Zum Buch
In den frühen 1920er Jahren fand sich in Essen eine kleine Gruppe von Idealisten zusammen. Der »Bund – Gemeinschaft für sozialistisches Leben« war auf der Suche nach einer Lebensweise, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringen sollte. Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten änderte sich die Agenda seiner Gründer: Sie arbeiteten gegen das Regime und wurden in der Judenhilfe aktiv. Sie schrieben Briefe an die Opfer, verschickten Pakete mit Lebensmitteln und Kleidern, verschafften den Verfolgten Unterkünfte und unterstützten einige dabei, im Untergrund zu überleben. Anhand von unveröffentlichten Aufzeichnungen, Fotos und Interviews mit früheren Mitgliedern erzählt der britische Historiker Mark Roseman die bislang weitgehend unbekannte Geschichte des »Bundes« und wirft ein neues Licht darauf, was es bedeutete, in dieser dunklen Zeit Hilfe zu leisten.
Zum Autor
Mark Roseman, 1958 in London geboren, ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Jewish Studies Program an der Indiana University in Bloomington/USA. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Zahlreiche Veröffentlichungen zur jüngeren deutschen Geschichte, darunter Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. 2002 erschien sein Buch In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, für das er eine Reihe bedeutender Preise erhielt, u. a. den Fraenkel Prize für das beste historische Werk, den Wingate Prize für das beste Sachbuch und den renommierten Geschwister-Scholl-Preis.
Mark
Roseman
»DU BIST
NICHT GANZ
VERLASSEN«
Eine Geschichte
von Rettung und
Widerstand im
Nationalsozialismus
Aus dem Englischen
von Stephan Pauli
Deutsche Verlags-Anstalt
Für Roberta
Man pflegt die Geschichte als einen langwierigen Prozess zu betrachten, in Wirklichkeit aber ist Geschichte etwas Sprunghaftes.
– Philip Roth, Amerikanisches Idyll
Das war eine kleine Lektion, die ich auf dieser Reise lernte. Was interessant und wichtig ist, ereignet sich in der Regel im Verborgenen, an machtfernen Orten.
– Michael Ondaatje, Katzentisch
Einleitung: Blumen für die Heinemanns
1. Jahre der Unschuld
2. Der Angriff
3. Von der Avantgarde zum Zufluchtsort
4. Zu den Waffen
5. Rettungsanker
6. Auf der Flucht
7. An zwei Fronten
8. Das Endspiel
9. Unsere Schar ist klein geworden
10. Das haben sie nicht verdient
Schluss Die Rettung der Geschichte
Bildteil
Nachwort von Norbert Reichling
Dank
Abkürzungen
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Register
Rechtenachweis
Blumen für die Heinemanns
10. November 1938: Tove Gerson brachte Blumen. Wie überall in Deutschland waren in Essen während der vorangegangenen Nacht – die man im Nachhinein »Kristallnacht« nennen sollte – Synagogen, aber auch Wohnhäuser und Geschäfte, die Juden gehörten, geplündert und zerstört worden. Im ganzen Land waren jüdische Bürger terrorisiert worden. Immer noch flackerte in verschiedenen Vierteln der Stadt Gewalt auf. Tove, selbst nicht jüdisch, war gekommen, um nach den Heinemanns zu sehen. Wohlhabend und hochgebildet, hatten sie längst das Rentenalter erreicht. Kennengelernt hatte Tove das Paar über ihre Schwiegereltern, und in ihrer stattlichen Villa hatte sie so manchem Kammerkonzert gelauscht. Auf dem Platz vor dem Haus der Heinemanns sah sich Tove einem wütenden Mob gegenüber. Die schmächtige und nach eigenem Dafürhalten etwas ängstliche Mittdreißigerin wurde angebrüllt, weil sie »Blumen für die Juden« brachte. Sie stammelte ein paar Ausflüchte, kämpfte sich ihren Weg durch die Menge und schaffte es ins Haus, wo sie das ältere Paar, eingeschüchtert und zutiefst erschüttert, inmitten von zerbrochenem Glas und verkohlten Gemälden fand.
4. Dezember 1939: Sonja Schreiber nahm kein Blatt vor den Mund. Seit die Wehrmacht im September in Polen einmarschiert war, kursierten in Deutschland Gerüchte über dort begangene Gräueltaten. Die Zeitungen berichteten von Massakern, die Polen angeblich an Deutschen verübt hätten, und stellten die Maßnahmen der Deutschen als »Vergeltung« dar. Sonja, Mitte vierzig und Grundschullehrerin in Essen, arbeitete nebenher als Freiwillige in der örtlichen Bezugsscheinausgabestelle. In einem Gespräch mit einer Kollegin vom Amt, einer Frau Groß, auch sie Freiwillige, kam man auf die Gräueltaten zu sprechen. Frau Groß sagte, sie wisse, wer wirklich verantwortlich sei: die Juden. Sonja, sanft und idealistisch, fast zu gutmütig, um im Klassenzimmer für Ordnung zu sorgen, konnte dieses Geschwätz nicht ertragen, widersprach vehement und verteidigte die Juden. Sie seien es, die verfolgt würden. Eine schockierte Frau Groß berichtete ihrem Mann von dem Gespräch – und dieser gab die Information an die Gestapo weiter.
8. November 1941: Artur Jacobs rührte eine Frau zu Tränen. Artur war ein sechzigjähriger ehemaliger Lehrer aus Essen, der, inzwischen pensioniert, aufmerksam verfolgte, was den deutschen Juden dieser Tage widerfuhr. Ein paar Wochen zuvor hatte man in der Region mit den Deportationen begonnen, wie er voller Entsetzen feststellen musste. Er kümmerte sich nicht um die Sanktionen, die drohten, wenn man Juden half, und die ständig verschärft wurden, sondern leistete moralische und materielle Unterstützung, wo er konnte. Als eine »Frau K«, die schon bald nach Minsk deportiert werden sollte, ihm für seine Solidarität dankte, antwortete Artur, er sei es, der ihr danken müsse. Schließlich gebe sie ihm die Möglichkeit, einen Teil der Schuld abzutragen, die er empfinde angesichts dessen, was seinen Landsleuten angetan werde. In diesem Augenblick brach Frau K in Tränen aus. »Sie wissen nicht, welchen Trost Sie mir da mitgeben.«
Dezember 1942: Else Bramesfeld ging ein Risiko ein. Im April dieses Jahres hatte ihre jüdische Freundin Lisa Jacob auf der Deportationsliste gestanden, war untergetaucht und lebte doch vor aller Augen. Else hatte Lisa bereits von Zeit zu Zeit Unterschlupf gewährt. Doch nun bot sie ihr noch mehr: einen Rettungsanker in Form eines offiziellen Ausweispapiers, das Lisa vorzeigen konnte, wenn sie im Zug oder in der Straßenbahn danach gefragt wurde. Else hatte beim Reichsverband Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer e. V. ihren Mitgliedsausweis als gestohlen gemeldet. Ihrem Antrag auf Ersatz legte sie ein Foto bei – von Lisa. Der Verband fiel darauf herein und schickte den neuen Ausweis mit Elses Namen und Lisas Bild ordnungsgemäß zurück. Es war, wie Lisa später schreiben würde, ein unbezahlbares »Weihnachtsgeschenk«. Die regelmäßigen Ortswechsel und die Angst vor Entdeckung waren nun nicht mehr ganz so belastend.
