Zum Buch
Mit »Mutter« legt Melitta Breznik ein intensives Kammerspiel vor, der langsame Abschied von der Mutter. Als Tochter, Pflegerin und Ärztin, die ihre Mutter in den letzten Monaten beim Sterben begleitet, schildert die Autorin mit genauem Blick die Veränderungen, die von den beiden Frauen Besitz ergreifen. Es gibt Momente der Verbundenheit, der Trauer, des Lichts, Kleinigkeiten erstrahlen in schlichter Schönheit in diesen letzten Tagen. Eine Familiengeschichte wird erzählt, bis zurück zu den beiden Kriegen. Fragen nach Schuld und Vergebung tauchen auf und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt. Ein dichtes Buch über das Sterben. Tiefgründig, ehrlich, liebend und klar.
Zur Autorin
MELITTA BREZNIK, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in Zürich sowie im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: »Nachtdienst« (Erzählung 1995), »Figuren« (Erzählungen 1999), »Das Umstellformat« (Erzählung 2002), »Nordlicht« (Roman 2009), »Der Sommer hat lange auf sich warten lassen« (Roman 2013).
Melitta Breznik
Mutter.
Chronik eines Abschieds
Luchterhand
»Es ist später als Du denkst«
Inschrift auf einem Marmorstein
in Laas, Südtirol
Als ich auf die Welt kam, so erzählte Mutter, war ich ein hässliches, untergewichtiges Etwas, umhüllt von einem bittersüßen Geruch, der von einer käsigen, schuppigen Schicht auf meinem Körper herrührte. Zwei Wochen hatte ich mir nach dem errechneten Geburtstermin Zeit gelassen, sodass die Ärzte schon gemeint hatten, ich würde kaum lebend zur Welt kommen. »Mit einundvierzig wollte ich kein Kind mehr, aber als ich Dich in meinen Armen hielt, war alles gut.«
17. Oktober. Seit gestern bin ich hier bei Mutter. Ihre Stimme am Telefon klang verändert, der dunkle Ton fehlte, die Melodie der Sätze war ungewohnt eintönig, karg. Sie habe starke Bauchschmerzen, immer wieder erbrochen. Der Arzt habe gemeint, sie solle auf Blähendes und Fettes verzichten, aber das tat sie ohnehin. Kein Lauch, kein Kohl, Mutter hatte den Speiseplan der Familie an ihre Bedürfnisse angepasst, nur manchmal gab es in meiner Kindheit Käferbohnensalat mit Kürbiskernöl für Vater, mit kleingehackten Zwiebeln und Knoblauch, wie es in der Gegend üblich war. Mutter war Ende der Vierzigerjahre aus Frankfurt am Main in diese steirische Kleinstadt gekommen und hatte gelernt zu kochen, wie es die Männer hier von ihren Frauen erwarteten.
Seit Mutter Ende achtzig war, wurden die Wege zum Einkaufen beschwerlicher. Eines Tages zeigte sie mir Unterlagen über eine ihrem Alter angepasste kleine Wohnung. Dann war alles schnell gegangen. Mutter entwickelte unerwarteten Eifer, und wir pilgerten von einem Einrichtungshaus zum anderen, um das neue Mobiliar auszusuchen, das sie sich von ihrem Ersparten und etwas Geld von mir anschaffte. Sie wollte fast nichts mitnehmen, es sollte ein Neuanfang sein, für diesen letzten Abschnitt in ihrem Leben, der mit einem Umtrunk für die ehemaligen Nachbarn der Burggasse in ihrer neuen Bleibe begann.
Seit zwei Jahren lebt sie hier mit sieben älteren Frauen in dem zweistöckigen Wohnhaus nicht weit vom Stadtzentrum. Der Gesellschaftsraum im Parterre bietet genügend Platz, um gemeinsam Kaffee zu trinken oder Karten zu spielen, vormittags kümmert sich eine Sozialhelferin der Gemeinde darum, wenn etwas zu organisieren ist, ein Besuch des Hausarztes oder der Krankenpflege. Es gibt keine Männer hier, aus der Generation der Kriegsteilnehmer sind die meisten verstorben oder im Altersheim. Mutter hat sich gut eingelebt, der Alltag mit begehbarer Dusche, kleiner Kochzeile und Terrasse gestaltet sich komfortabler als in ihrer alten Wohnung, in der sie nach der Trennung von Vater die letzten fünfundzwanzig Jahre verbracht hat. Sie liebt es, in der warmen Jahreszeit ihren Mittagsschlaf im Liegestuhl vor ihrem Wohnzimmer im Freien zu halten und den Wind in den Haaren zu spüren. In einem kleinen Beet zieht sie Petersilie, Thymian und Pfefferminz, lässt Kletterrosen am Windschutz emporwachsen, die sie mit Hingabe pflegt, meist gemeinsam mit Frau Gabriel, die ihr seit einigen Jahren einmal in der Woche schwere Haushaltsarbeiten abnimmt.
