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Zum Buch

Der junge Pfadfinder Edvin sammelt auf einer kleinen Schäreninsel Pilze. Ausgerüstet mit einem Körbchen findet er stattdessen einen halbvergrabenen Totenkopf im Wald. Obwohl er erst zehn Jahre alt ist, weiß er sofort, was zu tun ist: Er steckt den Schädel in eine Plastiktüte und türmt aus dem Pfadfinderlager zurück nach Stockholm geradewegs in die Wohnung seines Nachbars – dem berühmt berüchtigten Kommissar Evert Bäckström.

Evert Bäckström, irgendwo zwischen Mitte 40 und Mitte 50, klein, dick und durchaus nicht ganz auf der Höhe der Zeit, was Gleichberechtigung und politische Korrektheit angeht, ist als Kommissar bei der Polizei in Stockholm tätig. Sein Benehmen ist schlecht, sein Instinkt jedoch untrüglich. Er ist der Mann für die harten Fälle: Mord, bewaffneter Raubüberfall und so weiter. Am wenigsten scheut er dabei, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.

Zum Autor

LEIF GW PERSSON gilt als Großmeister der skandinavischen Kriminalliteratur. Persson, der lange Zeit als Profiler im Polizeidienst tätig war, ist Professor der Kriminologie, Medienexperte und seit mittlerweile 30 Jahren einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Er wurde mehrfach mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, daneben erhielt er den Dänischen und den Finnischen Krimipreis. Seine Romane stehen regelmäßig auf Platz 1 der Bestsellerliste und verzeichnen Millionenauflagen. »Wer zweimal stirbt« ist der vierte Fall für Kommissar Evert Bäckström. Die Serie wurde erfolgreich verfilmt.

LEIF GW PERSSON

WER
ZWEIMAL
STIRBT

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen
von Julia Gschwilm

Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Kan man dö två gånger?« bei Albert Bonniers, Stockholm.

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Copyright © 2016 by Leif GW Persson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by agreement with Salomonsson Agency

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21344-2
V001

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Dies ist ein böses Märchen für erwachsene Kinder, und diesmal ist auch eine der Hauptpersonen der Geschichte ein Kind: nämlich Evert Bäckströms Nachbar, der kleine Edvin, zehn Jahre alt.

Wenn man so will, kann man ihn als neuzeitliche literarische Entsprechung der Straßenkinder sehen, die uns in Conan Doyles Sherlock-Holmes-Romanen in der Baker Street begegnen, oder des kleinen Emil Tischbein in Erich Kästners Buch über »Emil und die Detektive«. Oder – denn Letzterer ist den schwedischen Lesern sicher am bekanntesten – unseres eigenen jungen Meisterdetektivs Kalle Blomkvist aus den Romanen von Astrid Lindgren.

Rein äußerlich ähneln sich Bäckström und Edvin nicht im Geringsten, doch es herrscht eine starke innere Verbundenheit zwischen ihnen. Edvin ist Bäckströms treuer Knappe und sein Bote in einer Vielzahl einfacher Verrichtungen von eher häuslicher und privater Natur, während Bäckström – wie Edvin die Sache vorzugsweise betrachtet – wohl am ehesten als Mentor und männliches Vorbild des Jungen beschrieben werden kann. Als Edvin während seines Aufenthalts im Sommerlager der Seepfadfinder zufällig einen sehr unheimlichen Fund mit deutlichen polizeilichen Vorzeichen macht, ist natürlich Bäckström der Erste, an den er sich mit seiner Entdeckung wendet.

Vielleicht hofft er auch auf die Chance, dem »Herrn Kommissar« bei der Auflösung dessen, was Bäckströms Auffassung nach bereits auf den ersten Blick nach einem »sehr vielversprechenden Mord« aussieht, zur Seite zu stehen. Ein Kommissar und legendärer Mordermittler, der die fünfzig bereits überschritten hat, und ein Junge von zehn Jahren also. Ob es ratsam ist, dass Letzterer im Ersteren eine Art geistige Vatergestalt sieht, darüber kann man natürlich diskutieren.

Nichtsdestotrotz, wenn wir nun von all dem absehen, unsere Herzen öffnen und in unserem Inneren Weitsicht walten lassen, ist es auch die Geschichte einer edlen Kameradschaft zwischen Männern, bei denen die innere Verbundenheit schwerer wiegt als alle äußeren Unterschiede. In allem Übrigen ist es eine Schauergeschichte. Böse Mächte treiben ihr Spiel, dunkle Wolken brauen sich über den Köpfen von Bäckström und dem kleinen Edvin zusammen.

Aber ich will die Ereignisse nicht vorwegnehmen. Lassen Sie mich stattdessen von vorne anfangen und in schönster Ordnung berichten, wie alles begann und wie es endete.

Leif GW Persson
Professorenvilla, Elghammar
im Sommer 2016

I

Ein »ziemlich gruseliger« Fund mit polizeilichen Vorzeichen

I

Am Dienstagnachmittag, 19. Juli, klingelte um kurz vor sechs jemand an der Tür von Kriminalkommissar Evert Bäckströms Wohnung im Stockholmer Stadtteil Kungsholmen. Es war ein diskretes, aber gleichzeitig aufforderndes Klingeln, und darüber hinaus der Start einer weiteren Mordermittlung in Bäckströms Leben. Normalerweise begann es niemals auf diese Art.

Normalerweise folgte das Ganze festgelegten Routinen. Kriminalkommissar Evert Bäckström war Chef der Abteilung, die sich bei der Polizei Solna mit schweren Verbrechen befasste. Die schwersten Verbrechen, mit denen man es zu tun hatte, waren unterschiedliche Fälle tödlicher Gewalt, und Bäckström war dafür verantwortlich, dass in Ordnung gebracht wurde, was noch in Ordnung zu bringen war. Mit anderen Worten: Das Verbrechen aufgeklärt, der Täter dingfest gemacht und hinter Gitter gebracht und für die Angehörigen die Möglichkeit eines persönlichen Abschlusses, zumindest der Trauerarbeit.