Februar 1944: Grete Dreibholz bekannte sich zu einer verbotenen Freundschaft. Die siebenundvierzigjährige Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmanns aus der Industriestadt Remscheid hatte sich bis 1933 leidenschaftlich in der linken Szene des Ortes engagiert. Ihre geliebte Schwester Else, auch sie ein Freigeist, hatte den bekannten Dramatiker Friedrich Wolf, einen jüdischen Kommunisten, geheiratet und folgte ihm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Unter der Naziherrschaft wurden Gretes radikale Verbindungen zu einer Belastung. Sie wurde entlassen und verlor ihre gut bezahlte Verwaltungsstelle. Um über die Runden zu kommen, arbeitete sie in Fabriken, im Jahr 1943 auch Seite an Seite mit polnischen und russischen Zwangsarbeitern. Diese waren unter entsetzlichen Bedingungen untergebracht. Ohne sich um das Risiko zu kümmern, freundete sie sich mit deren Dolmetscherin, einer ehemals vermögenden Frau aus Warschau, an. Im Februar kam Grete in einem Brief auf diese Freundschaft zu sprechen und beschrieb ohne jegliche Selbstzensur, was die Zwangsarbeiterinnen ertragen mussten. Hätte sie für die Dolmetscherin und ihre Tochter nicht Kleidung aufgetrieben, hätten sie buchstäblich nichts zum Anziehen gehabt.
29. Juli 1944: Hermann Schmalstieg öffnete sein Haus. Hermann war ein gut aussehender, romantisch veranlagter Mann in seinen Dreißigern, ein Bursche aus der Arbeiterklasse, der es zum Feinmechanikermeister gebracht hatte. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise war es schwierig geworden, Arbeit zu finden, und so landete er schließlich als Techniker im Akustikinstitut der Technischen Universität Braunschweig. Während des Kriegs wurde das Institut dem Militär unterstellt und an einen isolierten Standort im Harz, auf den Auerhahn bei Goslar, verlegt. Dort lebte Hermann in einer einsamen Försterhütte. Freunde fragten ihn, ob er einer jungen Frau auf der Flucht eine Weile Unterschlupf gewähren könne. Und so kam es, dass Ende Juli die einundzwanzigjährige Jüdin Marianne Strauß mehrere Tage bei ihm in der Hütte verbrachte.
Dieses Buch handelt von einer kleinen Gruppe Idealisten im nationalsozialistischen Deutschland, unter ihnen viele Frauen, die die Not anderer erkannten und aus diesem Bewusstsein heraus handelten – ungeachtet der Gefahr. Tove, Sonja, Artur, Else, Lisa, Grete und Hermann gehörten alle zum »Bund: Gemeinschaft für sozialistisches Leben«, von seinen Mitgliedern einfach als »Bund« bezeichnet. Zwar weiß man von ihnen bis heute nur wenig, und doch gibt es Zeitzeugnisse, die ihre Gedanken und Taten dokumentieren. Dieses Buch untersucht nicht nur, was die Mitglieder des Bundes getan haben, sondern auch, was sie dazu veranlasste, anderen Menschen, darunter völlig Fremden, die Hand zu reichen. Wie fanden sie die Freiheit und den Mut zu handeln? Welche Konsequenzen hatte ihre Hilfe für jene, die sie empfingen, aber auch für sie als Helfende, sowohl während als auch nach dem Krieg?1
Selbst in der exklusiven Gesellschaft jener wenigen Gruppen, die Juden im nationalsozialistischen Deutschland zur Seite standen, sticht der Bund heraus – nicht zuletzt deshalb, weil er ursprünglich gar nicht geschaffen worden war, um den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Er war älter als das Regime, und er überdauerte es. Seine Gründung im Jahr 1924 hatte in die Zeit gepasst, auch wenn die Hoffnungen der ersten revolutionären Jahre der Weimarer Republik damals schon merklich schwanden. Der Bund hatte damals keine Vorstellung gehabt von der brutalen Diktatur, die kommen sollte, noch hatte er geahnt, dass seine Mitglieder nur zehn Jahre später ein Leben würden führen müssen, das von Gefahren und Geheimaktionen geprägt war. Viele Linke waren im Jahr 1924 noch immer optimistisch – wenngleich gedämpft durch die Erkenntnis, dass es länger dauern würde als erwartet, bis der erhoffte gesellschaftliche Wandel tatsächlich eintreten würde. Gegründet wurde der Bund im Ruhrgebiet von Lehrern und Schülern der Essener Volkshochschule. Er wuchs auf bis zu 200 Mitglieder an – unter anderem Arbeiter, Lehrer, Frauen aus dem Mittelstand mit sozialem Bewusstsein und auch einige Juden. Über Zusammenkünfte, gemeinsames Lernen, Sport und Exkursionen versuchte diese neue Gruppe, ein ganzheitliches und erbauliches Zusammenleben zu entwickeln. Durch Erwachsenenbildung, Experimente mit alternativen Schulformen, Gymnastikunterricht und politische Versammlungen strebte der Bund, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Seine Mitglieder hofften, einen entscheidenden Beitrag für ein künftiges, besseres Deutschland leisten zu können. Ganz sicher bereiteten sie sich damals nicht auf eine Zukunft unter einer faschistischen Diktatur vor.
