Über das Buch

Die Fabulous Fifties in England – in den zehn Jahren seit Kriegsende hat sich vieles verändert, die Gesellschaft ist im Umbruch, lieb gewonnene Traditionen verlieren an Bedeutung. Auch die Familie Cazalet kann nicht an Altbewährtem festhalten. Den Tod der geliebten Matriarchin Duchy empfinden alle als Einschnitt; ohne sie ist der Familiensitz Home Place nicht mehr derselbe. Mit den Herausforderungen der neuen Zeit gehen die Familienmitglieder höchst unterschiedlich um: Während die drei Cousinen Louise, Polly und Clary längst eigene Wege gehen, auch wenn nicht nur ein Traum an der Realität zerschellt ist, haben ihre Väter dem drohenden Bankrott des einst florierenden Holzunternehmens wenig entgegenzusetzen. Doch wie so oft in stürmischen Zeiten besinnen sich die Cazalets trotz mancher Differenzen auch jetzt auf ihre alte Stärke: den familiären Zusammenhalt.

Im fünften und letzten Band der ›Chronik der Familie Cazalet‹, der erstmals auf Deutsch erscheint, spürt Elizabeth Jane Howard den Auswirkungen nach, die gesellschaftliche Umbrüche auf das Leben der einzelnen Menschen haben – und ergründet feinfühlig, was es heißt, eine Familie zu sein.

WAS BISHER GESCHAH

Die folgende Vorgeschichte dieses Romans ist für Leserinnen und Leser gedacht, die mit den vier vorhergehenden Bänden der Cazalet-Chronik – Die Jahre der Leichtigkeit, Die Zeit des Wartens, Die stürmischen Jahre und Am Wendepunkt – nicht vertraut sind.

Ab dem Sommer 1945 führten William und Kitty Cazalet, von der Familie »der Brig« und »die Duchy« genannt, ein ruhiges Leben in Home Place, dem Familienlandsitz in Sussex. Der Brig starb 1946 an einer Lungenentzündung, doch die Duchy wohnt nach wie vor dort. Sie ist nicht allein. Sie und ihr Mann hatten vier Kinder: eine ledige Tochter namens Rachel und drei Söhne, die alle im Holzunternehmen der Familie arbeiten. Hugh ist Witwer, allerdings trauert er nicht mehr um seine erste Frau Sybil, mit der er drei Kinder hatte – Polly, Simon und Wills –, denn mittlerweile hat er Jemima Leaf geheiratet, die bei Cazalets’, der Firma der Familie, arbeitete. Edward hat sich von seiner Frau Villy getrennt und überlegt, seine Geliebte Diana zu heiraten, mit der er zwei Kinder hat. Rupert, der während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich als vermisst galt, ist zurückgekehrt zu seiner Frau Zoë, zu Clary und Neville – den Kindern mit seiner ersten Frau Isobel, die bei Nevilles Geburt gestorben ist – und zu Juliet, der gemeinsamen Tochter, die Zoë 1940, nach seinem Verschwinden, bekam. Nach schwierigen Anfängen ist es den beiden gelungen, wieder als Paar zusammenzufinden.

Edward hat Villy ein Haus gekauft, wo sie mit Roland, ihrem jüngsten Sohn, lebt, wenn auch unglücklich. Außerdem hat sie Miss Milliment bei sich aufgenommen, die betagte ehemalige Hauslehrerin der Familie. Villys Schwester Jessica und ihr Mann Raymond haben von einer alten Tante Geld geerbt. Ihr Sohn Christopher, Pazifist und Vegetarier, ist Mönch geworden.

Edwards und Villys Tochter Louise wollte Schauspielerin werden, hatte allerdings mit neunzehn geheiratet. Dann verließ sie ihren Mann, den Porträtmaler Michael Hadleigh, und auch ihren kleinen Sohn Sebastian. Ihr Bruder Teddy heiratete während seiner Ausbildung bei der Royal Air Force in Arizona eine Amerikanerin, Bernadine Heavens, und brachte sie nach England mit, doch konnte sie sich dort nicht einleben, verließ ihn nach wenigen Jahren und kehrte nach Amerika zurück.

Polly und Clary leben zusammen in London, wo Polly für einen Innenarchitekten und Clary für einen Literaturagenten arbeitete. Durch ihre Arbeit lernte Polly Gerald Lisle, Earl of Fakenham, kennen und besuchte seinen Familiensitz, der renoviert werden muss. Aus Geldmangel konnten keine Arbeiten vorgenommen werden, doch dann entdeckte Polly im Haus eine große Anzahl von Aquarellen J. M. W. Turners, von denen einige die Kosten der Renovierung decken könnten. Polly und Gerald sind verheiratet.

Clary hatte eine unglückliche Affäre mit dem Betreiber der Literaturagentur. Sie fühlte sich schon immer zum Schreiben hingezogen und hat mit dem Zuspruch Archie Lestranges, eines langjährigen Freunds ihres Vaters, ihren ersten Roman fertiggestellt. All die Jahre betrachtete sie Archie als väterlichen Freund, im Lauf der Zeit aber sind die beiden sich immer näher gekommen, und schließlich verliebten sie sich ineinander. Es hat den Eindruck, dass sie heiraten werden.

Rachel lebt für andere Menschen, was ihre sehr gute Freundin und jetzt Geliebte Margot Sidney, genannt Sid, eine Geigenlehrerin, oft sehr schwierig findet. So schwierig, dass sie eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Als Rachel das herausfand, begann eine Phase der Entfremdung, aber mittlerweile sind sie wieder glücklich vereint.

Die neue Zeit setzt neun Jahre später ein, 1956.

ERSTER TEIL

JUNI 1956

RACHEL

Nicht mehr lange.«

»Duchy, meine Liebe!«

»Ich bin ganz ruhig.« Einen Moment schloss sie die Augen. Das Sprechen – wie alles andere – fiel ihr schwer. Nach einer Pause sagte sie: »Schließlich habe ich die Zeit überschritten, die Mr. Housman uns zugesteht. Um zwanzig Jahre! ›Der schönste aller Bäume‹ – da war ich nie seiner Meinung.« Sie blickte in das zerquälte Gesicht ihrer Tochter – blass, dunkle Ringe unter den Augen vom Schlafmangel, der Mund verkniffen vor Anstrengung, nicht zu weinen – und hob mit unendlicher Mühe die Hand vom Laken. »Rachel, meine Liebe, du darfst nicht so betrübt sein. Das macht mich unglücklich.«

Rachel umfasste die zitternde, knochige Hand mit ihren beiden Händen. Nein, sie durfte ihr keinen Kummer bereiten, das wäre wirklich sehr egoistisch. Der von Leberflecken übersäte Arm ihrer Mutter war so dünn, dass ihr das goldene Uhrenband ums Handgelenk schlackerte, mit dem Ziffernblatt nach unten; ihr Ehering war halb über den Fingerknöchel gerutscht. »Für welchen Baum würdest du dich denn entscheiden?«

»Eine gute Frage. Lass mich überlegen.«

Sie beobachtete das Gesicht ihrer Mutter, plötzlich belebt ob der Fülle, die zur Wahl stand – die Entscheidung war eine ernsthafte Angelegenheit …

»Mimosen«, sagte die Duchy unvermittelt. »Der himmlische Duft! Aber bei mir sind sie nie gediehen.« Sie fuhr mit der Hand unruhig über die Zudecke und knetete sie nervös. »Jetzt gibt es niemanden mehr, der mich Kitty nennt. Du kannst dir nicht vorstellen …« Plötzlich würgte es sie, sie versuchte zu husten.