Es begann fast immer mit einem Telefongespräch. Einer von Bäckströms Chefs, Kollegen oder vielleicht auch wachhabenden Polizisten rief an – wenn er nicht gerade im Büro saß – und bat ihn, sich um die Sache zu kümmern.

Seit Bäckström ein paar Jahre zuvor bei der Polizei in Solna angefangen hatte, leitete er in über zwanzig Mordfällen die Ermittlungen und hatte alle bis auf einen aufgeklärt. Eine Weile war er sogar so erfolgreich, dass er seine eigene Existenz riskierte, da sich die Anzahl der Morde in der Gegend auf höchst beunruhigende Weise verringerte. Glücklicherweise hatte sich das wieder gegeben, und während des letzten Jahres konnte Bäckström einen sehr erfreulichen Anstieg in der Statistik der tödlichen Gewaltverbrechen verzeichnen. Ein dienstliches Telefongespräch, und wieder landete eine Leiche auf Bäckströms Schreibtisch.

Doch diesmal begann alles anders, jemand klingelte an seiner eigenen Wohnungstür. Näher – in persönlicher und privater Hinsicht – kann ein Ermittler dem, was sich sehr bald als Start eines höchst komplizierten Mordfalls erweisen sollte, wohl kaum kommen.

Ein diskretes, aber gleichzeitig aufforderndes Klingeln, was ein Mysterium in sich war, da Bäckström dieses Klingeln schon viele Male gehört hatte und wusste, wer den Klingelknopf auf genau diese Art zu betätigen pflegte. Der kleine Edvin, dachte Bäckström. Merkwürdig, denn bei ihrem letzten Zusammentreffen, in der Woche vor Mittsommer, hatte Edvin erzählt, dass er ins Sommerlager der Pfadfinder fahren und erst einen Monat später zurückkehren würde, nämlich Ende Juli.

2

Bis zu dem mysteriösen Türklingeln war es ein ganz normaler Arbeitstag in Bäckströms Leben gewesen. Da das Wetter ausgesprochen schön war, hatte er im Büro angerufen und mitgeteilt, dass er sich leider gezwungen sah, am Vormittag von zu Hause aus zu arbeiten. Die nationale Polizeibehörde brauchte seine Hilfe bei einer dringenden Angelegenheit, was am einfachsten mithilfe seines eigenen Computers und ohne unnötige Wege durchgeführt werden konnte.

Dann hatte er sich auf den Balkon gesetzt, gefrühstückt und in aller Ruhe die Tageszeitungen gelesen, anschließend geduscht und sich mit Bedacht gekleidet (dem Wetter entsprechend, ein weiterer strahlender schwedischer Hochsommertag in dem herrlichen Leben, das er inzwischen führte), bevor er schließlich ein Taxi rief, das ihn zum Polizeigebäude in Solna fahren sollte. Bereits eine Stunde vor der Mittagspause war er vor Ort in seinem großen und menschenleeren Büro. Die halbe Belegschaft weilte im Urlaub, weil sie nicht begriffen hatte, dass gerade der Sommer die beste Zeit war, sich auszuruhen, wenn man klug genug war, dies in bezahlter Arbeitszeit zu tun. Nachdem sie so wenige waren, stand schlicht und einfach nicht zur Debatte, sich in arbeitsintensivere Abenteuer zu stürzen, ungeachtet der Wünsche der Führungsetage. Stattdessen beschäftigte man sich damit, in alten Papieren zu blättern und Fälle zu katalogisieren, die zum Stillstand gekommen waren. Kurz gesagt, man umging alles, das nicht von unmittelbarem und besonders dringlichen Charakter war.

Wie immer hatte er zunächst seine übliche Kontrollrunde erledigt, die sicherstellte, dass keiner seiner Mitarbeiter sich Dingen widmete, die Anlass zu weiteren polizeilichen Einsätzen gaben. Alles wirkte ruhig, überwiegend leere Zimmer, Korridore und Schreibtische, die üblichen Faulpelze, die im Pausenraum saßen und über alles zwischen Himmel und Erde palaverten, bloß nicht über die Arbeit selbst. Sobald er seine Runde beendet hatte, sprach er auf seinen Anrufbeantworter, er befände sich nachmittags auf einem Meeting und würde erst am Tag darauf in sein Büro zurückkehren.

Dann hatte er ein Taxi nach Djurgården genommen, um in einem schön gelegenen Wirtshaus zu Mittag zu essen, wo das Risiko, irgendeinen Kollegen zu treffen, der sich ebenfalls aus dem Büro verdrückt hatte, gegen null ging. Zuerst eine Variation vom Hering, ein kaltes tschechisches Pils und ein russischer Wodka für die Verdauung. Anschließend gegrilltes Beefsteak, ein weiteres Pils und ein ordentlicher Schnaps, um dem Effekt der gebratenen Zwiebeln entgegenzuwirken, die zu dem Beefsteak serviert worden waren. Das Ganze abgerundet mit Kaffee und Cognac, bevor er sich in das dritte Taxi dieses Tages setzte, um nach Hause zu fahren und seine wohlverdiente Mittagsruhe einzuleiten.

Bäckström war erst eine Viertelstunde, bevor Edvin an seiner Tür klingelte aufgewacht. Ausgeruht, guten Mutes und mit kristallklarem Verstand hatte er es sogar bereits fertiggebracht, sich einen erfrischenden Aperitif zu mischen, bevor das Geräusch der Türklingel seine Ruhe störte. Ungefähr gleichzeitig begann er in Gedanken, den gelungenen Abschluss dieses Arbeitstags zu planen.

Merkwürdig, dachte Bäckström. Einerseits das typische Klingeln des kleinen Edvin. Andererseits Edvins eigene Angaben, die im Übrigen von seiner Mutter bestätigt worden waren, als Bäckström sie einige Tage zuvor im Treppenhaus getroffen hatte. Dass Edvin sich in einem Pfadfinderlager befand, weit draußen in der Gegend um die Insel Ekerö im Mälarsee und mindestens dreißig Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt. Und dass er erst wieder Ende nächster Woche zu Hause erwartet wurde.