Wenn sie jedoch nach 1945 zurückblickten, so waren sich die Mitglieder des Bundes sicher, dass es gerade jene Prinzipien und Strukturen, die sie im Weimarer Klima radikaler Experimentierfreude entwickelt hatten, gewesen waren, die sie dafür gewappnet hatten, der nationalsozialistischen Flutwelle zu widerstehen. Doch wie konnte dieser Kreis vegetarischer und abstinenter Utopisten auf eine Diktatur vorbereitet sein? Waren die freundliche Lehrerin Sonja Schreiber und die aus behüteten Verhältnissen stammende bürgerliche Hausfrau Tove Gerson auf irgendeine Weise gerüstet, dem Terror und der Einschüchterung des »Dritten Reichs« standzuhalten? Wenngleich der Bund vielleicht strenger organisiert war und allumfassender dachte als viele ähnliche Bewegungen, wenn es um die Anforderungen ging, die er an seine Mitglieder stellte, so glich er doch den Tausenden von Organisationen aus der Weimarer Alternativszene – Jugendbünde, »Lebensreform«-Gruppen, Tanz- und Gymnastikschulen und unterschiedlichste linke Splittergruppen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde diese Szene innerhalb kürzester Zeit brutal zerschlagen – einige ihrer Aktivisten wurden inhaftiert oder getötet, andere durch Einschüchterung zum Schweigen gebracht, wieder andere ließen sich verführen und schlossen sich dieser neuen, mächtigen Nationalbewegung, die mit derartiger Kraft und großem Elan über Deutschland fegte, an. Der Bund selbst schien ganz und gar nicht dafür gerüstet zu sein, dem zu widerstehen. Diese Ansammlung idealistischer Gemüter bestand weder aus hart gesottenen Straßenkämpfern, noch waren sie irgendwie auf die Arbeit im Untergrund vorbereitet.
Und doch überlebte die Gruppe. Sie entging größtenteils der Aufmerksamkeit der Gestapo und schaffte es, das Gemeinschaftsleben zu einem bemerkenswerten Grad aufrechtzuerhalten. Manchmal erscheinen ihre Aktionen nicht besonders spektakulär – eine Handvoll eher schrulliger Leute, die sich in einem verregneten Wald im Sauerland trafen, um die Sommersonnenwende zu feiern. Zweifellos brauchte es Mut, solche Versammlungen durchzuführen, doch sorgfältig choreografierte Zusammenkünfte im Nieselregen waren nicht gerade das, was den Niedergang des Nationalsozialismus beschleunigte. Aber irgendwie gelang es, eine Gemeinschaft zu erhalten, die der Entdeckung entging und Leben rettete. Hatte der Bund ein Geheimrezept des Überlebens und Handelns gefunden, das anderen oppositionellen Gruppen, die unter der Naziherrschaft zerbrachen, entgangen war? Oder hatte die Gruppe nur außergewöhnlich viel Glück?
Wie auch immer, es war sicher nicht leicht, sich von einer offenen Gemeinschaft in eine illegale Gruppe zu verwandeln und dabei seine Integrität zu wahren. In der Opposition zu überleben hieß, harte Entscheidungen zu treffen und unappetitliche Kompromisse einzugehen. Während er sich den neuen Regeln des »Dritten Reichs« anpasste, entwickelte sich das Hilfsprogramm des Bundes. Im Jahr 1933 beherbergte man politische Dissidenten auf der Flucht, nach den Novemberpogromen 1938 organisierte man Besuche bei Juden und ging schließlich zu riskanteren Aktionen über. Neben materieller Hilfe bot die Gruppe moralische Unterstützung durch Briefe, freundliche Worte für die Opfer, die sich nicht vorstellen konnten, dass es in Deutschland noch Menschen gab, die willens waren, die Ungerechtigkeit ihrer Verfolgung überhaupt zu registrieren. Mitglieder des Bundes verschickten Hunderte von Paketen in die Ghettos in Polen und nach Theresienstadt, sie versuchten sogar, nach Auschwitz Deportierten zu helfen. Sie unterstützten und versteckten Juden, von denen einige dank ihrer Hilfe im nationalsozialistischen Deutschland überlebten. Dieses Buch zeichnet den Weg nach, der die Gruppe in das »Dritte Reich« und wieder hinaus führte.
Nicht nur das, was die Mitglieder des Bundes erreicht haben, macht diese Gemeinschaft für Historiker so interessant, sondern auch die Dokumente, die sie hinterlassen haben. So schilderte Tove, wie sie an jenem Tag nach der Kristallnacht die Heinemanns besuchte, eine Szene, mit der wir dieses Buch eröffnet haben, in einem Vortrag, den sie 1942 nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten in Bartlesville, Oklahoma, hielt. Ihre Originalaufzeichnungen werden sämtlich in einem US-Archiv aufbewahrt. Die Niederschrift von Sonjas Verhör, dem sie unterzogen wurde, nachdem sie sich gegenüber Frau Groß so mutig für die Juden eingesetzt hatte, findet sich in einer der wenigen Gestapoaufzeichnungen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben. Arturs Gespräch mit Frau K, in Erwartung ihrer Deportation, übertrug er noch am selben Abend in sein Tagebuch, das in großen Teilen erhalten ist. Marianne hat ihre Begegnung mit Hermann in einer Chronik festgehalten, die sie während ihrer Flucht geschrieben und ihr ganzes Leben lang sorgfältig aufbewahrt hat. Nicht weniger als vier Tagebücher oder Tagebuchfragmente geben Zeugnis von der Gruppe. In der historischen Forschung zu Rettung und Hilfe gibt es nichts Vergleichbares. Aufgrund dieser reichhaltigen Quellenlage bietet der Bund mehr als eine außergewöhnliche Geschichte: Er gibt uns einen wertvollen Einblick in das Innenleben jener Kreise, die Widerstand leisteten. Aus nächster Nähe lässt sich beobachten, was es bedeutete, dem NS-Regime die Stirn zu bieten.
Das Wort »Widerstand« ist in der Geschichtsschreibung über das nationalsozialistische Deutschland trotz Filmen wie Inglourious Basterds oder Valkyrie, die einige Resonanz hatten, in gewisser Weise nicht sehr in Mode. Sicher, vor zwanzig bis dreißig Jahren fanden Forscher in jeder Ecke des »Dritten Reichs« Zeichen der Gegnerschaft. Eine Studie nach der anderen deckte ein neues Spektrum des Widerstands auf, von der Immunität gegenüber nationalsozialistischen Maßnahmen bis hin zu aktiven Versuchen, das Regime zu stürzen. Alle möglichen Aktionen wurden dazu gezählt, von wütenden Kirchgängern, die gegen die Entfernung von Kreuzen aus Schulen protestierten, bis hin zu Gruppen junger Menschen, die zu verbotenem Swing tanzen wollten. Arbeiterregionen wie das Ruhrgebiet oder das Saarland wurden so dargestellt, als seien sie gegen jede Form der NS-Propaganda weitgehend immun gewesen.2 In diesem Zusammenhang nimmt sich der Bund wie ein winziger Tropfen im großen Meer der Opposition aus.
