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Buch

Das ganze Leben verbringen wir in unserem Körper, doch die wenigsten haben eine Ahnung davon, wie er funktioniert, welche erstaunlichen Kräfte darin wirken und was tief im Inneren ab- und manchmal eben auch schiefläuft. Bill Bryson erzählt die grandiose Geschichte des menschlichen Körpers von der Haarwurzel bis zu den Zehen mit ansteckender Entdeckerfreude!

»Köstlich, lehrreich und höchst unterhaltsam.«
THE NEW YORK TIMES

Weitere Informationen zu Bill Bryson finden Sie am Ende des Buches.

BILL BRYSON

EINE KURZE
GESCHICHTE DES
MENSCHLICHEN
KÖRPERS

Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Body. A Guide For Occupants« bei Doubleday, einem Imprint von Transworld Publishers, London, in der Verlagsgruppe Penguin Random House UK.

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Copyright © 2019 der Originalausgabe by Bill Bryson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Originalverlag: Doubleday

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

Illustrationen Kapitelaufmacher: Neil Gower

Bildredaktion: Sarah Hopper/Anka Hartenstein

Redaktion: Eckard Schuster

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11184-7
V003

www.goldmann-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Bauanleitung für einen Menschen

Kapitel 2
Die Außenseite: Haut und Haare

Kapitel 3
Meine Mikroben und ich

Kapitel 4
Das Gehirn

Kapitel 5
Der Kopf

Kapitel 6
Runter damit: Mund und Rachen

Kapitel 7
Herz und Blut

Kapitel 8
Die chemische Abteilung

Kapitel 9
Im Seziersaal: Das Skelett

Kapitel 10
Unterwegs: Aufrechter Gang und Bewegung

Kapitel 11
Im Gleichgewicht

Kapitel 12
Das Immunsystem

Kapitel 13
Tief Luft holen: Lunge und Atmung

Kapitel 14
Essen, Essen, Essen

Kapitel 15
Das Gedärm

Kapitel 16
Schlaf

Kapitel 17
Jetzt wird’s intim

Kapitel 18
Wie es anfängt: Empfängnis und Geburt

Kapitel 19
Nerven und Schmerzen

Kapitel 20
Wenn etwas schiefgeht: Krankheiten

Kapitel 21
Wenn etwas völlig schiefgeht: Krebs

Kapitel 22
Gute Medizin, schlechte Medizin

Kapitel 23
Das Ende

Dank

Anmerkungen zu den Quellen

Literatur

Bildteil

Personenregister

Sachregister

Autor

Kapitel 1

BAUANLEITUNG
FÜR EINEN MENSCHEN

Wie ähnlich einem Gott!

WILLIAM SHAKESPEARE[1]

Vor langer Zeit war ich Schüler an einer amerikanischen Junior High School. Ich weiß noch, wie unser Biologielehrer uns erzählte, dass man alle Chemikalien, die den menschlichen Körper bilden, für fünf Dollar oder so ähnlich in einem Baumarkt kaufen kann. Wie hoch der Betrag genau war, weiß ich nicht mehr. Es hätten auch 2,97 oder 13,50 Dollar sein können, aber es war selbst nach der Kaufkraft der 1960er-Jahre wenig Geld, und ich staunte darüber, dass ein so schwerfälliges, pickliges Etwas wie ich fast nichts kostete.

Es war eine derart krasse, demütigende Erkenntnis, dass sie mich seither all die Jahre begleitet hat. Die Frage lautete: Stimmt das? Sind wir wirklich so wenig wert?

Viele Experten (was möglicherweise »Studienanfänger in den Naturwissenschaften, die am Freitag kein Date haben« bedeutet) haben zu verschiedenen Zeiten und meist nur aus Jux ausgerechnet, wie hoch die Materialkosten für das Zusammenbauen eines Menschen wären. Den vielleicht seriösesten und umfassendsten Versuch der letzten Jahre unternahm die britische Royal Society of Chemistry (RSC) im Rahmen des Cambridge Science Festival 2013: Sie rechnete aus, was es kosten würde, alle Elemente zum Zusammenbauen des Schauspielers Benedict Cumberbatch zu kaufen. (Cumberbatch war in diesem Jahr der Gastdirektor des Festivals und praktischerweise ein durchschnittlich großer Mensch.)