Bäckström war zwar der bekannteste und angesehenste Polizist des Landes. Ein lebendes Symbol für die Sicherheit, die alle normalen Mitbürger als ihr Recht betrachteten. Ein Fels in der Brandung, bei dem man in diesen bösen und unsicheren Zeiten noch immer Schutz suchen konnte. So nahmen anständige, normale Leute ihn und das, wofür er stand, wahr – aus gutem Grund. Gleichzeitig gab es jedoch viel zu viele, die ihre Ansicht nicht teilten und die unter Umständen Edvins Klingelsignal imitierten, um ihm zu Leibe zu rücken, ja ihn sogar anzugreifen oder zu töten. Das hatte sogar sein einfältiger Arbeitgeber eingesehen, als er ihm schließlich das Recht zugestanden hatte, seine Dienstwaffe auch außerhalb der Arbeitszeiten zu tragen.

An allen Tagen der Woche, zu jeder Stunde des Tages, egal, wo er sich befand und was er tat, konnte er nun also seinen besten Freund im Leben mit sich führen. Klein-Sigge, seine Dienstpistole der Marke Sig Sauer mit dem größten verfügbaren Magazin, Kapazität von 15 Schuss. Auch wenn es schwer durchzukriegen und sogar das Eingreifen der höchsten Leitung des Polizeiwesens nötig gewesen war, bis einer seiner aktenversessenen Chefs gewagt hatte, diesen Beschluss zu verabschieden.

Man sollte es nicht darauf ankommen lassen, dachte Bäckström und holte Sigge aus der Tasche seines Morgenrocks, bevor er in den Flur ging, um einen näheren Blick auf seinen Besucher zu werfen.

3

Bäckström war ein vorsichtiger Mensch. Bösewichte lauerten überall, und sollte er die Zugbrücke zu der Burg, die er sein Heim nannte, herunterlassen, dann fasste er, und nur er, diesen wohlüberlegten Entschluss.

Durch den Türspion zu blicken war völlig unmöglich. Nur die minderbemittelte Kategorie der Lebensmüden ließ sich auf diese Weise den Schädel in Stücke schießen, und dass es überhaupt einen Türspion in seiner Tür gab, diente einzig und allein dazu, den Gegenspieler zu verwirren. Er verließ sich auf die gut versteckte Überwachungskamera, die er vor ein paar Monaten hatte installieren lassen, aus praktischen Gründen sowohl mit seinem Computer als auch mit seinem smarten Handy verbunden.

Definitiv Edvin, dachte Bäckström. Er tippte auf sein Handy, um die Kamera auf das Treppenhaus zu richten und sicherzugehen, dass er auch allein war. Und nur Edvin, dachte er.

Bevor er die Tür öffnete, steckte er Klein-Sigge zurück in die Tasche seines Morgenrocks, um seinen Gast nicht unnötig zu beunruhigen.

»Edvin«, rief Bäckström. »Schön, dich zu sehen. Sag, was kann ich für dich tun, junger Mann?«

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, bei allem Respekt«, sagte Edvin und verbeugte sich höflich, »aber ich glaube, diesmal kann ich etwas für Sie tun.«

»Was du nicht sagst. Das klingt ja gut. Dann komm mal rein.«

Merkwürdiger Bursche, dachte Bäckström. Von seinem komischen Aufzug ganz zu schweigen.

Edvin war klein und dünn. Dünn wie Zahnseide und nur unbedeutend länger als das Stück, das Bäckström abzureißen pflegte, bevor er morgens und abends die veritablen Kronjuwelen pflegte, die inzwischen seine ursprüngliche Garnitur ersetzt hatten. Edvin trug eine runde Hornbrille mit Gläsern dick wie Aschenbecher, und er redete wie ein Buch mit sehr kleinen Buchstaben. Eine kleine, Bücher verschlingende Brillenschlange, die ein paar Jahre zuvor eingezogen war. Vorteilhafterweise war er auf diese altmodische Art wohlerzogen, und glücklicherweise das einzige Kind, sowohl in seiner Familie als auch in dem Haus, in dem Bäckström und er wohnten.

Bäckström mochte keine Kinder. An sich war das nicht verwunderlich, denn er missbilligte im Großen und Ganzen alle Menschen außer sich selbst und auch die meisten Tiere und Pflanzen, aber bei Edvin machte er eine Ausnahme. Der Junge hatte sich nämlich als verschwiegen, unumstößlich loyal und darüber hinaus überaus nützlich erwiesen, wenn es darum ging, kleinere Erledigungen auszuführen, wie beispielsweise Zeitungen, Zutaten für seine Longdrinks und diverse Delikatessen vom Feinkostladen im Einkaufszentrum am Sankt Eriksplan zu besorgen. Es würde allerdings noch ein paar Jahre dauern, bevor Bäckström ihn zum Systembolaget, dem staatlichen Alkoholgeschäft, schicken konnte, um die etwas gewichtigeren Aufträge zu erledigen. Aber die Zeit würde kommen, und bereits jetzt war er Bäckström ans Herz gewachsen.

Heute war Edvin darüber hinaus in Uniform gekleidet. Ein langärmliges blaues Hemd, ein gelbes Halstuch, das von einer geflochtenen Lederschnur zusammengehalten wurde, knielange blaue Hosen und blaue Turnschuhe. Auf dem Hemd prangten mehrere Stoffembleme und einige metallene Abzeichen, an seinem Gürtel hingen ein mittelgroßes Messer in einer Scheide sowie drei Gürteltaschen unterschiedlicher Größe, und auf dem Rücken trug er einen kleinen Rucksack aus braunem Leder.

Vermutlich aus dem Pfadfinderlager getürmt, folgerte Bäckström in Polizistenmanier.

Bäckström und sein Gast ließen sich auf der Sitzgruppe in seinem Wohnzimmer nieder. Bäckström in seinem thronähnlichen Sessel mit Fußschemel, während Edvin zunächst den Rucksack abgenommen und auf den Couchtisch gestellt hatte, bevor er sich in die nächstgelegene Sofaecke setzte. Mit geradem Rücken wie ein Zinnsoldat und ernstem Gesichtsausdruck.

