Saga
Mild ist die färöische Sommernacht - Ein Färöer-Krimi
Übersetzt
Christel Hildebrandt
Copyright © , 2019 Jógvan Isaksen und SAGA Egmont
All rights reserved
ISBN: 9788726351989
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Blid er den færøske sommernat
blid og sorgfuld på samme tid -
...
kort er sommerstund, og brat
dør vi en snefuld vinternat.
(J.H.O. Djurhuus)
Mild ist die färöische Sommernacht
mild und kummervoll zugleich -
...
kurz währt nur die Sommerzeit, und jäh
sterben wir in schneeverwehter Winternacht.
(J.H.O. Djurhuus)
Das Feuer loderte zum dämmrigen Himmel empor. Die Flammen rissen sich von ihrem heißen Ursprung los und führten für einen kurzen Augenblick ihr eigenes Leben. Der Nachtwind kam langsam herangestrichen, und mit ihm stieg und fiel der Funkenregen, tanzte umher und verschwand gen Himmel. Die Gesänge waren verstummt, und die meisten standen nur da und starrten ins Feuer.
Sie versuchte etwas zu finden, wohinter sie sich hocken konnte. Nun hatte sie so lange ausgehalten, jetzt war sie an der Reihe. Sie war etwas unsicher auf den Beinen und sagte zu sich selbst, daß sie aufpassen mußte, wenn sie noch etwas von der Nacht haben wollte. Und sie wollte viel haben. Mehr als sich irgendeiner dieser Ignoranten, die jetzt damit angefangen hatten, aus dem Liederbuch des Färöischen Volkes zu singen, nur erträumen konnte. Aber sie mußte aufpassen und einen klaren Kopf bewahren. Warum war die Hochebene nur so kahl? Es gab nicht einmal einen passenden Stein, um sich dahinter zu verstecken. Sie war jetzt so weit von den anderen entfernt, daß sie meinte, hier könne sie sich auch hinter einen kleineren Stein hocken. Während sie so saß, hörte sie es irgendwo im Dunkeln atmen. Eine Gänsehaut überlief sie, aber das war nicht der richtige Augenblick für schwache Nerven. Wahrscheinlich war das ein Schaf. Oder ein Mensch, der auch nach einem Ort suchte, um der Natur freien Lauf zu lassen. Die Götter waren Zeuge, daß reichlich getrunken wurde.
Auf dem Weg zurück sah sie auf dem nördlichen Ende der Hochebene sich die Umrisse einer Person gegen den Himmel abzeichnen. “Nun ist die Stunde gekommen” fiel ihr plötzlich ein. Und ihr wurde im gleichen Moment klar, daß man weit davon entfernt ist, nüchtern zu sein, wenn einem solche Worte einfallen. Sie blieb stehen. Hatte sie nicht Schritte auf dem Kies gehört? Nein, da war nichts. Nur von der Versammlung dröhnte es herüber:
Und Menschen verschwinden wie Schatten
von Pfaden und taufeuchten Grasmatten
Sie hatte einen Entschluß gefaßt und ging auf die Gestalt zu, die am Ende des Felsens stand.
Als sie dorthin gekommen war, blieb sie stehen. Schaute zunächst hinunter auf die stille Bucht; die drei Ortschaften dort unten waren in der Mainacht fast nicht zu erkennen, blickte dann zum Ritafjall hinauf und südwärts auf den Sigatind und Gøtunestind. In kurzer Zeit würden sie im roten Glanz der Morgensonne schimmern.
In dem Augenblick, als sie den Mund öffnete und die ersten Worte sagen wollte, die Worte, die sie reich machen sollten, packten starke Hände ihre Arme von beiden Seiten, und in einer gleitenden Bewegung wurde sie über die Kante geschleudert. Der Angriff kam so unerwartet, daß sich ihr Hals zusammenschnürte, und kein Ton von ihr zu hören war, als sie durch die Luft wirbelte. Das letzte, was ihr durch den Kopf fuhr, als sie langsam fiel, und Himmel und Erde mit gleichmäßigem Abstand den Platz tauschten, war die Verwunderung darüber, wo nur der Mond am Himmel stünde.
Der Skiläufer hob ab und drehte sich in der Luft, gleichzeitig nach vorn und um sich selbst. Für jemanden, der gerade mal ein Paar Bretter unter den Füßen gehabt hatte, schien es unglaublich, daß er stehend herunter kommen würde. Aber in mehr als dreißig Jahren habe ich mich daran gewöhnt, daß im Film nichts unmöglich ist. Das ist wohl auch der Grund, warum ich Filme so gerne sehe. Der Skiläufer verschwand in rasender Fahrt einen blendend weißen Hügel hinab. Danach kam die Reklame, die übliche Soße.
Ich ließ den Fernsehschirm mit sich allein und sah mich um. Der Anblick war nicht viel besser. Ich bin ziemlich viel gereist, habe mehrere Hauptstädte besucht und war sogar an verschiedenen Badestränden gewesen. Und selbst wenn letztere stinklangweilig sein können und nur mit einem passenden Affen im Gepäck auszuhalten sind, die Flughäfen sind doch am schlimmsten. Nur mit einem starken Willen und viel Training schafft man es, sich von dem betäubenden Rausch fernzuhalten. Das Training hatte ich, es mangelte eher an der Willensstärke. Es war nur noch wenig von dem dritten Bockbier übrig, und ein doppelter Gammel Dansk hatte auch schon die Kehle passiert.
Ich saß auf dem Flughafen Kastrup und wartete, daß das Flugzeug zu den Färöern starten sollte. Schon wieder verspätet. Auch auf diesem Gebiet hatte ich viel Erfahrung, größtenteils aus der Zeit, als die kleine Fokker-Friendship von der Icelandair die Strecke flog. Jetzt brauchte man für die Strecke nur die halbe Zeit, und die Landebedingungen und auch die technische Ausrüstung waren viel besser. Trotzdem kam es nicht gerade selten vor, daß die Passagiere in einem Hotel in Kopenhagen übernachten mußten.
Davor hatte ich am wenigsten Angst. Auch wenn ich mir nichts hatte anmerken lassen, waren mir doch eine ganze Menge wohlvertrauter Gesichter aufgefallen. Ich kannte diese Kumpane, - die meisten ordentlichen Menschen haben mich sicher bereits mit ihnen in einen Topf geworfen - die dort zwischen den Stühlen und Tischen hin- und herwanderten in der Hoffnung jemanden zu finden, bei dem sie sich niederlassen konnten. Bei so vielen Menschen war es möglich, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber wenn wir ins Hotel mußten, war ich verloren. Die Nacht würde an der Bar und später in einem der Zimmer zugebracht werden. Unmengen von Bier und Whisky und kein Schlaf. Lustig, nicht wahr...