Zunächst zögerte ich hierherzukommen, denn Mutter litt, seit ich mich zurückerinnern kann, an Unpässlichkeiten, die immer wieder verschwanden, so schnell wie sie gekommen waren, und ich hoffte, es würde auch diesmal so sein. Ich hatte meinem Bruder, der in einer benachbarten Kleinstadt lebt, telefonisch die Lage geschildert, er wusste bereits Bescheid, und ich bat ihn, am selben Tag bei Mutter vorbeizuschauen und mir über ihren aktuellen Zustand zu berichten, da ich nicht wisse, ob meine Anreise nötig sei. Die nächsten Wochen in Basel hatte ich bereits verplant, ich führte Gespräche mit Chefärzten von psychiatrischen Kliniken, in denen ich mir meine nächste Arbeitsstelle vorstellen konnte. Zudem hatte ich ein Jahr Auszeit genommen, um an einem Buch zu arbeiten. Für die Recherchen dazu war ich zunächst nach Griechenland gereist, ins Gebiet der Felsen von Meteora, wo mein Vater einige Monate als Wehrmachtssoldat stationiert gewesen war. Eine Reise hatte mich auch nach Südengland geführt, nach Romsey, eine kleine Stadt nahe Southampton. Dort war er zwei Jahre lang als Kriegsgefangener interniert gewesen. Viel Zeit verbrachte ich in Archiven in Wien, London und Freiburg im Breisgau, um Unterlagen über Einheiten zu studieren, denen mein Vater im Laufe des Kriegs zugeteilt worden war. Ich war auf der Suche nach der Katastrophe, deren Schatten ihn als Vater hatten versagen lassen. Er hatte sich im Laufe der Jahre, als Quartalstrinker, nach und nach vom Leben zurückgezogen. Zum Abschluss meiner Recherchen war ich nach Frankfurt gefahren, genauer gesagt nach Bergen-Enkheim und Fechenheim, Vororte, in denen Mutter aufgewachsen war und wo sie während des Krieges Vater kennengelernt hatte. Zuletzt hatten Mutter und ich vor ein paar Jahren dort Station gemacht, wir waren unterwegs zu vier psychiatrischen Kliniken in Hessen, auf der Suche nach Dokumenten über ihre Mutter, die dort interniert gewesen und unter unklaren Umständen zu Beginn der Vierzigerjahre verstorben war.
Von Frankfurt aus telefonierte ich mehrmals täglich mit Mutter, in der Hoffnung, sie würde sich erholen. Doch als sie mir sagte, sie könne das Bett kaum mehr verlassen, machte ich mich ohne weiteres Zögern auf den Weg hierher. Bei meiner Ankunft war ich überrascht, Mutter fröhlich zu sehen. Als ich sie, noch an der Türe, nach dem ersten Kuss auf ihre weiche Wange, die vertraut roch, vorsichtig umarmte, noch unsicher, wie fest ich sie berühren durfte, fühlte sie sich federleicht an. Fast war ich versucht, sie, die einen Kopf kleiner war als ich, hochzuheben wie ein Kind. Die Berührung löste in mir ein Gefühl von Geborgenheit aus, doch diese Nähe stellte sich meist nur in kurzen Momenten ein, als Auftakt meines Besuches und dann beim Abschied. Dazwischen war jeder körperliche Kontakt mit einem alten Tabu belegt. Nur nicht zu nahe, nicht zu lange die Hand halten, übers Haar streichen, nur nicht.