»Du hattest ein Anliegen«, erinnerte ihn Bäckström, nippte an seinem Drink und nickte seinem Besucher freundlich zu.

»Ja«, sagte Edvin. »Vor ein paar Stunden hab ich auf einer Insel in der Nähe des Lagers der Seepfadfinder, in dem ich gerade bin, etwas gefunden. Ich glaube, es könnte für den Herrn Kommissar von Interesse sein.«

»Ich höre.« Bäckström lächelte freundlich. »Erzähl.«

Edvin nickte, öffnete seinen Rucksack und holte eine Plastiktüte heraus, die er ihm reichte, und sobald Bäckström die Tüte in der Hand hatte, begriff er, was darin war. Das gibt’s doch nicht, dachte er.

»Wirklich ziemlich scheußlich«, bestätigte Edvin und nickte ernst.

4

Früher am Tag war Edvin mit seinen Pfadfinderkollegen beim Segeln gewesen, doch kurz nach dem Mittagessen hatte man ihm einen Spezialauftrag erteilt und ihn auf einer nahe gelegenen Insel abgesetzt, um Pfifferlinge, andere essbare Pilze oder sonst irgendetwas zu sammeln, das man verwenden konnte, um die Essenskosten für Edvin und seine Kollegen gering zu halten, ohne dass es sie umbringen würde.

Pilze hatte er keine gefunden, was Edvin, in Anbetracht des trockenen Wetters, das seit fast einem Monat herrschte, nicht sehr verwunderlich fand. Auch nichts anderes Essbares im Übrigen. Stattdessen hatte er eine völlig andere Art von Fund gemacht.

»Als ich ihn gesehen habe, dachte ich zuerst, es wäre ein großer Bovist.« Edvin nickte zu dem weißen Schädel hin, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Er war im Moos eingesunken, und nur die Stirn ragte heraus.«

»Was hast du dann gemacht?«, fragte Bäckström.

Etwas blass um die Nase bist du jedenfalls, dachte er.

»Na ja, ich bin draufgetreten. Wie man es bei Bovisten macht. Sodass er zerplatzt und staubt. Aber dann hab ich ja begriffen, was es war. Er lag außerdem genau vor dem Eingang zu einem Fuchsbau. Also hätte ich es vielleicht schon vorher kapieren müssen.«

Bäckström begnügte sich mit einem zustimmenden Nicken. Dann steckte er einen Stift in die Augenhöhle des Schädels und hielt ihn hoch, um ihn näher betrachten zu können, ohne Fingerabdrücke oder andere Spuren zu hinterlassen.

»Ich hab es genauso gemacht wie der Herr Kommissar. Um keine unnötigen Spuren zu hinterlassen«, sagte Edvin. »Ich hab ihn also nicht angefasst«, verdeutlichte er.

»Natürlich nicht. Wir sind ja Profis, du und ich. Nicht irgendwelche idiotischen Privatdetektive.«

Dieser Bursche hat’s drauf, dachte Bäckström, während er Edvins Fundstück untersuchte.

Es war ein menschlicher Schädel, dem der Unterkiefer fehlte, was oft der Fall war, sobald er eine Weile draußen in der Natur gelegen hatte. Ansonsten schien er in ausgezeichnetem Zustand zu sein. Weiß und ohne jegliche Gewebereste. Keine Werkzeugspuren, die durch Menschenhand zustande gekommen waren. Auch keine Abdrücke von Tierzähnen. Nur Spuren von Dingen, die mit Edvins Bericht zusammenpassten: Rückstände von Moos und Gras, ein längerer Halm, der sich zwischen den Vorderzähnen des Oberkiefers eingekeilt hatte, Erde an einer Seite. So weit nichts Merkwürdiges im Hinblick auf die Umstände, und im Lauf der letzten zweihundert Jahre hatten Generationen von schwedischen Archäologen Tausende ähnlicher Funde im Mälartal gemacht, die aus der Bronzezeit und früher stammten. Damit gab es auch keinen Grund für jemanden wie Bäckström, sich unnötig zu ereifern. Wäre da nicht das kleine, runde Loch in der rechten Schläfe gewesen, etwa in Höhe der Mittellinie der Augenhöhlen.

»Die Kugel liegt noch im Inneren des Schädels.« Edvin reichte Bäckström eine kleine Taschenlampe. »Ich hab sie klappern hören, als ich ihn hochgehoben habe. Also hab ich sie mir mit der Taschenlampe angeschaut.«

»Soso, das hast du also.« Bäckström kippte den Schädel vorsichtig in den richtigen Winkel und leuchtete in den Schädel hinein. Da lag sie, genau wie Edvin gesagt hatte.

Eine Bleikugel, ohne Ummantelung, vermutlich Kaliber .22. Ein Einschussloch mit scharfen und deutlichen Kanten, aber kein Austrittsloch. Die Kugel war platt gedrückt worden, sobald sie die Schläfe des Schädels durchdrungen hatte, und hatte einen doppelt so großen Durchmesser angenommen wie zuvor. Zu groß, um durch das Loch zu fallen, das sie verursacht hatte, und damit im Kopf des Menschen verblieben, den sie getötet hatte. Und ein guter Grund dafür, dass Edvins Fund auf Bäckströms Tisch gelandet war. Sogar auf seinem eigenen Sofatisch.

»Aha, ja.« Bäckström stellte den Schädel auf dem Tisch ab. »Was meinen wir also dazu? Nachdem es dein Fund ist, Edvin, schlage ich vor, du fängst an. Was fällt dir zu dem Totenschädel hier ein?«

Zuerst hatte Edvin nur genickt. Dann ein kleines schwarzes Notizbuch aus einer der kleinen Taschen geholt, die er an seinem Gürtel trug, samt einen Stift, den er aus der Brusttasche seines Hemds zog. Seine Brille zurechtgerückt und etwas diskret gesummt, eher für sich, wie es schien, bevor er schließlich das Wort ergriff.

»Danke, Herr Kommissar«, sagte Edvin. »Ich glaube, es ist eine Frau. Eine erwachsene Frau. Zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Also, als sie gestorben ist. Eigentlich bin ich mir da ganz sicher.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

Dieser Junge übertreibt vielleicht ein bisschen, dachte Bäckström.