Angesichts dessen, dass eine weitverbreitete Begeisterung für den »Führer« nicht zu leugnen war, erwies sich diese Sicht auf die deutsche Gesellschaft als unhaltbar. Es überrascht kaum, dass das Pendel in der Forschung schließlich umschlug und man nun eher betonte, in welch hohem Maße die Bevölkerung hinter dem Regime stand. Inzwischen ist man dazu übergegangen, Hitlers Herrschaft als »Zustimmungsdiktatur«3 zu bezeichnen. Heute wissen wir, dass selbst Polizeiaktionen vielfach durch öffentliche Denunziationen ausgelöst wurden. Die nationalsozialistische Verfolgung von Juden erfreute sich einer beachtlichen Unterstützung in der Bevölkerung, und einige Forscher behaupten sogar, dass die Bevölkerung lernte, den Genozid bereitwillig zu akzeptieren.4
Die erfolgreiche Mobilisierung der Gesellschaft durch das NS-Regime bildet den Hintergrund dieses Buches. Er hilft uns, die Geschichte des Bundes zu verstehen – vor allem seine Erfahrungen von Umzingelung und Isolierung. Denunziationen durch Nachbarn waren eine ebenso große Gefahr wie die direkte Überwachung durch die Gestapo. Die Geschichte des Bundes offenbart, vor welchen Herausforderungen die Gegner einer Diktatur standen, die in der Bevölkerung auf breite Zustimmung stieß. Sie erzählt von den täglichen schmerzlichen und doch notwendigen Entscheidungen, wann und bis zu welchem Grad Kompromisse eingegangen werden sollten. Sie macht uns bewusst, wie viel Mut selbst für die kleinsten Zeichen von Widerstand vonnöten war. Der Bund erinnert uns aber auch daran, dass nicht jeder die Nationalsozialisten unterstützte. Von ihrem eigenen Beispiel einmal abgesehen, erkennen wir durch die Augen der Bundmitglieder, dass die sie umgebende Gesellschaft keineswegs monolithisch war. Sowohl an der Heimat- wie an der Kriegsfront nahmen sie Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung wahr. Sie waren erleichtert und schöpften Hoffnung, wenn sich die öffentliche Meinung gegen das Regime zu wenden schien. Vor allem waren sie sich bewusst, dass selbst scheinbar Begeisterte demselben Anpassungsdruck ausgeliefert waren wie sie selbst.
Inmitten einer Atmosphäre der Zustimmung fand der Bund in sich selbst die Bereitschaft, das Regime herauszufordern – vor allem, indem er Opfern von Verfolgung praktische Hilfe zukommen ließ und Menschen rettete, denen das Regime nach dem Leben trachtete. »Widerstand« geht hier in das über, wofür sich in der Forschungsliteratur zum Holocaust der englische Begriff »rescue« eingebürgert hat.5 Das Beispiel von Tove, Sonja, Artur, Else, Grete, Hermann und anderen zeigt, wie es einem Netzwerk gelang, unter nationalsozialistischer Herrschaft zu handeln, Hilfe zu leisten und Juden das Leben zu retten, wie es einem Einzelnen auf sich gestellt wohl kaum möglich gewesen wäre. Wir können die feinen, aber doch stabilen Fäden zurückverfolgen, die in den 1920er Jahren unter gänzlich anderen Erwartungen und Bedingungen gesponnen worden waren und es der Gruppe später ermöglichen sollten, informell genug zu sein, um der Verfolgung zu entgehen, und dabei so eng zusammengewoben, dass es gelang, das Regime zu überstehen und gegen es zu arbeiten.
Angesichts ganzer Bibliotheksregale mit Büchern zu diesem Thema mag dies abwegig klingen, doch tatsächlich wird die Geschichte von Rettung und Hilfe heute erst geschrieben. Als Forschungsthema war sie – von rühmenswerten Ausnahmen unter den Historikern abgesehen – bis vor Kurzem eine Domäne von Psychologen, Ethikern und in geringerem Ausmaß Sozialwissenschaftlern.6 Verständlicherweise hat vor allem erstere Gruppe Rettung und Hilfe weniger als historisches denn als psychologisches Phänomen untersucht. Selbst heute dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung das Bild vom Retter als Individuum mit ethischer Veranlagung und empathischer Persönlichkeit. Historiker haben allerdings begonnen, die Grenzen aufzuzeigen, die solchen Analysen gesetzt sind. Neuere Arbeiten legen nahe, dass verschiedene soziale, kulturelle und geografische Gegebenheiten die Möglichkeiten und Risiken von Hilfe so dramatisch beeinflussten, dass die Persönlichkeitsmerkmale von Helfern im besten Falle eine sehr partielle Erklärung des Geschehens liefern können. Forschungsprojekte befassen sich heute mit den Handlungsweisen von Gruppen – und zwar nicht nur der kleinen Zahl an Organisationen, für die die Hilfe für Juden Priorität hatte, sondern auch der vielen informelleren Netzwerke. Sie zeigen, wie komplex die Motive für das Durchführen ihrer Aktionen waren, die immer auch vom Einfallsreichtum sowohl der Helfer als auch derer, denen geholfen wurde, abhing.7 Und doch gibt es nur wenige Studien, die es uns erlauben, eine Gruppe derart ausgedehnt und minutiös zu untersuchen wie der Bund uns das ermöglicht – und zwar in der Zeit vor, während und nach der NS-Herrschaft.
Bis vor Kurzem verließ sich die überwältigende Mehrheit der Bücher und Aufsätze über die Rettung von Juden auf die Erinnerungen der Protagonisten, die nachträglich aufgezeichnet wurden. Solche retrospektiven Zeugnisse haben den Vorzug, dass sie eine reife, in Freiheit erlangte Sicht der Dinge haben. Meine eigenen Interviews mit fünfundzwanzig Personen in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, Israel, den Vereinigten Staaten und Australien haben bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.8 Auf gewisse Weise waren die Überlebenden des Bundes – als ich mit ihnen sprach, waren sie Ende achtzig oder bereits über neunzig Jahre alt – lebendige Zeugnisse ihrer selbst. Ihre körperliche und moralische Haltung spiegelte immer noch die Mission wider, von der sie einst erfüllt waren.
