Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Saga
Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi
Übersetzt
Gabriele Haefs
Copyright © , 2019 Unni Lindell und SAGA Egmont
All rights reserved
ISBN: 9788726343991
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Sie saß in ihrem Holzbett und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. In den hellgrünen Gittern des Bettes gab es viele kleine Vierecke, wie die Bullaugen auf einem Schiff, wie die Fenster in einem niedrigen Schulhaus, wie in einer geheimen Hütte im Wald.
In einer Ecke des Bettes saß die Puppe, verängstigt und hart und ganz kalt im Gesicht. Wer sollte auf sie aufpassen? Wer sollte sie trösten?
Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihre Knie waren vom Vortag her noch schmutzig. Unter den Fußsohlen klebten noch Sandkörner und Teer von der staubigen Straße, wo der Lieferwagen in der heißen Sonne Öl verloren hatte. Solche Sonne konnte Menschen verbrennen.
Ehe sie auf die verklebte, heiße Straße hinausgelaufen war, hatte sie im Auto der Nachbarn gehockt. Das Auto hatte auf dem Platz vor der Haustür gestanden. Sie hatte auf dem Rücksitz gesessen und aus dem halbrunden kleinen Heckfenster hinausgeschaut. Die Puppe streckte die Arme in die Luft, als würde sie eine unsichtbare Last heben. Das Auto stand ganz still. Der Nachbar wusch es gerade, und der Schaum floß die Fensterscheiben hinunter. Der Nachbar hatte das einzige Auto in der Gegend. Er lächelte sie an, und sie durfte sich hineinsetzen. Und der Schaum war bunt. Sie sah Städte, einen Turm und einen Ballsaal, in dem drei Prinzessinnen in lila Kleidern tanzten. Und auf dem Daumen des Nachbarn saß ein stattlicher Prinz. Der Prinz drehte für die drei Prinzessinnen Pirouetten. Aber dann, kaum war er lieb geworden, wurde er auch schon wieder böse und zerrte die Prinzessinnen in den Schaum.
Sie saß auf dem Rücksitz des Autos und roch das warme Gummi der Sitze. Dieser eklige, herbe Geruch ließ ihre Nasenlöcher brennen. Sie hockte da und preßte die Oberschenkel aneinander. Sie drückte so fest sie konnte, während die drei Prinzessinnen von den Fensterscheiben flossen und als kleine Pfütze auf dem Kiesweg endeten. Plötzlich sah jemand sie an. Ihre Mutter stand am Küchenfenster. Ihre Mutter sah sie durch die beiden Fensterscheiben hindurch an. Sie hob den Blick und sah der Mutter durch das Wasser, durch die beiden Fensterscheiben in die Augen. Und sie dachte: Ich weiß nichts. Nichts weiß ich. Nur, daß er tot ist und daß mir das nichts ausmacht.
Aber in der Nacht davor: Da saß sie unter der Decke, in ihrem hellgrünen Holzbett, sie senkte den Kopf und lugte durch die Vierecke im Gitter. Die Puppe schaute auch hinaus, und das Viereck wurde zu einem richtigen Fenster.
Draußen sah sie das Kartoffelfeld, wo sie zusammen mit Henki und Villa Kartoffeln stahl. Noch war es gar kein richtiges Kartoffelfeld, sondern nur ein winziger Flecken zwischen den vielen neuen Wohnblocks. An einer anderen Stelle hatte jemand einen Bus abgestellt. Einen alten verrosteten Bus mit nur zwei Rädern.
Unter der Bettdecke konnte sie noch immer die wütende Stimme ihres Vaters hören. Aber es war eine Sommernacht, draußen war es noch ein wenig hell, und die Decke konnte nicht alles Licht aussperren. Das Licht wollte zu ihr herein, wollte sie wecken. Sie faltete die Hände vor den Knien und sang: Schlaf du ruhig, mein Blümelein, denn es ist noch Winter. Sie sang leise, fast ohne Stimme. Sie hauchte das Lied wie kleine weiße Schneeflocken. Die Puppe bewegte vorsichtig ihren Mund, sie hatte eine schöne helle Stimme. Sie dachte an das viele Baumaterial, das vor dem halbfertigen Block aufgestapelt war. An die vielen Bretter, Steine, die Säcke mit Nägeln und Mörtel und das gelbe Isoliermaterial. Das sah so weich und fein aus, sie hatten es schichtweise zu Prinzessin-auf-der-Erbse-Matratzen aufeinandergetürmt. Aber nicht alles war weich, es gab auch Glas, das sich in ihre Haut gebohrt und gestochen und gekratzt hatte. Wie Nadeln. Die Glasscherben hatten ihre Unterarme zerschrammt, und ihre Mutter hatte sie geschüttelt und gesagt, das sei lebensgefährlich. Aber ob sie davon sterben könnte, so wie von Tinte?