»Ich gebe dir einen Schluck zu trinken, meine Liebe.« Aber die Wasserkaraffe war leer. Im Bad entdeckte Rachel eine Flasche Malvern Water, und als sie damit zurückkehrte, war ihre Mutter tot.

Sie lag noch in derselben Position, gestützt auf die quadratischen Kissen, die sie ihr Leben lang bevorzugt hatte. Eine Hand ruhte auf der Bettdecke, die andere umfasste den Haarzopf, den Rachel ihr jeden Morgen flocht. Ihre Augen standen offen, doch die freimütige, direkte Aufrichtigkeit, die immer in ihrem Blick gelegen hatte, war verschwunden. Sie starrte ins Leere.

Fassungslos und ohne nachzudenken legte Rachel die erhobene Hand vorsichtig neben die andere. Mit einem Finger schloss sie ihrer Mutter die Augen, beugte sich vor und küsste die kühle weiße Stirn. Dann stand sie wie erstarrt da, unzusammenhängende Gedanken stürzten über sie herein. Es war, als wäre plötzlich eine Schleuse geöffnet. Kindheitserinnerungen. »Es gibt keine Notlügen, Rachel. Eine Lüge ist eine Lüge, und lügen darfst du nie.« Als Edward, in seinem Gitterbett stehend, sie angespuckt hatte: »Rachel, Petzern höre ich nicht zu.« Aber ihr Bruder wurde ermahnt und tat es nie wieder. Die Abgeklärtheit der Duchy, die durch nichts zu erschüttern war – bis auf ein einziges Mal, nachdem sie Hugh und Edward, damals achtzehn beziehungsweise siebzehn, zum Zug nach Frankreich begleitet hatte; gefasst hatte sie gelächelt, bis die Lokomotive langsam zur Victoria Station hinausfuhr. Dann hatte sie sich abgewandt und das kleine Spitzentaschentuch, das immer in ihrem Uhrenarmband steckte, herausgeholt. »Sie sind doch noch Jungen!« An der Innenseite dieses Handgelenks hatte sie einen kleinen, aber nicht zu übersehenden Leberfleck, und Rachel wusste noch, dass sie sich gefragt hatte, ob ihre Mutter das Taschentuch wohl genau dort aufbewahrte, um den Fleck zu verbergen, und dann, wie sie auf einen derart leichtfertigen Gedanken kommen konnte. Die Duchy weinte sehr wohl, allerdings vor Lachen: über die Possen Ruperts, der von klein auf jeden zum Lachen gebracht hatte, über Ruperts Kinder, allen voran Neville, über Menschen, die sie als aufgeblasen bezeichnete. Dann liefen ihr Tränen über die Wangen. Aber auch bei makabren viktorianischen Reimen: »Knabe – Waffe: wie er lacht! Und dann hat es ›peng‹ gemacht. Waffe rot, Knabe tot«, und bei schwarzem Humor: »Papa, Papa, was ist der rote Haufen da unter dem Bus?« »Sei still, mein Junge, das ist deine Mama, gib ihr noch einen Kuss.« Und Musik rührte sie ebenfalls zu Tränen. Sie war eine erstaunlich gute Pianistin, die häufiger mit Myra Hess im Duett spielte, und hatte Toscanini und dessen Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien geliebt. Schlichtes Essen war ihr ein Gebot (man gab nicht Butter und gleichzeitig Marmelade auf den Frühstückstoast; Mahlzeiten bestanden aus einem Braten, der zuerst heiß, dann kalt und schließlich mit gekochtem Gemüse als Haschee gegessen wurde, und einmal die Woche aus gedünstetem Fisch, gefolgt von Obstkompott und Blancmanger, das sie »Mandelsulz« nannte, oder Reispudding), und sie führte ein zurückgezogenes Leben, in dem neben Musik auch der Garten eine große Rolle spielte; darin zu arbeiten bereitete ihr sehr viel Freude. Sie hatte großblütige Duftveilchen im Frühbeet, aber auch Landnelken, dunkelrote Rosen, Lavendel und alles, das süß duftete, außerdem baute sie Obst in Hülle und Fülle an: gelbe und rote Himbeeren, Tomaten, Nektarinen, Pfirsiche, Weintrauben, Melonen, Erdbeeren, riesige rote Stachelbeeren, Johannisbeeren für Konfitüren, Feigen, Reineclauden und andere Pflaumen. Die Enkelkinder liebten das viele Obst und kamen allein schon deswegen für ihr Leben gern nach Home Place.

Über ihr Verhältnis zu ihrem Mann, dem Brig, hatte sie sich – ganz viktorianisch – stets in Schweigen gehüllt. Als Kind hatte Rachel ihre Eltern lediglich in Beziehung zu sich selbst gesehen – ihre Mutter, ihr Vater. Doch da sie ihr ganzes Leben lang bei ihnen wohnte, hatte sie sie im Lauf der Jahre als zwei sehr unterschiedliche Menschen wahrgenommen, was ihrer bedingungslosen Liebe zu ihnen allerdings keinen Abbruch tat. Und die beiden hätten auch wirklich nicht gegensätzlicher sein können. Der Brig war auf nahezu exzentrische Art gesellig – er hatte jeden, dem er in seinem Club oder auf der Rückfahrt im Zug begegnet war, ohne die geringste Vorwarnung in das eine oder andere seiner zwei Zuhause mitgebracht, ob zum Dinner oder fürs ganze Wochenende, und hatte den Gast präsentiert wie ein Fischer oder Jäger seinen soeben gefangenen Lachs oder die gerade erlegte Wildgans. Woraufhin die Duchy nach einer sehr milden Rüge dem Besuch in aller Seelenruhe gekochtes Hammelfleisch und Blancmanger vorgesetzt hatte.