Nach den Berechnungen der RSC braucht man insgesamt 59 chemische Elemente, um einen Menschen zusammenzubauen.1 Sechs davon – Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Calcium und Phosphor – machen zusammen 99,1 Prozent unserer Substanz aus, aber der Rest ist in vielen Fällen ein wenig überraschend. Wer hätte gedacht, dass wir unvollständig sind, wenn sich in uns nicht ein wenig Molybdän befindet oder Vanadium, Mangan, Zinn und Kupfer? An diesen Elementen, das muss man sagen, haben wir nur einen höchst bescheidenen Bedarf, der sich in Millionsteln (parts per million) oder sogar nur Milliardsteln (parts per billion) bemisst. So brauchen wir beispielsweise nur 20 Kobalt- und 30 Chrom-Atome auf jeweils 999.999.999 ½ Atome von allem anderen.2

Den größten Bestandteil jedes Menschen bildet mit 61 Prozent des vorhandenen Volumens der Sauerstoff. Dass wir zu fast zwei Dritteln aus einem geruchlosen Gas bestehen sollen, mag ein wenig der Intuition widersprechen. Schließlich sind wir im Gegensatz zu einem Ballon nicht leicht und elastisch. Das liegt daran, dass der Sauerstoff zum größten Teil an Wasserstoff gebunden ist (der weitere zehn Prozent von uns ausmacht). Das Ergebnis ist Wasser – und jeder, der schon einmal ein Kinderplanschbecken verschieben wollte oder auch nur in nasser Kleidung herumgelaufen ist, weiß: Wasser ist erstaunlich schwer. Es ist ein wenig paradox: Sauerstoff und Wasserstoff, zwei der leichtesten Stoffe in der Natur, bilden im Verbund einen der schwersten. Aber so ist die Natur nun einmal. Sauerstoff und Wasserstoff in uns gehören auch zu den billigeren Elementen. Der ganze Sauerstoff kostet uns nur rund 10,30 Euro und der Wasserstoff ein wenig mehr als 18,50 (vorausgesetzt, der Mensch ist ungefähr so groß wie Benedict Cumberbatch). Der Stickstoff (2,6 Prozent von uns) ist noch preiswerter: nur 31 Cent pro Person. Aber von jetzt an wird es ziemlich teuer.

Wir brauchen knapp 14 Kilo Kohlenstoff, und die kosten nach Angaben der Royal Society of Chemistry ungefähr 51400 Euro. (Bei der RSC verwenden sie alle Substanzen immer nur in hochreiner Form. Aus billigem Zeug würde die Gesellschaft nie einen Menschen herstellen.) Calcium, Phosphor und Kalium werden zwar nur in sehr viel kleineren Mengen gebraucht, aber insgesamt können wir für sie weitere 54500 Euro ansetzen. Der Rest ist je Volumeneinheit noch teurer, aber glücklicherweise sind davon nur mikroskopisch kleine Mengen erforderlich. Thorium kostet fast 2300 Euro pro Gramm, macht aber nur 0,0000001 Prozent von uns aus, also können wir die benötigte Menge für nur 24 Cent kaufen. Das gesamte Zinn in unserem Körper gehört uns für fünf Cent, Zirkonium und Niob kosten jeweils knapp über zwei Cent. Für die 0,000000007 Prozent Samarium eine Rechnung zu schreiben, lohnt sich offensichtlich überhaupt nicht. Es ist in den Unterlagen der RSC mit Kosten von 0,00 Pfund verzeichnet.

Von den 59 Elementen, die in uns vorkommen, werden 24 traditionell als »essentielle« oder »lebenswichtige« Elemente bezeichnet, weil wir ohne sie wirklich nicht auskommen. Die anderen sind ein ziemlicher Mischmasch. Manche sind eindeutig nützlich, manche mögen nützlich sein, aber wir wissen noch nicht genau warum, wieder andere sind weder schädlich noch nützlich, sondern nur zufällig dabei, und wenige sind wirklich schlecht. Cadmium zum Beispiel steht in der Häufigkeit der Elemente in unserem Körper an 23. Stelle: Es macht 0,1 Prozent unserer Masse aus, ist aber hochgiftig. Wir haben es nicht deshalb in uns, weil unser Körper danach verlangt, sondern weil es aus dem Boden in die Pflanzen übergeht, die wir anschließend essen. Wer in Nordamerika wohnt, nimmt in der Regel ungefähr 80 Mikrogramm Cadmium am Tag zu sich, und nichts davon tut irgendwie gut.