Einmal hatte sie sich mit Tinte die Innenseite ihrer Unterarme bemalt, um die Adern deutlich zu kennzeichnen. Aber ihr Vater hatte gesagt, das sei lebensgefährlich, sie könne daran sterben. Sie war aber nicht gestorben, sie war nur so traurig geworden wie jetzt, weil die Stimme des Vaters auf die Mutter einhackte, weil die Mutter weinte und weil der Vater immer wütender wurde. Die Traurigkeit, die unter ihrer Zunge gesessen hatte, als sie glaubte, sie müsse sterben, zuerst von der Tinte, dann von den Glasscherben, diese Traurigkeit schmeckte hellbraun und durchsichtig. Sie malte der Puppe mit Tinte ein Auge auf die Stirn. Aber im allertraurigsten Moment war sie eingeschlafen. Als sie wieder aufgewacht war, war alles heller und ganz still gewesen. Ihre Matratze war durchnäßt und stank. Und sie fror, aber sie war auch erleichtert, weil sie die Stimme ihres Vaters nicht mehr hörte. An seiner bösen Stimme konnte man sterben. Die Mutter konnte an seiner bösen Stimme sterben. Seine böse Stimme war so schwierig. Aber jetzt: Die Puppe hatte ihr ein Geheimnis erzählt. Die Puppe hatte durch den Türspalt gelugt. Hatte ein Geheimnis gesehen. Mit dem Auge auf der Stirn. Das Auge war aus Tinte. Die böse Stimme war verschwunden. Sie würde nie mehr gefährlicher als Tinte und Glas sein. Die Stimme war ins Himmel-Land gefahren. Die Stimme würde nie mehr zurückkommen.
Nach und nach verlierst du deinen Körper.
Durch die Nacht, in die du hineingehst,
oder durch das Licht, das sich zurückzieht.
Du verlierst deine Züge. Ehe du durchsichtig wirst,
wird deine Haut glatt.
Du gleitest Wange an Wange dahin, Stirn an Lende.
Du fließt neben dem Blut. Denn das Gesicht ist
nur der festgehaltene Augenblick, wenn die Ruder
im Meer gesenkt oder gehoben werden.
Rabbi Zaccai
Das Holz sah so lebendig aus. Zwei Astlöcher wurden zu Fuchsaugen. Der Junge fuhr vorsichtig mit dem Finger darüber. Das Mädchen preßte ihre Wange an den Türrahmen und betrachtete den unordentlichen kleinen Haufen aus Zeitungen auf der Fußmatte. Der Junge bückte sich und lugte durch den Briefschlitz in der dunkelbraunen Eichentür. Er hob den glitzernden Deckel hoch und schaute in die Wohnung, da niemand aufmachte, wenn er klingelte, weil er mit Tina und John spielen wollte.
»Ich kann einen Toten sehen«, sagte er aufgeregt. »Echt wahr.«
»Nee«, sagte das Mädchen und stupste den Jungen in den Rücken. »Geh weg, laß mich mal gucken!«
»Ich will auch gucken. Und ich hab’s zuerst gesehen. Nicht du. Ich!«
Der Junge zerrte am Pullover des Mädchens, wollte sie wegschieben. »Ich muß mal sehen, ob ich den kenne, ob das der Vater ist.«
»Das ist der Vater, das seh’ ich an seiner Hose«, sagte das Mädchen und fuhr sich über die blonden Haare.
Der Junge schnitt eine zahnlose Grimasse, dann bückte er sich wieder und steckte die Finger durch den Briefschlitz.
»Da drin ist auch Blut, echtes Blut, aber das ist braun.«
»Wir müssen Bescheid sagen«, sagte das Mädchen, als der Junge seine Finger so ruckhaft aus dem Schlitz zog, daß der sich mit einem leise singenden Geräusch schloß.
Das Frühlingslicht fiel durch die hohen Buckelglasfenster und ließ die Treppenstufen dicht bei der Wand heller aussehen. Aber im grauen Treppenhaus mit der braunen Treppe war es trotzdem kühl.
»Das ist vielleicht ein Geheimnis«, sagte der Junge und bückte sich zum dritten Mal. Als er gerade die Finger wieder in den Briefschlitz schob und den länglichen Messingdeckel nach innen preßte, klingelte in der Wohnung das Telefon. Der Junge riß so schnell seine Hand zurück, daß er sich an der Metallkante schnitt und anfing zu bluten.
Das Mädchen lief bereits die Treppe hinunter. »War jemand in der Wohnung?« fragte sie mit tränenerstickter Stimme. »Wollte dir da jemand was tun, oder wie?«
Das Polizeipräsidium in Grønland war in kühle Frühlingssonne gebadet. Die vielen Fenster dieses riesigen Gebäudes reflektierten die Sonnenstrahlen, und es sah aus, als ob im Haus ein Feuer wüte. Die Bäume im Park streckten ihre dunklen, blattlosen Finger aus. Die Rasenflächen waren noch braungelb und feucht. Die eleganten Laternen, die der Architekt für das Tüpfelchen auf dem i gehalten hatte, standen wie Wärter in Reih und Glied.
Wie immer war im Polizeipräsidium und in seiner Umgebung große Aktivität zu beobachten. Es lag am Tor zur falschen Seite der Stadt, fast hinter dem Rücken von Oslo Plaza und Oslo City.
Die Menschen eilten durch den Park, manche führten Hunde aus, andere zogen Kinderwagen hinter sich her und versuchten, gummihosentragende größere Geschwister im Zaum zu halten. Eine gebrechliche alte Dame mit weinrotem Hut verteilte eine Tüte Brotkrümel auf dem Rasen und wartete auf Vögel.
Hinter den rußfarbenen Glasfenstern hatte die Frühjahrssonne eine staubige, schwere Wärme produziert. Wärme, Frühjahrsmüdigkeit und Streß sorgten für eine Atmosphäre der Resignation. Nichts nahm je ein Ende. Sie würden niemals weniger zu tun haben. Es würde Sommer werden, Herbst, Winter und dann wieder Frühling. In alle Ewigkeit. Die Papierstapel würden immer höher werden. Drogen. Einbrüche, Überfälle, Diebstähle. Einbrüche, Überfälle, Diebstähle. Vergewaltigungen und Vergewaltigungen und Vergewaltigungen. Morde und verdächtige Unfälle. Kleinkinder und Ehepartner, die starben. Immer wieder und immer wieder. Wie ein Ewigkeitskarussell würden die Verbrechen die Polizeibeamten Jahr für Jahr mit Arbeit und Überstunden versehen. In diesem Frühling hatten sie in Oslo schon mehrere Morde gehabt. Drei, um ganz genau zu sein.