»Ich hab im Bus auf dem Weg hierher gegoogelt.« Edvin fiel es plötzlich schwer, seinen Eifer zu verbergen. Er hielt sein iPhone hoch, um seine Aussage zu bekräftigen.

»Ich will ja nicht nerven«, erwiderte Bäckström, »aber was macht dich so sicher?«

Alles, absolut alles, sprach Edvin zufolge dafür, dass es so war. Ein gut zusammengewachsener Schädel mit deutlichen Suturen. Genau wie bei einem Erwachsenen. Bleibende Zähne wie bei einem Erwachsenen. Keine Milchzähne, wie sie Kinder bis zu einem Alter von zirka 13 Jahren haben konnten. Definitiv ein erwachsener Mensch.

»Und warum meinst du, es ist eine Frau?«, fragte Bäckström.

»Tja, das liegt nicht in erster Linie an der Größe. Frauen haben zwar kleinere Köpfe als Männer, also im Durchschnitt, und dieser hier ist ja sehr klein, wenn er auf einem erwachsenen Mann gesessen haben soll. Aber es gibt ja große Unterschiede. Ich meine, auch zwischen Männern.«

Wie wahr, wie wahr, dachte Bäckström und nickte ermunternd.

»Es sind vor allem andere Dinge«, fuhr Edvin fort. »Senkrechte Stirn, runde Form. Männer haben oft eine eher nach hinten geneigte und etwas eckige Stirn. Ja, und dann wären da noch die Augenbrauenbögen. Bei uns sind sie oft markant, aber bei Frauen sind sie klein oder gar nicht vorhanden. Die Augenhöhlen sind bei Frauen runder, und wenn der Herr Kommissar sie sich genau anschaut, dann sieht man, dass die Oberkante der Augenhöhlen dünn und scharfkantig ist. Bei Männern ist sie wesentlich breiter und abgerundeter. Über das Kinn können wir ja leider nichts sagen, weil ihr der Unterkiefer fehlt.«

»Aber du bist ganz sicher?«

Was zum Geier sollen wir mit einem Nationalen Forensischen Zentrum, dachte Bäckström. Hunderte von Idioten, die herumlaufen und Däumchen drehen, obwohl man sie genauso gut durch seinen kleinen Edvin ersetzen könnte.

»Ja, ganz sicher.«

»Hast du noch mehr herausgefunden?«

»Ich glaube nicht, dass sie drogenabhängig oder kriminell war oder so was. Ich glaube, sie war ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ein pflichtbewusster Mensch, der ein gutes Leben geführt hat. Sie hat zum Beispiel weiße, völlig gesunde Zähne. Keine einzige Plombe. Keine Löcher, nicht einmal Zahnstein oder Karies. Sie hat auch keine verheilten früheren Verletzungen am Kopf. Als wenn jemand sie geschlagen hätte, oder ihr ein Unfall passiert wäre, meine ich.«

»All das hast du herausgefunden, während du im Bus gesessen und gegoogelt hast?«

»Ja. Ich war fast allein im Bus, ich hab mich ganz hinten hingesetzt, sodass niemand sehen konnte, dass ich mir den Schädel unter die Lupe genommen habe. Außerdem hat die Fahrt nach Kungsholmen über eine Stunde gedauert.«

Vorne im Bus sitzen irgendwelche erwachsenen Trottel und denken darüber nach, ob sie Pizza oder Pasta zu Abend essen und ob sie es noch vor Ladenschluss zum Systembolaget schaffen, dachte Bäckström. Während sie dort mit ihren kleingeistigen Grübeleien beschäftigt sind, sitzt der kleine Edvin ganz hinten, um in aller Ruhe ausgehend von eingehend geprüften wissenschaftlichen Fakten den Schädel zu inspizieren, den er ein paar Stunden zuvor gefunden hat. Genau wie ich es getan hätte, dachte er. Es gab also noch Hoffnung für die Menschheit. Obwohl sie im Namen der Gerechtigkeit schon seit langem hätte verloren sein müssen.

»Gibt es irgendetwas, was ich deiner Meinung nach zu fragen vergessen habe?«, fügte er hinzu.

Vielleicht eine Sache, meinte Edvin, aber das sei nichts, das er sicher wisse, sondern eher etwas, worüber er nachgedacht habe. Ein Gefühl, das er gehabt hatte.

»Was denn?«, fragte Bäckström.

»Ich hab den Eindruck, sie ist nicht in Schweden oder Europa geboren. Es ist kein Schädel von kaukasischem Typ, wie man in der Anthropologie sagt. Dass sie samischen Ursprungs ist, ist wohl auch nicht sehr wahrscheinlich.«

»Glaub ich auch«, stimmte Bäckström zu.

Die Häufigkeit von Lappen im Mälartal sprach stark dagegen, glücklicherweise, dachte er.

»Und woher kommt sie dann?«

»Ich hab das Gefühl, sie kommt aus Asien«, sagte Edvin. »Thailand, Vietnam, Philippinen, vielleicht sogar China oder Japan. Ferner Osten, nicht Mittlerer Osten. Aber das ist also eher ein Eindruck, den ich habe.«

»Ich glaube, dieser Teil des Rätsels wird sich lösen lassen«, meinte Bäckström. »Sobald wir ihre DNA untersucht haben.«

»Das Zahnmark.« Edvin nickte. »Bei ihren guten Zähnen sollte das funktionieren.«

»Ja.«

Was hatte ich eigentlich erwartet, dachte Bäckström.

»Bleibt die entscheidende Frage«, sagte Edvin, während er mit dem Stift etwas in sein Notizbuch kritzelte.

»Was meinst du?«

»Mord oder Selbstmord.«

»Ja, ich wollte dich gerade danach fragen«, erwiderte Bäckström, was eine glatte Lüge war, denn das Einzige, worüber er in den letzten Minuten ihres Gesprächs nachgedacht hatte, war, dass es höchste Zeit war, sich einen neuen Drink zu mixen.

»Was meinst du?«, fragte er.