Erstaunlich viel von dem, was auf der Ebene der Elemente vorgeht, ist noch Gegenstand der Forschung. Wir können fast jede beliebige Zelle aus unserem Körper entnehmen, und immer wird sie mindestens eine Million Selen-Atome enthalten, aber bis vor kurzer Zeit hatte niemand eine Ahnung, wozu sie gut sind. Heute wissen wir, dass Selen zwei lebenswichtige Enzyme bildet, deren Fehlen mit Bluthochdruck, Arthritis, Anämie, manchen Krebsformen und möglicherweise sogar einer verminderten Spermienzahl in Verbindung gebracht wird.3 Es ist also eindeutig eine gute Idee, ein wenig Selen in sich zu haben (das Element kommt besonders in Nüssen, Vollkornbrot und Fischen vor), aber andererseits kann man die Leber auch unheilbar vergiften, wenn man zu viel davon zu sich nimmt.4 Wie bei so vielen Dingen im Leben ist es auch hier eine heikle Angelegenheit, das richtige Gleichgewicht zu finden.

Insgesamt liegen die Kosten für das Zusammenbauen eines neuen Menschen vom Schlage des hilfsbereiten, als Vorbild dienenden Benedict Cumberbatch nach Angaben der RSC bei genau 96546,79 britischen Pfund – das sind ungefähr 112000 Euro. Arbeitslohn und Mehrwertsteuer würden die Kosten natürlich weiter steigen lassen. Vermutlich hätten wir Glück, wenn wir einen Benedict Cumberbatch zum Mitnehmen für unter 250000 Euro bekämen – unter Berücksichtigung aller Umstände kein riesiges Vermögen, aber eindeutig auch nicht die paar mageren Dollars, von denen mein Lehrer an der Junior High School gesprochen hatte. Gleichwohl stellte die langjährige Wissenschaftsreihe Nova des amerikanischen Fernsehsenders PBS im Jahr 2012 für eine Episode namens »Jagd auf die Elemente« genau die gleiche Analyse an und gelangte dabei auf einen Betrag von 168 Dollar für die Grundbestandteile des menschlichen Körpers.5 Hier stoßen wir auf eine Erkenntnis, die im weiteren Verlauf des vorliegenden Buches unausweichlich werden wird: Wenn es um den Organismus des Menschen geht, sind die Details oft erstaunlich unsicher.

In Wirklichkeit spielt das natürlich kaum eine Rolle. Ganz gleich, was wir bezahlen oder wie sorgfältig wir das Material zusammenstellen, wir werden keinen Menschen erschaffen können. Wir könnten die klügsten Köpfe zusammentrommeln, die heute leben oder jemals gelebt haben, und ihnen das gesamte Wissen der Menschheit zur Verfügung stellen – es hilft nichts: Sie alle gemeinsam könnten keine einzige lebende Zelle herstellen, ganz zu schweigen von einem kopierten Benedict Cumberbatch.

Das ist zweifellos der erstaunlichste Aspekt an uns: Wir sind nur eine Sammlung unbelebter Bestandteile; die gleichen Substanzen würden wir auch in einem Abfallhaufen finden. Ich habe es bereits in einem anderen Buch gesagt, aber nach meiner Überzeugung lohnt es sich, noch einmal darauf zurückzukommen: An den Elementen, aus denen wir bestehen, ist nichts Besonderes, außer dass wir daraus bestehen. Das ist das Wunder des Lebendigen.

In diesem warmen Fleischklumpen existieren wir also und halten das fast immer für etwas Selbstverständliches. Wie viele unter uns wissen auch nur ungefähr, wo die Milz liegt oder was sie tut? Wer kennt den Unterschied zwischen Sehnen und Bändern? Wer weiß, wozu die Lymphknoten da sind? Was glauben Sie, wie viele Male am Tag Sie mit den Augen zwinkern? Fünfhundertmal? Tausendmal? Natürlich, Sie haben keine Ahnung. Nun, Sie blinzeln ungefähr 14000-mal am Tag – so oft, dass Sie die Augen jeden Tag 23 Minuten geschlossen haben, obwohl Sie wach sind.6 Und doch müssen Sie nie darüber nachdenken, denn in jeder Sekunde jedes Tages erfüllt Ihr Körper buchstäblich unzählige Aufgaben – eine Billiarde, eine Nonillion, eine Quindecillion, eine Vigintillion (das sind die tatsächlichen Zahlen); in jedem Fall ist es eine Zahl, die unser Vorstellungsvermögen bei Weitem übersteigt – und alles geschieht, ohne dass wir auch nur einen Augenblick lang unsere Aufmerksamkeit darauf richten müssten.