Doch so unverzichtbar solche Interviews auch sind: Die zahlreichen Primärquellen aus den Jahren des Holocaust und des »totalen Kriegs« eröffnen eine Welt, die über Interviews allein nicht zugänglich wäre. Denunziationen durch Nachbarn in den Akten der Gestapo, Tagebucheintragungen und Briefe im eigenen Archiv des Bundes, Akten des preußischen Kultusministeriums zum Entzug von Artur Jacobs’ Lehrerpension – sie alle zeigen zusammen mit vielen anderen schriftlichen Quellen, wie der Verfolgungsapparat zunehmend ausgebaut wurde. Zeitgenössische Aufzeichnungen belegen auch, dass die NS-Zeit alles andere als uniform war, sondern sich bisweilen von einem Jahr zum nächsten maßgeblich veränderte. Wie der Bund unmittelbar nach dem Krieg, als die Erinnerungen noch frisch waren, bemerkte, war die Art und Weise, wie man auf eine Verhaftung zu reagieren hatte, 1933 eine völlig andere als 1939 oder gar 1942. Die Tagebücher, geheimen Vorträge und Briefe an die Familie – ergänzt durch die Veröffentlichungen des Bundes gleich nach dem Krieg – lassen uns verstehen, wie seine Mitglieder ihren Lebensstil anpassten, wie sie sich in Ausreden übten, wie sie widerstrebend zu lügen lernten, wie sie, kurz gesagt, ihre Ziele und Vorgehensweisen änderten.
Dieses Buch zeichnet nicht nur die Geschichte einer Gruppe auf, die Beachtliches geleistet hat, es versteht sich auch als eine Abhandlung über das Verhältnis von unmittelbarem Erleben und Erinnerung. Seine zentrale Aufmerksamkeit gilt der Frage nach dem Blickwinkel – dem Unterschied zwischen Entscheidungen und Empfinden im Augenblick des Geschehens und den Ereignissen und Erlebnissen, wie sie später erinnert und dargestellt werden.9 Mitglieder des Bundes haben ihre Gedanken nicht nur in der Zeit des Geschehens festgehalten, sie fertigten auch mehrere Nachkriegsberichte vom Leben im »Dritten Reich« an. Einige waren eher privater Natur, andere hatten förmlicheren Charakter. Die Bandbreite der Texte reicht von kurz nach der Befreiung gehaltenen Vorträgen bis hin zu einem ganzen Buch, das 1990 veröffentlicht wurde. Dies ermöglicht uns einen eindrucksvollen Blick auf Leben, die in Opposition zum Regime geführt wurden und die sich der Hilfe von Juden verschrieben hatten. Darüber hinaus aber werden so auch die Drehungen und Wendungen sichtbar, die diese Erfahrungen nach dem Krieg zersplittern und in ein neues Licht rücken ließen. Indem wir nachzeichnen, wie aus Erleben Erinnerung wird, wird deutlich, welch Herausforderung es war, dem Leben unter der NS-Herrschaft Ausdruck zu geben und ihm einen Sinn abzuringen. Das lag zum einen daran, dass sogar für die Protagonisten das Erleben selbst so beispiellos und schwer zu greifen war. Doch lag es auch daran, dass die Nachkriegswelt nur bereit war, bestimmte Geschichten zu akzeptieren, und auf taube Ohren oder Ablehnung stieß, was nicht ins Bild passte. Das machte es umso schwerer, authentisch Rechenschaft abzulegen.
Nach 1945 hoffte Artur Jacobs, die inspirierende Figur hinter dem Bund, darauf, dass der Mut, die Selbstlosigkeit und Widerstandsfähigkeit, die die Gruppe an den Tag gelegt hatte, seinen Mitgliedern einen gewissen Einfluss beim Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands bescheren würden. Doch schon nach wenigen Jahren fühlte der Bund sich hier fast genauso fehl am Platz wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Ellen Jungbluth, der letzte Neuzugang zum Bund, der vor der Gruppe einen Verpflichtungseid abgelegt hat, schrieb 1950 leidenschaftliche Mitteilungen an die anderen Mitglieder, in denen sie fragte: »Warum sind keine jungen Menschen im Bund?« Aber schon bald mussten sie und andere sich damit abfinden, in Würde gemeinsam alt zu werden. Nicht weniger schmerzhaft war es, dass ihr Status als politische Gegner des NS-Regimes in Frage gestellt und ihre Rolle als Retter nicht anerkannt wurde. Die Gruppe verfasste lange Berichte über ihre Aktionen im Krieg, doch es half nicht viel. In den 1960er Jahren wurde der Bund sogar beschuldigt, seine Taten übertrieben dargestellt zu haben. Artur starb 1968, ohne dass er gewürdigt worden wäre, seine Frau Dore elf Jahre später. In den 1980er Jahren scheiterte ein Versuch, in Yad Vashem ihre Anerkennung als Judenretter zu erreichen. Auch im zweiten Anlauf – diesmal wurde der Vorschlag von einer Person eingereicht, der sie geholfen hatten und die sogar nach Jerusalem reiste, um mit dem Direktor der Abteilung »Gerechter unter den Völkern« in Yad Vashem persönlich zu sprechen – war man nicht erfolgreicher. Die Enttäuschungen seiner Nachkriegshoffnungen bilden den traurigen Schlusssatz in der Geschichte des Bundes – doch dies lenkt den Blick auf einen zentralen Punkt: nämlich, wie sehr sich verändernde Stimmungen und Grundannahmen der Nachkriegszeit unser Verständnis von Widerstand und Hilfe im »Dritten Reich« eingeschränkt und gefärbt haben.10
Für die Leben einer idealistischen Gruppe Deutscher, die im Kleinen Bemerkenswertes geleistet haben, will dieses Buch Anerkennung einfordern. Sie hielten ihre Gemeinschaft zusammen und standen zu ihren Werten. Sie gingen persönliche Risiken ein, um anderen zu helfen – und sie retteten Leben. Sie haben uns die Mittel an die Hand gegeben, ihre Verdienste wiederzuentdecken, sie in Erinnerung zu rufen und zu verstehen, wie und warum sie so handelten, wie sie es taten.