Nicht, dass sie Gesellschaft scheute, aber sie war vollauf zufrieden mit ihrer wachsenden Familie, ihren Kindern und Enkelkindern und den drei Schwiegertöchtern, die sie herzlich in der Familie aufnahm. Ihr eigenes Leben jedoch behielt sie für sich: Ihre Jugendstreiche (einer eher harmlosen Art) oder das Mehrfachverstecken, das sie abenteuerlich in einem abgelegenen schottischen Schloss gespielt hatte, kamen nur beiläufig ans Licht, wenn sie etwa einem Enkelkind, das aus dem Baum gefallen oder vom Pferd abgeworfen worden war, eine Geschichte erzählte. Ihr Vater, Großpapa Barlow, war ein anerkannter Naturwissenschaftler und Mitglied der Royal Society gewesen. Von den vier Schwestern galt sie als die Schönheit (obwohl sie immer den Eindruck erweckte, als wäre ihr dies nicht im Geringsten bewusst). Einen Blick in den Spiegel warf man nur, so hatte sie Rachel beigebracht, um sicherzustellen, dass die Frisur richtig saß und die Brosche gerade angesteckt war.

Als ihr die Gartenarbeit mit dem Alter zu beschwerlich wurde, war sie regelmäßig ins Kino gegangen, vor allem, um Gregory Peck zu sehen, in den sie sich regelrecht verliebt hatte.

Ich habe ihr nicht genügend Fragen gestellt. Ich weiß kaum etwas über sie. Angesichts der sechsundfünfzig Jahre intimer Nähe erschien das Rachel jetzt erschreckend. Die vielen Vormittage, an denen sie Brot geröstet hatte, während die Duchy auf ihrem Petroleumkocher Wasser für den Tee erhitzt hatte, die vielen Sommernachmittage im Freien, die behaglichen Tage im Frühstückszimmer, wenn es für draußen zu kalt war, in den Ferien mit den Enkelkindern, die alle zuerst eine Scheibe Brot mit Butter essen mussten, bevor ihnen entweder Marmelade oder Kuchen erlaubt war, aber die meiste Zeit zu zweit: Während die Duchy Vorhänge für Home Place an der Nähmaschine säumte, für Rachel wunderschöne Kleider nähte, aus blauer oder kirschroter gesmockter Rohseide, und dann für die Enkelkinder, für Louise und Polly, Clary und Juliet und sogar für die Jungen, Teddy und Neville, Wills und Roland, bis sie drei oder vier waren und sich gegen Mädchenkleidung wehrten, während Rachel sich mit Strickarbeiten für Anfängerinnen abmühte, dicken Schals und Fäustlingen. Das war während der endlos langen Kriegsjahre gewesen – den grauenhaften, nicht enden wollenden Monaten, in denen man Briefe sehnlich erwartet und Telegramme gefürchtet hatte …

Sie, die Tochter des Hauses, war herangewachsen, und abgesehen von drei schrecklichen heimwehgeplagten Jahren in einem Internat hatte sie ihr Zuhause nie verlassen. In allen Schulferien hatte sie darum gebettelt, zu Hause bleiben zu dürfen – »Wenn sie in meiner Bürste auch nur ein einziges Haar entdecken, bekomme ich einen Eintrag«, hatte sie einmal geschluchzt, worauf die Duchy erwidert hatte: »Dann sorg dafür, dass kein einziges Haar in deiner Bürste ist, mein Schatz.«

Ihre Aufgabe im Leben bestand darin, sich um andere zu kümmern, nicht auf ihr Äußeres zu achten, zu verstehen, dass Männer wichtiger waren als Frauen, ihre Eltern zu pflegen, Speisepläne zu erstellen und sich mit den Dienstboten auseinanderzusetzen, die Rachel allesamt, ob Mann oder Frau, wegen ihrer Rücksicht und ihrer Anteilnahme ins Herz geschlossen hatten.

Aber nun, wo ihre beiden Eltern tot waren, hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Jetzt konnte sie so viel Zeit mit Sid verbringen, wie sie beide wollten. Ein solches Ausmaß an Freiheit erschreckte sie. Der Satz, den ein junger Schüler angeblich einmal in einer der freidenkerischen Schulen gesagt hatte: »Müssen wir jetzt immer tun, wozu wir Lust haben?«, galt jetzt für sie.

Ihr wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit neben dem Totenbett ihrer Mutter gestanden hatte, während diese unzusammenhängenden Gedanken sie überwältigten. Ihr wurde auch bewusst, dass sie weinte, dass sie unerträgliche Rückenschmerzen hatte, dass sie jede Menge tun musste: den Arzt holen, Hugh anrufen – sicher würde er es übernehmen, die anderen zu informieren, Edward, Rupert und Villy – und natürlich Sid. Sie musste den Dienstboten Bescheid geben. Kurz stockte sie: Seit dem Krieg bestand das Personal nur noch aus Mr. und Mrs. Tonbridge, dem uralten Gärtner, dessen Arthritis ihm mittlerweile höchstens erlaubte, den Rasen zu mähen, einem Mädchen, das drei Vormittage die Woche zum Putzen kam, und Eileen, die, nachdem sie sich um ihre kranke Mutter gekümmert hatte, nach Home Place zurückgekommen war.

Rachel drehte sich wieder zu ihrer geliebten Mutter. Sie sah friedlich aus und unvorstellbar jung. Rachel nahm eine weiße Rose aus dem kleinen Krug und steckte sie ihr zwischen die Hände. Der kleine Leberfleck an ihrem Handgelenk trat deutlicher zutage, die Uhr war auf die Handfläche gerutscht. Sie nahm sie ab und legte sie auf das Nachtkästchen.

Als sie das große Schiebefenster öffnete, strömte die warme Luft herein, getragen von einem lauen Windhauch, in dem sich die Musselinvorhänge regten, und plötzlich hing der Duft der Rosen im Raum, die im darunterliegenden Beet wuchsen.

Sie trocknete sich das Gesicht, putzte sich die Nase und sagte laut (damit sie mit den Dienstboten sprechen konnte, ohne zu weinen): »Lebwohl, meine Liebe.«

Dann verließ sie den Raum und nahm den Tag in Angriff.

DIE FAMILIE

Na ja, einer von uns sollte hinfahren. Wir können das Rachel nicht allein überlassen.«

»Natürlich nicht.«

Edward hatte gerade erklären wollen, dass er nicht so einfach seinen Lunchtermin mit den Typen von der verstaatlichten Eisenbahn absagen konnte, bemerkte aber, wie Hugh sich über die Stirn fuhr, und zwar auf eine Art, die verriet, dass sich sein höllisches Kopfweh meldete. Edward kam zu dem Schluss, dass seinem Bruder die ersten schmerzlichen Pflichten erspart werden sollten. »Was ist mit Rupe?«, meinte er.