In der einen Sekunde, seit Sie begonnen haben, diesen Satz zu lesen, hat Ihr Körper eine Million rote Blutzellen produziert. Sie strömen bereits in Ihnen herum, kreuzen durch Ihre Blutgefäße, halten Sie am Leben. Jede dieser roten Blutzellen wird ungefähr 150000-mal die Runde durch Sie machen; immer wieder wird sie Sauerstoff an Ihre Zellen liefern, und dann, wenn sie verschlissen und nutzlos ist, wird sie sich anderen Zellen darbieten, die sie zum Wohl des großen Ganzen in aller Stille töten.

Insgesamt sind 7 Milliarden Milliarden Milliarden (7.000.000.000.000.000.000.000.000.000 oder 7 Quadrilliarden) Atome notwendig, um einen Menschen aufzubauen. Warum diese 7 Milliarden Milliarden Milliarden einen so dringenden Wunsch haben, ein Mensch zu sein, weiß niemand. Schließlich sind es geistlose Teilchen, die weder einen einzigen Gedanken noch eine Vorstellung von irgendetwas haben. Und doch sorgen sie über die gesamte Dauer unseres Daseins hinweg für Aufbau und Instandhaltung all der unzähligen Systeme, die notwendig sind, damit Sie funktionieren, damit Sie Sie sind; sie bilden die Strukturen, die Ihnen Form und Gestalt geben und es Ihnen gestatten, den seltenen, ungeheuer angenehmen Zustand zu genießen, den wir Leben nennen.

Das ist eine viel größere Leistung, als uns klar ist. Ausgepackt sind Sie riesig. Ihre Lunge würde ausgebreitet einen Tennisplatz bedecken, und die Luftwege darin würden sich von London bis nach Moskau erstrecken. Ihre Blutgefäße würden hintereinandergelegt zweieinhalbmal um die Erde reichen.7 Aber der bemerkenswerteste Teil von allen ist Ihre DNA. Ein Meter davon ist in jeder Ihrer Zellen verpackt, und da Sie aus so vielen Zellen bestehen, würde die DNA in Ihrem Körper als einzelner feiner Faden 16 Milliarden Kilometer weit reichen, bis jenseits des Pluto.8 Das muss man sich einmal vorstellen: Von Ihnen gibt es so viel, dass es über das Sonnensystem hinausreicht. Sie sind ganz buchstäblich kosmisch.

Doch Ihre Atome sind nur Bausteine und als solche nicht lebendig. Wo das Leben im Einzelnen beginnt, lässt sich nicht so genau sagen. Die Grundeinheit des Lebendigen ist die Zelle – darüber sind sich alle einig. In der Zelle wimmelt es von allen möglichen Dingen – Ribosomen und Proteinen, DNA, RNA, Mitochondrien und vielen anderen mikroskopisch kleinen Wunderwerken –, aber keines davon ist als solches lebendig. Die Zelle selbst ist nur ein Abteil, eine Art kleines Zimmer, eben eine Zelle: Sie enthält das alles und ist selbst ebenso wenig lebendig wie jedes andere Zimmer. Aber wenn alle diese Dinge zusammenkommen, haben wir irgendwie Leben. Das ist der Teil, den die Wissenschaft nicht zu fassen bekommt. Ich hoffe, es wird immer so bleiben.

Am bemerkenswertesten ist vielleicht, dass nichts das Sagen hat. Jeder Zellbestandteil spricht auf Signale anderer Bestandteile an, alle stoßen und puffen sich wie Autoscooter, und doch führen die ganzen Zufallsbewegungen zu einer reibungslosen, koordinierten Tätigkeit, und das nicht nur in der Zelle, sondern im ganzen Körper, denn die Zellen kommunizieren mit anderen Zellen in den unterschiedlichen Teilen Ihres persönlichen Kosmos.

Das Herzstück der Zelle ist der Zellkern. Er enthält die DNA – und die ist, wie wir bereits festgestellt haben, ungefähr einen Meter lang und liegt zusammengedrängt in einem Raum, den wir mit Fug und Recht als winzig klein bezeichnen können. Dass so viel DNA in einen Zellkern passt, liegt daran, dass sie ungeheuer dünn ist. 20 Milliarden DNA-Fäden müsste man nebeneinander legen, um die Breite des dünnsten menschlichen Haares zu erreichen.9 Jede Zelle in unserem Körper (genauer gesagt: jede Zelle mit einem Zellkern) enthält zwei Kopien unserer DNA. Deshalb haben wir insgesamt genug davon, um die Strecke bis zum Pluto und darüber hinaus abzudecken.

Die DNA existiert nur zu einem einzigen Zweck: um neue DNA zu erzeugen. Ihre DNA ist einfach eine Gebrauchsanweisung, nach der Sie hergestellt werden. Ein DNA-Molekül – daran werden Sie sich mit ziemlicher Sicherheit aufgrund unzähliger Fernsehsendungen und vielleicht auch aus dem Biologieunterricht erinnern – besteht aus zwei Strängen, die durch Sprossen verbunden sind und die berühmte, unter dem Namen Doppelhelix bekannte verdrehte Leiter bilden. Sie ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die man Chromosomen nennt, und die wiederum enthalten kürzere Einheiten, die Gene. Die Gesamtheit all unserer Gene ist das Genom.

Die DNA ist äußerst stabil. Sie kann Zehntausende von Jahren überdauern. Mit ihrer Hilfe können Wissenschaftler heute die Menschheitsgeschichte in der sehr fernen Vergangenheit erforschen. Vermutlich wird nichts von dem, was Sie heute besitzen – kein Brief, kein Schmuck, kein hochgeschätztes Familienerbstück – in einigen tausend Jahren noch existieren, aber Ihre DNA wird mit ziemlicher Sicherheit noch da sein und sich wiederentdecken lassen, falls jemand sich die Mühe macht, danach zu suchen. Die DNA gibt Information mit außergewöhnlicher Originaltreue weiter. Sie macht ungefähr nur einen Fehler unter einer Milliarde kopierter Buchstaben. Und doch summiert sich das auf ungefähr drei Fehler oder Mutationen je Zellteilung. Die meisten derartigen Veränderungen kann der Organismus ignorieren, doch gelegentlich haben sie auch eine dauerhafte Bedeutung. Das ist Evolution.

Alle Bestandteile des Genoms haben nur einen einzigen Zweck: Sie sollen die Abstammungslinie unseres Daseins weiterführen. Der Gedanke macht ein wenig demütig: Die Gene, die wir in uns tragen, sind uralt und möglicherweise – jedenfalls bisher – unsterblich. Wir selbst werden sterben und dahinschwinden, aber unsere Gene werden immer weiterleben, solange wir und unsere Nachkommen weiterhin Nachwuchs hervorbringen. Und es ist in der Tat erstaunlich, wenn man bedenkt, dass unsere persönliche Abstammungslinie in den drei Milliarden Jahren, seit es das Leben gibt, kein einziges Mal unterbrochen war. Damit wir heute hier sein können, musste jeder unserer Vorfahren sein genetisches Material an eine neue Generation weitergeben, bevor er dahingerafft oder auf andere Weise aus dem Fortpflanzungsprozess ausgeschlossen wurde. Eine ganz schöne Erfolgsgeschichte.

Im Einzelnen besteht die Tätigkeit der Gene darin, Anweisungen für den Aufbau von Proteinen zu liefern. Die meisten nützlichen Bestandteile in unserem Organismus sind Proteine. Manche beschleunigen chemische Veränderungen – dann nennt man sie Enzyme. Andere übermitteln chemische Nachrichten und heißen Hormone. Wieder andere greifen Krankheitserreger an und werden als Antikörper bezeichnet. Das größte unserer Proteine, das Titin, trägt zur Steuerung der Muskelelastizität bei. Sein chemischer Name hat 189819 Buchstaben; damit wäre es das längste Wort der englischen Sprache, nur werden chemische Namen von den Wörterbüchern nicht verzeichnet.10 Wie viele verschiedene Proteintypen es in uns gibt, weiß niemand genau; die Schätzungen reichen von einigen hunderttausend bis zu einer Million oder mehr.11

