Cover

Buch

Nach einem vernichtenden Gespräch mit ihrer Lektorin ist für Autorin Carolin die Lage klar: Sie braucht einen Ortswechsel, um auf neue Ideen zu kommen. Das Romantikhotel ihrer Schwester Lola in der Lüneburger Heide scheint dafür wie geschaffen. Doch anders als erhofft, treibt Carolins Aufenthalt bei der Verwandtschaft sie nicht zu schriftstellerischen Höchstleistungen an, sondern zur Weißglut. Schlimmer noch: Lola taucht aus heiterem Himmel ab! Allein mit deren überfordertem Ehemann, einem ausgebuchten Hotel und einer schier endlosen Aufgabenliste, bleibt Carolin nichts anderes übrig, als selbst das Ruder in die Hand zu nehmen. Und dann ist da noch der eigenwillige Gast Till, der ungewollt Teil ihrer Mission wird – und der sie mehr berührt, als ihr lieb ist!

Autorin

Silvia Konnerth, geboren 1980 in Frechen bei Köln, war als Disponentin und später im Import tätig. Sie lebt mit ihrer Familie am nördlichen Rand der Lüneburger Heide und schreibt romantische Komödien, von denen sie bereits mehrere sehr erfolgreich als Selfpublisherin veröffentlicht hat. Nach »Heideblütenküsse« ist »Heidesommerträume« ihr zweiter Roman bei Blanvalet.

Weitere Informationen unter:
https://www.silviakonnerth.de/; www.facebook.com/silviakonnerthautorin/

Von Silvia Konnerth bereits erschienen
Heideblütenküsse

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Silvia Konnerth

Heidesommerträume

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.





Copyright © 2020 by Silvia Konnerth
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Valentyn Volkov; Scisetti Alfio; Potapov Alexander)
DN · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-22686-2
V001

www.blanvalet.de

Für Andreas

Selbst ein Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.

Laotse

Kapitel 1

»Schön!«

Regen trommelte auf das Dachfenster, als Carolin Ahrens das soeben gehörte einsilbige Wort erst einmal verdauen musste. Sie presste den Telefonhörer ans Ohr und starrte auf die erste Seite ihres Manuskripts.

S.C.H.Ö.N. Schön. Mehr hatte ihre Lektorin Anette Bach über die erste Hälfte ihrer Geschichte nicht zu sagen. Dieser Gedanke und der Geruch nach frisch gestrichenen Wänden des Arbeitszimmers trugen dazu bei, dass Carolin ganz schwindelig wurde. Sie hatte mehr erwartet als dieses nichtssagende Wort. Schön war, dass Prinz Harry und Meghan den kleinen Archie bekommen hatten. Oder dass der Mai bisher doch nicht so trocken war wie im letzten Jahr. Ein schöner Roman … das war in etwa so wie Marmelade, die man immer noch essen kann, wenn man den Schimmel abgekratzt hat. Dennoch wollte sich Carolin nicht unterkriegen lassen.

»Und wie findest du die Idee, dass die Protagonistin sich dazu entscheidet, den Traum ihrer Selbstständigkeit zu begraben?«, fragte sie und hörte das sprichwörtliche Eis unter ihren Füßen knacken.

Anette zog seufzend Luft ein, was als Antwort genügt hätte. Eilig schob sich Carolin ein Lakritzbonbon in den Mund.

»Das finde ich … nett«, antwortete die Lektorin, zündete sich mit einem Klick! eine Zigarette an und blies den ersten Rauch aus. Die beiden Frauen arbeiteten nun seit einigen Jahren eng zusammen – jede wusste, was die andere tat, auch wenn sie gerade nur telefonierten. »Wirklich nett.«

Carolin schluckte mehrmals kräftig, wobei ihr das Bonbon beinahe in den Rachen gerutscht wäre. Nett? Nett war fast noch schlimmer als schön. War ihr Manuskript wirklich so schlecht, dass die Lektorin keine konkreteren oder gar blumigeren Worte dafür finden konnte?

Normalerweise entfachte Anette ein Feuerwerk an Lobpreisungen über ihre Arbeit.

»Sie könnte allerdings auch für ihre Selbstverwirklichung kämpfen, oder?«, fuhr die Lektorin fort. »Es wäre schon ziemlich stark von ihr, David und seiner Spielsucht den Kampf anzusagen. Stell dir vor, dein Partner würde euer Erspartes bei Pferdewetten und damit deine beruflichen Chancen verspielen – würdest du das hinnehmen?«

Carolin dachte über das Gesagte nach und ärgerte sich über die Tatsache, dass Anette recht hatte. Ihre Romanheldin gab zu schnell auf.