Rupert, der jüngste Bruder und offiziell einer der Direktoren der Firma, nahm jeden für sich ein. Er wäre der offensichtliche Kandidat, wenn er nicht wegen seiner Entscheidungsschwäche und seines großen Verständnisses für jede Sichtweise, die jemand ihm unterbreitete, sei es Kunde oder Mitarbeiter, von zweifelhaftem Nutzen gewesen wäre. Edward sagte, er werde sofort mit ihm reden. »Wir müssen es ihm sowieso sagen. Mach dir keine Sorgen, alter Junge. Am Wochenende können wir alle hinfahren.«

»Rachel hat erzählt, dass sie völlig friedlich gestorben ist.« Das hatte er schon einmal gesagt, aber offenbar beruhigte es ihn, das zu wiederholen. »Das Ende einer Ära, würde ich meinen. Jetzt stehen wir an vorderster Front, oder?«

Da mussten sie beide an den Ersten Weltkrieg denken, aber keiner sprach es aus.

Nachdem Edward gegangen war, griff Hugh nach seinen Tabletten und bat Miss Corley, ihm zum Mittagessen ein Sandwich zu holen. Mehr als einen Bissen würde er kaum hinunterbringen, aber dann würde sie wenigstens nicht anfangen, ihn zu bemuttern.

Als er mit seiner dunklen Brille auf dem Ledersofa lag, weinte er. Die Gelassenheit der Duchy, ihre Offenheit, die Art, wie sie Jemima und ihre beiden Jungen in die Familie aufgenommen hatte … Jemima. Wenn er jetzt an vorderster Front stand, dann mit Jemima an seiner Seite – ein unglaublicher Glücksfall, das Herz ging ihm deswegen jeden Tag aufs Neue auf. Nach Sybils Tod hatte er gedacht, seine Zuneigung würde künftig einzig Polly gelten, die natürlich heiraten würde, was sie ja auch getan hatte, und selbst Kinder bekommen würde, was sie zweifellos getan hatte, und er den Rest seines Lebens für niemanden an erster Stelle stehen würde. Welches Glück ich doch gehabt habe, dachte er und setzte die Brille ab, um sie trocken zu wischen.

»Mein Schatz, natürlich komme ich. Wenn ich mich beeile, erwische ich den sechzehn Uhr zwanzig – meinst du, Tonbridge könnte mich abholen? Rachel, hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Mir fehlt nichts. Es war nur ein Anflug von Bronchitis, und ich bin gestern schon aufgestanden. Kann ich etwas mitbringen? Also gut, dann sehen wir uns kurz nach sechs. Bis dann, Liebste.«

Und sie legte auf, bevor Rachel weiter versuchen konnte, es ihr auszureden.

Während sie auf wackligen Beinen nach oben ging, wurde ihr bewusst, welch gewaltige Veränderungen jetzt im Raum standen. Sie war noch geschwächt, auch wenn das großartige Penizillin den Infekt mehr oder minder außer Gefecht gesetzt hatte. Sie beschloss, aufs Mittagessen zu verzichten und lieber ein paar Sachen in eine Tasche zu packen, die ihr nicht zu schwer sein würde. Rachel würde am Boden zerstört sein über den Tod ihrer Mutter, aber jetzt konnte sie – Sid – sich um sie kümmern. Endlich würden sie richtig zusammenleben können.

Sie hatte die Duchy geliebt und bewundert, aber die gemeinsame Zeit mit Rachel war so lange und so oft beschnitten worden, weil Rachel das Gefühl gehabt hatte, ihre Mutter brauche sie. Das war nach dem Tod des Brig noch schlimmer geworden, trotz der liebevollen Zuwendung ihrer drei Söhne und deren Frauen. Diese letzte Krankheit hatte Rachel über die Maßen beansprucht, seit Ostern war sie nicht mehr von der Seite ihrer Mutter gewichen. Aber jetzt war es vorbei, und im Alter von sechsundfünfzig Jahren konnte Rachel nun endlich ihr eigenes Leben führen. Sid war allerdings auch klar, dass Rachel das ängstigen würde, zumindest anfangs, fast so, als würde ein Vogel aus seinem vertrauten Käfig plötzlich ins Freie gesetzt. Sie würde sie nicht nur ermutigen, sondern auch schützen müssen.

Sie war so früh am Bahnhof, dass noch Zeit blieb, sich zu setzen und ein Sandwich zu essen (was auch beides nötig war). Nach geduldigem Anstehen bekam sie zwei Scheiben graues, schwammiges Brot, sparsam mit leuchtend gelber Margarine bestrichen, dazwischen eine hauchdünne Scheibe von schmierigem Cheddar. Es gab kaum Sitzplätze, und sie versuchte, sich auf ihrem Koffer niederzulassen, der allerdings zusammenzubrechen drohte. Nach kurzer Zeit stand ein sehr alter Mann von einer überfüllten Bank auf und ließ eine Ausgabe des Evening Standard liegen – »Burgess und Maclean sind auf langem Auslandsurlaub«, verkündete die Schlagzeile. Sie klangen wie zwei Kekshersteller, fand Sid.

Nachdem sie sich gegen den Strom der aussteigenden Passagiere vorgekämpft hatte, stieg sie erleichtert in den Zug. Der Waggon war schmutzig, das Sitzpolster fadenscheinig und staubig, der Boden übersät mit Kippen, und durch die stark verqualmten Fenster konnte sie kaum hinaussehen. Doch als der Pfiff des Schaffners ertönte und der Zug keuchend zum Bahnhof hinaus und über die Brücke fuhr, fiel die Müdigkeit von ihr ab. Wie oft hatte sie in diesem Zug gesessen, um bei Rachel zu sein? Die vielen Wochenenden, als ein Spaziergang mit ihr das höchste Glück bedeutet hatte, als Diskretion und Heimlichkeit all ihr Tun bestimmt hatten. Selbst wenn Rachel sie am Bahnhof abholte, hatte Tonbridge am Steuer gesessen und jedes Wort mitgehört. Damals war es allein schon so wunderbar gewesen, in ihrer Gesellschaft zu sein, dass es sie lange Zeit nach nichts anderem verlangt hatte. Aber dann hatte sie sich doch mehr gewünscht – hatte Rachel bei sich im Bett haben wollen –, und damit hatte eine neue Art von Heimlichkeit begonnen. Körperliches Verlangen und alles, was auch nur annähernd damit zu tun hatte, musste unter Verschluss gehalten werden – nicht nur vor den anderen, sondern auch vor Rachel selbst, die das alles furchteinflößend und unverständlich fand. Dann war sie krank geworden, und Rachel war sofort gekommen, um sie zu pflegen. Und dann … Wann immer sie daran zurückdachte, wie Rachel sich ihr angeboten hatte, traten ihr Tränen in die Augen. Ihre größte Leistung, dachte sie jetzt, bestand vielleicht darin, Rachel die Freuden körperlicher Liebe nahegebracht zu haben. Und selbst dann, dachte sie mit einem ebenso wehmütigen wie amüsierten Lächeln, hatten sie Rachels Schuldbewusstsein niederringen müssen, ihr Gefühl, dass ihr so viel Vergnügen gar nicht zustand und sie sich davon niemals von ihrer Pflicht abhalten lassen durfte.

Den Rest der Fahrt verbrachte Sid damit, herrlichste Zukunftspläne zu schmieden.