Kommissar Cato Isaksen war eine der schwarzen Ameisen in dem großen Glashaus. Am Mittwoch, dem 17. April, wurde er um kurz vor vierzehn Uhr vom vierten Osloer Mord des Jahres unterrichtet. In einer Wohnung im Trudvangvei in Majorstua war ein Toter aufgefunden worden. Erstochen. Niemand wußte, wie lange er dort schon gelegen hatte. Vermutlich erst einige Tage.
Polizeiadjutant Roger Høibakk, ein dunkelhaariger, schlanker, recht großer Junggeselle von zweiunddreißig Jahren, schaute herein und betrachtete seinen Kollegen resigniert. Dann ließ er sich auf den Stuhl auf der anderen Schreibtischseite fallen.
»Myklebust«, sagte er und nickte zur Tür hinüber, »ist schon im Anmarsch.«
Cato Isaksen schob zwei Ordner beiseite, mit denen er sich bisher beschäftigt hatte. »Hol doch bitte eine Runde Kaffee. Ich bring die hier eben weg.« Er nahm die beiden Ordner und war verschwunden.
Roger Høibakk stand widerwillig auf und holte vom Automaten hinten im Flur zwei Pappbecher mit heißem Kaffee. »Willst du heute normal Feierabend machen?« fragte er, als Cato Isaksen wieder da war. In seiner Stimme lag ein Hauch von Ironie. Cato Isaksen nickte. »Babyschwimmen«, erklärte er vielsagend. »Sigrid findet es sehr wichtig für den Kleinen, daß ich mitkomme. Außerdem kommen heute die beiden Großen. Ich muß sie spätestens um halb sechs abholen, wenn es sich lohnen soll. Und sonst kriegt Bente Zustände«, fügte er hinzu.
Der Kommissar fuhr sich müde mit einer Hand über das Gesicht. Roger Høibakk grinste und schätzte sich glücklich, schließlich hatte er sich keine Familie zugelegt. In der Kriminalliteratur hatten die Ermittler fast nie Familie, zumindest keine Kinder. Weder in den Büchern von Kim Småge noch bei Jon Michelet oder Anne Holt. Roger Høibakk hatte sie alle gelesen. Mit Anne Holt hatte er kurzfristig sogar zusammengearbeitet. In Verbindung mit diesem verdammten Tråkka-Überfall, der nie aufgeklärt worden war. Gemeine Vorstellung, wieviel Geld die Frau bei ihrer neuen Karriere eingesackt hatte, während er noch immer an dieses Haus festgekettet war und sich für ein lausiges Gehalt kaputtschuftete.
»Du hättest dich an die Literatur halten sollen, Isaksen«, grinste Roger Høibakk. »Und dir keine Kinder zulegen, das paßt nicht zu unserem Job.«
Hauptkommissarin Ingeborg Myklebust erschien in der Türöffnung. Der Gesichtsausdruck der Vorgesetzten zeugte von Streß. Ihre Frisur war in leichte Unordnung geraten. »Ich glaube, ihr müßt allein zum Tatort fahren, Jungs, wir haben noch einen weiteren Fall. Schaut nachher mal bei mir rein. Ich bleibe heute länger.«
Cato Isaksen stand auf und sah Roger Høibakk resigniert an. »Die Spurensicherung ist schon vor Ort«, seufzte er. »Machen wir, daß wir fortkommen.«
»Sag Randi, sie möchte Sigrid anrufen«, bat Cato Isaksen seinen Kollegen und nickte dabei vielsagend in Richtung Toilette. »Und sicherheitshalber auch Bente«, fügte er hinzu und verschwand dann hinter der blauen Tür mit dem silbernen »H«.
Randi, eine jüngere Kollegin, die es bisher nur zur Kommissarsanwärterin gebracht hatte, reagierte mürrisch, als Roger Høibakk ihr das ausrichtete. Sie rief nicht zum ersten Mal bei Kommissar Isaksens Mitbewohnerin an, um auszurichten, daß Isaksen zu irgendeiner Verabredung zu spät kommen würde. Noch schlimmer war es, Isaksens Exfrau mitteilen zu müssen, daß er die beiden großen Söhne wohl nicht wie abgemacht holen konnte. Randi fand es schrecklich, wenn einer der Jungen ans Telefon kam. Die Enttäuschung in ihren Stimmen erweckte in ihr fast schon Schuldgefühle.
»Kopf hoch, sei froh, daß nicht du so hemmungslos mit Kindern um dich gestreut hast.« Roger Høibakk drehte sich ungeduldig zur Toilettentür um.
Im Toilettenraum wusch Cato Isaksen sich die Hände. Sein Spiegelbild zeigte ihm einen erschöpften 43jährigen mit dünnen, blonden Haaren und scharfen Zügen. Seine Kopfhaut würde durch die dünnen Haare bald deutlich zu sehen sein. Die dunklen Ränder unter seinen Augen hatten sich vertieft. Er betrachtete seine Hände, während er kaltes Wasser über seine Handgelenke strömen ließ. Er dachte an etwas, das er in einem seltsamen Buch gelesen hatte, als er in der letzten Nacht das Baby wiegen mußte, weil es einfach nicht schlafen wollte. Nach und nach verlierst du deinen Körper. Durch die Nacht, in die du hineingehst, oder durch das Licht, das sichzurückzieht. Ehe du durchsichtig wirst, wird deine Haut glatt. Du gleitest Wange an Wange dahin, Stirn an Lende. Du fließt neben dem Blut. Denn das Gesicht ist nur der festgehaltene Augenblick, wenn die Ruder im Meer gesenkt oder gehoben werden.
Allein schon, daß er sich an diese Sätze erinnern konnte, machte ihm angst und ließ ihn sich alt fühlen. Auf irgendeine Weise schien es zwischen dem Gesicht im Spiegel und der Wange, die an Wange dahinglitt, eine Verbindung zu geben. Das Wasser verschwand im schwarzen Abflußloch.
Hauptkommissarin Ingeborg Myklebust lief über den Flur, als er aus der Toilette kam. Sie blickte ihn fragend an. »Seid ihr immer noch nicht weg?«
»Sind schon unterwegs«, antwortete Cato Isaksen gereizt und blickte auf dicken Ordner unter ihrem Arm. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief Pia Halvorsen, der frischeingestellten Juristin, voll in die Arme.
»Tut mir leid«, sagte er und machte, daß er nach unten in die Garage kam.
Roger Høibakk stand schon neben dem zivilen Dienstwagen, einem dunkelblauen Opel Corsa. Er lehnte am Wagen, der alles andere als sauber war. »Sieh dich doch an«, sagte Cato Isaksen und zeigte auf die Hose seines Kollegen. »Dreck«, fügte er hinzu, steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür. Als beide im Wagen saßen, er hinter dem Lenkrad und Roger auf dem Beifahrersitz, zog Roger eine noch nicht angebrochene Packung Kaugummi aus der Tasche. Er wischte sich den trockenen Schmutz ab. Cato Isaksen startete den Motor und schnallte sich an. Roger Høibakk öffnete die Packung und steckte ein Kaugummi in den Mund. Er bot auch seinem Kollegen eins an, aber der schüttelte den Kopf.
»Was wissen wir eigentlich?« Roger zog sich den Sicherheitsgurt über die Brust.
»Nicht viel, ein paar Kinder haben den Toten durch den Briefschlitz entdeckt. Die Mutter von einem Kind, ich glaube, es war ein Junge, hat uns verständigt.« Cato Isaksen rückte den Spiegel gerade. »Wahrscheinlich liegt er da schon seit einigen Tagen.«
Roger Høibakk warf die Kaugummipackung aufs Armaturenbrett und zog einen schwarzen Kamm aus der Hosentasche. Der Kamm war leicht abgerundet. Er klappte die Sonnenblende herunter und kämmte sich seine vollen schwarzen Haare nach hinten.
Cato Isaksen schwitzte in der Frühlingssonne, und die Eitelkeit seines Kollegen versetzte ihm einen Stich der Irritation. Die Fensterscheiben des Wagens waren von eingetrockneten Regentropfen bedeckt. Eine dünne Schicht grauen Frühlingsstaubes lag auf dem Armaturenbrett. Der Schmutz ließ seine düstere Stimmung noch tiefer sacken.
Es fiel ihm nicht schwer, sich Sigrids resignierten und verärgerten Gesichtsausdruck vorzustellen. Auf irgendeine hoffnungslose Weise hielt Sigrid es immer für seine Schuld, wenn irgendwer sich umbringen ließ.
»Ist dein Leben problematisch, mit den Jungs und allem Hin und Her, meine ich?« Roger musterte seinen Kollegen ernsthaft.
»Wenn ich gewußt hätte, worauf ich mich da einlassen würde, also, weiß der Kuckuck«, sagte Cato leise und seufzte. »Ich bin zu alt für so was. Und der Kleine schläft nachts ja so gut wie nie.«
»Aber deine Freundin scheint doch ganz in Ordnung zu sein!«
»Himmel, ja, das ist nicht das Problem. Ich muß bloß auf so verdammt viele Menschen Rücksicht nehmen.«
»Und teuer ist das bestimmt auch.«
»Das kannst du wohl sagen«, bestätigte Cato Isaksen und mußte zu dem schallenden Lachen des anderen einfach lächeln.
»Was hältst du von den Eutern unserer neuen Juristin?« grinste Roger Høibakk.
Cato Isaksen gab keine Antwort. Eine alte Frau ging bei Rot über die Ampel beim Zeitungskiosk in der Bygdøyallé. Er stieg auf die Bremse. »Blöde Kuh!«
»Ich find’ die enorm, wirklich.«
»Was?«
»Die Euter. Die von Pia Halvorsen.« Roger Høibakk kurbelte das Fenster nach unten und spuckte sein Kaugummi aus.
»Werd’ mal ein bißchen genauer an ihr herumschnuppern«, sagte er dann. »Und überhaupt, es ist Frühling. Hast du eigentlich von diesem Dussel in Grønland gehört, so einem Gemüseheini aus der hintersten Walachei, der kurz weg mußte und einen Zettel an seine Tür gehängt hat? Weißt du, was auf dem Zettel stand?«
Cato Isaksen schüttelte geistesabwesend den Kopf.
»Bißchen weg, plötzlich zurück, stand da.« Roger Høibakk legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Cato Isaksen sah kurz zu ihm hinüber und lächelte. Er konnte sich nicht erinnern, Roger jemals schlechtgelaunt erlebt zu haben. Er selber fühlte sich nicht sehr wohl. Wußte nicht so recht, warum. Entweder brütete er eine Krankheit aus, oder das Chaos um ihn herum wuchs ihm über den Kopf. So kam es ihm zumindest vor. Immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er in Gedanken die letzten beiden Jahre durchging. Und sich fragte, was eigentlich schiefgegangen sei. Warum hatte er Bente überhaupt verlassen?
Sigrid, jetzt war er mit Sigrid zusammen. Sollte mit ihr zusammensein. Ein schales Gefühl von Kopie, von Wiederholung, stieg in ihm auf. Im nachhinein wirkte alles wie eine scheinbar zufällige Wiederholung. Wie eine für alle Beteiligten fatale Wiederholung. Ein Sommer wurde zu einem Jahr. Ein Winter zum Frühling. Jetzt war wieder Frühling. Nach dem Frühling kommt der Sommer. Immer wieder. Er fühlte sich gefangen in einem Karussell, das sich immer schneller drehte. Er kam einfach nicht mehr mit. Er konnte jeden Moment herausfallen, alles aus dem Griff verlieren. Der Richtungsverlust war nicht nur ein navigatorisches Gefühl. Sondern ein psychisches Erlebnis. Seine Sinne waren außer Kontrolle geraten. Dieses unbekannte dunkle Loch hatte seine Gefühle beschlagnahmt. Es steckte hinter seiner Stirn und tat weh.
Daß er in Mordfällen ermitteln mußte, ließ ihn nicht unbeeinflußt, das ging sicher allen so. Er dachte allerdings erst seit kurzem darüber nach. Seine Arbeit erinnerte ihn immer wieder daran, wie einzigartig es ist, ein Mensch zu sein. Aber auch unmöglich und tragisch. Das Unmögliche am Menschsein ist, daß der Tod das einzig mögliche Ende darstellt. Das ist für alle Menschen so. Aber die meisten anderen können ihn vor sich herschieben, ihn bei ihren Alltagsbeschäftigungen verdrängen. Er aber trug ihn immer auf den Schultern.
Natürlich war die ganze Maschinerie im Trudvangvei in Gang. Im Hinterhof wimmelte es nur so von Uniformierten aus der Ordnungsabteilung. Irgendwer redete mit der Schar von Neugierigen, die hier zusammengeströmt waren. Einer hatte den weißen Behälter in der Hand und zog weißrotes Absperrband von Geländer zu Geländer, um der Spurensicherung Unbefugte vom Hals zu halten. Dieses Band erinnerte Cato Isaksen immer an die Zuckerstangen aus seiner Kindheit. Sofort mußte er an den Tierpark draußen am Mossevei denken. An den Geschmack der rotweißgestreiften Dauerlutscher.
Im Treppenhaus wurden die Stufen abgesaugt und die anderen Spuren gesichert. Im Erdgeschoß lugte neugierig eine alte Dame durch einen Türspalt.
Auch in der Wohnung im ersten Stock wimmelte es nur so von Leuten. Als Cato Isaksen und Roger Høibakk am Tatort eintrafen, erfuhren sie, daß der Tote vermutlich Svend Ivar Therkelsen hieß und neununddreißig Jahre alt war. Der Mann war natürlich noch nicht identifiziert worden, aber das Foto in seinem Führerschein legte die Annahme nahe, daß Therkelsen gleich hinter der Tür zu dieser Wohnung im ersten Stock auf dem Rücken lag.
Cato Isaksen stieg über die Leiche hinweg. Noch immer, nach all den Jahren, durchfuhr ihn beim Anblick des Todes ein kalter Schauer. Und bei ihm handelte es sich zumeist nicht um irgendeinen, sondern um einen brutalen und oft unbegreiflichen Tod. Noch immer tauchten ausdruckslose Totenmasken aus Jahre zurückliegenden Fällen vor seinem inneren Auge auf. In Verwesung übergegangene Leichname, schreiende, verzerrte Gesichtsausdrücke. Etwas prägte sich ihm immer ein, an etwas konnte er sich später immer noch erinnern. Meistens handelte es sich dabei um Bagatellen. Er blieb stehen und betrachtete die Leiche. Welche Erinnerung würde ihm wohl diesmal bleiben? Vielleicht der eine Arm, der sich mit erstarrten, leeren, ringlosen Fingern seitwärts ausstreckte? Oder die Haut der Fingerspitzen, die sich blau verfärbte? Oder der geruchlose Mantel des Nichts, der sich mattglänzend über das Gesicht des Mannes gezogen hatte? Auch das war eine Gesellschaft. Die Todesgesellschaft der Stille. Ein Rahmen, ein zufälliger Raum endlosen Endes. Ein hoffnungsloses Gefühl, an einem Fragment der Wirklichkeit des Globus teilzunehmen, das überhaupt nicht existieren dürfte.
Der andere Arm lag auf dem Bauch des Mannes und war von dunklem, geronnenem Blut bedeckt. Der Tote schien die Hand auf die Stichwunde zu drücken, um die Blutung aufzuhalten, oder vielleicht, um festzustellen, ob es denn wirklich stimmte, ob er wirklich in Bauch und Brust von mehreren tiefen Stichen getroffen worden war. Solche Morde geschahen zumeist sehr schnell. Der Mund stand offen. Der Kopf war halb nach hinten gedreht, als wolle der Tote die abgebeizte Kommode anschauen, das Telefon, das stumm dort oben thronte. Unter dem Telefon lugte eine rote Broschüre hervor, eine Werbung für ein Fitneß-Center beim Ullevål-Stadion. Fit in den Sommer, stand in schwarzer Druckschrift darauf. Das Absurde dieses Satzes, in Anbetracht der Situation, richtete die Aufmerksamkeit des Polizisten noch zusätzlich auf diese Broschüre. Er zog sie unter dem Telefon hervor. Jemand hatte oben in die linke Ecke eine Art Einkaufsliste geschrieben. Brathähnchen, Reis, Salat, Bier, Gummibärchen, Brot, Milch stand dort ordentlich untereinander.
»Nichts anfassen!« Ellen Grue, eine Kollegin von der Spurensicherung, starrte ihn von der Wohnzimmertür her gereizt an.
Cato Isaksen hob abwehrend beide Hände und trat einen Schritt zurück. Er hockte sich neben die Leiche. Durch den halbgeöffneten Mund konnte er die Zähne im Oberkiefer und den dunklen Gaumen erkennen. Die Kehle war durchgeschnitten. Die gerade, bräunliche Spur des Messers sah aus wie ein dickes braunes Seil. Und darunter war das Blut, das als dünne braune Schicht auf der Haut erstarrt war. Inzwischen blätterte es wieder ab. Das weiße Hemd war vom Kragen bis zur Brustmitte rotbraun. Die Haut des Toten war von wächsernem Gelb, als sei dieser Mensch eigentlich immer schon eine Puppe gewesen.
»Der ist sicher schon zwei oder drei Tage tot. – Mindestens«, fügte Ellen Grue hinzu. »Aber wir müssen auf den Obduktionsbericht warten.« Sie war eine kleine, energische Frau von Ende Dreißig, dunkelhaarig, mit starken weißen Zähnen. Cato Isaksen hielt sie für unnahbar. Sie strahlte eine abweisende Härte aus, die für ihn nicht meßbar war. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Schärfe. Sie benutzte nicht viele überflüssige Worte, und sie ließ sich nichts anmerken, wenn sie ab und zu selbst dem härtestgesottenen Fahnder ein Gefühl der Unterlegenheit einflößte.
»Weißt du irgendwas über den Toten?« fragte Roger Høibakk. Ein fast unmerklicher süßlicher Gestank, kleine Partikel des Todes, hing in der Luft. Blutlachen waren zu kleinen, bräunlichen Seen erstarrt. Die Küchentür stand halboffen. Auf dem Boden lagen Essensreste und Abfälle herum. Ein seltsam abstraktes, fast schönes Blutmuster umrahmte die Risse im weißen Hemd. Durch diese Risse konnte Cato Isaksen sehen, daß die Stichwunden von geschwollenem, schierem Fleisch umgeben waren. Er überlegte sich unwillkürlich, wie dunkel es in einem Körper sein muß. Herz und Innereien liegen geborgen irgendwo da in der Dunkelheit, unter der Haut, bis eine Messerklinge plötzlich eine Öffnung hineinschneidet und Licht hereinläßt.
Er erhob sich und folgte Roger in das helle, aprikosenfarbene Zimmer. Ellen Grue bat sie gereizt, sich in die Sessel zu setzen und nicht herumzutrampeln. »Wir sind noch nicht fertig«, sagte sie und nickte zu einem Kollegen von der Spurensicherung hinüber, der mit einem kleinen Staubsauger den Teppich abfuhr. »Wir werden hier noch tagelang zu tun haben.«
Die Vorhänge vor den hohen, altmodischen Fenstern waren zu eleganten, üppigen Rüschen zusammengefaßt. Die brusthohe Täfelung gab dem Zimmer etwas vom Gepräge einer Gaststätte. Sie war etwas dunkler als der Rest der Wände. Die weinrote Spitzendecke auf dem Glastisch und die pastellfarbenen Landschaftsmalereien in ihren weißen Rahmen verstärkten das Gasthausgefühl noch. Kein Mann hätte ein Zimmer so eingerichtet. Der Tote mußte eine Frau oder eine Mitbewohnerin haben.
»Wir gehen mit großer Wahrscheinlichkeit davon aus, daß es sich bei dem Toten um Svend Ivar Therkelsen handelt«, wiederholte Ellen Grue. »Er war neununddreißig Jahre alt. Wie gesagt, wir haben in seiner Brieftasche seinen Führerschein gefunden. Dem Türschild zufolge ist das hier seine Wohnung. An der Wand hängt ein Foto mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, das sind sicher seine.«
»Frau oder Mitbewohnerin?« Cato Isaksen betrachtete die beiden kleinen Kinder auf dem Foto.
Ellen Grue nickte. »In Badezimmer und Schlafzimmer liegt Frauenkram herum. Therkelsen hat vermutlich bei einer Computerfirma unten in der Innenstadt gearbeitet, wir haben einen Brief mit ihrem Briefkopf gefunden. Aber das könnt ihr selber feststellen, und bitte, trampelt hier nicht zuviel herum«, sagte sie noch einmal, diesmal zu Roger Høibakk, der aufgestanden war, durch das Zimmer lief und gerade in einen großen Schrank aus Kiefernholz schaute.
»Auch am Briefschlitz oder dem Briefkasten, oder wie das heißt, ist Blut«, sagte Ellen Grue. »Vielleicht das des Mörders. In der Küche gibt es Essensreste. Hähnchenstücke auf dem Boden, Salat im Spülbecken«, fügte sie hinzu und ging zu dem Mann, der auf allen vieren den Staubsauger betätigte. Der hatte offenbar etwas gefunden.
Cato Isaksen erhob sich und ging zur Tür neben dem großen Schrank.