»Keine Sorge, Caro. Da ist auch schon ganz viel Gutes in deinem Manuskript. Besonders gefällt mir die Szene, in der Ella mit ihrer Mutter spricht. Sehr warmherzig. Und dann der erste Kuss zwischen Ella und ihrem alten Schulfreund auf dem Schiff — toll. Ich war so froh, als sie ihn getroffen hat.«

Carolin wagte aufzuatmen. In Anettes Stimme klang keinerlei Ironie mit.

»Dass sie sich allerdings so schnell wieder auf David einlässt … das klingt für mich nicht plausibel. Für meinen Geschmack sabotiert die Protagonistin zu oft ihr eigenes Glück.«

»Macht sie gar nicht«, gab Carolin ungewollt patzig zurück. Sie verzog das Gesicht, als hätte sie sich mit einem Hammer auf die Finger gehauen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. »Ich meine«, setzte sie neu an, »… vielleicht hast du ja recht. Ich dachte nur, es wäre gut, wenn …« Ja, was eigentlich? Unsicher zupfte sie an der dunkelblonden Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. Es war also passiert. Zum ersten Mal seit acht Jahren war Carolins größte Fürsprecherin mit dem Werk ihres Schützlings unzufrieden. Sie hatte es geahnt, seit Monaten schon hatte Carolin sich mit Zweifeln und dem Gefühl gequält, dass ihre Leistung dieses Mal nicht ausreichte. Weder beim Schreiben noch beim späteren Durchlesen ihrer Zeilen hatte Carolin die Geschichte richtig gespürt. Sie fand die Sprache plump, die Bilder langweilig, und an Logik mangelte es auch. Irgendetwas stimmte mit dem Text also nicht – aber was?

»Ich würde es gut finden, wenn Ella Pläne schmiedet, wie sie allein mit dem Baby zurechtkommen kann. Sie hat doch ihre Mutter an ihrer Seite. Und diesen tollen Freund aus Kindheitstagen! Das hat so viel Potenzial«, fuhr Anette fort. »Du brauchst Gefühl. Knistern. Das vermisse ich ein wenig, Caro. Aber wir kriegen das hin, keine Sorge.«

Das Wir war zwar lieb gemeint, aber Carolin wusste, dass sie allein den Roman retten musste. Und dass Anette es von ihr erwartete.

»Mir fehlt der typische Carolin-Ahrens-Stil. Dieses Süße, das gleichzeitig tiefgründig ist. Deinen feinen Humor, die flotten Dialoge, wie der zwischen Ella und ihrer Oma. Da habe ich herzlich gelacht, Caro, so großartig ist er. Ich will mehr davon. Mehr Carolin, verstehst du?«

Sie hatte sich Anettes Anmerkungen auf einem Block notiert und umkringelte den letzten Satz mehrfach. Mehr Carolin. Wenn’s nur das war … Sie musste schlichtweg schreiben wie immer, ganz einfach. Carolin holte so tief Luft, dass die Buchstaben auf dem Bildschirm vor ihren Augen verschwammen wie Tinte, die man mit Wasser beträufelt hatte. Ständig war sie darum bemüht, die Menschen um sich herum zufriedenzustellen, sodass sie gar nicht mehr gewusst hatte, wie es war, es nicht zu schaffen. Diese Erkenntnis verunsicherte Carolin umso mehr, und sie fragte sich, was das wohl über sie aussagte. War es gut oder schlecht, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hinter die der anderen stellte? Carolin war sich nicht sicher. Und es machte sie traurig, dass sie offensichtlich so wenig auf ihren eigenen Standpunkt hielt.

»Du sagst ja gar nichts«, sagte Anette und fügte in mütterlichem Tonfall hinzu: »Auch, wenn es dir gerade schwierig scheint, bin ich sicher, du schaffst das.«

»Ich könnte ihren Freund von früher schon eher einführen«, schlug Carolin lahm vor, erhob sich und öffnete das Velux-Fenster nur einen Spaltbreit, damit es nicht reinregnete. Sie brauchte frische Luft. Niedergeschlagen ließ sie den Blick über den Garten schweifen, in dem sich bereits braungraue Pfützen gebildet hatten, auf deren Oberfläche unerbittlich dicke Regentropfen einschlugen. Die weißen Blüten der Jasminsträucher wirkten farblos und ausgefranst, und auch die Verbenen ließen die pinkfarbenen Köpfe hängen. Die Pflanzen sahen genau so aus, wie Carolin sich fühlte.