»Ach, Rupe, das tut mir leid. Ich könnte morgen kommen, dann müssen die Kinder nicht in die Schule. Aber du solltest lieber anrufen und Rachel fragen, ob es ihr auch recht ist. Soll ich Villy Bescheid sagen? … Gut. Also bis morgen, mein Schatz – das hoffe ich zumindest.«

Seit Rupert in die Firma eingetreten war, ging es ihnen finanziell wesentlich besser; sie hatten sich ein ziemlich heruntergekommenes Haus in Mortlake kaufen können, direkt am Fluss. Es hatte nicht viel gekostet – sechstausend Pfund –, war allerdings in schlechtem Zustand, und bei Hochwasser wurde das Erdgeschoss oft überflutet, trotz der Mauer im Vorgarten und der Aufsteighilfe anstelle der früheren Pforte. Aber das alles störte Rupert überhaupt nicht: Er hatte sich in die wunderschönen Schiebefenster und die prächtigen Türen verliebt, den fantastischen Raum im ersten Stock, der sich über die ganze Breite des Hauses erstreckte und an beiden Enden einen hübschen Kamin hatte, den Eierstab-Stuck an der Decke, die Schlafzimmer, die im obersten Stock alle ineinander übergingen und mit dem kleinen Bad mit Toilette abschlossen, das in den Vierzigerjahren modernisiert worden war und eine lachsfarbene Wanne und schwarz glänzende Fliesen hatte.

»Es ist hinreißend«, hatte Rupert gesagt. »Das ist unser Haus, Liebling. Natürlich müssen wir etwas Arbeit hineinstecken. Sie haben gesagt, dass der Boiler nicht funktioniert, aber das ist ja nur eine Kleinigkeit. Es gefällt dir doch auch, oder?«

Und natürlich hatte sie Ja gesagt.

1953 waren sie eingezogen, im Jahr der Krönung, und einige der »Kleinigkeiten« hatten sie mittlerweile behoben: Die Küche war mit der Spülküche zusammengelegt und dadurch vergrößert und im Zuge dessen auch mit einem neuen Boiler, einem neuen Herd und einem Spülbecken ausgestattet worden. Aber eine Zentralheizung konnten sie sich nicht leisten, deshalb war es im Haus immer kalt und im Winter eisig. Rupert hatte den Kindern vorgeschwärmt, dass sie vom Haus aus die Ruderregatta verfolgen könnten, aber die Aussicht hatte Juliet nicht überzeugt: »Eine der Mannschaften muss doch gewinnen, oder? Das liegt auf der Hand.« Und Georgie hatte gemeint, interessant wäre das Rennen nur, wenn die Ruderer ins Wasser fielen. Georgie war sieben und begeisterte sich seit dem Alter von drei Jahren für Tiere. Sein Zoo, wie er ihn bezeichnete, bestand aus einer weißen Ratte namens Rivers, zwei Schildkröten, die ständig im Garten untertauchten, zur entsprechenden Jahreszeit Seidenraupen, einer Strumpfbandnatter, die sich als Ausbruchskünstlerin erwiesen hatte, zwei Meerschweinchen und einem Wellensittich. Er wünschte sich sehnlich einen Hund, ein Kaninchen und einen Papagei, aber dafür reichte sein Taschengeld bislang noch nicht. Er schrieb an einem Buch über seinen Zoo und hatte ernsthaft Ärger bekommen, weil er Rivers im Ranzen versteckt in die Schule mitgenommen hatte. Während der Schulstunden wurde Rivers jetzt in seinen Käfig verbannt, aber Zoë wusste, dass er sie nach Home Place begleiten würde. Doch wie Rupert immer sagte, war er eine sehr diskrete Ratte, und oft wusste niemand, dass er überhaupt da war.

Während Zoë für die Kinder den Nachmittagstee herrichtete – Sardinen-Sandwiches und Haferkekse, die sie am Vormittag gebacken hatte –, fragte sie sich, was wohl aus Home Place werden würde. Bestimmt wollte Rachel nicht allein dort wohnen bleiben, aber vielleicht würden die Brüder sich den Familiensitz teilen, was allerdings mit ziemlicher Sicherheit bedeutete, dass sie dann nie woanders Urlaub machen würden. Dabei wünschte sie sich so, ins Ausland zu fahren – nach Frankreich oder Italien. St. Tropez! Venedig! Rom!

Die Haustür fiel krachend ins Schloss, darauf folgte der dumpfe Aufprall, mit dem ein Ranzen auf dem Steinboden im Flur landete, und dann erschien Georgie. Er trug seine Sommerschuluniform: weißes Hemd, graue Shorts, Tennisschuhe und weiße Socken. Alles, was weiß sein sollte, hatte einen gräulichen Schimmer.

»Wo ist dein Blazer?«

Überrascht sah er an sich herunter. »Keine Ahnung. Irgendwo. Wir hatten Sport. Da müssen wir keinen Blazer tragen.« Sein verschmiertes Gesicht war schweißnass, er erwiderte Zoës Kuss mit einer nachlässigen Umarmung. »Hast du Rivers seine Karotte gegeben?«

»Oje, das habe ich leider vergessen.«

»Ach, Mum!«

»Mein Schatz, er wird’s überleben. Er bekommt sehr viel zu fressen.«

»Darum geht’s doch gar nicht. Die Karotte muss er kriegen, damit’s ihm nicht langweilig wird.« Er sauste in die Spülküche und warf in seiner Eile einen Stuhl um. Einen Moment später war er mit Rivers auf der Schulter wieder da. Georgie machte immer noch eine vorwurfsvolle Miene, aber Rivers war unverkennbar entzückt, knabberte an seinem Ohr und schnoberte unter seinen Hemdkragen. »Ein dummer Blazer ist nichts im Vergleich zum Leben einer Ratte.«

»Blazer sind nicht dumm, und Rivers war nicht am Verhungern. Das ist Unsinn.«

»Also gut.« Bei seinem hinreißenden Lächeln schmolz sie wie immer dahin. »Können wir jetzt mit dem Tee anfangen? Ich habe richtig Hunger. Zum Mittagessen hat es Giftfleisch und Froschlaich gegeben, und Forrester hat über alles gekotzt, sodass ich nichts essen konnte.«

Beide saßen an einer Ecke des Tischs, und sie strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. »Wir müssen auf Jule warten. Und währenddessen muss ich dir etwas erzählen. Heute Vormittag ist die Duchy gestorben. Ganz friedlich, sagte Rachel. Daddy fährt heute nach Home Place, und vielleicht fahren wir morgen auch hin.«

»Wie ist sie gestorben?«

»Na ja, weißt du, sie war schon sehr alt, fast neunzig.«

»Für eine Schildkröte ist das nichts. Die arme Duchy. Es tut mir leid für sie, dass sie nicht mehr da ist.« Er schniefte und holte ein unsäglich dreckiges Taschentuch aus der Shortstasche. »Ich musste mir die Knie damit abwischen, aber es ist bloß Erde, kein Dreck.«

Wieder fiel die Haustür ins Schloss, und Juliet trat in die Küche. »’tschuldigung, dass ich so spät dran bin«, sagte sie und klang kein bisschen bedauernd. Sie zerrte sich die weinrote Krawatte und den ebenso roten Uniformblazer herunter, die mitsamt dem Ranzen auf dem Boden landeten.