Es ist das große Paradox der Genetik, dass wir alle sehr unterschiedlich und gleichzeitig genetisch praktisch identisch sind. Alle Menschen haben 99,9 Prozent ihrer DNA gemeinsam, und doch sind zwei Menschen niemals gleich.12 Meine DNA und Ihre DNA unterscheiden sich an drei bis vier Millionen Stellen – das ist nur ein kleiner Anteil der Gesamtzahl, doch es reicht für eine Fülle von Unterschieden zwischen uns.13 Auch Sie selbst haben ungefähr 100 persönliche Mutationen in sich,14 Abschnitte mit genetischen Anweisungen, die nicht ganz genau mit irgendeinem der von Ihren Eltern ererbten Gene übereinstimmen; diese Gene gehören nur Ihnen allein.

Wie das alles im Einzelnen funktioniert, ist in großen Teilen immer noch ein Rätsel. Nur zwei Prozent des menschlichen Genoms codieren Proteine, das heißt, nur zwei Prozent bewirken irgendetwas, was nachweislich und eindeutig einem praktischen Zweck dient. Was der Rest macht, ist nicht bekannt. Ein großer Teil davon, so scheint es, ist einfach nur da wie Sommersprossen. Manches hat überhaupt keinen Sinn. Eine besonders kurze Sequenz, Alu-Element genannt, wiederholt sich im Genom mehr als eine Million Mal, manchmal auch inmitten wichtiger proteincodierender Gene.15 Solche DNA-Abschnitte sind nach allem, was wir heute wissen, völliges Kauderwelsch, und doch machen sie zehn Prozent unseres gesamten genetischen Materials aus. Eine Zeit lang bezeichnete man diesen rätselhaften Teil als »DNA-Schrott«, heute wird er eleganter »dunkle DNA« genannt, das heißt, wir wissen nicht, was er tut, oder warum es ihn gibt. Ein Teil davon ist an der Steuerung der Gene beteiligt, aber wozu der Rest dient, ist weitgehend unbekannt.

Unser Körper wird häufig mit einer Maschine verglichen, aber in Wirklichkeit ist er viel mehr. Er arbeitet jahrzehntelang 24 Stunden am Tag, und dabei benötigt er (jedenfalls meistens) weder eine regelmäßige Wartung noch Ersatzteile; er läuft mit Wasser und wenigen organischen Verbindungen, ist weich und ziemlich hübsch, angenehm beweglich und flexibel, pflanzt sich mit Begeisterung fort, macht Witze, spürt Zuneigung, weiß einen roten Sonnenuntergang und eine kühlende Brise zu schätzen. Wie viele Maschinen, die Sie kennen, können auch nur eines davon? Da gibt es keine Frage: Der Mensch ist wirklich ein Wunder. Aber man muss sagen: Das ist ein Regenwurm auch.

Und wie feiern wir unser prächtiges Dasein? Nun, die meisten von uns tun es, indem sie sich möglichst wenig bewegen und möglichst viel essen. Denken wir nur an den ganzen Müll, den wir uns in den Rachen werfen, und daran, welch großen Teil unseres Lebens wir hingelümmelt und in einem beinahe vegetativen Zustand vor einem flimmernden Bildschirm verbringen. Aber auf eine freundliche und irgendwie wundersame Weise kümmert sich unser Körper um uns, gewinnt Nährstoffe aus dem Mischmasch an Lebensmitteln, die wir uns in den Mund stecken, und hält uns irgendwie jahrzehntelang und im Allgemeinen auf einem ziemlich hohen Niveau zusammen. Mit der Lebensweise Selbstmord zu begehen, dauert Jahrzehnte.

Selbst wenn wir fast alles falsch machen, bleibt unser Organismus intakt und hält uns aufrecht. Davon zeugen die meisten Menschen auf die eine oder andere Weise. Fünf von sechs Rauchern bekommen keinen Lungenkrebs.16 Die meisten Menschen, die Musterkandidaten für einen Herzinfarkt wären, bekommen keinen Herzinfarkt. Jeden Tag, so eine Schätzung, werden zwischen einer und fünf von unseren Zellen krebsartig, aber das Immunsystem fängt sie ein und tötet sie ab.17 Daran sollte man immer denken. Mehrere Dutzend Male in der Woche, weit über tausendmal im Jahr bekommt jeder von uns die am meisten gefürchtete Krankheit unserer Zeit, und jedes Mal rettet uns unser Organismus. Selbstverständlich entwickelt sich ein Krebs gelegentlich zu einer etwas ernsthafteren Angelegenheit und wirkt möglicherweise tödlich, doch insgesamt sind Krebserkrankungen selten: Die meisten Zellen in unserem Körper verdoppeln sich Milliarden und Abermilliarden Male, ohne dass etwas schiefgeht. Krebs mag eine häufige Todesursache sein, aber ein häufiges Ereignis im Leben ist er nicht.

Unser Organismus ist ein Universum aus 37,2 Billionen[2] Zellen, die mehr oder weniger perfekt koordiniert mehr oder weniger ständig zusammenwirken.18 Schmerzen, ein verdorbener Magen, hin und wieder ein blauer Fleck oder ein Pickel – das ist nahezu alles, womit sich unsere Unvollkommenheit unter normalen Umständen bemerkbar macht. Tausende von Ursachen können uns umbringen19 – nach der von der Weltgesundheitsorganisation zusammengestellten »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems – ICD) sind es etwas mehr als 8000 –, und ihnen allen mit Ausnahme von einer entgehen wir. Für die meisten Menschen ist das kein schlechtes Geschäft.

Wir sind alles andere als perfekt, weiß Gott. Unsere Weisheitszähne brechen verspätet oder gar nicht durch, weil unsere Kieferknochen in der Evolution so klein geworden sind, dass sie nicht alle Zähne aufnehmen können, mit denen wir ausgestattet sind, und unser Becken ist so klein, dass Kinder nur unter entsetzlichen Schmerzen hindurchgleiten können. Wir sind hoffnungslos anfällig für Rückenschmerzen. Unsere Organe können sich zum größten Teil nicht selbst reparieren. Wenn das Herz eines Zebrafisches geschädigt ist, wächst neues Gewebe nach. Wenn unser Herz Schaden nimmt – hm, Pech gehabt. Fast alle Tiere produzieren ihr eigenes Vitamin C, nur wir sind dazu nicht in der Lage. Der Entstehungsprozess läuft zwar auch in uns in allen Teilen ab, nur fehlt unerklärlicherweise der letzte Schritt, die Produktion eines einzigen Enzyms.20

Das Wunder des menschlichen Lebens besteht nicht darin, dass wir ein paar Schwächen haben, sondern dass wir durch sie nicht untergehen. Vergessen wir nicht, dass unsere Gene von Vorfahren stammen, die während der meisten Zeit nicht einmal Menschen waren. Manche von ihnen waren Fische. Viele andere waren winzige, pelzige Tiere und lebten in unterirdischen Bauten. Das sind die Lebewesen, von denen wir unseren Körperbauplan geerbt haben. Wir sind das Produkt einer Evolution, die drei Milliarden Jahre lang herumgedoktert hat. Es würde uns allen viel besser gehen, wenn wir einfach von vorn anfangen und uns mit einem Körper ausstatten könnten, der speziell für unsere Bedürfnisse als Homo sapiens gebaut ist – dann könnten wir aufrecht gehen, ohne Knie und Rücken kaputt zu machen, wir könnten schlucken, ohne Gefahr zu laufen, uns zu verschlucken, und wir könnten Babys zur Welt bringen, als kämen sie aus einem Verkaufsautomaten. Aber dafür sind wir nicht gebaut. Unseren Weg durch die Geschichte haben wir als einzellige Klumpen angetreten, die in warmen, seichten Meeren schwammen. Seither war alles ein langer, interessanter Zufall, aber auch ein ziemlich prachtvoller – das, so hoffe ich, wird auf den nachfolgenden Seiten deutlich werden.


[1] Hamlet II, 2; Übers. v. A. W. Schlegel

[2] Diese Angabe ist natürlich eine begründete Vermutung. Die Zellen des Menschen unterscheiden sich in Typ, Größe und Dichte stark, und man kann sie buchstäblich nicht zählen. Zu der Zahl von 37,2 Billionen gelangte ein europäisches Wissenschaftlerteam unter Leitung von Eva Bianconi von der Universität im italienischen Bologna im Jahr 2013; berichtet wurde darüber in den Annals of Human Biology.