plastik benutzt er nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Er würde sich niemals irgendein chemisches Zeug reinziehen.

»Das Bootshaus ist bis auf die letzten Holzstümpfe abgebrannt. Die Polizei hat Spuren von allen möglichen Chemikalien gefunden. Was hast du dort gemacht?«

Es hilft nichts, er muss zumindest dem Professor die Wahrheit sagen. »Ich restauriere mit Herrn Luft, dem das Bootshaus gehört, ein Segelboot, die Giselle.« Erst jetzt wird ihm klar, dass die Giselle der Vergangenheit angehört, wenn das Bootshaus wirklich komplett abgebrannt ist.

Der Professor nickt plötzlich sehr wissend. »Jetzt verstehe ich.«

»Was?«, fragt Paul.

Der Professor mustert Paul. Er nickt wieder und sagt dann: »Deshalb hat man dich auf dem See treibend gefunden. Du hast das Boot irgendwie hinaus aufs offene Wasser bugsiert und dann die Besinnung verloren.«

Paul stößt einen Seufzer aus. Die Erinnerungen kündigen sich an. Er sieht sich in der Hütte, das Feuerzeug in seinen Fingern, die stinkenden Lappen mit dem Lösungsmittel, feuergefährlich, leicht entzündbar. Er beginnt zu zittern, umfasst das eine Handgelenk mit der anderen Hand, um das Zittern zu unterdrücken. Es wird nur schlimmer, sein rechter Arm fährt über den Tisch des Professors, fegt das Modell des Gehirns samt den dort liegenden Einzelteilen auf den Boden.

Als schlösse jemand ein geheimes Türchen auf, öffnet sich die Erinnerung an den Morgen seines Geburtstags: das Bootshaus, die Lappen, das Feuerzeug.

Die Flamme.

Pauls eigene Hand. Sie hält die Flamme des Feuerzeugs an die Lappen, die sofort zu brennen beginnen.

Der Professor gibt Paul das Rezept für die Migränemittel. »Das wird gegen die Schmerzen helfen, denke ich. In zwei Monaten will ich dich hier wieder sehen, dann scannen wir dich noch einmal durch«, sagt Krieglstein. »Ich hab das auch schon mit deinem Vater besprochen. Wenn du wieder so einen Aussetzer hast, dann kommst du sofort.«

»Logisch«, sagt Paul und er meint es sogar ernst. Er hat längst kapiert, dass er Hilfe braucht.

Warum habe ich die Hütte angezündet? Er kann diesen Gedanken kaum bändigen. Mit Absicht angezündet?

Bevor Paul das Zimmer von Professor Krieglstein verlässt, hält der Arzt ihn noch einmal zurück. »Dein Vater kennt nur …«, er zögert, »… nur die guten Bilder. Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Vielleicht tust du es besser auch nicht.«

Paul nickt.

Er hat den Knauf der gepolsterten Tür, die verhindert, dass Patientengespräche nach draußen dringen, schon in der Hand, als der Professor fragt: »Wie hieß der Besitzer des Bootshauses noch? Luft? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja. Friedrich Luft. Warum?«

»Ach, nichts. Ich dachte, der Name käme mir bekannt vor. Mach es gut, Paul.«

Paul geht, vorbei an der Vorzimmerdame, die noch genauso aussieht wie vor sechs Jahren, als er das letzte Mal hier war. An ihren Namen erinnert er sich nicht mehr, aber sie hat ihm damals bei jedem Besuch ein kleines Spielzeugtier aus Plastik geschenkt. Die Schale steht immer noch auf ihrem Tisch, aber jetzt ist sie gefüllt mit Glasmurmeln.

»Auch große Jungs dürfen sich eine nehmen.« Sie deutet auf die Schale.

Ihr Lächeln macht einem immer noch ein warmes Gefühl im Bauch. Paul nimmt sich eine der Kugeln mit blauen und grünen Schlieren darin. Er hat sich schon immer gefragt, wie dieses Muster in die Murmeln kommt.

»Frau Korbin, könnte ich wohl einen Kaffee bekommen?«, schallt die Stimme des Professors durch die noch offen stehende Tür.

»Selbstverständlich«, ruft Frau Korbin und geht in einen kleinen Nebenraum, wo sie mit Geschirr herumklappert.

Paul zögert einen Augenblick. Nebenan hört er Professor Krieglstein, der jetzt aufgeregt ins Telefon spricht. »Hallo, Herr Mantz, hier ist Krieglstein. Rufen Sie mich bitte schleunigst zurück. Es ist dringend. Der Junge gefällt mir nicht, verdammt noch mal, ganz und gar nicht. Ich dachte, die ganze Sache sei ausgestanden nach über zehn Jahren und jetzt das. Rufen Sie umgehend zurück, wenn Sie meine Nachricht hören. Egal, zu welcher Uhrzeit.«

»Du bist ja immer noch da?«

Paul zuckt zusammen. Vor ihm steht Frau Korbin mit einem Tablett. Eine Tasse Kaffee, ein Milchkännchen, zwei Stücke Zucker und ein Keks mit Schokostücken. »Das sollte den Chef beruhigen«, sagt die Sekretärin. »Er hat schrecklich viel zu tun und nimmt sich das Schicksal jedes Patienten so sehr zu Herzen.«

Paul nickt. Er betritt das Wartezimmer der Station, um seine Jacke zu holen.

Ein ziemlich verpennter Typ mit Stoppelhaarfrisur, ungefähr in Pauls Alter, sitzt dort und quatscht auf ein asiatisches Mädchen ein, das mit jeder Faser seines Körpers demonstriert, dass der Typ nervt.

Das schwarzhaarige Mädchen daneben kriegt unter seinem fetten Kopfhörern nichts davon mit. Es hackt auf einem Laptop herum, als Frau Korbin es vorsichtig an der Schulter berührt.

»Yeşim Üstünel?«

Sie erschrickt und schaut die Frau vorwurfsvoll an.