Jahre der Unschuld
Nach dem Sturz der wilhelminischen Monarchie im November 1918 wuchsen die revolutionären Hoffnungen in den Himmel. Und niemand verkörperte die radikalen Bestrebungen des Augenblicks besser als Artur Jacobs, achtunddreißig Jahre alt, charismatisch, voll von grenzenlosem Optimismus und Selbstvertrauen. Artur wurde 1880 in Elberfeld geboren, einer Kleinstadt an der Wupper, die später in Wuppertal aufging. Obwohl er aus bescheidenen Verhältnissen stammte, besuchte er das Gymnasium und die Universität. Als Lehrer fand er schließlich seine Berufung. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit, die der Sozialismus versprach, faszinierte ihn ebenso wie der Schwung und die Unabhängigkeit der erstarkenden deutschen Jugendbewegung. Sie inspirierte ihn auch dazu, der Pflicht zum förmlichen Respekt, der Lehrern traditionell entgegengebracht werden musste, ein Ende zu setzen. Er strebte vielmehr danach, seinen Schüler durch seine Ausstrahlung zum Mentor zu werden. Persönlichkeit, nicht Hierarchie, sollte seinen Anspruch auf Führung bestätigen. Ungeduldig, voller Leidenschaft, in Dingen der Schicklichkeit dagegen eher nachlässig (so ging er einmal mit einer Gruppe Mädchen auf eine Wanderung, bei der Lehrer und Schülerinnen zusammen in einer Scheune übernachteten), war er unwiderstehlich für jene, die seinen Führungsanspruch akzeptierten, und abschätzig gegenüber jenen, die dies nicht taten. Zweifellos war Artur eine in der Lehrerschaft, bei Schülern und Eltern gleichermaßen umstrittene Figur.1
Während des Aufruhrs nach dem Ersten Weltkrieg wurde Arturs Hoffnung auf eine Bildungsrevolution, die einen gesellschaftlichen Wandel nach sich ziehen würde, von vielen in Deutschland geteilt. Die radikale Stimmung erfasste kurzfristig sogar das preußische Kultusministerium. Im November 1918 erhielt Gustav Wyneken, ein einflussreicher Pädagoge und der geistige Vater der Entschiedenen Jugend, Deutschlands »erster revolutionärer Schüler- und Studentenbewegung«2, eine offizielle Einladung vom neuen sozialdemokratischen Kultusminister und wurde beauftragt, die Lehrpläne an den Schulen der neuen Republik umzugestalten.
In Essen verkörperte Artur den rastlosen Anwalt des pädagogischen Wandels, der die Schüler dazu bewegte, die revolutionäre Idee einer »Schülermitverwaltung« voranzutreiben. Trotz Arturs Protests stimmte der Lehrkörper schon wenige Monate später mit großer Mehrheit dafür, das Experiment zu beenden. Unverdrossen engagierte sich Artur kurze Zeit für ein noch größeres Projekt, das einer stadtweiten Schüler-Lehrer-Verwaltung. Im August 1919 wurde Essen zum Zentrum der Entschiedenen Jugend und Artur zu einem ihrer einflussreichsten Aktivisten. Nachdem er eine große, stadtweite Schülerkonferenz mitorganisiert hatte, initiierte die lokale katholische Zeitung eine Gegenbewegung unter konservativen Schülern, Lehrern und Eltern. Im Zuge der darauffolgenden schulpolitischen Auseinandersetzungen wurde Artur, obwohl er noch relativ jung war, für längere Zeit krankgeschrieben und schließlich gezwungen, den Schuldienst, wenngleich mit großzügigen Pensionsbezügen, zu quittieren. An diesem Tiefpunkt, als er seine Hoffnungen auf eine revolutionäre Pädagogik begraben musste und seine Laufbahn als Lehrer zu einem vorzeitigen Ende gekommen war, entdeckte Artur die Erwachsenenbildung für sich und gründete den Bund.3
Der Wunsch, breiten Bevölkerungsschichten Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, führte 1919 in ganz Deutschland zur Gründung von Volkshochschulen. In Essen spielte Artur bei der Schaffung der neuen Einrichtung eine entscheidende Rolle. Sie bot, eher ungewöhnlich, je eigene Kurse für vier unterschiedliche religiöse und politische Anschauungen an: evangelisch, katholisch, »frei« (das heißt nicht konfessionell und letztlich sozialistisch) sowie »wissenschaftlich-neutral« (das heißt liberal). Artur wurde der Leiter der »freien« Abteilung. Wie zuvor am Gymnasium versuchte er, eine enge Beziehung zwischen inspirierendem Lehrer und motiviertem Schüler, die weit über das Klassenzimmer hinausgehen sollte, aufzubauen. In dieser neuen Welt der Erwachsenenbildung voller idealistischer Lehrer und Schüler fielen seine Ideen auf fruchtbaren Boden.4
Im März 1924 tat sich Artur mit acht Lehrerkollegen und Schülern der Volkshochschule, alle zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahre alt und in der Mehrheit Frauen, zu einer neuen Gruppe zusammen. Feierlich schwor man einen Verpflichtungseid. Bevor man sich auf »Bund: Gemeinschaft für sozialistisches Leben« einigte, experimentierte man eine Zeit lang mit verschiedenen Namen, der ersten Bezeichnung »Freier proletarischer Bund« folgten mehrere Varianten einschließlich »Internationaler sozialistischer Orden: Bund«. Die Bezeichnung »international« mag für eine Gemeinschaft, die nie mehr als 200 Mitglieder zählte, etwas zu großspurig erscheinen, doch im Sprachgebrauch der Zeit hieß dies einfach, dass man jede Form des Nationalismus ablehnte und sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft von Sozialisten verstand. Unabhängig vom offiziellen Namen der Gruppe nannten sich die Mitglieder einfach weiter der »Bund«. Einige der neun Gründungsmitglieder haben wir bereits kennengelernt. Else Bramesfeld und Sonja Schreiber hatten sich beide für den Beruf der Lehrerin entschieden und waren von der Idee einer neuen, inklusiven Pädagogik begeistert. Zum ursprünglichen Kreis gehörten auch drei Jüdinnen: Lisa Jacob, Arturs Frau Dore und Else Goldreich.5
Die große Mehrheit der Mitglieder des Bundes lebte im Ruhrgebiet – und Essen, damals die sechstgrößte Stadt Deutschlands, stand im Zentrum seiner Aktivitäten. In den 1920er Jahren gehörte das Ruhrgebiet zu den weltweit wichtigsten Industrieregionen. Die bestimmenden Industriezweige waren Kohle, Eisen sowie Stahl, wirtschaftlich maßgebend waren Industrieriesen wie Krupp und Thyssen. Im vorangegangenen halben Jahrhundert waren die Städte und Vorstädte im nördlichen Ruhrgebiet, wo sich tiefere und reichhaltigere Kohleadern fanden, so rasant gewachsen, dass sie es mit den Goldgräberstädten des amerikanischen Westens hätten aufnehmen können. Auch nach dem Ersten Weltkrieg waren Städte wie Hamborn, Gelsenkirchen und Oberhausen weiterhin von einer radikalen Schicht von Minen- und Stahlarbeitern geprägt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen glichen dem tristen Fabrikalltag, wie er in Dickens-Romanen geschildert wird – oder jener rauen Welt, die durch die Reportagen von Alexander Stenbock-Fermor, dem »Roten Baron«, ins Licht gerückt wurde –, einer Welt, die vielen Deutschen zutiefst fremd schien.6 In den 1920er Jahren erlebte das Ruhrgebiet eine Welle von Unruhen: häufige Streiks, erbitterte Auseinandersetzungen mit den französischen Truppen, die nach dem Ersten Weltkrieg den westlichen Teil der Region besetzt hielten, und ein gewaltiges Aufbegehren linker Gruppen nach dem misslungenen Kapp-Putsch von 1920.7
Weiter südlich jedoch gab sich die Region urbaner und bürgerlicher, und Essen war auf einem guten Weg, ein administrativer und wirtschaftlicher Knotenpunkt zu werden. Die Dörfchen und Stadtteile entlang der Ruhr, so auch das Gebiet Essen-Stadtwald, wo Artur und Dore lebten und der Bund sein zentrales Gemeindehaus bauen würde, waren grün, attraktiv und bürgerlich. Südlich des Ruhrgebiets, entlang der Wupper, lagen mehrere Kleinstädte, die sich auf Textil- und Metallindustrie spezialisiert hatten und als Wiege der deutschen industriellen Revolution galten. Dort, wo 1929 aus der Vereinigung mehrerer Städte Wuppertal entstand, lebten nach Essen die meisten Bundmitglieder.