Mutter trägt ein gelbes Hauskleid. Es ist ein einfach geschnittenes Stück, das sie vor ein paar Jahren selbst genäht hat. Das Gelb passt zu ihren Haaren, die sich in dünnen Wellen weich um ihr Gesicht legen. Es ist später Vormittag, und wir sitzen auf der sonnenerwärmten Terrasse ihrer Wohnung, ein lauer Oktobertag hat sich über die Stadt gebreitet, mild und unerwartet. Mutter wirkt zerbrechlich und hat Mühe, Haltung zu bewahren und so zu tun, als fühle sie sich besser als in den Tagen davor. Meinen Vorschlag, den Hausarzt zu konsultieren, verwirft sie mit einer ablehnenden Geste, ein weiteres Insistieren würde nichts fruchten. Also erzähle ich von meiner Reise und beginne mit den Vorbereitungen für das Mittagessen, lege den Inhalt der Einkaufstasche auf dem Klapptisch aus, während sie zurückgelehnt im Sessel sitzt und die Sonne das Weiß ihrer Haare zum Leuchten bringt. Ich kenne Mutter nicht anders als mit dieser Frisur, und in mir tauchen Bilder aus meiner Kindheit auf, von der Friseurgehilfin, die über die mit Lockenwicklern bestückten Köpfe hinweg Tageskonversation führte. Das Geschnatter der Frauen schien sich gegenseitig aufzuladen, jede gab Geschichten über diesen und jene zum Besten. Die Rede war meist vom Werk, diesem zwischen dunkel bewaldeten Bergen schnaubenden Ungeheuer, das über die Jahre immer wieder einen der Ehemänner, Väter oder Verlobten bei der Arbeit am Hochofen oder am Stahlhammer verschlungen hatte. Ich war neun Jahre alt und wünschte mir, Mutter würde sich für eine Färbung entscheiden, dunkelblond, was mir die Frage meiner Mitschüler ersparen würde, warum ich bei meinen Großeltern wohnte. Mutter sagte oft, das rasche Ergrauen habe kurz nach meiner Geburt begonnen, buchstäblich über Nacht.
Mutter und ich schneiden Gemüse, das ich an einem Marktstand in der Altstadt gekauft habe. Suppenhuhn vom Bauern aus der Gegend soll es geben, gewürzt mit Lorbeer, Majoran und Petersilie, so, wie sie es für mich gekocht hatte, wenn ich fiebrig von der Schule nach Hause kam und mich sofort ins Bett legte. Gelegentlich gab es auch sonst Hühnerbrühe, die Bouillon wurde am Sonntag mit Griesnockerl vor dem Schnitzel serviert. Die Sonne wärmt mir den Rücken, während wir einträchtig schälen, zerkleinern und die bunten Stücke in einer Glasschüssel sammeln. Ich beobachte, wie Mutter die Karotten in Scheiben schneidet, alle anderen mir bekannten Köchinnen verarbeiten sie zu länglichen Stiften. Die Suppe wird aussehen wie in meiner Kindheit, Erbsen und Möhren, kleine grüne Kugeln und orange Medaillons, die mit den golden glänzenden Fettaugen und der frisch geschnittenen Petersilie an der Oberfläche im Teller ein appetitliches Bild abgeben. Im Stillen wünsche ich mir, sie solle durch meine Fürsorge rasch genesen. Wenn ich in der Gegend wohnen würde, könnten wir öfter miteinander kochen, dann wäre es selbstverständlich, einträchtig Strudelteig zuzubereiten, der so schmeckt, wie er immer geschmeckt hat. Als Jugendliche hat mich die Angst davor, eine Hausfrau zu werden wie meine Mutter, die mittags mit dem Essen auf ihren Mann und die Kinder wartet, davon abgehalten, mit ihr am Herd zu stehen. Erst als ich über dreißig war und als Ärztin in der Schweiz arbeitete, wollte ich wissen, wie sie die Marillenknödel zubereitete, fragte nach dem Rezept für den Topfenstrudel, den Kaiserschmarren, die Rindsrouladen. Vielleicht hätte Mutter mein Leben aufgefressen, wenn ich in ihrer Nähe geblieben wäre. Ich behalte den Gedanken für mich.
Das Huhn kocht in einem großen Topf langsam vor sich hin, Mutter hat sich aufs Sofa im Wohnzimmer gelegt, ich sitze allein auf der Terrasse, es weht ein warmer Herbstwind, und für einen kurzen Moment ist es wie früher, als ich noch klein war. Gleich würde Vater nach seiner Arbeitsschicht im Werk müde zur Tür hereinkommen und, nachdem er die Hände und das Gesicht gewaschen hätte, mit der Zeitung in der Hand in der Küche Platz nehmen, bis die Gemüse-, Gulasch- oder die Griesnockerlsuppe angerichtet war. Dann würden wir zu Tisch gerufen werden.