Bisher waren wir erst eine Stunde verspätet, es konnte also noch alles Mögliche geschehen. Aber sie waren immer sehr geizig mit ihren Informationen, deshalb wußten die Passagiere nur selten, warum sie nicht wie geplant abfliegen konnten.
Ansonsten hatte es auf allen Gebieten große Fortschritte gegeben. Die Fluggesellschaft, die diese Strecke bediente, seit sie den Isländern weggenommen worden war, hatte nicht länger das Monopol. Sie waren geflogen, wie es ihnen grade gefiel und hatten sich nicht darum gekümmert, ob es den Färöern paßte. Wenn denen das Fliegen nicht gefiel, war das ihr Problem. Es gab nur diese eine Flugroute.
Inzwischen gab es Konkurrenz, die Fluggesellschaft flog nunmehr sogar sonntags - das hatten sie früher nie gemacht - und vielleicht würde es ihr bald ergehen wie dem Milchboot der Meierei in Tórshavn. Als es als einziges die Fahrt in den Skálafjørður machte, fuhr es manchmal zweimal am Tag und manchmal nur einmal. Vor allem an den Tagen, an denen es viele Passagiere gab - Ostersamstag, Weihnachten - fuhr es nur einmal, und zwar um sieben Uhr morgens. Anders ließ es sich nicht machen. Als eine weitere Fähre nach Sundalagið hinzu kam und die Leute auch diesen Weg nehmen konnten, fuhren sie plötzlich drei- oder viermal täglich. Später, als Brücke und Tunnel gebaut wurden und man von Tórshavn bis nach Eysturoy fahren konnte, fuhren sie den ganzen Tag über jede zweite Stunde.
Es schien, als würde es im Flugverkehr die gleiche Entwicklung nehmen. Jetzt gab es eine Morgenmaschine, eine Nachmittagsmaschine und eine Abendmaschine. Ich muß zugeben, daß Konkurrenz nicht immer schlecht ist. So merkwürdig das auch klingen mag, so sind es sicher die Geschäftsmänner, die nicht meiner Meinung sein werden. Jetzt müssen sie ins traute Heim eilen, anstatt wie früher in den Kormoran und hinterher in die Kakadubar gehen zu können.
Ich mußte aufpassen, daß ich nicht den Zeitpunkt verpaßte, an dem der Flughafen zu einem “ruhigen Flughafen” wurde und nur noch Charterreisende durch den Lautsprecher aufgerufen wurden. Es ist schon früher passiert, daß Leute, die einen schweren Kopfvon der letzten Nacht hatten, das neue System vergaßen und fluchend wieder in die Stadt fahren mußten, um sich ein Zimmer für die Übernachtung zu suchen, während das Flugzeug mit leeren Plätzen seinen sonnenbeschienenen Weg über den Wolken bahnte.
Während wir hier warten und den “Kumpanen” aus dem Weg gehen, kann ich erzählen, wer ich bin. Mein Name ist Hannis Martinsson, und das sagt sicher kaum jemandem etwas. Vielleicht dämmert es einigen, ohne daß sie genau sagen können, weshalb.
Ich schreibe für verschiedene Zeitungen, alle möglichen Zeitungen, an die ich herankomme, und bei denen es ein wenig Kleingeld zu verdienen gibt. Vor allem in ausländischen Zeitungen schreibe ich über die Färöer und die färöischen Verhältnisse. Wohl in jedem zweiten dieser Hochglanzmagazine, die in den Flugzeugen in den nordischen Ländern verteilt werden, steht einer meiner Artikel. Ein guter Grund, für die Fluggesellschaften zu schreiben, besteht darin, daß man neben dem Honorar gratis fliegen kann. Natürlich in angemessenem Rahmen, aber wenn die Zusammenarbeit schon seit längerem besteht und Platz ist, kommt man immer mit. Ich bin viel auf diese Art und Weise gereist, und auch wenn seriöse Journalisten diese Form des Reisens “Hurentour” nennen, weil die Rechnung mit Freundschaft bezahlt werden muß, so kommt mir diese Möglichkeit gerade recht.
Ich bin also ein Freelance-Schreiber. Ich habe schon an verschiedenen Orten auf der Welt gewohnt, und augenblicklich habe ich eine Wohnung mitten in Kopenhagen. Der Gedanke, wieder nach Hause zu ziehen, ist mir mehr als einmal gekommen, jetzt, wo ich auf die 40 zugehe. Vielleicht sollte ich bei einer Zeitung oder beim Rundfunk arbeiten, aber es fällt mir schwer, zur Ruhe zu kommen. Ich habe nie eine Ausbildung abgeschlossen, aber mehrere halbfertig. Unter anderem auch die Journalistenausbildung.
Als wir mit zwei Stunden Verspätung gebeten wurden, uns ins Flugzeug zu begeben, entdeckte ich Hugo. Er sah aus wie immer, groß, blond und mit einem so mürrischen Gesichtsausdruck, daß man nur selten ohne weiteres mit ihm ins Gespräch kommt. Wir standen in der Schlange zum Flugzeug. Hugo sah sich um und ließ für einen kurzen Augenblick seinen Blick auf mir ruhen. Er verzog keine Miene und drehte mir wieder den Rücken zu.
“Na gut, Alter”, dachte ich, “wenn du keine Lust hast, mit mir zu reden, dann soll es mir recht sein.”
Obwohl es Samstag war, war die Maschine nicht voll besetzt, und ich hatte eine Sitzreihe für mich. Ich sah Hugos Hinterkopf ein paar Reihen weiter vorn in der Nichtraucher-Abteilung. Stimmt, er rauchte ja nicht.
Hugo und ich waren zusammen zur Schule gegangen und beide später nach Dänemark gezogen. Aber seitdem hatten wir uns so gut wie nie getroffen, vielleicht erkannte er mich also gar nicht wieder. Oh doch, natürlich tat er das. Es war typisch für ihn, sich so kurz angebunden und brüsk zu verhalten. Nun gut, ich wollte auch am liebsten in Ruhe gelassen werden und die Zeitung lesen, während ich versuchte, die Ohren gegenüber dem ständiges Gerede der dänischen Handelsreisenden zu verschließen, die immer einen großen, ermüdenden Teil der Passagiere ausmachten.