»Mein Schatz, wo ist deine Mütze?«

»Im Schulranzen. Es gibt Grenzen, und die Mütze ist eindeutig eine.«

»Jetzt wird sie ganz zerdrückt sein«, sagte Georgie. In seinem Ton schwang eine Mischung von Bewunderung und Vorwitz mit. Mit ihren fünfzehn war Juliet acht Jahre älter, und Georgie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie ihn liebte und sich mit ihm abgab. Meistens war sie entweder beiläufig nett, oder sie kanzelte ihn ab. »Weißt du was?«, sagte er.

Juliet hatte sich auf einen Stuhl drapiert. »Was?«

»Die Duchy ist tot. Sie ist heute Vormittag gestorben. Mum hat es mir gesagt, also hab ich’s vor dir gewusst.«

»Die Duchy? Wie tragisch! Aber sie ist doch nicht umgebracht worden oder so?«

»Natürlich nicht. Sie ist ganz friedlich mit Rachel an ihrer Seite gestorben.«

»Also ist die auch tot?«

»Nein. Ich meinte, dass Tante Rachel bei ihr war. Du wirst noch ein ganzes Stück älter werden müssen, bevor du jemanden kennst, der ermordet wurde«, fügte Zoë hinzu.

Georgie verdrückte die Sandwiches im Handumdrehen, und Rivers bekam Häppchen davon ab.

»Mummy, müssen wir Tee mit der Ratte trinken?« Als Jule dann merkte, dass die Bemerkung ziemlich herzlos war, sagte sie in ihrer besten Schultheater-Stimme: »Ich bin so traurig, ich glaube, ich bekomme keinen Bissen hinunter.«

Zoë verstand ziemlich viel vom Verhalten ihrer atemberaubend schönen Tochter (war sie in dem Alter nicht genauso gewesen?) und meinte nachsichtig: »Natürlich bist du traurig, mein Schatz. Das sind wir alle, weil wir sie geliebt haben. Aber sie war schon sehr alt, und es ist schön, dass sie keine Schmerzen hatte. Iss etwas, mein Schatz, dann geht’s dir besser.«

»Und«, fuhr Georgie fort, »Dad ist nach Home Place gefahren, und morgen in aller Früh fahren wir auch, wenn Tante Rachel das will. Was sie bestimmt will.«

»Ach, Mummy! Du wolltest mit mir einkaufen gehen, damit ich meine Jeans bekomme! Das hast du mir versprochen!« Bei der Vorstellung, dermaßen hintergangen zu werden, brach Juliet in echte Tränen aus. »Unter der Woche können wir sie wegen der blöden Schule nicht kaufen, das heißt, dass ich noch eine ganze lange Woche warten muss. Und meine Freundinnen haben alle schon eine. Das ist gemein! Können wir nicht vormittags einkaufen gehen und dann nachmittags mit dem Zug fahren?«

Zoë, die keine Lust auf eine längere Szene hatte, erwiderte matt: »Sehen wir mal.«

Und Georgie sagte: »Und was das heißt, wissen wir alle. Es heißt, dass wir nicht tun werden, was du willst, aber das sagen wir dir jetzt noch nicht.«

POLLY

Mit dem allem würde ich in den Schulferien anfangen.«

Sie hatte vor der Toilette gekniet und sich qualvoll übergeben, wie jeden Morgen in der vergangenen Woche. Es war eine Toilette der altmodischen Art, und sie musste die Kette zweimal ziehen. Sie spülte sich Wasser ins Gesicht und wusch sich die Hände, als es gerade anfing, lauwarm zu werden. Zeit zu baden blieb ihr nicht. Sie musste den Kindern Frühstück machen – sofort stieg ihr der ekelerregende Geruch von Spiegeleiern in die Nase. Die Kinder würden sich mit gekochten begnügen müssen.

Neben ihrem Bett stand eine der mit wattiertem Chintz bezogenen Keksdosen, ein Relikt ihrer Schwiegermutter, darin befanden sich jetzt schlichte ungesalzene Kräcker. Sie setzte sich aufs Bett und aß einige. Während der beiden vorhergehenden Schwangerschaften hatte sie doch den einen oder anderen einschlägigen Trick gelernt. In acht bis zehn Wochen würde sich die Übelkeit legen, dann würde das dicke Stadium mit Rückenschmerzen beginnen. »Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht liebe, wenn sie einmal da sind«, hatte sie zu Gerald gesagt. »Es ist bloß die ganze Mühe, sie zu bekommen. Wäre ich zum Beispiel eine Amsel, bräuchte ich nur ein oder zwei Wochen hübsche, ordentliche Eier auszubrüten.«

»Denk an Elefanten«, hatte er geantwortet und ihr tröstend übers Haar gestrichen. »Bei ihnen dauert es zwei Jahre.« Ein anderes Mal hatte er gesagt: »Ich wünschte, ich könnte sie an deiner statt bekommen.«

Gerald sagte oft, er wünschte, er könnte die Sache, die gerade getan werden musste, für sie übernehmen, aber das konnte er nie. Weder konnte er sonderlich gut Entscheidungen treffen, noch entsprechend den halbherzigen Entschlüssen handeln, die er in Bezug auf dieses oder jenes fasste. Das Einzige, worauf Polly sich absolut, jederzeit und bedingungslos verlassen konnte, war seine Liebe zu ihr und den Kindern.

Das hatte sie zuerst überrascht: Sie hatte in Romanen über die Ehe gelesen und zu wissen geglaubt, dass die Phase der stürmischen Verliebtheit ins ruhige Fahrwasser des Status quo übergehen würde, wie immer dieser auch aussehen mochte. Aber so war es überhaupt nicht. Geralds Liebe zu ihr hatte Qualitäten in ihm geweckt, mit denen sie bei einem Mann nicht im Traum gerechnet hätte. Seine immerwährende Sanftmut, seine Scharfsicht, sein nie endendes Interesse an dem, was sie dachte und empfand. Und dann sein versteckter Humor. Im Umgang mit den meisten anderen Menschen war er schüchtern und schweigsam, seine Scherze bewahrte er für sie auf, und er konnte ausgesprochen witzig sein.