»Prima Idee!«, freute sich Anette. »Siehst du, ein paar Handgriffe, und die Sache läuft.«

Mutig geworden straffte Carolin die Schultern. »Wie würdest du es finden, wenn er Ella dabei hilft, ihr Geld zumindest teilweise zurückzubekommen, und sie sich darauf einlässt, obwohl sie normalerweise keine Kämpfernatur ist?«

»Genau! Sie hat ja jetzt auch Verantwortung für das Baby. Ella muss sich ganz untypisch verhalten, sich überwinden. Das macht die Leserin neugierig. Viele wünschen sich insgeheim vielleicht mal, etwas zu tun, was sie sich normalerweise nicht trauen würden, oder?«

Carolin neigte den Kopf und dachte über Anettes Worte nach, doch je mehr sie versuchte, sich an Situationen zu erinnern, in denen sie selbst andere mit ihrem Verhalten überrascht hatte, desto schneller wuchs in ihr die Gewissheit, dass sie sich in den letzten Jahren durchweg erwartungsgemäß verhalten hatte. Im Job: zuverlässig, loyal – in der (Ex-)Beziehung: beständig und treu. Mit der Frisur: schulterblattlange Naturwellen – in der Wahl ihrer Urlaubsorte: flaches Land, bloß keine Berge.

»Eine Sache noch.« Anette räusperte sich, und Carolin stellte sich vor, wie sie sich in ihrem Bürostuhl zurücklehnte, die Beine übereinanderschlug und genüsslich an der Zigarette zog, das Fenster trotz der wenig frühlingshaften Temperaturen sperrangelweit offen. »Hast du mal darüber nachgedacht, den Schauplatz der Geschichte zu verlegen?«

Carolin stöhnte innerlich auf. Nicht das auch noch! »Du meinst, Köln ist nicht der richtige Handlungsort?«, fragte sie.

»Ich weiß, du bist mit dieser Stadt verbunden, weil du dort aufgewachsen bist und da wohnst«, sagte Anette, deren Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass ein dickes Aber folgen würde. »Aber das erwartet die Leserin. Wäre es nicht reizvoll, ihr diesmal etwas anderes zu bieten?«

»Etwas anderes?« Das war’s. Schluss, aus. Das Manuskript, an dem Carolin fast neun Monate geschrieben hatte, würde niemals veröffentlicht werden. Zu viele offene Handlungsstränge. Kein roter Faden. Langweilige Charaktere. Eine Protagonistin, die sich selbst sabotierte. Und jetzt auch noch ein falscher Handlungsort. Sie blinzelte. All die Momente, in denen sie sich zusammengerissen, sich wieder und wieder die Fanpost durchgelesen hatte, als brauchte sie einen Beweis für ihr Können, schienen nichts wert zu sein … Stopp. Energisch atmete sie durch. Carolin Ahrens warf die Flinte nicht ins Korn, früher nicht und jetzt schon gar nicht. Nicht umsonst hatte sie etwas, wovon viele Kollegen träumten: Sie lebte vom Schreiben.

»Einen Ortswechsel also«, brachte sie bestimmt hervor und öffnete Google Maps. »Was genau schwebt dir denn vor?«

»Lass deine Geschichte spielen, wo du dich wohlfühlst, Caro. Ganz egal. Nur nicht in Köln. München wäre auch eher schlecht, genau wie Hamburg oder Berlin. Such dir etwas Neues, ja? Etwas Besonderes.«

»Etwas Besonderes«, wiederholte Carolin. »Bekommst du.«

Carolin verabschiedete sich, und Anette sprach ihr ein letztes Mal Mut zu. Natürlich! Wäre doch gelacht, wenn Carolin die Talfahrt nicht locker für einen Aufschwung nutzen würde. Dumm nur, dass sie sich in diesem Moment genauso leer fühlte wie die Tüte Lakritzbonbons auf ihrem Schreibtisch.