Das Flugzeug fuhr ans Ende der Rollbahn, nahm Anlauf und stieg fast senkrecht hoch. Einen Augenblick später erlosch die No Smoking-Anzeige, und ich zündete mir eine Prince an.
Wie es wohl mit Hugo und Sonja gelaufen war? Ich wußte, sie waren zusammen. Sonja und ich waren Freunde gewesen, aber zwischen Hugo und ihr lief mehr. Was in den letzten Jahren daraus geworden war, wußte ich nicht.
Sonja Pætursdóttir war einer der Gründe, warum ich nach Hause fuhr. Sie war nämlich vor gut einem Monat gestorben. Ich selbst hatte mich eine Zeitlang in Rom aufgehalten und versucht, dort etwas auf die Beine zu stellen. Vor ein paar Tagen war ich nach Kopenhagen zurückgekommen, und bei dem Nachbarn, der meinen Briefkasten geleert hatte, lag die Nachricht.
Und auch ein Brief von Sonja. Abgestempelt Anfang Mai. Wir schrieben uns nur selten. Normalerweise nichts Ernstes, Klatsch und Tratsch, Neues über Dieses und Jenes.
Ich schnitt ihren Brief auf, wobei mich der Gedanke durchfuhr, daß ich die Schreiberin niemals wiedersehen würde. Es klang wie in ihren üblichen Briefen: “Lieber Hannis. Während du dich draußen in der weiten Welt amüsierst, muß ich im Nebel herumsitzen und versuchen, etwas zustande zu bringen. Hier ist nur Streit und Unzufriedenheit. Es wird öffentlich gespart, während die Steuern erhöht werden, und der Preis für einen Kindergartenplatz steigt und steigt. Ja, du weißt nicht viel vom Ernst des Lebens, mutterseelenallein, wie du bist. Aber das ist wohl auch nicht immer so lustig? Es tut jedenfalls mal gut, sich ein wenig beklagen zu können. Aber wo bist du, ich habe seit Wochen versucht, dich anzurufen, doch du antwortest nicht. Ruf mich mal an, mein Schatz, wenn du zurückkommst, es gibt etwas, was ich dich fragen will. Es kann sein, daß Elsa und ich es uns dieses Jahr leisten können, wegzufahren. Und das soll eine richtige Reise werden. Nicht nur 14 Tage an der Costa del Sol oder auf Mallorca. Die besten Grüße Sonja. PS. Meine Laune ist gar nicht so schlecht.”
Elsa war Sonjas sechsjährige Tochter. Die beiden hatten die ganzen Jahre über allein gewohnt. Wer der Vater war, wußte ich nicht. Sonja war nicht der Meinung, daß es irgend jemanden etwas anginge.
Der Brief war nicht anders als sonst. Sonjas Briefe waren meist kurz, und während ich die wenigen Zeilen las, fühlte ich, daß ich sie vermißte. Wir hatten uns nicht oft gesehen, aber es gab ein Gefühl der Sicherheit, daß sie da war. Und jetzt war sie nicht mehr da. Ich war kurz davor, mit mir selbst Mitleid zu bekommen, weil mir bekannte Leute einfach wegstarben, wenn ich ihnen mal den Rücken zukehrte.
Eine Stimme bat mich auf Dänisch, meinen Tisch herunterzuklappen. Ein Tablett mit dem Üblichen wurde vor mich hingestellt, und eine reizende Repräsentantin der Kosmetikindustrie fragte mich, ob ich etwas zu Trinken wünsche.
Ich hatte geplant, mir zwei Kognak, einen Gin und Tonic zu bestellen - Bier hatte ich genug getrunken, bevor ich an Bord ging, und ich hatte keine Lust, die ganze Zeit zur Toilette zu laufen - aber um einen guten Eindruck auf die Stewardeß zu machen, strich ich den Gin. Sie sollte nicht auf die Idee kommen, ich würde trinken.
Die färöischen Zeitungen, die sich in meiner Wohnung gestapelt hatten, während ich in Rom gewesen war, berichteten von Sonjas Tod. Es war eine Versammlung oder ein Treffen - die Zeitungen waren sich nicht einig in der Wortwahl - auf dem Støðlafjall zwischen Gøta und Søldajførður gewesen. Im Sommerhalbjahr ins Gebirge zu gehen, war eine alte Tradition, die die Arrangeure wieder aufleben lassen wollten. Im Unterschied zu früher wollten die Leute die ganze Nacht oben bleiben und dort auf den Sonnenaufgang warten - ähnlich wie bei der Mittsommernacht auf dem Skælingsfjall - und ansonsten Lagerfeuer machen und färöische Lieder singen. Sonja Pætursdóttir war nicht in Begleitung gekommen, aber viele ihrer Bekannten waren dort gewesen. Irgendwann im Laufe der Nacht verschwand sie. Die, denen das auffiel, dachten, sie wäre nach Hause oder irgendwoanders ins Gebirge gegangen. Es waren mehr als 100 Leute dabei gewesen, deshalb konnte man nicht auf jeden einzelnen achten. Erst am nächsten Tag, als eine Frau aus Gøta nach ihrer fortgelaufenen Kuh suchte, wurde Sonjas Leiche gefunden.
Viel mehr hatte nicht in den Zeitungen gestanden, nur etwas darüber, daß die Organisatoren in Zukunft dafür zu sorgen hätten, daß Teilnehmer dieser Treffen nicht herunterfielen. Die Behörden sollten Bestimmungen erlassen, und jemand meinte, diese Treffen des Nachts im Gebirge sollten verboten werden, weil sie nur zur Hurerei führten und zum Alkoholgenuß. Ich hatte nicht übel Lust, an so einer Versammlung teilzunehmen.
Es war nicht auszuschließen, daß Sonja heruntergefallen war. Wenn man genug intus hat, ist das gar nicht so schwer. Aber es gab Einiges, was mir nicht gefiel. Zunächst konnte ich mir Sonja überhaupt nicht im Gebirge vorstellen. Sie ging keine zwei Schritte, wenn sie stattdessen Auto fahren konnte. Stets trug sie hochhackige Schuhe und einen engen Rock, und mit einem Sektglas in der Hand fühlte sie sich wohler als mit dem Liederbuch des Färöischen Volkes. Gab es überhaupt jemanden auf den Färöern, der sich meines Wissens in der Nähe des Yuppi-Stils bewegte, dann war es Sonja. Ihr Problem dabei war, daß sie nicht genug Geld hatte. Natürlich konnte sie ihren Stil geändert haben, aber das glaubte ich nicht.