Sein wahres Talent zeigte er allerdings in seiner Rolle als Vater. Er war während der ganzen unsäglich langen ersten Geburt bei ihr geblieben, hatte geweint, als die Zwillinge zur Welt gekommen waren, und war ein sehr zupackender Vater gewesen, sowohl bei ihnen als auch bei Andrew, der zwei Jahre später folgte. »Irgendwie müssen wir dieses Haus ja bevölkern.« Er würde auch dieses vierte Kind gelassen aufnehmen, das wusste sie – vermutlich ahnte er es bereits und wartete, dass sie es ihm sagte.

Mittlerweile hatte sie sich Bluse, Trägerrock und Sandalen angezogen und sich das kupferfarbene Haar gebürstet und zum Pferdeschwanz gebunden. Übel war ihr nicht mehr, aber ganz behagte ihr der Gedanke ans Kochen trotzdem nicht. Dank des fantastischen Bestands an Turners, den Gerald und sie bei ihrem ersten Rundgang durch das Haus vor zehn Jahren entdeckt hatten, waren sie in der Lage gewesen, riesige Dachflächen zu reparieren und einen Gebäudeflügel in ein gemütliches Wohnhaus umzubauen, mit einer großen Küche, in der alle gemeinsam essen konnten, einem zweiten Bad und einem großen Spielzimmer für die Kinder. Sie hatten Nan ein warmes Zimmer im Erdgeschoss angeboten, aber sie hatte darauf bestanden, neben den Kindern zu schlafen: »O nein, M’lady. Das geht nicht an, dass meine Kleinen auf einem anderen Stockwerk schlafen. Das wäre nicht richtig.« Ihr Alter war unbekannt, musste aber beträchtlich sein, und sie litt unverkennbar an dem, was sie ihren Rheumatismus nannte, und so humpelte sie durchs Haus, konnte aber noch einwandfrei sehen und hören. Im Lauf der Jahre waren viele Veränderungen nötig geworden. Nan hatte ihre Vorstellungen von der Rolle, die Eltern in der Erziehung ihrer Kinder spielten (Tee mit Mummy im Sonntagsstaat und dann ein Gute-Nacht-Kuss von ihr und Daddy), zwangsläufig stark anpassen müssen. Das hatte Gerald durchgesetzt. In Nans Augen war er über jede Kritik erhaben, wenn er also seine Kinder baden, ihnen etwas vorlesen und sie in den ersten Monaten sogar wickeln wollte, schob sie das auf seine Exzentrik, auf welche die höheren Kreise, wie sie wusste, sehr hielten. »Jeder ist anders albern«, pflegte sie zu sagen, wann immer etwas passierte, das sie missbilligte oder nicht nachvollziehen konnte.

Trotz aller Arbeiten, die sie hatten vornehmen lassen, stellten die ausgedehnten restlichen Teile des Edwardianischen Hauses Polly vor große Herausforderungen. Es war wartungsintensiv. Die Räume mussten regelmäßig gelüftet werden, um die Feuchtigkeit im Zaum zu halten, die sich im Gebäude einnistete, sodass Tapeten wie Girlanden von den Wänden hingen und Dachkammern und Korridore mit schwarzen Pünktchen eines Pilzes überzogen waren, die an Napoleons Truppenaufstellung vor der Schlacht erinnerten, wie Gerald einmal gemeint hatte.

Die Kinder, oder zumindest die Zwillinge und ihre Freundinnen, spielten in den Räumen mit Vorliebe Fangen, Mehrfachverstecken und das von ihnen erfundene sogenannte Taschenlampenmonster-Spiel. Andrew ärgerte sich immer, nicht mitmachen zu dürfen, und mehrmals erlaubte Eliza es ihm, aber dann verirrte er sich regelmäßig und heulte. »Mummy, ich hab dir doch gesagt, dass es ihm nicht gefallen würde«, sagte Jane dann immer. Solche Streitereien waren an der Tagesordnung, und meist kam Gerald dann mit einem neuen einfallsreichen Vorschlag an, der die allgemeine gute Laune wiederherstellte.

Er empfing Polly am Fuß der Treppe mit der Nachricht, dass die Duchy gestorben war. Rupert sei nach Home Place gefahren und werde ihnen das Datum der Trauerfeier mitteilen, sobald alles organisiert sei.

RACHEL

Ich hatte ihr ein Ei pochiert. Für ein Ei ist sie doch meistens zu haben.«

»Ich kann nichts dafür, Mrs. Tonbridge. Ich habe das Tablett heute Morgen im Frühstückszimmer neben sie gestellt, und sie hat sich einfach bedankt und gesagt, dass sie nichts möchte.«

Das pochierte Ei lag gebettet auf einem vor Butter triefenden Toast. Eileen beäugte es hoffnungsvoll. Falls Mrs. Tonbridge es aus Pietätsgründen verschmähen sollte, würde sie es nicht den Vögeln vorsetzen. »Ich habe im ersten Stock alle Rollos herabgelassen«, berichtete sie mitteilsam. »Und Miss Rachel hat gesagt, dass Mr. Rupert heute Abend kommt. Sie möchte mit Ihnen sprechen.«

»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Was wird sie bloß denken – dass ich hier herumtrödle, während Mrs. Senior oben liegt?« Sie steckte eine Haarklemme brachial an die richtige Stelle, zog die Schürze aus, strich sich das Kleid über der Brust glatt und verschwand.

Der Arzt sei schon da gewesen, die Gemeindeschwester werde später vorbeischauen. Tonbridge solle wohl besser nach Battle fahren und Lebensmittel besorgen – zum Wochenende würden weitere Familienmitglieder kommen. Und ach ja, Miss Sidney werde mit dem vier Uhr zwanzig eintreffen, ob er sie bitte abholen könne? »Das Essen überlasse ich Ihnen, Mrs. Tonbridge – etwas Leichtes, Einfaches.« An Essen zu denken überforderte sie im Moment.

Das stürzte Mrs. Tonbridge in Gewissenskonflikte. Einerseits war es ja nur recht und billig, dass Miss Rachel ihrer Mutter auf diese Art Respekt zollte, andererseits machte sie sich ernsthaft Sorgen, denn Miss Rachel war eindeutig völlig erschöpft, außerdem wusste sie, dass die Arme die ganzen letzten Wochen sehr wenig gegessen hatte. So ging das nicht an. Als Köchin der Familie, als die sie seit fast zwanzig Jahren arbeitete – sie hatte die Stelle lang vor der Hochzeit mit Tonbridge angetreten und, wie bei Köchinnen damals üblich, den Ehrentitel Mrs. Cripps getragen –, kannte sie die Essgewohnheiten aller bis ins Detail. Miss Rachel mochte wie ihre Mutter einfache Speisen und auch davon nur wenig, aber seit Mrs. Seniors Krankheit hatte sie in ihrem Essen nur noch herumgestochert.

»Wenn ich Ihnen eine Tasse heiße Consommé bringen lasse, bevor Sie sich bis zu Mr. Ruperts Ankunft ausruhen?«

Rachel erkannte, dass es viel leichter war, dem Vorschlag zuzustimmen, als ihn abzulehnen, und bejahte dankend.

Als Eileen die Consommé brachte, lag sie auf der harten kleinen kapitonierten Liege, die die Duchy eigens für ihren Rücken hatte anschaffen lassen. Das war ein beträchtliches Zugeständnis ihrerseits gewesen, denn sie selbst hatte zeit ihres Lebens auf harten, geraden Stühlen gesessen und von Bequemlichkeit nie und unter keinen Umständen etwas gehalten. Dabei war die Liege unbequem, wenn auch auf andere Art, doch indem sich Rachel ein Kissen ins Kreuz steckte, war es ihr möglich, die Liege zu benutzen.

Eileen fragte in ihrer Kirchenstimme, wie die Familie sie nannte, ob sie die Rollos herunterlassen solle und ob Miss Rachel, wenn sie die Füße hochlegen wolle, ihre Häkeldecke wünsche. Rachel stimmte allem zu und verfolgte, wie Eileen sich mühsam hinkniete, um die Schnürsenkel ihrer vernünftigen Schuhe zu lösen (das Rheuma bereitete dem Hausmädchen eindeutig Schmerzen), ihre Beine auf die Liege hob und die Decke sorgsam um sie feststeckte. Dann, als würde Rachel bereits schlafen, ging sie auf Zehenspitzen zum Fenster, um die Rollos herunterzulassen, und schwebte förmlich aus dem Zimmer. Zuneigung, dachte Rachel. Alles aus Zuneigung zur Duchy. Solange es sich auf derartige indirekte Gesten beschränkte, konnte sie damit umgehen. Sie stellte den Becher ab und streckte sich auf der harten Liege aus. Meine geliebte Mutter, dachte sie, und als langsam ein paar Tränen aus ihren Augen rannen, schlief sie gnädigerweise ein.

CLARY

Liebes, du solltest dir wirklich nicht so viele Gedanken machen. Schließlich ist es nur eine Woche. Eine Woche im Wohnwagen. Es wird ein richtiger Tapetenwechsel sein – und erholsam.«

Clary erwiderte nichts. Wenn Archie wirklich glaubte, dass eine Woche mit den Kindern im Wohnwagen für sie auch nur annähernd erholsam sein würde, dann war er entweder verrückt, oder es interessierte ihn nicht, wie es für sie sein würde, weil er sie nicht mehr liebte.

»Außerdem ist es viel billiger. Beim letzten Mal haben wir ein Vermögen ausgegeben, die kleinen Bälger mit Ausflügen in London bei Laune zu halten und mit ihnen essen zu gehen. Und nie wollten beide dasselbe machen. Als ich ein Kind war, wurde man zweimal im Jahr verwöhnt, zum Geburtstag und zu Weihnachten.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es billiger wird, wenn wir zu viert mit dem Auto auf der Fähre übersetzen und uns dort einen Wohnwagen mieten! Du willst doch bloß nach Frankreich fahren.«

»Natürlich will ich nach Frankreich fahren.« Vor Ärger hob er die Stimme. Er legte den Pinsel beiseite, den er gerade reinigte, und sah zu ihr, wie sie sich über das Spülbecken beugte und versuchte, die Haferbreireste aus dem Topf zu entfernen. Das Haar hing ihr ums Gesicht. »Clary! Meine Süße! Es tut mir leid!«

»Was tut dir leid?« Ihre Stimme war dumpf. Er drehte sie zu sich, sodass sie ihn ansehen musste.

»Deine Tränen sind wirklich außergewöhnlich groß, mein Liebling. Und du bist mein Liebling, wie ich es dir seit mindestens zehn Jahren versichere. Kommt das allmählich bei dir an?«

Sie schlang ihm die Arme um den Hals. Er war viel größer als sie. »Hättest du nicht lieber Polly geheiratet?«

Er tat, als würde er über die Frage nachdenken. »Ich glaube nicht, nein.«

Nachdem er ihr einen Kuss gegeben hatte, fragte sie: »Oder Louise?«

»Offenbar hast du vergessen, dass sie weggeschnappt wurde, bevor ich es mir überhaupt überlegen konnte. Nein – ich musste mit dir vorliebnehmen. Ich wollte eine Schriftstellerin, eine schlechte Köchin, eine Art schlampiges Genie. Und jetzt haben wir den Salat. Außer, dass du mittlerweile sehr viel besser kochst. Nein, mein Schatz, ich muss jetzt los. Bei mir im Atelier sitzt ein aufgeblasener vergreister Altmeister der Ehrwürdigen Sardinengesellschaft und wartet darauf, dass ich sein abscheuliches Gesicht auf Leinwand banne. Ich kann es gar nicht erwarten, meine Kunst zu entehren.«

»Ich meine«, sagte sie und beobachtete, wie er seine Pinsel einpackte, »du könntest doch auch ein gutes Bild von ihm machen, oder? Und malen, was du siehst?«

»Das ist leider ausgeschlossen. In dem Fall würden sie es nicht nehmen. Das wären tausend Pfund weniger. Dann könnten wir unseren Urlaub, wenn überhaupt, in einem Wohnwagen irgendwo neben der Great Western Road verbringen.«

Wir haben beide Gespräche schon hundertmal geführt, dachte er auf dem Weg zum Bus in der Edgware Road. Ich baue sie auf, und sie will, dass ich nur das male, was ich möchte. Das störte ihn nicht. Für Clary war ihm das alles wert. Er hatte erst nach einer ganzen Weile erkannt, dass sich die grauenhaften Verunsicherungen ihrer Kindheit – der Tod ihrer Mutter, der Vater den Großteil des Kriegs in Frankreich vermisst und für tot gehalten – erst rückblickend gefahrlos manifestieren konnten. Zehn Jahre Ehe und ihre zwei Kinder hatten natürlich tiefgreifende Veränderungen bewirkt: Von den ersten, relativ unbeschwerten gemeinsamen Monaten zu den Jahren, in denen sie gereist waren oder in einem Atelier mit dem Bett auf der Galerie gewohnt hatten, als das Geld knapp gewesen war, was sie nicht weiter störte, er sich um Aufträge bemüht und Landschaften gemalt hatte, die bisweilen in Gemeinschaftsausstellungen in der Redfern und einmal in der Sommerausstellung der Academy gezeigt wurden, und sie ihren zweiten Roman geschrieben und John Davenport ihn wohlwollend rezensiert hatte – der Anfang war wunderbar gewesen. Aber nach der Geburt Harriets, bald gefolgt von Bertie – »Ich könnte genauso gut ein Kaninchen sein!«, hatte sie ins Spülbecken geschluchzt –, hatten sie sich eine größere Wohnung suchen müssen, und mit zwei kleinen Kindern hatte Clary weder die Zeit noch die Energie, auch nur ein Wort zu schreiben. Er hatte wieder angefangen, Teilzeit zu unterrichten.