Die Buchhandlung Zehnpfennig war für Carolin mehr als ein Ort, an dem sie Bücher kaufte. Ruhepunkt, Inspirationsquelle, Zuflucht, und das in einer Straße, in der die Hauswände bunt von Graffiti waren und jedes zweite Ladengeschäft leer stand. Früher hatte es in der Nachbarschaft florierende Geschäfte gegeben: einen Friseur, einen Blumenladen, eine Wäscherei, eine Bäckerei und einen Metzger. Neben der Buchhandlung mit ihren streifenfrei geputzten und jahreszeitlich dekorierten Schaufenstern befanden sich hier nur noch ein Kiosk und die Süßwarenmanufaktur, für deren handgemachte Salmiakdrops die Leute aus der ganzen Stadt und sogar von weit her kamen, und von denen vor wenigen Augenblicken vier Tüten in Carolins Handtasche verschwunden waren.

Als sie die Glastür aufdrückte und von der pfützenübersäten Straße die vertrauten Räumlichkeiten der Buchhandlung betrat, strömte ihr der Duft von Büchern entgegen. Und von Pfefferminztee, die Lieblingssorte der Besitzerin Frau Zehnpfennig, welche ihre Kunden im Eingangsbereich mit Liebesromanen und romantischen Komödien empfing. Sie hatte einen Tisch, auf dem sie die Neuerscheinungen sowie die Bestseller präsentierte, gleich dahinter fand die Krimi- und Thrillerabteilung Platz, dicht gefolgt von Ratgebern aller Art, die wiederum linksseitig von den Kinder- und Jugendbüchern flankiert wurden. Sie war klein, die Buchhandlung Zehnpfennig, mit ausgewähltem Sortiment, denn die Inhaberin kannte die Vorlieben ihrer Kunden und bestellte, was nicht vorrätig war.

Carolin öffnete den Reißverschluss ihres Regenmantels, schob die Kapuze vom Kopf und sah sich um. In letzter Zeit war sie viel zu häufig hier gewesen, was nicht nur Geld, sondern auch wertvolle Schreibzeit gekostet hatte. Auf unerklärliche Weise spendeten ihr die bis unter die Decke gestapelten Bücher jedoch Gewissheit, dass andere Autoren sich ebenfalls bis zum bitteren Ende durchgekämpft hatten, was die Hoffnung schürte, es dieses Mal auch wieder zu schaffen. Carolin wusste genau, was es bedeutete, einen Roman zu schreiben. Sie kannte den Kampf um Ideen, um Sätze. Worte. Die Unsicherheit, die sie immer wieder unerwartet überfiel. Und das darauffolgende Hochgefühl darüber, den einen besonderen Satz gefunden zu haben. Sie lächelte, als sie die Buchhändlerin auf einer Leiter entdeckte, obwohl Frau Zehnpfennig selten Grund zur Freude gab. Soeben wedelte sie wie jeden Donnerstag (und Montag) mit dem Staubmopp über die oberste Buchreihe. Nur am Putztag trug die Mittsechzigerin Cordhosen statt Röcke und die grauen Spaghettihaare zu einem Zopf geflochten. Das Geschäft sowie das Pfefferminztee- und Putzritual hatte sie von ihrer Mutter übernommen, der aal Schruuv, wie sie im Viertel genannt wurde. Frau Zehnpfennig senior war wirklich eine sehr, sehr rostige alte Schraube gewesen – alt und unfreundlich. Auch Letzteres hatte ihre Tochter geerbt. Leider. Und doch war es die einzige alteingesessene Buchhandlung im Stadtteil, und die Leute hielten ihr die Treue.

»Ach, das Fräulein Ahrens«, rief sie von oben. »Solltest du nicht vorm Computer sitzen und tippen?«

»Besser wäre es«, gab Carolin mit einem Seufzer zurück und steckte die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. Die Buchhändlerin ahnte nicht, dass sie seit Wochen nichts lieber täte, als ihr Manuskript fertigzustellen.

»Warum tust du’s dann nicht?«, fragte Frau Zehnpfennig, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

Carolin strich mit den Fingerspitzen über den glänzenden Titel eines Frauenromans, der seit wenigen Tagen die Bestsellerlisten stürmte und dem Frau Zehnpfennig einen eigenen Tisch gewidmet hatte, mit blauem Taftstoff, Muscheln und Sand verziert, passend zum Einband, auf dem erhabene Wolken und ein Segelschiff abgedruckt waren.

»Gute Frage«, murmelte sie. Gar keine gute Frage. Sie schwieg und betrachtete den Bücherstapel, der seit vorgestern erheblich geschrumpft war.

Dann räusperte sie sich. »Empfehlen Sie mir dieses Buch?«, fragte sie, nahm eines vom Stapel und hielt es in die Luft. Es war schwer, größer als ein normales Taschenbuch, mit schicker Klappenbroschur und festem Papier. Ähnlich wie ihr eigener Roman, der letztes Jahr auf diesem Tisch gelegen hatte.