Und dann der Brief an mich. Es war nicht sicher, daß es etwas bedeutete, aber trotz des leichten Tons kam es mir so vor, als hätte sie einen ernsthaften Grund, mit mir zu reden. Denn wenn wir miteinander telefonierten, war fast immer ich es, der anrief. Wenn sie also wochenlang versucht hatte, mich anzurufen, mußte das etwas bedeuten.
Aus Kopenhagen hatte ich die Polizeiwache in Tórshavn angerufen und mit einem alten Schulfreund gesprochen, der jetzt Kriminalbeamter war. Er erzählte mir, daß der Vorfall auf Støðlafjall als ein selbstverschuldeter Unfall registriert worden war. Auf meine Frage, ob es nicht irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Unfall gab, wollte er zunächst nichts sagen, aber dann kam es:
“Es gibt ein merkwürdiges Detail bei Sonja Pætursdóttirs Tod. Sie ist zu weit gefallen, bevor der Körper auf den Felsen aufgeprallt ist. Als hätte sie Anlauf genommen.”
Nebel und Sprühregen. Ich stand unter der Dachtraufe des Flughafengebäudes und rauchte eine Zigarette. Da das Flugzeug verspätet war, gab es weder Bus- noch Fähranschluß, und die Reisenden mußten warten. Ich beneidete diejenigen, die ihr Auto am Flughafen stehen hatten und deshalb sofort losfahren konnten. Hugo war einer von ihnen, aber er sah auf dem Weg zu seinem Auto weder nach rechts noch nach links. Als er losfuhr, sah ich, daß sein Auto ein funkelnagelneuer Nissan Bluebird war. Woher um alles in der Welt hatte Hugo Geld für so ein Auto? Er war mit einer Dänin verheiratet gewesen und hatte zwei Kinder, war aber vor kurzen geschieden worden. Das alles konnte nicht gratis sein. Danach war er wieder auf die Färöer gezogen und hatte Arbeit bei einem der wohlhabenderen Ingenieure bekommen, einem derjenigen, die für den Staat bauten. Vielleicht ein Firmenauto?
Nach langem Warten kam endlich der Bus, aber bei Oyrargjógv war die Fähre noch nicht da. Ein großer Teil der Reisenden stieg aus und ging auf dem Anleger herum, Nieselregen oder nicht, ich war unter ihnen. Einige standen zusammen und tranken aus einer Whiskyflasche, von ihnen war lautes Gelächter zu hören. Ich kannte einige flüchtig - die gleichen “Kumpane”, die ich in Kastrup gemieden hatte. Der Tag war sowieso gelaufen, also mischte ich mich mit einer Kognakflasche in der Jackentasche unter die Gruppe.
Als ich abends die Wohnung in der Jóannes Paturssonargøta erreichte, die ich für den Sommer gemietet hatte, war ich leicht beschwipst, und es konnte keine Rede davon sein, jemanden zu besuchen. Zumindest nicht die nächsten Stunden. Ich schmiß die Jacke hin, trat die Schuhe von den Füßen, warf mich aufs Bett und schlief ein.
Um halb neun wachte ich auf. Der Geschmack in meinem Mund war nicht gerade angenehm, er erinnerte an Sägemehl, und ich fühlte mich benebelt. Aber dagegen gab es etwas. Als ich aus der Dusche herauskam und mir die Zähne geputzt hatte, schien die Welt viel freundlicher auszusehen, obwohl die Wohnung im Keller eines Reihenhauses lag und deshalb ziemlich dunkel war. Es roch auch eine Spur muffig, besonders, wenn man die Nase in den Kleiderschrank steckte.
Die Wohnung gehörte einem Freund, der zur See fuhr, aber er war fast nie auf den Färöern. Zwischendurch kam er mal, um seine Familie zu besuchen und im Bierclub vorbeizuschauen, ansonsten verbrachte er seine freien Stunden in Kopenhagen. Ich konnte deshalb seine Wohnung benutzen, so oft ich wollte, und das gefiel mir gut. Ich kam mehrmals im Jahr auf die Färöer und hatte keine Familie in Tórshavn. Nicht einmal einen Vetter oder eine Kusine. Ich hatte keine Eltern mehr, und Geschwister hatte ich auch nicht.
Abgesehen davon, daß die Wohnung dunkel, die muffige Luft schwer und nur das Notwendigste in ihr vorhanden war - darunter natürlich Fernseher und Video - war sie absolut brauchbar. Sie lag zentral, nur einen kurzen Fußweg zu allem in Tórshavn, das Ehepaar, das darüber wohnte, war alt, taub und bekam kaum noch etwas mit, und außerdem bezahlte ich nichts dafür. Ich höre noch das Gelächter meines Freundes, als ich etwas davon murmelte, Miete zahlen zu wollen: “Rutsch mir den Buckel runter! Alle, die so dumm sind und schreiben, haben doch keinen roten Heller. Hau’ bloß ab mit deinen paar Kröten!” Er goß erneut Chivas Regal in unsere Gläser und grinste mich an.
Vor dem Bierclub Ølankret warteten immer Leute, die versuchten, die Mitglieder zu überreden, sie mit hineinzunehmen. Man konnte nur als Mitglied oder Gast eines Mitglieds hineingelangen. Es war verboten, Leute von der Treppe mitzunehmen, aber das wurde nicht immer beachtet.
Als sie mich allein kommen sahen, kam es fast zu einem Tumult. “Nimm mich doch mit rein!” - “Ach, Schätzchen! Können wir beide nicht mit dir rein?” - “Ei, Alter! Bist du allein?”
Ich zwängte mich durch die Menge und sagte, daß sich da nichts machen lasse. Ich würde später Gäste bekommen. Ich war schon zu lange Mitglied, um mich darauf einzulassen, irgendwelche Leute mit hineinzunehmen.
“Arschloch!” dröhnte es mir noch in den Ohren, als ich die Tür zur Bar öffnete. Es war nach Mitternacht und deshalb überfüllt. Die Stimmung war laut und heftig, und mit der Musik aus dem Tanzraum oben ergab sich ein kakophonisches Erlebnis. Der Rauch hing so dicht unter der Decke, daß ich an Opiumhöhlen denken mußte.
Ich grüßte nach rechts und links, ich kannte eine ganze Reihe Gesichter und wurde immer wieder gefragt, wann ich gekommen war und wann ich wieder abreisen würde. Als ich es 10, 20mal erklärt hatte, nahm die Welle der Fragen ab, und ich kam an die Bar.
Mit einem doppelten Gin Tonic in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen setzte ich mich an einen Tisch, bereit, mich zu amüsieren und gutzuheißen, was sich mir so bot.