»Das ist das Schlafzimmer«, Ellen Grue schaute sich nach ihm um, lag aber noch immer auf den Knien. »Da ist nichts zu sehen.«
Cato Isaksen achtete nicht auf sie und ging hinein. Das Schlafzimmer war weiß, mit weißen Vorhängen und heller Bettwäsche. Das Doppelbett war auf der einen Seite benutzt, die andere war unberührt. Da es sich um eine altmodische Wohnung handelte, mußte man das Schlafzimmer durchqueren, um ins Kinderzimmer zu gelangen. Das Kinderzimmer war in hellem Gelb gehalten, es gab Vorhänge mit blauen Blumen und an der einen Wand Kinderzeichnungen. Ein Etagenbett aus Kiefernholz stand neben dem Fenster in der Ecke. Tina stand auf dem Bild eines roten Autos, in dem eine Frau saß. John auf den drei anderen Zeichnungen, die allesamt Dinosaurier mit großen Stoßzähnen darstellten.
Cato Isaksen machte sich Notizen. Tina und John.
»Die Frau kommt vermutlich aus den USA oder aus England oder so. Vielleicht aus Australien, was weiß ich.« Ellen Grue war ihnen ins Kinderzimmer gefolgt. »Cheryl Waugham Therkelsen.«
»Weiß irgendwer, wo sie steckt?« fragte Cato Isaksen und schaute auf die Uhr, in einer halben Stunde war er vor dem Schwimmbad mit Sigrid verabredet.
»Nein«, sagte Ellen Grue und zuckte vielsagend mit den Schultern. »Aber zum Glück brauche ich das auch nicht zu wissen.«
»Nein, nein, ich dachte nur, ihr hättet vielleicht mit irgendwem gesprochen, die Nachbarn hätten etwas gesagt.«
»Ich habe noch keine Nachbarn gesehen. Alle haben sich verdrückt. Ich habe den Briefkasten unten im Treppenhaus aufgemacht«, sagte sie dann. »Ein drei Tage alter Brief für Cheryl Therkelsen und drei für den Verstorbenen.«
Cato nahm die Plastiktüte, in die Ellen Grue die Briefe gesteckt hatte. »Die Umschläge werden ins Labor geschickt«, sagte sie und verschwand wieder im Wohnzimmer.
»Würdest du wohl Randi anrufen und fragen, ob sie Sigrid erreicht hat?« Cato Isaksen drehte sich zu Roger um.
»Nein, verdammt noch mal. Mach das gefälligst selber!«
Cato Isaksen seufzte und sah die Briefe an. »Dann frag Ellen, wie lange sie hier noch brauchen. Wann können wir anfangen?«
Ellen Grue steckte den Kopf ins Zimmer. »Ihr könnt euch ruhig Zeit lassen, Jungs«, sie lächelte ernsthaft. »Das hier dauert.«
Sigrid Velde lief die Straße entlang und schob den Kinderwagen vor sich her. Sie war fünf Minuten zu spät. Aber noch ehe sie um die letzte Ecke bog, wußte sie intuitiv, daß Cato nicht auf sie wartete. Sie ballte nervös die eine Faust und versuchte, ihre Enttäuschung in den Griff zu bekommen, die nun wieder steinschwer in ihrem Bauch ruhte. Sie gewöhnte sich langsam an diese Steine. Daß diese Beziehung, in die sie wirklich so viel investiert hatte, so schnell in Treibsand geraten war! Mit Cato schien irgend etwas passiert zu sein. Sie konnte nicht genau sagen, was. Sie wußte auch nicht genau, wann diese Veränderung eingesetzt hatte. Das Problem war, daß sie nicht mehr sagen konnte, was Cato nun eigentlich für sie empfand. Das Kind machte ihn natürlich müde. Er arbeitete zuviel. Er hatte seinen beiden älteren Söhnen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Und das alles konnte sie ja verstehen.
Sicherheitshalber blickte sie sich noch einmal um. Sie konnte Gard und Vetle nicht von der Bahn abholen. Auch heute wieder nicht. Sie schaffte es einfach nicht, brachte es nicht über sich, immer wieder mit sich selber Kompromisse zu schließen. Auch sie war erschöpft. Sie hatte das Gefühl, dauernd hohe Berge besteigen zu müssen. Wie oft hatte sie die Jungen schon abgeholt, weil Cato es nicht rechtzeitig schaffte. Es waren nicht ihre Kinder. Wenn sie unbedingt herkommen mußten, dann sollte Bente sie doch bringen. Sigrid spürte, wie der Zorn alle Zellen in ihrem Körper füllte. Erschöpfung und Enttäuschung fraßen sich durch jeden Körperteil, bis sie von erstickender Traurigkeit erfüllt war. Hatte sie das denn verdient?
Und immer, wenn sie in dieser Stimmung war, mußte sie an ihre Eltern denken. Scharf und klar sah sie ihre Eltern vor sich, konnte sich aber nicht mehr an die Stimme ihrer Mutter erinnern. Ihre Mutter war schon seit mehr als achtzehn Jahren tot. Sigrid und ihr Vater waren zu einer eigenen kleinen Gemeinschaft geworden. Er war so lieb gewesen. Hatte immer alles für sie getan. Und jetzt war auch er nicht mehr da. Er war einige Monate vor Georgs Geburt gestorben. Es war so traurig. Sie kam sich noch immer nicht erwachsen vor, trotz ihrer zweiunddreißig Jahre. Sie wußte nicht, ob Einsamkeit und Sehnsucht nach ihren Eltern sie je verlassen würden. Und nun war sie selber Mutter. Sie sah ihr schlafendes Kind an. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Wie schade, daß ihr Vater sein einziges Enkelkind nicht mehr erlebt hatte. Und wie schade auch für das Kind.