Wahrscheinlich ein Selbstmord. Dem Einschussloch und dem Einschusswinkel nach zu urteilen ein Schuss aus nächster Nähe in die rechte Schläfe. Vielleicht sogar ein aufgesetzter Schuss, wenn die verwendete Waffe eine Pistole oder ein Revolver war und kein Gewehr. Selbstmord mithilfe von Schusswaffen wäre außerdem häufiger als Mord, auch wenn es in der Regel Männer und nicht Frauen waren, die sich auf diese Art aus dem Leben verabschiedeten. Wenn das Einschussloch im Gaumen des Oberkiefers gesessen hätte, wäre Edvin sich sogar ganz sicher gewesen, dass es sich nicht um einen Mord handelte.

»Und deine Einschätzung?«, bohrte Bäckström nach. »Wie, wo und wann? Wie du weißt, sind das immer meine großen Fragen.«

Man sollte die Gelegenheit nutzen, dachte er, bevor der kleine Edvin in die Galaxie im äußeren Weltraum zurückkehren würde, von der er offenbar gekommen war. An diesen Ort, wo man bereits all das wusste, worüber jeder andere, er selbst leider eingeschlossen, lange nachdenken musste.

Mord, meinte Edvin. Allerdings vor allem aufgrund der polizeilichen Regel, die in unklaren Fällen galt, bis ohne jeden Zweifel das Gegenteil bewiesen war.

»Wie der Herr Kommissar immer sagt: Geh von Mord aus, bis das Gegenteil bewiesen ist«, sagte Edvin und nickte.

Ansonsten hatte er nicht mehr viel hinzuzufügen. Außer, dass der Ort, an dem er den Schädel gefunden hatte, vermutlich nicht der Tatort, sondern nur der Fundort gewesen sei. Im Hinblick auf den Fuchsbau, vor dem er gelegen hatte, glaubte er auch, dass die Leiche ursprünglich irgendwo anders auf der Insel vergraben oder versteckt worden war. Es waren an die hundert Meter bis zum nächsten Strand, und auf dem Weg gab es eine Unmenge von Stellen, an denen man eine Leiche verstecken konnte, warum sie also unnötig weit schleppen? Ein Fundort. Kein Tatort.

»Ich bin ja selbst dort gewesen«, verdeutlichte Edvin. »Da ist fast nur Gebüsch und Dickicht. Fast wie ein Dschungel. Da will sicher niemand eine Leiche herumtragen, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Und der Tatort?«, fragte Bäckström.

»Vielleicht ein Boot. In dem Fall denke ich auch, es ist im Sommer passiert, wenn die Leute mit Booten auf dem See unterwegs sind.«

Glaube ich auch, dachte Bäckström, der trotzdem nur kurz nickte. Was sollte man draußen auf dem See auch anders machen, wenn man eine Leiche loswerden wollte? Zuerst hatte der Täter für die Nacht in irgendeiner hübschen Bucht geankert. Gerade rechtzeitig zu Hering und Schnaps hatte die Frau, die er dabeihatte, angefangen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Da hatte er das Kleinkalibergewehr genommen, das er an Bord hatte, und allen weiteren Diskussionen ein Ende bereitet, indem er ihr in den Schädel schoss. Warum die Sache unnötig kompliziert machen, dachte Kriminalkommissar Evert Bäckström.

»Und wann ist es passiert?«, fragte er.

In diesem Punkt – wann der tödliche Schuss abgefeuert worden war – war Edvin immer noch unsicher. Kugeln des Kalibers .22 existierten seit fast hundertdreißig Jahren, das hatte er beim Googeln herausgefunden, und gerade diese Art von Angaben stimmten meistens. Natürlich gab es Schädel, die im selben Zustand waren wie der, den er gefunden hatte, obwohl sie über hundert Jahre in der Erde gelegen hatten. Aber wenn er die Wahl hätte, würde er sagen, dass es ein Mord war, der während seiner eigenen Lebenszeit stattgefunden hatte. In den letzten zehn Jahren.

»Wenn du die Wahl hättest«, wiederholte Bäckström. »Wie meinst du das?«

»Weil ich ihn gefunden habe«, sagte Edvin. »Es wäre irgendwie gerecht. Der Herr Kommissar versteht sicher, was ich meine.«

5

»Besten Dank, Edvin.« Bäckström nickte seinem Besucher freundlich zu. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Ich könnte nicht zufällig ein belegtes Brot haben?«, fragte Edvin. »Ich bin nämlich ein bisschen hungrig.«

»Selbstverständlich«, antwortete Bäckström mit offensichtlicher Wärme. »Ich habe Schinken und Wurst und Leberpastete und den ganzen anderen Kram. Hering und Krabbensalat und Maränenkaviar und geräucherten Aal und Lachs. Du kannst dir nehmen, was du willst.«

»Danke«, sagte Edvin. »Und dann ist da noch etwas, was ich mich gefragt habe.«

»Ich höre.«

»Wir sollten vielleicht mit Furuhjelm sprechen.«

»Furuhjelm?«

»Ja, das ist der Vorsteher des Pfadfinderlagers. Er kann ziemlich kleinlich sein. Weil ich nichts gesagt habe, als ich abgehauen bin, meine ich. Also, über das da.« Edvin blickte die Plastiktüte auf dem Tisch an.

»Klug von dir«, sagte Bäckström. »Die Leute reden viel zu viel, und das hier sollte unter uns bleiben. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.«

»Wie machen wir’s mit Mama und Papa?«

»Darum kümmere ich mich auch.

»Wie gut«, erwiderte Edvin mit deutlich erhellter Miene.

»Also, alles gut«, beruhigte ihn Bäckström. »Jetzt sieh zu, dass du was in den Magen kriegst.«

Problem, Problem, Problem, dachte Bäckström, sobald Edvin in seiner Küche verschwunden war. Ohne überhaupt näher über die Sache nachdenken zu müssen, konnte er bereits ein halbes Dutzend praktischer Probleme ausmachen, die durch den Beitrag zur Polizeiarbeit, den sein kleiner Nachbar ihm übergeben hatte, angestoßen worden waren und unmittelbare Maßnahmen erforderten. Der Vorteil an dieser Art von Problemen war, dass sie Bezug zu seiner Arbeit hatten, und nachdem Bäckström der Chef war, musste er nur in aller Deutlichkeit darauf hinweisen und dafür sorgen, dass einer seiner Mitarbeiter sich der Sache annahm.