Der Bund stand unter dem Einfluss derart vieler Strömungen seiner Zeit, so dass man sich sein Entstehen schwerlich in einem anderen Setting als der Weimarer Republik vorstellen kann.8 Zum einen schöpfte er in hohem Maß aus dem Ethos der deutschen Jugendbewegung. Die meisten seiner Mitglieder hatten bereits der einen oder anderen unter den damals populären Jugendgruppen angehört, ob dem Wandervogel der Vorkriegszeit, den linksorientierten »Naturfreunden« oder zionistischen Gruppen. Der Begriff »Bund« verweist auf viele Bedeutungen, er kann einen Verein, ein Bündnis oder auch den biblischen Bund meinen. Doch in der Jugendszene der 1920er Jahre erhielt er eine ganz eigene Bedeutung. Die sogenannte bündische Jugendbewegung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg geformt hatte, nahm viele Besonderheiten von Arturs Gruppe vorweg. Fast alle Bünde hatten das Ziel, eine Gruppe Männer (manchmal auch Frauen) durch gegenseitige Treue und gemeinsame Werte eng aneinander zu binden. Sie teilten auch die Vorstellung, dass ihre Gruppen eine natürliche Gemeinschaft bildeten, die im Gegensatz zu den von ihnen als künstlich angesehenen Formen und Konventionen einer modernen Gesellschaft stünden. Jeder Bund sollte sich organisch um eine natürliche Führerfigur formieren, deren mitreißende Persönlichkeit im Zentrum der Gruppe stehen sollte. Dies bedeutete im Fall »unseres« Bundes, dass die Werte der Jugendbewegung, mit denen viele Bundmitglieder aufgewachsen waren, sie – unabhängig von Arturs natürlicher Eignung – darauf vorbereitet hatten, einen charismatischen Führer in ihrer Mitte zu suchen und ihm zu folgen.9
Um zu verstehen, wie der Bund von seinen eigenen Mitgliedern wahrgenommen wurde, müssen wir ihn uns als eine Einheit vorstellen, die ein bisschen politische Vereinigung, ein bisschen 68er-Kommune und ein bisschen Quäkergesellschaft war. Wie eine politische Partei hatte der Bund (auch wenn er nie zu Wahlen antrat) das klare Ziel eines gesellschaftlichen Wandels und vertrat vor allen Dingen sozialistische Prinzipien einschließlich der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Arturs Bund stand den wichtigen Parteien der Arbeiterbewegung, den Sozialdemokraten (SPD) und den Kommunisten (KPD) nahe. Wie andere linke Splittergruppen war man darum bemüht, als Avantgarde zu fungieren und Einfluss auf die breitere Arbeiterbewegung auszuüben. Um dies zu bewerkstelligen, schickte man Mitglieder sowohl in die SPD als auch in die KPD, um die Verbindung zu diesen Parteien aufrechtzuerhalten.
Andererseits deutet die Formulierung »sozialistisches Leben« in der vollen Bezeichnung des Bundes bereits den Wunsch der Organisation an, mit neuen Lebensformen zu experimentieren und das voranzutreiben, was in der Weimarer Zeit als »Lebensreform« bezeichnet wurde. Die Bundmitglieder strebten danach, eine eigene Gemeinschaft zu bilden und nach eigenen Regeln zu leben. Viele wohnten zusammen in Häusern, die von der Gruppe gemietet oder gekauft wurden. Anders als die Kommunen der 1960er Jahre hatte der Bund jedoch nie die Absicht, sich aus der Welt zurückzuziehen. In einer Broschüre aus den 1920er Jahren präsentierte sich die Gruppe als »sozialistische Lebens- und Kampfgemeinschaft im Industriegebiet«10, deren Mitglieder es sich zum Ziel setzten, »in ihrem eigenen Leben mit dem Sozialismus ernst zu machen, die erkannten Wahrheiten im eigenen Leben zu verwirklichen – ohne Furcht vor Konsequenzen und den unvermeidlichen Zusammenstößen mit einer feindlichen oder lieb gewordenen Umwelt«11. Dies erforderte von den Mitgliedern einen Grad an Selbstverleugnung, zu der kein Kollektiv der 1960er Jahre je bereit gewesen wäre. Es gab keine Drogen; von den Mitgliedern wurde erwartet, auf Alkohol und Nikotin zu verzichten; Koffein schien hingegen ein Suchtmittel zu sein, das sie nicht missen wollten.
Wie viele andere sogenannte Lebensreformgruppen der Weimarer Zeit unterschied auch der Bund nicht zwischen Privatem und Politischem. Dementsprechend wandten seine Mitglieder ihre gemeinsamen Prinzipien nicht nur auf Fragen von allgemeinem Interesse an, sondern auf alle Aspekte des täglichen Lebens. Trafen sich Artur, Dore, Lisa, Sonja, Else und andere, konnten sie genauso gut über Ehebeziehungen, Probleme bei der Arbeit, Schwierigkeiten bei der Kindererziehung oder nicht eingehaltene Gruppenverpflichtungen diskutieren wie über Aspekte der Weltwirtschaft.