Frau Zehnpfennig schaute Carolin von oben herab an, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

Carolin konnte ja nur von sich sprechen, aber seit dem Tag vor ungefähr achtundzwanzig Jahren, an dem sie zu lange im Hanni-und-Nanni-Sammelband geblättert hatte, scharwenzelte eine der Zehnpfennigfrauen ständig um sie herum, damit das ja nicht wieder passierte. Carolin liebte es nun mal, neue Bücher in den Händen zu halten, das Papier zu fühlen, behutsam Seiten umzublättern, als wäre jede einzelne ein wertvoller Schatz. Das war schon so gewesen, als ihr Vater an ihrem achten Geburtstag zum ersten Mal mit ihr hergekommen war. Und es hatte sich nicht geändert, nachdem sie selbst mit dem Schreiben begonnen hatte. Möglicherweise tat Carolin der Buchhändlerin auch ein wenig unrecht, denn sie erinnerte sich an Tage, in denen sie als Schülerin in die Buchhandlung kam, der Verzweiflung nahe, weil sie den zu behandelnden Brecht, Goethe oder Golding nicht verstand. In diesen Momenten hatte Frau Zehnpfennig ihr einen Pfefferminztee zur Beruhigung gebracht, um dann die neuesten Lektürenhilfen aus dem Lager zu holen. Sie hatte auch nie mit Erklärungen und Tipps gespart, wie dieser oder jener Roman zu verstehen sei, was Carolin damals unheimlich nervig gefunden hatte. Erst als Erwachsene hatte sie erkannt, dass Frau Zehnpfennig damit ihre weiche Seite gezeigt hatte – in jedem Menschen konnte eben mehr stecken, als man beim ersten Hinsehen vermutete. Allerdings hatte Carolin das damals noch nicht gewusst. Nicht zuletzt deswegen kaufte Carolin nur in der Buchhandlung Zehnpfennig. Sie musste sich bloß hin und wieder die andere Seite der Buchhändlerin in Erinnerung rufen.

»Bist neuerdings recht häufig hier«, stellte Frau Zehnpfennig fest, während sie von der Leiter stieg, die sie einen Meter weiter nach rechts schob, um gleich wieder hinaufzuklettern. »Mich stört’s nicht, solange du jedes Mal ein Buch kaufst.«

In diesem Augenblick bimmelte das Türglöckchen, und ein älterer Herr mit Hut und Fliege trat ein. Carolin schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick, ehe sie sich wieder auf die Frauenromane konzentrierte. Verschwommen nahm sie wahr, dass Frau Zehnpfennig eilig von ihrem Ausguck hinabstieg. Schade, dass ihr Gemüt meist eher schattig war, weswegen Carolins Vater sie manchmal und natürlich still und heimlich »Muffkopp« genannt hatte. Beim Gedanken an dieses unvergessene Geheimnis zwischen dem Papa und ihr nahm Carolin seufzend ein Buch in die Hand, auf dessen Cover ein glitzerndes Herz abgedruckt war. »Die Liebe macht vor niemandem halt«, stand auf der Buchrückseite.

Als hätte sie mit diesem Satz beim Schicksal an der Tür geläutet, öffnete sich die Eingangstür zur Buchhandlung ein weiteres Mal, was nicht nur den Zauber des Spruchs verpuffen, sondern auch Carolin erblassen ließ. Diese Begegnung setzte das Sahnehäubchen auf den ohnehin vermurksten Tag.

»Guten Tag zusammen«, sagte die Stimme, die Carolin so vertraut war und von deren Klang sie bis vor einhundertvierundzwanzig Tagen nicht genug bekommen hatte, ebenso wenig wie von dem Mann, dem sie gehörte. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Lars, und Carolin zwang sich, es ihm gleichzutun. Er trug das Haar länger als gewöhnlich, weswegen sich die braunen Locken auf seiner Stirn kräuselten. Noch dazu wirkte er erschöpft, und Carolin fragte sich, ob er hinter seinem Lächeln etwas verbarg.