Kurz vor der Sperrzeit, als das summende Geräusch der Redenden seinen Höhepunkt erreichte, sah ich Hugo. Er stand mitten im Raum, vornübergebeugt und die Augen geschlossen. Die vielen Menschen, die zwischen dem ersten Stock und der Bar hinund herwogten, nahmen ihn wie ein Strom in verschiedene Richtungen mit. Er selbst war nur halb anwesend und ließ sich mitreißen.
Plötzlich öffnete er die Augen und sah mich direkt an.
“Hannis”, brüllte er. “Alter Freund, willst du einen Schluck?” Er zog eine halbe Flasche hervor. Ich ging zu ihm hinüber und konnte ihn dazu bringen, die Flasche wieder in die Tasche zu stecken. Ansonsten hätte es nur damit geendet, daß wir beide rausgeschmissen worden wären.
Hugo hing schwer und willenlos an mir.
“Ich habe dich heute wohl gesehen, aber ich konnte nicht mit dir reden.”
Seine Zunge verhaspelte sich, und er sprach so undeutlich, daß ich kaum verstehen konnte, was er in all dem Lärm sagte.
“Ich weiß nämlich was, was du nicht weißt”, er versuchte, gerissen auszusehen, aber das einzige, was dabei herauskam, waren ein paar unschöne Grimassen.
“Und was weißt du?”, fragte ich.
“Das sage ich nicht”, murmelte Hugo.
Ich versuchte mich von ihm zu befreien, aber er krallte sich fest und drückte sein Gesicht dicht an meins. Unsere Nasen berührten sich.
“Hast du gewußt, daß Sonja und ich wieder zusammen waren?” - “Nein, das hast du nicht gewußt”, fügte er selbst hinzu, und erstickte mich fast in saurem Schnapsatem. “Wir wollten heiraten. Das hat sie mir versprochen, und jetzt ist sie tot.”
Ich konnte mein Gesicht wegdrehen, so daß ich dem schlimmsten Gestank entging. Tränen liefen über Hugos Wangen. Das auch noch.
Irgendwie schaffte ich es, ihn in eine Ecke zu bugsieren, in der es zwei Sitzplätze gab.
“Also, das ist dein Geheimnis, Hugo?”, fragte ich, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen. Die Tränen versiegten, und er sah mich überrascht an.
“Geheimnis, von was für einem Geheimnis redest du da?”
“Du hast doch gerade eben gesagt, daß du was weißt, was ich nicht weiß.”
Er überlegte einen Augenblick, seine Augen waren nur halb geöffnet.
“Ach das, das ist was ganz anderes.”
“Was ganz anderes? Hat das auch was mit Sonja zu tun?”
Jetzt starrte er mich prüfend an. Er sah halbwegs nüchtern aus und schien nachzudenken. Endlich faßte er einen Beschluß, lehnte sich an mich und flüsterte:
“Ja, es hat was mit Sonja zu tun. Mit ihrem Tod, und deshalb war ich auch in Dänemark. Aber hier können wir darüber nicht reden. Das ist viel zu gefährlich.” Er warf einen Blick in die Runde. Dachte kurz nach.
“Ich wohne im alten Haus meiner Eltern. Komm morgen abend um neun da vorbei.”
Jetzt war ich neugierig geworden, auch wenn ich mir selbst zu sagen versuchte, daß es ja nur Hugo war. Hugo, der oft “Ideen ” hatte.
“Können wir uns nicht früher treffen?”
“Nein, ich muß vorher noch was erledigen.” Das Nüchterne verschwand wieder, und er sank in sich zusammen, schlief beinahe ein.
Was Hugo wohl damit meinte, daß es zu gefährlich war, hier zu reden? Und was hatte er in Dänemark gemacht? Ich schaute ihn an. Er war vollkommen weg. In dieser Nacht war nichts mehr zu machen.
Ich stand auf, um noch etwas an der Bar zu holen, bevor sie schloß. Auf dem Weg dorthin lief ich in eine dunkelhaarige Frau mit einer Prinz Eisenherz-Frisur. Ihr Gesicht war weiß und ein wenig puppenartig, mit dunkelroten Lippen und funkelnden dunklen Augen. Sie summte lächelnd vor sich hin, trug ein schwarzes Minikleid mit breitem, glänzendem Gürtel.
“Hast du Feuer?” Sie blieb stehen.
Ich gab ihr Feuer, und während sie inhalierte und den Rauch wieder ausblies, betrachtete ich den Gürtel. Es war auf alle Fälle der größte Gürtel, den ich je gesehen hatte. Und der merkwürdigste. Selbst die Bulldozerfahrer haben nicht so breite Gürtel. In der Mitte war eine große Metallplatte mit einem Ornament.
“Was um alles in der Welt ist das für ein Gürtel?”
Sie schob neckisch die Hüfte vor und sah mich herausfordernd an. “Das ist ein Keuschheitsgürtel. Eine Frau muß schließlich auf sich aufpassen.” Dann folgte ein perlendes Lachen, sie wandte sich ab und lief die Treppe hinauf, von wo der Ententanz zu hören war.
Das Trampeln brachte die Lampen zum Schaukeln. Vielleicht ein Bild dessen, was kommen sollte?
Sonntag. Ich lag im Bett und schaute an die fleckige Decke, versuchte, Gesichter in den feuchten Stellen zu erkennen, während ich nachdachte. Sollte ich mich auf die andere Seite drehen und versuchen, nochmal einzuschlafen, oder sollte ich aufstehen und mir irgendwas zu essen organisieren?
Der Hunger siegte. Ich ging in die Küche, aber da war natürlich nichts. Nicht ein Krümel. Also mußte ich in die Stadt, um etwas zu kaufen.
Zunächst stellte ich mich unter die Dusche, das ist das beste bei einem Kater, rasierte mich, holte saubere Unterwäsche und ein Hemd aus dem Koffer und fand nun, ich könnte es wagen, mich unter ganz gewöhnlichen Menschen sehen zu lassen. Auf dem Küchentisch stand eine Whiskyflasche und sah mich verführerisch an, sie wollte mitkommen. Aber nein, noch nicht. Ich halte es da mit W.C. Fields: Vor acht Uhr morgens trinke ich niemals etwas Stärkeres als Gin.
Aber es war schon lange her, daß es acht gewesen war. Das Wunschkonzert war so deutlich von den tauben Obermietern zu hören, als wären wir in einem Zimmer. Lapp-Lisa und ihre Tochter sangen “Kinderglauben” wie an allen anderen Sonntagen.