Sie dachte an das alte Ferienhaus in Krokskogen, das ihr ganzes väterliches Erbe ausmachte. Der Vater hatte nie viel Geld gehabt, hatte so gut wie nichts besessen. Er hatte eine kleine Wohnung in Bislett gehabt. Sie war schon lange nicht mehr im Ferienhaus gewesen. Sie wußte, es würde ihr weh tun, es wiederzusehen. Cato war einmal mitgekommen. Ihm hatte es dort nicht gefallen. Das war vielleicht nicht so schwer zu verstehen. Es war eine alte, kleine Hütte mit abgenutzten Möbeln. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr renoviert worden. Sigrid Velde seufzte. Sie spürte den grauen Hüttengeruch, den Holzgeschmack im Mund. Den Geruch von Kaffee und Sommer auf ihrer Haut. Hohe, dunkle Tannen und trockenen Waldboden mit Farnblättern, Wurzeln und Tannennadeln.
Natürlich wußte sie, irgendwo in ihrem Hinterkopf, daß sie Cato gegenüber ungerecht war, daß er nicht immer frei über seine Zeit verfügen konnte. Eigentlich konnte er das nie. Das Erschreckendste aber war, daß sie, die doch selber Mutter war, Catos anderen beiden Söhnen keinerlei Wärme oder Begeisterung entgegenbringen konnte. Anfangs waren seine Söhne ihr nicht als Problem erschienen. Sie hatten einfach zu diesem Mann gehört, in den sie sich so nachdrücklich und zutiefst verliebt hatte. Jetzt hatte sie die beiden nur noch satt. Das war schon lange so. Seit der Geburt ihres eigenen Kindes war ihre Gleichgültigkeit immer weiter angewachsen. Und sie wußte, daß sie für diese Jungen nie so empfinden würde wie für Georg. Daß Cato sie liebte, vermutlich ebensosehr wie ihr gemeinsames Kind, machte ihr unbewußt auch Probleme. Die Zeit war keine Hilfe. Die Zeit hatte das Problem nur verschoben und wachsen lassen. Gard und Vetle räumten niemals hinter sich auf, sie gingen spät ins Bett, durchwühlten die Schränke. Außerdem fraßen sie wie die Scheunendrescher und brachten die Küche durcheinander. Es paßte Sigrid nicht, daß den beiden ein Platz in Catos Leben gehörte, vielleicht, weil sie wußte, daß die beiden den schrecklichen Wunsch hegten, ihren Vater zurückzubekommen. Die ganze Zeit lag in ihren Augen eine ängstliche Hoffnung. Jedes zweite Wochenende und jeden Mittwoch. Sigrid kam das vor wie eine ewige Strafe, wie lebenslänglich. Und Georg schlief noch immer nicht die Nächte durch.
Sie öffnete die schwere Tür und zog den Kinderwagen hinter sich her. Im Schwimmbad strömte ihr sofort der Chlorgeruch entgegen wie eine durchsichtige scharfe Decke.
Vom Telefon in der Ecke aus rief sie bei der Polizei an und erfuhr, daß Cato um vierzehn Uhr zu einem dringenden Fall aufgebrochen war und daß niemand wußte, wie lange er beschäftigt sein würde. Sigrid wußte, daß das einen Mord bedeutete. Und Mord bedeutete Abwesenheit, Abwesenheit und Abwesenheit. Sie spürte die graue Hoffnungslosigkeit in ihrem Hals, als sie sich über den Kinderwagen beugte und die Decke beiseite schlug. Georg schlief, und sie hob ihn vorsichtig hoch. Als er erwachte, fing er leise und klagend an zu weinen. Er lehnte seinen runden Kopf an ihren Hals und schlief wieder ein. Er war in dem Alter, in dem die Körperteile einfach nicht zusammenpassen. Sein Kopf war groß, die Arme kurz, die Füße noch immer winzig klein.
Sie nahm ihre Tasche mit Schwimmsachen und Handtüchern, bezahlte am Schalter und ging in den Damenumkleideraum.
Der geflieste Boden dort war glatt und kühl. Einen schrecklichen Moment lang stellte sie sich vor, wie diese Fliesen Georgs weichen Kopf zerschmettern würden, wenn sie ihn fallen ließe. Sie hatte einen widerlichen Eisengeschmack im Mund, als sie den Kleinen auf die Bank legte, um ihn auszuziehen. Zwei Teenies zogen sich ein Stück weiter hinten kichernd an.
Die Tür des Umkleideraums öffnete sich, und eine Frau kam herein. Sigrid nickte ihr vorsichtig zu, sie hatte diese Frau schon mehrere Male gesehen. Die Frau kam ihr auf vage Weise vertraut vor. Sigrid hatte sich das bisher noch nicht überlegt. Die Frau hatte nie ein Kind bei sich, sie schwamm einfach an der einen Längsseite hin und her, ohne auch nur einen Blick auf die jungen Mütter und den einen Vater zu werfen, der immer mit von der Partie war.
Plötzlich wußte Sigrid, was das Besondere an dieser Frau war. Sie erinnerte Sigrid an sich selber. Der dünne Körper, die flachen Brüste. Sie sahen sich nicht wirklich ähnlich, aber etwas an ihren Farben, ihrer Haltung, ihren Bewegungen war da. Wenn ich eine Schwester hätte, könnte die so aussehen, überlegte Sigrid.
Sie hob den inzwischen wieder quengelnden Georg hoch. Sie drückte das Kind an sich und spürte, daß es sie einrahmte. Sie war ein Bild, und der mollige weiche Babykörper war der Rahmen.