»Oh, hi!«, grüßte er. »Wieso überrascht es mich nicht, dich hier zu treffen?« Ehe sie etwas entgegnen konnte, schritt er auf Carolin zu und umarmte sie. Er benutzte immer noch das Parfum, das sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, mit dem Unterschied, dass er es jetzt nicht mehr für sie auflegte. »Wie läuft’s mit dem Roman?«

»Suuper«, log sie und trat einen Schritt zurück. Warum erkundigte sich eigentlich jeder zuerst nach dem Buch statt nach ihr? Sie fragte schließlich auch nicht dauernd nach dem Bearbeitungsstand irgendwelcher Aufträge oder danach, wie viele Sparverträge Lars diesen Monat bereits verkauft hatte. Nur, weil sie keinem gewöhnlichen Bürojob nachging, hieß das doch noch lange nicht, dass man sie ständig nach ihrer Arbeit fragen durfte. Sie wusste, dass Lars dafür kein Verständnis hatte und dass er als Nächstes die neuesten Verkaufszahlen würde wissen wollen, weil nur das für ihn zählte. Komisch, dass ihr das bisher nicht sauer aufgestoßen war. Dabei hatte sie ihm oft genug versucht zu erklären, dass das Schreiben für sie nicht nur Beruf war. Es war eine Leidenschaft, ein Leben zwischen der Realität und einer Welt, die Carolin selbst erschuf. Sie liebte es, neue Charaktere zum Leben zu erwecken, ihnen eine Aufgabe zu geben, sie zu begleiten. Sie am Ende loszulassen, um einer neuen Geschichte Platz zu machen, wie ein Kindermädchen, das ein Jahr lang die Kleinen behütet, ihnen beibringt, wie man mit Messer und Gabel isst und auf die Toilette geht. Spielt, lacht, streitet, sich verträgt. Das ihnen beim Wachsen zusieht, ehe sie sie in die große Welt entlässt.

Mittlerweile war Carolin die Vorfreude auf ein neues Buch in ihrem Regal vergangen, ebenso wie der Bedarf an unangenehmen Begegnungen gedeckt war. Sie sehnte sich in ihre Wohnung zurück, wo sie sich mit ihrem Kaninchen Hannibal vor den Fernseher kuscheln wollte.

»Also dann«, sagte sie zu Lars und bemerkte, dass auf seiner rechten Wange mehr Bartstoppeln standen als auf der linken. »Du brauchst neue Rasierklingen.« Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn darauf hinwies, ärgerte Carolin. Sie sollte ihm nicht helfen, besser auszusehen, sondern zeigen, wie egal ihr sein Gesicht und der Rest von ihm waren. Schnurzpiepegal. Fatalerweise verursachte der Blick aus seinen haselnussbraunen Augen immer noch ein flaues Gefühl in Carolins Magengegend. Warum konnte sie ihn nicht einfach loslassen, so wie er sie losgelassen hatte? Sie musste wirklich damit aufhören, ihm einen Platz in ihrem Leben freizuhalten. Aber wie?

Lars betastete seine Wange und grinste. »Wie ich dich kenne, bunkerst du in deiner Vorratskammer bestimmt noch ein paar Klingen.«

Erbost wollte Carolin erwidern, dass ihn ihre Vorratskammer nicht das Geringste anging. Dass er jeglichen Anspruch auf sie und alles, was mit ihr zusammenhing, in der Sekunde verwirkt hatte, in der er sich entschieden hatte, die Beziehung zu beenden. Schriftlich. Auf einer Haftnotiz. Als wäre Schlussmachen wie Einkaufszettelschreiben. Dennoch hatten sich die Worte für immer in ihr Herz gebrannt. Sie war noch lange nicht darüber hinweg – falls sie diesen Zustand überhaupt je erreichen würde.

Schnell rief sie sich Anettes Worte in Erinnerung. Jeder tut doch mal etwas, was er sich normalerweise nicht trauen würde, oder? Sie sollte jetzt sofort damit anfangen. Los, mach was, womit er nicht rechnet!, drängte eine Stimme in ihr, doch Lars kam ihr zuvor. Wie ärgerlich, dass sie sich in seiner Gegenwart neuerdings so klein fühlte.

»Weißt du was, ich komme am besten gleich mit zu dir. Vorher brauche ich nur noch ein Buch für meine Mutter.« Er überflog den Tisch mit den Frauenromanen und rieb sich ratlos das Kinn.

Auf keinen Fall würde sie ihn mit in ihre Wohnung nehmen. Es hatte tonnenweise Raumluftneutralisierer und Duftkerzen gebraucht, um ihn und seinen Geruch von dort zu verbannen. Fast hätte man sie in der Dekoabteilung von IKEA mit Namen begrüßt. Und sie würde ihm auch nicht bei der Buchauswahl helfen, obwohl sie genau wusste, worüber sich das Geburtstagskind freuen würde.