Das Wetter war besser als gestern. Mildes Wetter. Trocken und eine leichte Brise, und auf dem Weg in die Stadt schien es mir, als könne ich Nólsoy erahnen. Aber das war vielleicht nur Wunschdenken?
Im Hotel Hafnia, bei Selter zum Butterbrot, versuchte ich herauszukriegen, was Hugo wohl gemeint hatte, als er sagte, es wäre zu gefährlich gewesen, gestern abend im Club zu reden. Er hatte auch gesagt, daß es etwas mit Sonja zu tun hätte und daß er deshalb in Dänemark gewesen sei. Ich überlegte, was Sonja und Hugo wohl Gefährliches vorgehabt hatten - und Sonja war schließlich tot.
Hugo war Ingenieur, von der Sorte, die man in jedem zweiten Haus auf den Färöern findet, und Sonja Journalistin. Sie sah besser aus als die meisten, ansonsten war nichts Außergewöhnliches an ihr. Die beiden waren ganz normale Menschen, die sich nicht in irgendwas einmischten, wenn es für sie nicht von Vorteil war. Was könnte das in diesem Fall sein? Politisch waren sie vollkommen passiv, diesen Weg brauchte ich also gar nicht weiter zu verfolgen.
Mein Wissen war allzu begrenzt, also beendete ich die Gehirngymnastik und las statt dessen die Anzeigen in dem Amtsblatt vom Samstag, während ich Kaffee trank.
In den Bierclubs herrscht oftmals eine zweifelhafte Munterkeit, bei der der Alkohol, der Augenblick und der Wunsch, alles andere, was irgendwann geschehen ist, zu vergessen, eine Einheit bilden. War man selbst mittendrin, konnte das unglaublich lustig sein. Ganz fern im Hinterkopf gab es etwas Nagendes, höchstwahrscheinlich die Erziehung und die Moral, aber die wurden immer schnell beiseite geschoben. Man fühlte in diesen Augenblicken eine Erregung, ließ die Zügel schleifen, und schlug über die Stränge, während man prahlte und den Prahlereien der anderen glaubte. Mitten in allen Strapazen war man kurz davor, einen glücklichen Augenblick zu erlangen. Aber nur kurz davor. Die Augenblicke waren nicht lang, und mit den Jahren wurden sie immer seltener. Bevor man es gewahr wurde, wurde man zurückgelassen und war nicht mehr in der Lage, sich unter ganz gewöhnlichen Menschen zurechtzufinden.
Und dennoch gab es glückliche Augenblicke. “Der Fünfer” war so einer. An jedem Freitag, und zwar ausschließlich freitags, war zwischen fünf und sechs Uhr geöffnet. Jedes Mitglied, das überhaupt die Gelegenheit hatte, beeilte sich, nach beendeter Arbeitswoche in den Ølankret zu kommen, um nicht nur das Bier zu genießen, sondern auch um für eine Stunde mit glücklichen Menschen zusammen zu sein. Die Freude über das Wochenende, das vor der Tür stand, gab diesen Augenblicken ihren fröhlichen Stempel.
Etwas anderes war der Sonntagnachmittag. Wie meistens war es proppenvoll, und nur an diesem Tag wimmelte es außerdem noch von Kindern und Hunden. Die Väter waren eine Runde spazierengegangen und ganz zufällig im Club gelandet. Das war der Tag der Anekdoten für alle, und das Gelächter wogte üppig zwischen den mit Juteleinwand bespannten Wänden hin und her. Als ich gegen halb sechs die Bar betrat, war der beste Teil des Nachmittags schon fast vorbei. Zwei der Tische waren trotzdem besetzt, also würden die drei Stunden, bis ich Hugo treffen sollte, auf gemütliche Weise vergehen.
Ich schaute auf die Uhr in der Bar, und als die Zeiger sich der Neun näherten, war es Zeit zu gehen. Ich leerte mein Glas, murmelte ein paar Worte zu dem, der mit am Tisch saß, und ging. Als ich auf die Treppe hinaustrat, schien es mir, als käme ich an die Oberfläche. Es war noch ganz hell, und wie Leute, die mitten am Tag aus dem Kino kommen, begann ich zu gähnen. Nur einen Augenblick knackte es in der Leitung zur Umwelt, aber das Gefühl verschwand mit der Zeit, und danach herrschte Harmonie.
Ich eilte den Hügel hinunter zum Ende der Jóannes Paturssonargøta, ging links in die Tróndargøta und kurz darauf rechtsin die Kongagøta. Ich ging weiter, bis ich zu einer Sackgasse kam, die mein Ziel war.
Das Haus war ein dunkelgrünes Holzhaus von der Sorte, die es viel in den älteren Teilen von Tórshavn gibt. Doch es war eines der größeren.
Ich drückte auf den Klingelknopf, aber er war festgerostet, und das offensichtlich seit vielen Jahren. Ein Türklopfer mit einem brüllenden Löwenkopf bot seine Dienste an. Ich umfaßte den Löwen und versuchte, ihm eine Gehirnerschütterung zu verursachen.
Das Geräusch erzeugte in der engen Straße ein Echo. Aber als dieses verhallte, war es so still wie zuvor. Keine Menschenseele war zu sehen. Höchstwahrscheinlich Nachricht oder Dallas. Hinter der Löwentür tat sich nichts. Vielleicht war Hugo nicht zu Hause? Es brannte kein Licht, aber es war ja möglich, daß er gern im Dunkeln saß.
Ich schlug noch einmal mit dem Türklopfer.
Nichts.
Das Küchenfenster war zu hoch, es hatte gar keinen Zweck, zu versuchen, hineinzusehen.
Vorletzte Nacht hatte Hugo darauf bestanden, daß wir uns um neun Uhr treffen sollten, deshalb war es wirklich merkwürdig, daß er nicht zu Hause sein sollte. Ich selbst war auch ziemlich neugierig, herauszufinden, was mit Sonja passiert war. Hugo wußte etwas, aber es hatte ihm immer schon gefallen, so zu tun, als wüßte er mehr, als er sagte. Oft steckte gar nichts dahinter. Das Wohnzimmer lag auf der anderen Hausseite, und wenn er wie der Rest des färöischen Volkes vor dem Fernseher saß, dann...
Neben dem Haus war eine Pforte, durch die man in einen kleinen Hof gelangte. Ich ging durch sie hindurch und schaute zu den Stubenfenstern hinauf, aber auch dort war kein Licht zu sehen. In dem Moment sah ich, daß die Kellertür nur angelehnt war. Na, dann war er also irgendwo in der Nähe.
Ich konnte mich noch aus der Schulzeit daran erinnern, daß er oft durch den Keller ging. Vielleicht war er nur kurz etwas erledigen gegangen?
Ich ging in den Keller. Er war niedrig und dunkel, und anfangs konnte ich nichts sehen. Wie die meisten Keller war er bis in die letzte Ecke mit allem Möglichen vollgestopft. Ich mußte mich vorsichtig bewegen, bis die Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten.
Dann entdeckte ich die Treppe nach oben. Ein Kleiderbündel lag vor ihr.
Ich ging näher und sah, daß das Kleiderbündel ein Gesicht hatte. Hugos Gesicht.
Der Hals ragte schief zwischen den Schultern hervor. Es gab keinen Zweifel daran, daß er gebrochen war.
Ich beugte mich über Hugo nieder und legte meine Hand auf seinen Hals. Er war noch warm.
Aus den Augenwinkeln erhaschte ich den Schimmer einer Bewegung hinter mir, aber zu spät. Etwas Hartes traf mich am Hinterkopf, direkt hinter dem Ohr, und die Welt füllte sich mit Licht - mit weißem, blendendem Licht.
Schmerzwellen wogten durch meinen Kopf. Ich kam langsam wieder zu mir und wünschte, ich fiele erneut in den schmerzfreien Schlaf. Eine ganze Schiffswerft war eingezogen und arbeitete im Akkord.
Ich versuchte aufzustehen, aber da wurde mir schwarz vor Augen. Ich wartete einen Augenblick. Dann erhob ich mich ganz, ganz langsam. Jetzt ging es besser, wenn mich der Schmerz auch lähmte. Zuerst auf die Knie, dann mit den Händen abstützen. Schließlich stand ich aufrecht. Ich massierte mir den Nacken. Er tat weh.
Schwer im Kopf und schwach auf den Beinen versuchte ich, einen Überblick über meine Situation zu bekommen. Das war schnell geschehen. Hugo war tot, und ich war niedergeschlagen worden. Ich schaute auf die Uhr. Es war nach zehn. Ich war eine Stunde ohnmächtig gewesen. Der Täter war natürlich schon lange auf und davon.
Irgendwie mußte ich ihn gestört haben. Ich war ihm in die Quere gekommen. Ob der Kerl Hugo getötet und dabei gemeint hatte, es solle aussehen, als wäre Hugo die Treppe hinuntergefallen? Sicher. Warum sonst wäre ich niedergeschlagen worden, wenn es sich um ein Unglück handelte? Oder war da noch etwas Anderes im Spiel?
Ich bekam nur noch mehr Kopfschmerzen von all diesen Fragen. Ich mochte nicht weiter nachdenken, aber vielleicht sollte ich stattdessen nach oben gehen. Die Treppe führte zu einem Flur, der nicht gerade der größte war. Eine Kommode mit einem Spiegel darüber, ein Mantel und ein Paar einsame Schuhe waren alles, was dort zu finden war.
Ich konnte zwischen zwei Türen und einer Treppe in den 1. Stock auswählen. Ich ging in die Küche. Sauber und ordentlich. Ich schaute in die Schränke und in den Kühlschrank, aber alles sah ganz normal aus.
Im Wohnzimmer war auch nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Es war wie die meisten Stuben auf den Färöern eingerichtet: Sofa, Couchtisch, Sessel, Eßtisch mit vier Stühlen, ein großer Farbfernseher. Etwas mehr Bücher als üblich und nicht nur die Illustrierte Varøin. Zeitungen, färöische und dänische, lagen auf dem Couchtisch. Ein großes Gemälde mit einer gewaltigen Landschaft hing über dem Sofa. Sigmund Petersen ließ sich nicht verleugnen.
Nur eine Sache war anders als in anderen Wohnzimmern: Es gab keine einzige Topfpflanze auf den Fensterbänken, nicht einmal einen Kaktus, aber Hugo hatte wohl kaum viel Wert auf derartige Gemütlichkeit gelegt.
Die Schlafzimmer und das Bad waren oben. Nur Hugos altes Zimmer wurde noch benutzt. Es sah fast aus wie vor 25 Jahren. Eine große Kommode, fast mannshoch, war das erste, was ins Auge fiel. Daneben noch Schreibtisch und Bett.
Auf dem Schreibtisch lag alles Mögliche. In den Schubladen einige Papiere und ansonsten der übliche Mist.
Auf der Kommode stand eine größere Anzahl von Modellen, vor allem Flugzeuge und Schiffe. Das Interesse für Modellbau hatte uns zusammengebracht.
In den Schubladen nur Kleidung.
Ich konnte nichts von besonderem Interesse entdecken. Andererseits hatte ich nicht die geringste Ahnung, wonach ich eigentlich suchte. Etwas, daß die Ereignisse vom letzten Abend erhellen konnte? Wer hatte Hugo umgebracht, falls er umgebracht worden war? Und was war mit Sonja?
Es war mir bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen, die Polizei anzurufen. Erst jetzt kam mir der Gedanke. Eins war sicher: ich hatte genug um die Ohren, als das ich zu jeder passenden und unpassenden Zeit zum Verhör rennen wollte. Aber informiert werden mußten sie nun mal.
Ich ging den selben Weg wieder hinaus. Doch diesmal ohne niedergeschlagen zu werden. Hugo rührte sich nicht. Ich hatte zu viel Respekt vor der Polizei, um seine Taschen zu durchsuchen. Oder vor dem Tod?
Bevor ich die Pforte zur Straße öffnete, schaute ich mich links und rechts um. Dort war niemand. Wahrscheinlich war das Fernsehprogramm noch nicht zuende.
Aus der Telefonzelle rief ich 11448 an, erzählte ihnen, wo ein toter Mann zu finden sei und legte wieder auf.
Ich ging zurück zum Ølankret, um mich zu stärken. Hoffentlich hatte der Barkeeper etwas, das stark genug war, um die Handwerker in meinem Kopf dazu zu bringen, sich eine Weile still zu verhalten.
Als ich am nächsten Vormittag aufwachte, hatte ich Kopfschmerzen. Die Nachwehen des Schlages, den ich in Hugos Keller erhalten hatte, würde ich zweifellos noch einige Tage spüren. Der Höcker war ziemlich groß, wie von einem mittelprächtigen Kamel entliehen.
Es war dadurch nicht besser geworden, daß ich bis zur Sperrstunde um halb eins im Ølankret gesessen und Gammel Dansk und Bier in mich reingeschüttet hatte. Mit ein bißchen Fleiß kann man in zwei Stunden eine ganze Menge schaffen.