»Für den Bundmenschen«, hieß es in einer Veröffentlichung des Bundes von 1929, »gibt es kein Privatleben abseits von seinem Bundleben«.12 Auf der jährlichen Verpflichtungszeremonie, die um Ostern herum stattfand, schworen Mitglieder, die als bereit dazu galten, feierlich, das Gesetz des Bundes einzuhalten. Dieses Gesetz begann mit einer Präambel, wonach alle, die sich dem Bund verpflichteten, ihr Leben und ihre Talente unbedingt in seinen Dienst zu stellen hätten. »Der Verpflichtete«, hieß es weiter, »muss bereit sein, die Verantwortung für das Schicksal der Sendung an die erste Stelle in seinem Leben zu setzen. Ihr sollen seine besten Kräfte gehören. Alles was sonst in seinem Leben steht (Beruf, Familie, persönliche Beziehungen, die Sorge für seine Existenz), soll diesem Hauptzweck seines Lebens untergeordnet sein.«13 Verwandten von Mitgliedern fiel es oft schwer zu akzeptieren, dass sie hinter der Organisation erst an zweiter Stelle kamen. Else Goldreich und Tove Gerson etwa entfremdeten sich von einigen aus ihrer Familie, und Meta Kamp-Steinmann entfernte sich zunehmend von ihrem Mann, der nicht zum Bund gehörte.14
Erhalten gebliebene Dokumente aus den 1920er und frühen 1930er Jahren zeigen, wie aggressiv die Führung der Gruppe in das persönliche Leben ihrer Mitglieder eingriff. Von jungen Paaren verlangte man, dass sie eine Art Test-Ehe unter den Augen des Bundes eingehen sollten, bevor sie wirklich heiraten durften. (Was genau dies implizierte, darüber deckt sich der Mantel des Schweigens!) In einigen Fällen, wenn man der Ansicht war, dies würde die Entwicklung der Kinder zu selbstständigen Wesen befördern, nahm die Gruppe den Eltern ihre Kinder weg. Tatsächlich experimentierte der Bund in den 1920er Jahren über längere Zeit hinweg damit, sämtliche Kinder aus Bundfamilien aus dem Elternhaus zu nehmen und unter der Obhut von Bundmitgliedern in einer abgeschiedenen Waldschule zu unterrichten.
Als der Bund seine Aktivitäten ausweitete, wurde das Leben der Mitglieder zunehmend von der Gruppe bestimmt. Den Sonntag verbrachte man regelmäßig zusammen in Essen. Man diskutierte, aß, ging spazieren, machte Musik und trieb zusammen Sport. In den späten 1920ern wurden in Mülheim, Wuppertal, Remscheid und an anderen Orten im Ruhrgebiet Ortsgruppen aufgebaut. Jede Ortsgruppe traf sich mindestens einmal in der Woche zu Sitzungen. Einmal im Monat kamen die Mitglieder aller Ortsgruppen in Essen zu einem minutiös durchgeplanten Wochenende zusammen, an dem gemeinsam gelernt, diskutiert und körperliche Ertüchtigung betrieben wurde. Zu Ostern veranstaltete man im Ruhrgebiet fünf- oder sechstägige Exerzitien, an denen alle Mitglieder teilnahmen – in diesem Rahmen wurde auch die Verpflichtungszeremonie abgehalten. Im Frühsommer organisierte der Bund ein zweitägiges Festival, und im August erwartete man sämtliche Bundmitglieder zu zweiwöchigen Ferienaufenthalten im Sauerland oder an der Ostsee, wo man in Heide- oder Hügellandschaften wanderte, debattierte und körperliche Übungen machte. Zu Weihnachten hielt die Gruppe ihr eigenes »Lichtfest« ab, das einige Rituale der deutschen Weihnachtszeremonie übernahm, wenngleich bar jedes explizit christlichen Elements, gleichzeitig aber auch eigene literarische und philosophische Besonderheiten integrierte.15
In den 1920er Jahren walteten die Bundmitglieder über mindestens drei gemeinschaftliche »Bundhäuser«. Der zentrale Treffpunkt und Sitz in Essen, den die Mitglieder das »Blockhaus« nannten, wurde 1927 gebaut. Das Haus steht heute noch und ist praktisch das einzige Vollholzhaus in Essen, das den Zweiten Weltkrieg überstanden hat. Im oberen Stockwerk befand sich eine kleine Wohnung, die viele Jahre lang Sonja Schreiber bewohnte. In der Essener Eyhofstraße (einer Straße, die später wieder in »Am Dönhof« umbenannt wurde) wohnten Artur und Dore in ihrem eigenen Haus – das zudem für viele Bundmitglieder zu einem Ort wurde, an dem sie im Rotationsprinzip Gemeinschaftsleben praktizierten. Ein Haus in Wuppertal-Barmen diente ähnlichen Zwecken. Zu den Stammbewohnern zählten Ernst und Pia Jungbluth, Liesel Speer sowie Walter und Gertrud Jacobs. Auch hier gab es neben den mehr oder weniger festen Bewohnern solche, die kamen und gingen und denen so die Gelegenheit gegeben wurde, den Alltag in der Gruppe zu erleben.
Neben solchen Experimenten gemeinschaftlichen Lebens engagierte sich der Bund auch auf allen Ebenen der Bildungsarbeit. Unlängst durchgeführte Bildungsreformen erlaubten erstmals den Aufbau nicht konfessioneller Grundschulen bei relativ geringen Regulierungen. Der Bund nutzte diese neuen Möglichkeiten und arbeitete in mehreren Schulen mit den Eltern daran, konventionelle Lehrpläne durch ganzheitliche Ansätze zu ersetzen und den Schulunterricht in die Elternhäuser selbst auszuweiten. Der Bund vergrößerte in mehreren umliegenden Städten auch das Angebot an Erwachsenenbildung und verwandte sehr viel Energie darauf, Lesungen, kulturelle Treffen, Festivals und andere öffentliche Veranstaltungen zu organisieren, um neue Mitglieder zu gewinnen. Zusätzlich produzierte man eine beträchtliche Anzahl an Flugblättern, Broschüren und kleinen Bänden, mithilfe derer man der breiten Öffentlichkeit die eigene Philosophie näherbringen wollte.16
Orden17