Ich muss die praktischen Dinge delegieren, dachte Bäckström. Ich rufe Ankan an.

Annika Carlsson war neu ernannte Kriminalkommissarin und Bäckströms rechte Hand in der Abteilung für schwere Verbrechen. Unter den Kollegen wurde sie Ankan, »Ente«, genannt, und ob das nun ein Schimpfname oder ein Kosename war, hing ganz davon ab, wer es sagte. Unabhängig davon war es jedoch immer klug, sich zu vergewissern, dass sie nicht in der Nähe war und es nicht hören konnte.

Gesagt, getan. Bäckström rief Ankan an und erklärte in sehr groben Zügen, worum es ging. Eine Erstanzeige wegen mutmaßlichen Mordes erstellen, dafür sorgen, dass jemand den zehnjährigen Zeugen vernahm, dem diensthabenden Techniker einen Schädel mit Einschussloch und Kugel überstellen. Plus all das andere, das naturgemäß folgte, wenn man eine Mordermittlung einleitete.

»Edvin«, sagte Ankan. »Ist das der kleine Nachbar, den du immer als Dienstboten benutzt? Der kaum größer ist als ein Regenwurm? Ein niedliches Kerlchen. Ein richtiger kleiner Nerd.«

»Ich verstehe nicht, was das mit der Sache zu tun hat«, erwiderte Bäckström. »Ich will, dass du Ordnung in die Angelegenheit bringst.«

»Natürlich. Das wollen wir wohl alle. War das alles?« fragte Ankan Carlsson, sobald Bäckström zu reden aufgehört hatte.

»Ja, und dann noch, dass er von irgendeinem verdammten Pfadfinderlager draußen auf Ekerö abgehauen ist. Man sollte also vielleicht mit denen sprechen, und mit seinen Eltern, damit er nicht unnötig als vermisst gemeldet wird.«

»Du scheinst ja an alles gedacht zu haben, Bäckström«, konstatierte Annika Carlsson.

»Ja, was ist das Problem?«

Was hat sie denn jetzt, dachte Bäckström.

»Du willst also, dass ich zu dir rüberkomme und ihn abhole?«

»Das wäre doch zweifellos praktisch.«

»Ja, wirklich«, stimmte Annika Carlsson zu. »Denn du selbst hast Pläne für den Abend, die deinen kleinen Nachbarn nicht mit einschließen.«

»Was auch immer das mit der Sache zu tun haben soll. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber ich dachte, du hast gerade Schicht?«

»Du hast recht, Bäckström. Ich bin verantwortlich. Außerdem hast du immer recht. Auch wenn du unrecht hast, meine ich.«

»Wie schön. Worauf warten wir also?«

»Wir sehen uns in einer halben Stunde.«

Nutzlose, faule Säcke, dachte Bäckström, sobald er das Handy weggelegt hatte. Die dauernd herummotzen. Woher kommen die nur immer? Gerade in Ankans Fall wagte er allerdings kaum über die Antwort auf diese Frage nachzudenken. Warum müssen nur alle Polizisten werden, dachte er und seufzte schwer. Er selbst wollte nun nachsichtig sein, noch ein paarmal tief durchatmen und versuchen, etwas Konstruktives zu tun. Nicht hektisch davonrennen, sondern in aller Ruhe damit beginnen, sich einen neuen Drink zu mixen. Sobald er mit diesem Teil fertig war, löste sich das meiste von ganz allein. Das wusste er aus langjähriger Erfahrung.

Zuerst ein kleines Abendessen in der entspannten Abgeschiedenheit seiner geliebten Stammkneipe im Viertel, bevor er dann das Stadtzentrum aufsuchen würde, um schließlich den öffentlichen Teil des Abends an der Bar des Riche abzuschließen. Dort waren Bäckström und seine Supersalami seit langem eine etablierte Marke, und nachdem sich sein Ruf wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, hatte es keines weiteren Marketings bedurft. Sein Kundenkreis wurde größer und größer, und es gab bereits einige Auswahl an Frauen, die dorthin kamen, um den Durst in ihrem Inneren zu stillen.

Ihren Durst in mehrerlei Hinsicht zu stillen, dachte Bäckström.

6

Als Ankan Carlsson eine halbe Stunde später bei Bäckström auftauchte, hatte sie bereits zwei der praktischen Probleme gelöst und ein neues geschaffen.

Zuerst hatte sie den Lagervorsteher Furuhjelm auf seinem Handy angerufen, bevor sie ihr Büro verließ, falls er der Typ Mensch war, der einen Kontrollanruf machen wollte, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich Polizistin war.

Eine Vermisstenanzeige hatte er wegen Edvins Verschwinden nicht aufgegeben. Dafür hatte er ein paar ältere Jungen losgeschickt, um nach ihm zu suchen. Frühere Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass Ausreißer meist zurückkehrten, wenn sie hungrig wurden. Blieben die disziplinarischen Maßnahmen, die er durchzuführen gedachte, sobald die Polizei Edvin ins Pfadfinderlager zurückgebracht hatte. Furuhjelm betrachtete Ausreißen als sehr ernstes Vergehen. Es widersprach den Grundwerten der Pfadfinderbewegung, der absoluten Forderung nach Disziplin und dem Willen, immer für sein Umfeld Einsatz zu zeigen.

»Dass ich seine Eltern verständigen muss, verstehen Sie sicher«, fuhr Furuhjelm fort. »Bei Ausreißern fahren wir eine Nulltoleranzpolitik.«

»Wer hat gesagt, er sei ausgerissen?«, fragte Ankan Carlsson. »Er ist zu uns gekommen, um eine Zeugenaussage in einem Fall zu machen, und wir sind sehr froh, dass er sich dazu entschlossen hat. Viele Erwachsene scheuen diesen Schritt, aber hier haben wir einen sehr mutigen kleinen Jungen.«

»Zeugenaussage«, sagte Furuhjelm. »Eine Zeugenaussage wozu, wenn ich fragen darf?«

»Natürlich dürfen Sie fragen«, antwortete Annika Carlsson mit sanfter Stimme. »Aber Sie sollten nicht damit rechnen, eine Antwort zu bekommen. Edvin unterstützt die Polizei als Zeuge in einer Ermittlung, die wir eingeleitet haben. Es geht um ein sehr schweres Verbrechen, und all diese Informationen sollten Sie bitte für sich behalten. Sie sind nämlich streng vertraulich. Haben Sie verstanden?«

»Ja, ja. Es ist nur …«

»Gut«, unterbrach ihn Annika Carlsson. »Sie werden Edvin morgen Vormittag wieder in Empfang nehmen. Bei dieser Gelegenheit werden Sie auch mich und einige meiner Kollegen treffen und unter anderem ein Formular unterschreiben, in dem es um Äußerungsverbot aufgrund der Geheimhaltung innerhalb eines Ermittlungsverfahrens geht, bevor wir Sie rein informativ vernehmen.«

»Aber was soll ich seinen Kameraden erzählen?«

»Ihnen wird schon etwas einfallen. Es ist doch bestimmt nicht das erste Mal, dass jemand aus dem Lager verschwindet. Das ist sicher schon früher passiert, oder?«

»Ja, allerdings nicht sonderlich oft, glücklicherweise.«

»Wie schön. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Wir beide werden uns morgen weiter unterhalten.«

»Morgen könnte es schwierig werden«, wandte Furuhjelm ein. »Da machen wir einen Ausflug und sehen uns ein paar alte vorgeschichtliche Überreste hier in der Gegend an. Ich bin also leider den ganzen Tag unterwegs.«

»Okay«, sagte Annika Carlsson. »Dann schlage ich vor, Sie werfen einen Blick in ihren Terminkalender, melden sich wieder bei mir und schlagen selbst einen Zeitpunkt vor. So bald wie möglich.«

»Natürlich, natürlich. Ich melde mich. Versprochen.«

»Schön. Dann machen wir es so.«

Na also, geht doch, dachte sie beim Auflegen.

7

Während Annika Carlsson auf dem Weg zu ihrem direkten Chef Evert Bäckström in ihrem Dienstwagen saß, um die praktischen Probleme zu lösen, die sein Nachbar Edvin ihm bereitet hatte, löste sie bereits das zweite, indem sie Edvins Eltern anrief, um zu erzählen, was ihrem Sohn geschehen war.

Sie waren im Urlaub bei Verwandten in Schonen, und nachdem ihr minderjähriger Sohn nun als Zeuge in einem eventuellen Mordfall vernommen werden sollte, gab es unterschiedliche Regeln, die berücksichtigt werden mussten. Bäckström selbst hatte – nicht ganz unerwartet – eine andere, praktischere Lösung vorgeschlagen. Warum nicht Edvin eine SMS mit diesem üblichen fröhlichen gelben Männchen schicken lassen, wie er es jeden Abend tat, um ihnen zu versichern, dass es ihm gut ging, und die Sache einfach eine Woche später aufklären?

»Man muss sie doch nicht unnötig aufregen«, verdeutlichte Bäckström.

»Klar«, stimmte Annika zu. »Klingt wie eine glänzende Idee. Du bittest ihn, ein Smiley zu schicken. Dann kannst du ihn aber auch verhören, dann habe ich später nicht die juristische Abteilung am Hals.«

»Unglaublich, wie empfindlich du bist. War ja nur ein Vorschlag. Mach, was du willst. Ich mische mich nicht ein.«

»Schön, dass wir uns einig sind«, konstatierte Annika Carlsson und beendete das Gespräch.

Das große Mysterium, dachte sie. Wie dieser Mann es schafft, sich nach dreißig Jahren bei der Polizei immer noch im Dienst zu halten. Wenn man bedenkt, was er schon alles geliefert und was er schon alles nicht geliefert hat.

Dann rief sie Edvins Vater an.

Edvin hieß zwar Edvin mit Vornamen, aber sein Vater hieß Slobodan und seine Mutter Dusanka. Sie waren serbische Flüchtlinge aus Kroatien. Die beiden waren Anfang der Neunzigerjahre – damals waren sie nur wenig älter gewesen als ihr Sohn jetzt – nach Schweden gekommen, mitten in den Kriegswirren, zusammen mit den Familienmitgliedern, die noch genügend Kraft hatten, um ihr Leben zu retten. Danach waren sie in Schweden geblieben und inzwischen schon seit langem schwedische Mitbürger.

Im Hinblick darauf, was Edvins Vater sicher in seinem Heimatland erlebt hatte, sollte er wohl kaum ein Problem damit haben, dass sein Sohn auf einer Insel im Mälarsee, mitten in der schwedischen Sommeridylle, zufällig einen menschlichen Schädel gefunden hatte. Obwohl gerade dieser hier offenbar ein Einschussloch in der Schläfe hatte.

Annika Carlsson berichtete in aller Kürze von dem, was passiert war. Slobodan hörte schweigend zu. Brummte ein- oder zweimal zustimmend, unklar wozu.

»Ja, das wäre wohl alles«, fasste Annika Carlsson abschließend zusammen.

»Aber dem Jungen geht es gut?«, fragte Slobodan.

»Alles in Ordnung«, beteuerte Annika Carlsson. »Ich glaube, er findet es vor allem spannend. Momentan sitzt er zu Hause bei Bäckström und isst belegte Brote.«

»Drücken Sie ihn von seinem Papa«, sagte Slobodan. »Sagen Sie ihm, dass ich an ihn denke.«

»Versprochen.«

Ansonsten hatte Edvins Vater nur noch einen Wunsch. Dass sie und Bäckström nur mit ihm sprachen, nicht mit seiner Frau.

»Dann muss sie sich nicht unnötig aufregen. Sie wissen, um des Haussegens willen«, erklärte er.

Noch einer dieser fürsorglichen Männer, dachte Annika Carlsson.