Ich dachte wieder an Hugo und Sonja. Was war mit den beiden passiert? Und warum? Die Antworten kamen nicht flotter als gestern im Restaurant, aber Hugo hatte auf jeden Fall recht gehabt, als er von Gefahr sprach.
Als ich mich entschloß, auf die Färöer zu fahren, hatte ich nicht ernsthaft vermutet, daß ein Verbrechen vorliegen könnte. Es waren nur ein paar Kleinigkeiten nicht so gewesen, wie sie sein sollten. Sonja verschwand trippelnd auf dem Støðlajfall und fiel zu weit. Jetzt war ich überzeugt davon, daß beide ermordet worden waren.
Aber immer noch hatte ich keine Ahnung, warum sie umgebracht worden waren. Oder wer mich im Keller niedergeschlagen hatte. Doch das würde ich schon herausfinden. Einmal, weil ich es nicht leiden kann, von hinten niedergeschlagen zu werden, und zum anderen, weil ich Sonja immer gerne gehabt hatte. Hugo war mir eigentlich ziemlich egal, aber in diesem Fall hing er mit Sonja zusammen. Und neben diesen Abwägungen hoher moralischer Qualität war in dem, was vorgefallen war, bestimmt eine gute Story drin, und ich lebe nun mal davon, Geschichten zu schreiben.
Ich wußte nicht so recht, wo ich anfangen sollte. Sonjas Wohnung war schon längst wieder vermietet. Der Wohnungsmarkt in Tórshavn war so katastrophal, daß man sich kaum zur Arbeit traute, aus lauter Angst, es käme einer und nähme die Wohnung, besetzte sie einfach, während man weg war. Da war also auch nichts zu holen. Dann war da Hugo. Zweifellos hatten sie ihn jetzt geholt, und dann wimmelte es dort an allen Ecken und Enden vor Polizisten, oder aber das Haus war versiegelt. Am besten wartete ich ein Weilchen, um dann in Ruhe eine gründlichere Durchsuchung des Hauses als gestern vorzunehmen.
Ich konnte ebensogut Sonjas Schwester anrufen. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich fand Tvøroyri im Telefonbuch und darunter die Schwester. Während ich die Nummer wählte, fiel mir ein, daß Sonja gesagt hatte, ihre Schwester sei fromm, eine der wenigen in Tvøroyri, hatte sie lachend hinzugefügt.
“Hallo, wer ist da?” fragte eine Frauenstimme mürrisch.
Ich nannte meinen Namen, und daß ich ein Freund von Sonja war.
“Davon hatte sie viele”, schnaubte sie höhnisch. “Der Herr weiß, was er tut.” Die Stimme war schrill, und der schnelle südfjordische Akzent dazu schnitt wie ein Messer ins Ohr.
“Der Herr weiß, was er tut?” wiederholte ich überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er so schnell in die Sache mit hineingezogen würde.
Sie begann zu predigen: “Kein Entmannter, sei es nun durch Zerschmettern oder durch Verschneiden, soll in die Gemeinde des Herrn kommen. Kein Hurenkind soll in die Gemeinde des Herren kommen, bis ins zehnte Glied hinein soll seine Nachkommenschaft nicht in die Gemeinde des Herren kommen.”
Jetzt war mir klar, daß sie geisteskrank sein mußte. Trotzdem fragte ich vorsichtig: “Was wollen Sie mit dieser Bibelstelle sagen? Wenn es sich denn um eine handelt.”
“Natürlich ist es eine Bibelstelle. Fünftes Buch Mose, Kapitel 23, Vers 1 und 2. Sie kennen die Bibel nicht, aber ich, und der Lohn der Sünde wird auf die Kinder vererbt. Wollen wir nur hoffen, daß Er in seiner Gnade die Sünden der Mutter nicht auf das kleine unschuldige Kind überträgt.” Sie begann, ein neues Bibelzitat herunterzuleiern.
Ich wurde immer verwirrter von ihrem Geschwätz, und eines war klar: von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Sie war gerade mit der Stelle aus der Offenbarung fertig, als es mir gelang, einzuwerfen: “Ja, das stimmt. Und selten landen Fliegen in der Schüssel eines sterbenden Mannes.”
“Das ist gewißlich wahr”, predigte die Schwester weiter. Dann hielt sie inne, und für einen Moment war eine erholsame Stille. “Das ist nicht aus der Bibel. Woraus ist das? Denn das sage ich Ihnen, wie ich es auch allen anderen sage. Daß der, der sich an die Schrift hält...”
“Nein, das ist nicht aus der Bibel” unterbrach ich sie. “Das war aus Hammershaimbs Anthologie.”
Ich schmiß den Hörer auf die Gabel.
Was nun?
Ich nahm den Hörer, der gerade diese unsanfte Behandlung zu spüren bekommen hatte, wieder in die Hand und rief im Bladet an, Sonjas Arbeitsplatz in den letzten zehn Jahren. Eine Urlaubsvertretung erzählte mir, daß sie nicht so genau wußte, womit Sonja sich befaßt hätte, und daß fast alle Urlaub hätten. Aber ich dürfte gern mal vorbeischauen. Sonjas Büro war noch unberührt, weil Urlaubszeit war. Es war noch keine neue Kraft für sie eingestellt worden.
Vielleicht fand ich dort etwas?
Es war schon spät am Vormittag, als ich die J.C. Svabosgøta in Richtung Bladet ging. Es war schönes Wetter, die Sonne wollte durchbrechen, aber es war nicht warm. Elf Grad vielleicht. Genau das richtige Wetter für mich.
Von der Schiffswerft her hörte ich Hämmern, ansonsten war es so ruhig, wie es an einem Arbeitstag nur sein konnte. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei, so daß die Patienten auf der Pflegestation des Zentralkrankenhauses vielleicht mal etwas Ruhe hatten. Die Planung der verantwortlichen Stellen war nämlich genial: Das Krankenhaus ist zu beiden Seiten einer der Hauptstraßen der Stadt gebaut worden. Die Pflegeabteilung, in der Ältere und Schwächere wieder zu Kräften kommen sollen, liegt direkt an der Straße, und jedes Mal, wenn einer der großen LKWs vorbeifährt, erschauert das ganze Gebäude. Vielleicht ist jemand davon ausgegangen, daß die Alten auf dieser Station sowieso taub sind, und ihnen der Lärm der Autos deshalb nichts ausmacht. Oder will man ihnen noch einen zusätzlichen Stoß versetzen?
Ich ging ums Krankenhaus herum, auf dem Fußweg nach Sandagerø.