Während wir langsam die heiße Suppe löffeln und Mutter mir von ihren Nachbarinnen im Haus erzählt, stelle ich mir vor, es würde so sein wie bei meinen früheren Besuchen. Mutter hatte sich in meiner Gesellschaft meist schnell erholt. Möglicherweise ist es die Erschöpfung nach der Magenverstimmung, die sie in diese düstere Herbststimmung abgleiten lässt, unter der sie in den letzten Jahren zunehmend leidet. Nach einem halben Teller Suppe klagt sie über Bauchschmerzen und kurz darauf erbricht sie alles. Sie schleppt sich vom Badezimmer ins Bett und schläft erschöpft ein. Ich wasche in der kleinen Küche leise das Geschirr und beschließe, am nächsten Morgen mit Mutter ins Krankenhaus zu fahren. Mutters Zustand ist ernster, als wir beide es wahrhaben wollen. Verzagt setze ich mich an den Esstisch gegenüber der offenen Tür zum Schlafzimmer, sehe Mutter auf ihrem Bett liegen, zugedeckt mit einer rostbraunen Wolldecke, die sie bis zu den Schultern hochgezogen hat, beobachte von weitem ihr Gesicht, dessen Züge sich langsam glätten, und beginne in mein Tagebuch zu notieren.
Draußen vor den hohen Fenstern zur Terrasse zieht sich das Licht langsam aus der Landschaft zurück. Die Welt beschränkt sich auf das schwach von der Stehlampe erleuchtete Wohnzimmer mit dem goldgelben Sofa, die darauf drapierten Kissen, den Esstisch mit vier Stühlen aus hellem Holz, die Anrichte, auf der Gegenstände für Mutters täglichen Gebrauch bereitliegen. Fein säuberlich nebeneinander finden sich dort das Blutdruckmessgerät, die ovale Pillendose, ein Pack Taschentücher, ein kleiner Stapel ungleich quadratisch zurechtgeschnittener Zettel für die Einkaufsnotizen, darauf ein Kugelschreiber mit der Aufschrift einer Bank. Zuhinterst steht ein Wochenkalender, den Mutter von ihrer Nichte geschenkt bekommen hat, er zeigt »Frauen von Tahiti am Strand« von Gauguin, ein buntes Bild, friedvoll. Eines der beiden dunkelhäutigen Mädchen sitzt nachdenklich im Sand und sieht am Betrachter vorbei, sie trägt ein blassrosa Kleid, die zweite junge Frau kauert mit in sich gekehrtem Blick daneben. Im Hintergrund ein satter hellgrüner Streifen, der sich gegen die anbrandenden sanften blauschwarzen Wellen des Wassers abhebt.
Mitternacht, die Deckenleuchten in allen Zimmern sind eingeschaltet. Vielleicht ist Mutter ins Bad gegangen. Zunächst lausche ich, stehe auf, sehe durch die offene Schlafzimmertüre, sie liegt ruhig im Bett, schläft tief. Ich gehe ganz nah zu ihr hin, um ihre Atemzüge zu hören, so wie ich es früher getan habe, als Kind, denn ich hatte oft Angst um sie, um ihr Herz, das eines Tages versagen würde. Manchmal kam der Hausarzt, wenn Mutter bleich auf dem Küchensofa lag, schwer Luft holte und eine Hand an ihren Brustkorb hielt, als müsste sie in ihrem Leben innehalten. Nachdem der Arzt ihr eine Spritze gegeben hatte, saß ich still in einer Ecke, bis sie eingeschlafen war. Vater hatte im Wohnzimmer den Fernseher lautlos geschaltet und ließ sich nicht blicken. Tags darauf war der Spuk vorbei und Mutter arbeitete wieder im Garten, an der Nähmaschine, oder war in der Küche mit dem Einkochen von Marillenmarmelade beschäftigt.
Am Morgen erzähle ich Mutter von der hell erleuchteten Wohnung und sie schüttelt den Kopf, sagt, sie sei nicht aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Nach einer Weile meint sie, das Licht von letzter Nacht sei ein Gruß ihrer Mutter aus dem Reich der Toten. Auch wenn ich es nicht wahrhaben will, vielleicht ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. In den letzten Jahren, wenn ich sie nach einem Besuch an der Haustüre umarmt hatte und zum offenen Autofenster hinauswinkte, dachte ich oft, ich würde sie zum letzten Mal sehen. Ich rang um Fassung, bis die kleine Gestalt, die mir im Schein der Eingangslaterne nachwinkte, in der Kurve der Siedlungsstraße aus dem Sichtfeld verschwunden war. Erst dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf und versuchte mich auf der Fahrt nach Graz zum Verladezug, der mich durch die Nacht ans andere Ende von Österreich tragen würde, langsam zu beruhigen. Bei einem ihrer häufiger werdenden Krankenhausaufenthalte im vergangenen Sommer hatte sie mich bis zur Eingangstüre begleitet, und ich sagte ihr, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht rechtzeitig bei ihr sein könnte, wenn sie sterben würde. Mutter meinte, mit einem verlegenen Lächeln um den von Falten gezeichneten Mund, »diesen Gang muss ich wohl alleine hinter mich bringen«. Immer bedrängte mich das Gefühl, dass es noch irgendetwas gab, das ich ihr sagen sollte, etwas, das nicht verloren gehen durfte zwischen uns. Als sie in der hohen verglasten Empfangshalle stand, in ihrem dunkelblauen japanischen Morgenmantel, mit den notdürftig frisierten Haaren, den blauen Augen, denen noch immer ein Glanz innewohnte, sprang mich ihr Alter an. Ich hatte diese Tatsache in den Jahren davor immer wieder verdrängt.
Mutter hatte vor dem Zubettgehen einer Untersuchung im Krankenhaus zugestimmt. Mit einem leisen Stöhnen holt sie ihre Schuhe aus der untersten Lade des Vorzimmerschrankes, wobei sie sich nicht helfen lässt. Ich trinke noch ein Glas lauwarmes Wasser im Stehen, frühstücken mag ich nicht, ich habe keinen Appetit. Während der zehnminütigen Fahrt schweigen wir, und als ich Mutter vor dem Haupteingang aussteigen lasse, geht sie langsam, auf ihren Rollator gestützt, in ihrer dickköpfigen Selbstständigkeit, die sie nicht auf mich warten lässt, die schräge Rampe hinauf. Nachdem ich eilig das Auto geparkt habe, hole ich sie ein, in der Hand die kleine Reisetasche, die sie für solche Fälle mit dem Notwendigsten gepackt im Kleiderschrank bereithält. Wir sind bei der gläsernen Schiebetüre angelangt, bleiben kurz stehen, und als ich zu ihr hinübersehe, erwidert sie meinen besorgten Blick.
Das Warten im Vorraum zu den Untersuchungszimmern erträgt sie mit Geduld, wir wechseln nur ab und zu einen Satz, das Schweigen von vorhin ist einer Erwartung gewichen. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf die grauen Türen, hinter denen sich das medizinische Personal zu schaffen macht, bald wird Mutters Name gerufen. Neben uns sitzen zwei ältere Frauen, die sich unablässig mit lauten Stimmen über ihre Gebrechen unterhalten. Ihr Gerede irritiert mich, und so betrachte ich die weiß getünchten Wände, die großflächigen Fenster, mit Sicht auf einen Innenhof, der mit einem für diese Jahreszeit ungewöhnlich grünen Rasen bewachsen ist. Kaum jemand außer dem Gärtner wird ihn je betreten, ein Unort zwischen den Gebäuden. Das Krankenhaus ist mir vertraut, ich habe hier einen Teil meiner Turnuszeit absolviert, doch kann ich jetzt nicht das tun, was ich sonst als Arzt tun würde, Patienten untersuchen, behandeln, ihnen zuhören und am Abend nach Dienstschluss nach Hause gehen. Jetzt sitze ich hier im Warteraum als Tochter meiner kranken Mutter.
Die junge Ärztin, die uns begrüßt, bemüht sich, Mutter beim Ausziehen zu helfen, versucht so sanft wie möglich an ihrem Bauch zu tasten, um herauszufinden, wo es wehtut. Die Kunst des Handanlegens nach alter Manier, dieses inzwischen fast nebensächlich gewordene Ritual, dem von jungen Ärzten kaum mehr hohe Aussagekraft beigemessen wird, wie lange wird es sie noch geben? Mich wird später einmal niemand mehr so berühren, wie Mutter jetzt berührt wird. Man wird mich am Eingang zum Spital in einen Diagnosetunnel schieben, an dessen Ende mir die Ergebnisse der Untersuchung von einer Computerstimme mitgeteilt werden.
Mutter verzieht immer wieder den Mund, lässt aber, ohne sich zu beklagen, alles über sich ergehen, erträgt stoisch den Druck des Ultraschallkopfes, den die Ärztin an Mutters Bauchwand presst. Die junge Frau dreht den Bildschirm unter fortlaufenden Erklärungen in meine Richtung, damit ich die ineinanderfließenden grauweißen Flächen, welche die unterschiedlichen Organe darstellen, besser sehen kann. Gleich zu Beginn habe ich ihr gesagt, ich sei Kollegin, hätte hier im Krankenhaus einen Teil meiner Ausbildung absolviert, arbeite jedoch seit Jahren in der Psychiatrie. Ihre Art, mit Mutter und mir umzugehen, wirkt natürlich, sie ist durch meine Anwesenheit nicht eingeschüchtert und erklärt uns, sie könne wegen der aufgeblähten Darmschlingen nicht feststellen, was der Grund für die Beschwerden sei. Ein MRI würde weiterhelfen, und wenn wir Glück hätten, gäbe es am Vormittag noch einen Untersuchungstermin.