Als Lars das Buch mit den Wolken in die Hand nahm, seufzte Carolin. »Deine Mutter liest übrigens Thriller.«

»Ah«, sagte er. Für das kleine Wörtchen Danke hatte er heute offensichtlich nichts übrig. »Ich hatte ganz vergessen, wie umsichtig du bist. Du bist ein richtig guter Freund, Caro.« Freund? Das hatte er doch nicht wirklich zu ihr gesagt, oder? Er betrachtete sie mit warmem Blick, und Carolin war sich plötzlich unsicher, ob er tatsächlich schon über sie hinweg war oder mit ihr spielte, indem er sie provozierte und absichtlich verletzte.

Etwas in ihr zerbrach. Der Scherbenhaufen, den sie so mühsam zusammengeklebt hatte, wies nach drei Monaten einfach noch nicht die nötige Stabilität auf. Dieser Mangel schien sich neuerdings durch Carolins Leben zu ziehen wie der rote Faden, der ihrer Geschichte fehlte.

»Warum wirst du denn auf einmal so blass? Vergräbst du dich wieder tagelang in deinem Büro?«, quasselte Lars, während er nach dem neuen Fitzek griff. »Meinst du, der könnte meiner Mutter gefallen?«

»Den hat sie schon.«

»Ach so.« Er kratzte sich das Kinn. »Was redet ihr denn eigentlich über mich?«, wollte er nun wissen. Carolin ahnte, dass er womöglich ein bisschen Bestätigung suchte, und war nicht gewillt, sie ihm zu geben.

»So dies und das. Aber auch nicht oft«, antwortete sie schwach und klang dabei eher rechtfertigend statt genervt, was auf jeden Fall angebrachter gewesen wäre. Andererseits war es schon ungewöhnlich, dass Carolin immer noch mit der Mutter ihres Ex-Freundes Kontakt hatte.

Gott sei Dank schwebte just in diesem Moment Frau Zehnpfennig vorbei und lenkte damit die Blicke auf sich. Auf sich und den Mann, der ihr eilig folgte und dem Carolin vorhin keine Beachtung geschenkt hatte.

»Kommen Sie. Kommen Sie nur, Herr Heise«, lockte Frau Zehnpfennig ihn. »An der Kasse habe ich noch ein paar Leseproben für Sie. Ich bin mir sicher, die werden Ihnen gefallen.«

»Sie müssen mich nicht mit Büchern locken«, entgegnete Herr Heise freundlich. »Ich komme auch so sehr gern nächste Woche wieder vorbei.«

Carolin staunte nicht schlecht, als er den Laden mit einem Stapel Bücher im Arm verließ – wollte er die etwa alle bis nächste Woche lesen? Doch nicht die Menge an Büchern, die Herr Heise soeben erstanden hatte, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Vielmehr war es der sehnsüchtige Blick, den Frau Zehnpfennig ihm hinterherschickte, die Wangen rosa wie ein Marzipanapfel. Für einen Muffkopp machte die Buchhändlerin auf einmal einen überaus friedfertigen Eindruck, und sie bewies damit, dass tief – zugegeben, sehr tief – in ihr etwas Liebenswertes schlummerte. Doch plötzlich, als hätte jemand den Fehler im System behoben, fauchte sie:

»Mein Geschäft ist kein Café. Wenn ihr euch unterhalten wollt, geht gefälligst woandershin.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Sind die Herrschaften also fündig geworden?«

Lars schnappte sich irgendein Buch vom Tisch und ging mit großen Schritten am Kinderbuchtisch vorbei zur Kasse. Nachdem er bezahlt hatte, wandte er sich zu Carolin um und lächelte sie schief an. Auf einmal vermisste sie es, mit Lars auf der Couch zu sitzen und ihm zuzuhören, wie er von der Arbeit erzählte. Für wenige Sekunden wünschte sie sich, sie würden noch zusammengehören. Dann würde er die Hand nach ihr ausstrecken und …

Verärgert über ihre eigene Wankelmütigkeit rief sich Carolin innerlich zur Vernunft. Im Augenblick benahm sie sich nämlich genau wie ihre Protagonistin Ella: dämlich.

Erschrocken stellte Carolin fest, dass Lars tatsächlich auf sie zukam. Er stoppte vor ihr, und sie sahen sich an. Vor gar nicht langer Zeit hätte sie darauf geschworen, ihn in- und auswendig zu kennen, aber jetzt fragte sie sich, was er ihr mit diesem undeutbaren Blick sagen wollte. Lars tat immer so überlegen, dabei versuchte er bloß, seine Unsicherheit hinter seiner Coolness zu verbergen. Aber was wusste Carolin schon? Sie war ja auch davon ausgegangen, dass sie und Lars bis an ihr Lebensende zusammen sein würden. Unverhofft beugte sich Lars zu ihr und hauchte ihr einen Kuss – einen Kuss! – auf die Wange. War der Mann eigentlich noch zu retten? Das konnte er doch nicht tun!

»War schön, dich wiederzusehen, Caro. Bis bald. Hoffentlich.«

Mit einem Klingeling! verschwand er in die Abenddämmerung und hinterließ einen letzten Hauch Parfum sowie zwei Frauen, von denen die eine ihm perplex hinterherstarrte und die andere mit der Zunge schnalzte.

»Konnte ihn noch nie leiden«, brummte Frau Zehnpfennig, während Carolin mit den Fingerspitzen die Stelle berührte, die Lars soeben geküsst hatte. Ihre offenkundige geistige Abwesenheit interessierte die Buchhändlerin allerdings nicht. »Und nun zu dir, Fräulein Ahrens. Willst du weiter Maulaffen feilhalten? Beschäftige dich lieber mit deinem Romanprojekt. Ich werde dich heute ausnahmsweise nicht überreden, ein Buch zu kaufen.«

Carolin wandte sich um und wurde von einem wachsamen grünblauen Augenpaar gemustert. »Sehr freundlich«, gab sie zurück. »Es ist ja nicht so, als hätte ich während der letzten Monate kein kleines Vermögen in Ihre Buchhandlung investiert.«

Die Buchhändlerin verzog keine Miene, sondern fuhr unbeirrt fort: »Ich frage mich schon seit Langem, warum du mich derart oft mit deiner Anwesenheit beglückst. Kann es sein, dass dein Projekt gar nicht so gut läuft, wie du uns allen weismachen willst?«

Carolin hatte nicht geahnt, dass in Frau Zehnpfennig eine wahre Blitzmerkerin steckte. Und dass sie derart lange Sätze bilden konnte, ohne eine Gemeinheit darin zu verpacken. Sei nicht so grantig, mahnte sie sich und gab schließlich zu: »›Gar nicht so gut‹ ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich stecke in einer waschechten Schreibkrise.« Carolin atmete tief durch. Es war das erste Mal, dass sie es laut ausgesprochen hatte, und sie fand es eigenartig, das ausgerechnet hier zu tun. Aber auch befreiend.

»Ach, so was gibt‘s doch gar nicht«, sagte Frau Zehnpfennig und räusperte sich. »Wusstest du eigentlich, dass die Leute schon fragen, wann ein neues Buch von dir erscheint?«

»Ehrlich?« Hoffnungsvoll trat Carolin näher.

»Na ja.« Frau Zehnpfennig blinzelte. »Manchmal.«

»Lieb, dass Sie lügen, um mich aufzumuntern.«

»Du ziehst ja sonst die Kundschaft mit deiner schlechten Laune herunter«, rechtfertigte sich die Buchhändlerin.

»Aber außer uns ist doch niemand hier.«

»Da hast du’s!«

Frau Zehnpfennig tackerte übertrieben sorgsam ein paar Blätter zusammen und sperrte den Hefter zu guter Letzt in eine Schublade des Verkaufstresens. »Also?«

»Ich glaube, ich schaff’s diesmal nicht«, gestand Carolin. Wie ein Stein purzelte das Geständnis von ihrer Seele, aber die Erleichterung währte nur kurz. »Das ist eine Katastrophe.«

»Na, na, na.« Die Buchhändlerin schüttelte den Kopf. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Es ist viel schlimmer, glauben Sie mir.«

»Reiß dich zusammen. So wie andere das auch tun. Oder glaubst du, mir fällt es jeden Tag gleich leicht, Bücher zu verkaufen?«

»Ich würde lieber Bücher verkaufen als schreiben.«

»Unsinn. Und das weißt du auch.« Nach einer Pause fügte sie etwas gefälliger hinzu: »Es geht mich ja nichts an, aber … Ist es seinetwegen? Hab ja schon geahnt, dass zwischen euch etwas nicht stimmt, nachdem ihr ewig nicht zusammen hier wart. Lass dich ja nicht von ihm unterkriegen.« