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Kurt Kotrschal

Sind wir Menschen
noch zu retten?

Gefahren und Chancen
unserer Natur

Ein Plädoyer für die liberale
Demokratie

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

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Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung.

Eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem
Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.

Die Herbstvorlesung zum Thema »Sind wir Menschen noch zu retten?«
fand am 21. und 22. 11. 2019 im Literaturhaus Graz statt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2020 Residenz Verlag GmbH

Wien – Salzburg

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Herausgegeben von Astrid Kury, Thomas Macho, Peter Strasser
Beratung: Harald Klauhs

Umschlaggestaltung: Kurt Dornig

Lektorat: Jessica Beer

ISBN e-Book 978 3 7017 4633 0

ISBN Printausgabe 978 3 7017 3510 5

Inhalt

1

Potentiale und Probleme der Menschen im 21. Jahrhundert

2

Das evolutionäre Erbe

3

Was bedeuten die Einsichten in die Natur des Menschen für eine »menschengerechte Politik«?

4

Kann die Zukunft gelingen?

Literatur

Gewidmet dem Geist, der sich trotz seiner Herkunft aus der sozialen Evolution nicht gängeln lässt, und all jenen, die im Verlauf der Menschheitsgeschichte den Patriarchen und Ideologen zum Opfer fielen.

The population problem has no technical solution;
it requires a fundamental extension in morality
.

Garrett Hardin, 1968

Der Klimanotstand wird ausgerufen, weil sich die Erderwärmung immer bedrohlicher auswirkt – und weil es Symbole braucht, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen. Es geht um Hitzewellen und Wassermangel, um das Abschmelzen von Gletschern und Polkappen, den Anstieg des Meeresspiegels, die Versauerung der Meere, die Degradation der Böden, um Massenmigrationen und Konflikte um die verbleibenden Ressourcen. Aber das Klima ist nur eine von vielen Herausforderungen, die wir anpacken müssen, um den Nachkommen eine Biosphäre zu hinterlassen, in der sie noch leben können und wollen. So erleben wir das größte Artensterben seit 66 Millionen Jahren, die Gefahr eines Atomkriegs war lange nicht so groß wie heute und Pandemien in Form neuer Infektionskrankheiten stehen unweigerlich vor der Tür. Auch die digitale Wende wirkt sich nicht nur positiv auf Individuen, Gesellschaften und Politik aus. Gleichzeitig sinken aufgrund des weltweiten Niedergangs der Demokratien die Kapazitäten, diese Probleme zu lösen. Allerorten kommen starke Männer ans Ruder, die auf das Gemeinwohl pfeifen, ihre Klientel bedienen und sich und ihren Klan bereichern. Diese populistischen Nationalisten kappen internationale Abkommen und steigen aus multilateralen Kooperationen aus.

Der gegenwärtige Lösungsnotstand ist in seinem Ausmaß dem Klimanotstand ebenbürtig – auch weil man offenbar blauäugig hofft, technologische Entwicklung und wirtschaftliche Dynamik würden es schon richten. Dabei sind alle diese Herausforderungen menschengemacht, entstanden durch menschliches Verhalten und durch die wirtschaftlichtechnologische Entwicklung.

Es wäre also an der Zeit, innezuhalten und in den Spiegel zu schauen. Wer sind diese Menschen und wie funktionieren sie? Tatsächlich brachten die letzten Jahre und Jahrzehnte eine große Fülle empirischer Erkenntnisse zur menschlichen Natur, die in ihrer Zusammenschau ein zunehmend stimmiges Bild ergeben. Dennoch orientiert sich unser Menschenbild offenbar noch immer lieber an den alten politischen und religiösen Ideologien. Der Lösungsnotstand wurzelt also erheblich in einem Notstand der Selbsterkenntnis. Die neueren Erkenntnisse der evolutionären Biologie zur menschlichen Natur habe ich in meinem 2019 erschienenen Buch »Mensch« zusammengefasst; in diesem Essay werde ich die Relevanz dieser Erkenntnisse zur Conditio humana für Gesellschaft und Politik diskutieren.

Über 600 Millionen Jahre biologische Evolution brachten durch Schlüsselinnovationen und Zufälle den Homo sapiens hervor, mit seinen zahlreichen Universalien: Von Bedeutung sind hier vor allem seine situationsspezifisch flexiblen Anlagen für soziales Verhalten und ein höchst flexibles Programm für seine Individualentwicklung, in der im regelhaften Zusammenwirken von Genen, Epigenetik sowie sozialem und gesellschaftlichem Umfeld unverwechselbare Individuen entstehen. Die Menschen wurden zu den sozial komplexesten aller Lebewesen, die in ihrem Heranwachsen allerdings eine sorgfältige Frühbetreuung sowie Kontakt zu Tieren und Natur benötigen, um sich zu autonomen, neugierigen und optimal sozialfähigen Individuen zu entwickeln.

Das evolutionäre Erbe beschert uns viele lichte Seiten, etwa dass Menschen zu den potentiell klügsten, kooperativsten, nettesten und altruistischsten aller Lebewesen wurden. Aber es sind auch viele Schatten in diesem Erbe angelegt, die über Ab- und Ausgrenzung bis hin zum gegenseitigen Töten und zum Krieg führen; oder auch die alten reproduktiven Strategien der Geschlechter, welche letztlich die patriarchalen Tendenzen und die sozio-sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder verursachen. So wurden in der sozialen Evolution bereits die grundlegenden, typisch menschlichen Konflikte angelegt: die Konflikte zwischen den Geschlechtern, zwischen Individuen und Gesellschaften sowie die ständigen Kämpfe zwischen Rationalität und irrationalen Impulsen, zwischen egalitären und patriarchalen Formen gesellschaftlicher Organisation. Diese Urkonflikte sind nicht endgültig auflösbar, aber wir können lernen, mit ihnen positiv und kreativ umzugehen – wenn wir über sie Bescheid wissen.

Nur das Wissen um die menschliche Natur erlaubt es, rationalistische Ideologie durch empirische Einsicht zu ersetzen und Politikziele im Einklang mit den menschlichen Grundbedürfnissen zu formulieren. Damit plädiere ich nicht für einen naturalistischen Fehlschluss; es gilt vielmehr, jene Elemente in den Fokus zu rücken, die ein für Individuum und Gesellschaft gelingendes Zusammenleben ermöglichen. Daraus folgt, dass – wenn es um Partizipation für möglichst viele Menschen an Entscheidungen und den positiven Ergebnissen von Politik und Wirtschaft geht und letztlich um ein erfülltes, langes und gesundes Leben – an der liberalen Demokratie und einer kohäsiven Gesellschaft kein Weg vorbeiführt. Sie ist die menschengerechteste aller politischen Organisationsformen, weil sie auf der Gleichstellung der Geschlechter und auf Inklusion beruht; nur sie verspricht jene Lösungskapazität, die es für eine positive Bewältigung der anstehenden Herausforderungen braucht.

Gerade in dieser Zeit des Wandels gilt es also, die menschlichen Potentiale zu heben; und das können wir nur auf der Basis von Wissen über uns selbst. Es wäre trügerisch, sich alleine auf die technologisch-wirtschaftliche Entwicklung zu verlassen oder auf eine rasche Anpassung der Menschen durch biologische Evolution zu hoffen. Menschen müssen schon mit dem auskommen, was ihnen derzeit an Anlagen und Möglichkeiten zur Verfügung steht – und das ist ohnehin nicht wenig. Der Rucksack für den Weg in die Zukunft ist prall mit Herausforderungen gefüllt. Im Lichte der positiven Potentiale der menschlichen Natur sind die Zukunftsaussichten für die gegenwärtige Menschheit und die Biosphäre nicht schlecht. Wenn die Welt allerdings zunehmend in die Geiselhaft der starken Männer und der nicht mehr vom Gemeinwohl geleiteten Interessen der Konzerne gerät, könnten sich Probleme und Konflikte rasch verschärfen und gegen Ende des 21. Jahrhunderts in diverse Katastrophen führen. In diesem pessimistischen Szenario ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich eine dünne, technologisch und biologisch überlegene Oberschicht einer breiten, rechtlosen Masse bedient, die allein die Kosten trägt und den kommenden Katastrophen zum Opfer fallen wird. Dieses Buch hat es sich zum Ziel gesetzt, auf Basis der menschlichen Evolution und Natur die Bedingungen für alternative Entwicklungen aufzuzeigen.

1

Potentiale und Probleme der Menschen im 21. Jahrhundert

Wie glänzend könnte doch die Zukunft des Menschen sein, wenn ihm dabei nicht »der Mensch« im Wege stünde! Ein hoffnungsloser Optimist könnte meinen, dass heute 7,6 Milliarden Problemlöser auf der Erde leben, zunehmend gebildet und ausreichend ernährt. Dagegen sieht ein realistischer, ökologisch wacher Pessimist heute eher jede Menge Problemverursacher. Misanthropen blockieren sich gegenseitig durch intensives Beschwören des Weltuntergangs. Dazu war ihnen zwar immer schon jeder Anlass recht, doch das ökologische Multitrauma der Erde eignet sich dafür ganz besonders gut.

Menschen verfügen aufgrund ihrer im Vergleich zu allen anderen Lebewesen überragenden Bildungs-, Denk- und Reflexionsfähigkeit potentiell auch über eine einzigartige Fähigkeit, vor allem technische Probleme zu lösen – und dadurch nicht selten neue zu verursachen. Bei den sozialen bzw. sozial bedingten Problemen hingegen bin ich mir bezüglich der menschlichen Problemlösungskompetenz nicht so sicher. Um die komplexe, vor allem soziale und mentale Konstruktion der Menschen wird es in diesem Essay gehen. Zumal die alltägliche emotionale und soziale Blindheit der Menschen ihren eigenen Befindlichkeiten und Handlungsantrieben gegenüber aus dem Blickwinkel der doch recht konkret gewordenen Antworten, welche die evolutionäre Biologie zur menschlichen Natur heute bereithält, ziemlich anachronistisch anmutet.

So brauchte es eine Greta Thunberg, um die bereits seit Jahrzehnten vorliegenden Erkenntnisse des Weltklimarates auch emotional annehmen zu können. Vorher berührten die Warnungen der klugen Wissenschaftler nur wenige Eingeweihte, eine Mehrheit ließ sie nicht an sich heran, spaltete sie in bewährtem Vermeidungsmodus psychologisch ab oder leugnete sie schlicht. Es brauchte ein sechzehnjähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom, um das Eis mit Hilfe einer funktionierenden medialen Inszenierung zu brechen. Plötzlich sind sich weltweit Mehrheiten und Politiker von den USA bis China zumindest grundsätzlich einig – Ausnahmen bestätigen die Regel –, dass möglichst sofort Erhebliches getan werden muss. Ob es tatsächlich getan werden wird, steht auf einem anderen Blatt, wie die Ergebnisse des jüngsten Weltklimagipfels im Dezember 2019 in Madrid zeigten. Wollen wir die Katastrophe verhindern, wird unser aller Leben ziemlich anders werden müssen als heute. Nicht unbedingt schlechter, aber anders. Davor haben natürlich viele Angst, und darum versucht die Politik weltweit einen Spagat zwischen »wasch mir den Pelz« und »mach mich nicht nass«. Und viele flüchten in die Fantasien von ausschließlich technologisch-wirtschaftlichen Lösungen oder sogar in die Eskapismen der Silicon-Valley-Boys – einer Übersiedlung auf den Mars beispielsweise …

Die Klimakrise ist in aller Munde. Paradoxerweise wird aber nur wenig über die Vernichtung von Lebensräumen und Arten gesprochen. Es scheint, als wolle man Klima und Artenverlust entkoppeln. Von Seiten der Politik verständlich, will man doch nicht auf zu vielen Baustellen gleichzeitig aktiv werden müssen. Nur wenigen scheint einsichtig, was das veränderte Klima mit dem Verschwinden von Insekten zu tun hat bzw. warum das Klima geschützt wird, wenn Lebensräume so bewirtschaftet und bewahrt werden, dass den Insekten ein Überleben in für die Ökosysteme nötigen Arten und Individuenzahlen möglich ist. Oder dass es in Zeiten der ökologischen Katastrophe einfach nicht mehr angebracht ist, auf Wölfe, Bären und Luchse zu schießen, bloß weil man sie als störend empfindet. Menschen handeln auch im Bereich der Koexistenz mit ihren Mitgeschöpfen auf Basis einer komplexen Gemengelage aus (Un-)Wissen und Überzeugungen, uralten, evolutionär bedingten Antrieben, sozialem Konformismus und Widerständigkeit. Es wäre auch verwunderlich, würden Menschen ausgerechnet in diesem Bereich ihrer Ratio gemäß handeln und nicht vorwiegend nach irgendwelchen Bauchgefühlen und Überzeugungen.

Jedenfalls scheinen viele, darunter zahlreiche Politiker, darauf zu vertrauen, dass die nötigen Entwicklungen die Wirtschaft derart beflügeln werden, dass dadurch der globale Wohlstand nicht sinken, sondern sogar steigen wird. Ich will das optimistische Grundvertrauen in das technologische Potential der Menschen hier nicht vom Tisch wischen, aber dennoch einschränken: Ohne Technologie und Innovation wird es sicherlich nicht gelingen, die ökologische Krise abzufangen und eine zwar verarmte, aber immer noch lebenswerte Biosphäre zu bewahren, mit genügend Tragekapazität für eine Menschheit, der es gelungen ist, ihren Lebensstil auf diese Veränderungen einzustellen. Ausschließlich mit Technologie aber auch nicht. Es ist schon atemberaubend naiv zu glauben, von menschlichem Verhalten verursachte Probleme könnten nur mittels technologischer Innovationen gelöst werden, und das auch noch praktischerweise allein durch die freie Marktwirtschaft. Naiv, aber wesentlich bequemer, als die nötigen Verhaltensanpassungen der Menschen auf der Grundlage gesellschaftlich-demokratischer Einigungsprozesse zu erreichen. In unserem postmodernen, nachideologischen und populistischen Zeitalter scheint die Mehrheit der Politiker nichts mehr zu fürchten, als Leadership zu zeigen und auf Basis gesicherter Erkenntnisse unbequeme Reformen anzugehen. Lieber orientiert man sich an Meinungsumfragen, vermeidet Konflikte mit Wählern und Medien und hält das dann sogar noch für repräsentative Demokratie.

Jedenfalls zieht angesichts des Multitraumas der Biosphäre das Argument nicht mehr, der menschliche Erfindergeist würde schon für Lösungen sorgen, wenn die Probleme auftauchen. Denn die sind schon längst da; mehr noch: noch nie gab es so viele Menschen auf der Welt mit derart vielen gemeinsamen Problemen. Zudem ist noch völlig unklar, ob die digitale Revolution dazu beitragen wird, die ökologische Krise zu bewältigen, oder diese vielmehr verschärft.

Es wird rasch sowohl technologische Innovationen als auch nicht immer populäre gesellschaftliche Veränderungen brauchen, um unseren Kindern und Enkeln noch den Funken einer Überlebenschance zu lassen – und das nicht auf Kosten von natürlichen Lebensräumen und Mitgeschöpfen. Denn Menschen sind »biophil« im Sinne des deutschamerikanischen Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Erich Fromm und des US-amerikanischen Biologen Edward O. Wilson. Sie benötigen daher Natur und andere Lebewesen nicht bloß als ökologische Ressourcen, sondern auch zu ihrem mentalen Wohlbefinden – so sind Menschen aufgrund ihrer evolutionären Herkunft nun mal. Kinder brauchen eine minimale Naturumgebung, um optimal aufzuwachsen, um ihre Entwicklung zu selbstbewussten, vertrauensfähigen und emotional balancierten Persönlichkeiten zu fördern, die willens und fähig sind, Herausforderungen im Sinne des Gemeinwohls zu begegnen und sich nicht widerstandslos Demagogen und »starken Männern« auszuliefern. Zudem stärkt ein Aufwachsen in Kontakt mit Tieren und Natur die lebenslange Resilienz gegenüber mentalen Problemen und psychischen Erkrankungen.

Die Anfälligkeit für solch unliebsame Überhitzungen der menschlichen Psyche ist in modernen urbanen Zivilisationsgesellschaften ohnehin enorm hoch geworden, Tendenz offenbar stetig steigend. Ob diese Steigerung einer durch neue Lebens- und Arbeitsbedingungen veränderten Realität geschuldet ist oder vielmehr der gesteigerten Nabelschau einer psychologisierten Gesellschaft entspringt, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Vieles spricht allerdings für eine reale Zunahme der psychischen Probleme.

Nein, früher war nicht alles besser. Die Pracht der Gründerzeit beruht auf einer physisch und soziokulturell hungrigen Landbevölkerung, die im 19. Jahrhundert in die Städte strömte, dort zwar Brot und Arbeit fand, aber zunächst keinen Weg aus dem Elend und oft genug einen frühen Tod. Gesellschaftliche Zustände bewirken offenbar spezifische mentale Probleme. War im Wien um die vorletzte Jahrhundertwende die Neurose en vogue, so dominieren in unseren sich stetig beschleunigenden urbanen Welten Angststörungen, Depressionen und suboptimal ausgebildete exekutive Funktionen, also jene Fähigkeiten, die uns ermöglichen, situationsangepasst, selbstständig und kontrolliert zu handeln. Tatsächlich stehen heute psychische Probleme bereits an erster Stelle bei den Ursachen für Krankenstände, und 40 % der Elite des universitären Nachwuchses, der PhD-Studenten, haben angeblich mentale Probleme. Dies bedeutet, dass soziale Umstände und gesellschaftliche Bedingungen krank machen können, dass sich also Menschen nicht beliebig an von technologischen Neuerungen, Konzernen und Ökonomie diktierte Lebensbedingungen anpassen können; dass sie bestimmte Bedingungen brauchen, um in Balance und gesund zu bleiben, allen voran Geborgenheit, Solidarität und Sicherheit. Menschen mit ihren im Artvergleich einzigartig hoch getunten Gehirnen kommen als Art und bereits als Individuum im Mutterleib mit bestimmten, aus ihrer evolutionären Geschichte erklärbaren Bedürfnissen zur Welt. Werden diese nicht erfüllt, sind suboptimale individuelle Entwicklung, limitierte Anpassungsfähigkeit an die Schöne Neue Welt und geringe Resilienz besonders gegenüber mentalen Problemen die Folgen.

Das weiß man zwar schon seit langem, will es aber immer noch nicht wirklich wahrhaben. Vielleicht braucht es auch für diesen nicht immer angenehmen Prozess menschlicher Selbsterkenntnis eine medienwirksame Greta Thunberg, die uns den Spiegel vorhält. Seit Jahrtausenden – und besonders im letzten Jahrhundert – ist und war es für die Ideologen aller Schattierungen viel einfacher, ein ihnen genehmes Wunschbild vom Menschen zu projizieren, als zu fragen, wie Menschen beschaffen sind und was sie zur optimalen Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer Fähigkeiten brauchen. Um fair zu sein: Es fehlte bislang auch an diesbezüglichem gesichertem Wissen. Viel von dem, was im letzten Jahrhundert als solches angepriesen wurde, war aufgrund der noch sehr bescheiden entwickelten Naturwissenschaften kaum mehr als ein Kratzen an Oberflächen, verbunden mit ideologisch gefärbten Interpretationen. So wurde die Biologie zu einer der Säulen der krausen pseudowissenschaftlichen Doktrin der Nationalsozialisten – und manche Biologen stellten sich nur allzu willig in deren Dienst.

Heute ist die ideologische Vereinnahmung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich schwieriger geworden. Denn das Kind verbrannte sich an den Nazis und scheut seitdem das Feuer. Zudem wurden die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in den letzten Jahren und Jahrzehnten exponentiell detaillierter, tiefer und belastbarer. Damit verfügen wir heute über die Möglichkeit einer realistischen, empirischen Sicht auf die Conditio humana – sofern es uns gelingt, den Wald vor lauter Bäumen nicht aus den Augen zu verlieren und Muster aus der Fülle des Wissens zu destillieren.

Die ökologischen Probleme hängen ursächlich mit der »Tragik der Allmende« zusammen: Bereits Aristoteles bemerkte: »Was viele gemeinsam nutzen, wird am wenigsten sorgfältig behandelt, weil alle Menschen ihr Eigenes mehr wertschätzen als das, was sie gemeinsam mit anderen haben.« So gehört die Luft allen und es scheint genug davon zu geben. Daher machten sich bis vor kurzem Autofahrer, Flugpassagiere, Industrielle oder Kohlekraftwerkbetreiber wenig Gedanken darüber, dass die von ihnen verursachten Verbrennungsprozesse CO2 freisetzen und damit die Zusammensetzung des Allgemeinguts Luft verändern. Zwar schämen sich manche Leute bereits fürs Autofahren oder Fliegen; wirksamer wäre es freilich, wir würden lieb gewordene, CO2-emittierende Gewohnheiten auch tatsächlich einschränken. Denn solange wir atmen, nehmen wir Sauerstoff auf und geben CO2 ab. Ob man sich bald für das Atmen schämen muss? Oder sich nur noch sehr langsam bewegen sollte, um ein Minimum an CO2 abzugeben? Klingt absurd, wird aber von manchen ebenso ernsthaft diskutiert wie der Reproduktionsverzicht. Natürlich trifft es zu, dass jeder zusätzliche Erdenbürger den ökologischen Fußabdruck der Menschheit vergrößert – nicht bloß durch sein Atmen –, wie bescheiden der individuelle Beitrag auch sein mag. Aber keine Kinder mehr zu gebären, würde auch die Entwicklung jener sozialen und technischen Kreativität, des Optimismus, jener Form von Leadership bremsen, die es zur Bewältigung der Krise dringend brauchen wird.

Der US-Ökologe Garrett Hardin erweiterte 1968 den bereits zuvor existierenden Begriff der »Tragik der Allmende«: würde man nur nach technologischen Lösungen suchen, so wäre diese Tragik das unvermeidliche Schicksal der Menschheit, meint Hardin. Man müsste vielmehr die Perspektive ändern und das Problem mit Blick auf das Gemeinwohl angehen. Der Grundsatz, dass ein Überleben von Mensch und Biosphäre weniger von der Technologie als von einer massiven menschlichen Verhaltensänderung abhängen wird, wurde also bereits vor 50 Jahren formuliert. Jenseits von vielen religiös und ideologisch unterlegten moralischen Appellen in diese Richtung ist im letzten halben Jahrhundert allerdings nicht allzu viel Vernünftiges geschehen, obwohl uns buchstäblich das Wasser bis zum Hals steht. »Vernünftig« bedeutet im Einklang mit der menschlichen Natur, nicht aber, dass man sich ihr bedingungslos andient. Denn dann würde man das Sein für das Sollen nehmen – ein naturalistischer Fehlschluss, der nicht nur aus ethischen, sondern auch aus verhaltensbiologischen Gründen abzulehnen ist.

Ein seltsames Paradoxon: Wir naschen stolz vom Baum der Erkenntnis, solange es nicht um uns selber geht.

Über unsere eigene Natur Bescheid zu wissen ist von höchster Relevanz für die Politik und die Bewältigung der Krisen auf unserer dicht besiedelten Erde. Tatsächlich aber liegt hier einer der seltsamsten blinden Flecke der Politik: Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens werden nur ganz selten auf der Basis gesicherten Wissens darüber, wie Menschen eigentlich funktionieren, gemacht. Vielmehr entstanden, seit Menschen sich politisch organisieren – in komplexerem Ausmaß seit der neolithischen Revolution, dem Sesshaft-Werden – die unterschiedlichsten Ideen und Konzepte über das Funktionieren von Gemeinschaft. Sie nutzten als Herrschaft einiger starker Männer entweder nur wenigen, nämlich den Herrschenden und ihren Klans – Frauen spielten dabei nur selten Rollen als Herrscherinnen, und wenn, dann grundsätzlich im Rahmen patriarchaler Systeme – wie in Oligarchien oder absolutistischen Herrschaftssystemen. Solche Herrschaftssysteme stützen sich auf Wissen, Herkunft oder göttlichen Willen, sie bedienen sich pseudodemokratischer Verfahren, beseitigen potentiell mächtige Konkurrenten oder beteiligen sie an der Macht.

Andere Konzepte von Herrschaft sind durchaus von Sendungsbewusstsein und dem Bemühen um Gemeinwohl erfüllt. Solche rational einigermaßen begründbaren, meist idealistisch motivierten Konzepte nennt man gewöhnlich Ideologien. Sie wollen zumindest in ihrer Reinform nur das Beste, und das meist für alle, schießen aber nicht selten am Ziel vorbei, verraten ihre eigenen Prinzipien und führen in Katastrophen. Regelhaft entwickeln sich aus ziemlich egalitären Jäger-und-Sammler-Gesellschaften »Bigman-Systeme«, und Heldengesellschaften, aus Häuptlingen werden Alleinherrscher, die in ihrer Machtausübung das Spektrum vom grausamen Nero über den noch heute bewunderten aufgeklärten Absolutismus eines Joseph II. bis zur Tyrannei der pervertierten »Recht-und-Ordnung-Bürokratie« von Adolf Hitler abdecken.

Schon in der Antike rangelten die Tyrannen mit demokratischen Organisationsformen. Besonders intensiv und blutig wurde dieser Widerstreit im 20. Jahrhundert, als der Kampf zwischen Ideologien, Diktaturen und der liberalen Demokratie Millionen Tote verursachte. Die Machtverhältnisse zwischen den Blöcken stabilisierten sich nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs einigermaßen, internationale Abkommen regelten den Welthandel und sogar den NichtEinsatz von Atomwaffen. So kann man es nach dem Chaos der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für durchaus bemerkenswert halten, dass uns mit Ausnahme der schrecklichen »Testfälle« Hiroshima und Nagasaki der Einsatz von Atombomben bislang erspart geblieben ist. Heute ist mit dem Zerbröseln von Nachkriegsordnung und Multilateralismus, mit Atomwaffen in den Händen von immer mehr Ländern und Diktatoren, das Risiko einer atomaren Eskalation so groß wie nie zuvor. Besonders Europa lebt seit 1945 in vorher nie gekanntem Frieden und Prosperität – trotz aller Querelen und Diskussionen, die man ja auch positiv sehen könnte, insofern hier Länder der EU ihre unterschiedlichen Vergangenheiten aufarbeiten und – mühsam, aber doch – zusammenfinden.

»Wohlfühlwissenschaftler« wie der US-amerikanisch-kanadische Experimentalpsychologe Steven Pinker, der schwedische Statistiker und Klimawandelleugner Ola Rosling oder der dänische Politologe Bjørn Lomborg – allesamt keine Biologen – rechnen uns vor, dass es den Leuten auf der Erde noch nie so gut ging wie heute. Das trifft zu, denn seit den 1970ern nahm die Zahl der Kinder mit Pflichtschulbildung stark zu, die der Hungernden und vor allem der in Kriegen getöteten Menschen ab. Diese Fakten nähren vorsichtigen Optimismus. Dennoch: Nachhaltig ist unser Wohlstand angesichts von Klimawandel, Vernichtung von Lebensräumen und Arten sowie Degradation der Böden nicht, trotz aller Errungenschaften der landwirtschaftlichen Technologie und der Züchtung geeigneter Nutzpflanzen im Wettlauf mit dem Klimawandel. Wir werden also angesichts des ökologischen Multitraumas der Biosphäre kreativen Optimismus brauchen wie einen Bissen Brot.

Schön, dass es der Menschheit noch nie so gut ging. Aber Wachsamkeit bleibt angesagt; weltweit degradieren in großer Geschwindigkeit landwirtschaftliche Flächen, Lebensräume und Biodiversität. Zudem sind mühsam errungene demokratische Strukturen in den strukturell wichtigsten und mächtigsten Staaten der Erde gefährdet. Das hat direkte Auswirkungen auf unsere Lösungskapazität für die anstehenden Probleme. Denn die ist mehr als mit allen anderen Formen der politischen Organisation mit der liberalen Demokratie verbunden. Diese ist nicht bloß eine von vielen ideologisch begründbaren Herrschaftsformen, sie ist vielmehr Bedingung für eine kohäsive Gesellschaft, für Zufriedenheit und Lebensqualität ihrer Bürger, für Kreativität und Prosperität. Wie noch zu begründen sein wird, entspricht sie am besten dem menschlichen Maß, der menschlichen Natur. Sie als westliche Erfindung zur Ausübung von Hegemonie über den Rest der Welt zu diffamieren, ist eine Ausrede jener Mächtigen, die durch sie an Macht verlieren könnten. Freilich kann man Demokratie weder missionarisch verbreiten noch von oben verordnen, sie funktioniert nur, wenn sie von unten erstritten wird. Ausnahmslos und überall. Um zu erstarken, braucht sie daher zum Beispiel in Österreich den Abbau der noch aus Zeiten Metternichs herrührenden Geheimniskrämerei sowie der Obrigkeits- und Untertanenmentalität; »die da oben« werden es nicht richten, das muss schon die Zivilgesellschaft selber tun.

Umso problematischer ist es, dass weltweit Demokratien Mangelware sind. Während sich über 90 % der Staaten der Welt demokratisch wähnen, machen »wirkliche«, also funktionierende liberale Demokratien weit weniger als 10 % aus, Tendenz rückläufig. Das hält meinen Optimismus in Grenzen, ob es gelingen wird, auf Basis internationaler Abkommen Klimaziele zu erreichen. So scheiterte etwa im Dezember 2019 der Klimagipfel von Madrid. Es mag überraschen, dass dort ausgerechnet das bezüglich seines kreativen Potentials und weltweiten Einflusses immer wieder totgesagte Europa zumindest Rückgrat zeigte. Blockiert wurden die dringend nötigen Einigungen von der angeschlagenen Demokratie USA, von Diktaturen wie China oder Pseudo-Demokratien wie Brasilien, das wie die Philippinen im Moment von einem primitiven und populistischen Autokraten zugrundegerichtet wird. Die großen Machtblöcke versuchten sogar, in der Klimapolitik den Rückwärtsgang einzulegen. Wie ist dieses weltweite Auseinanderklaffen von Vernunft und Interessen zu erklären? Primär dadurch, dass es sich die demokratisch legitimierten Vertreter der – mit wenigen Ausnahmen – liberalen Demokratien Europas nicht leisten konnten, in Madrid keine wirksame Klimapolitik zu vertreten. Ihre Wähler hätten sie abgestraft. Folgerichtig ist auch die Bewegung »Fridays for Future« nirgends erfolgreicher als in Europa.

Schleichend verabschiedet sich die Demokratie heute dort, wo sie nie richtig funktionierte. In Ungarn und der Türkei wird sie von Autokraten gewürgt. Und nach mäßig demokratischen Intermezzi werden heute wichtige Länder wie die Philippinen, Saudi Arabien, Brasilien und andere von autokratischen Regimen unterschiedlicher Prägung regiert. Die Welt ist also offenbar nicht zwangsläufig auf dem Weg zum Licht, das Gute verdrängt nicht automatisch das Böse.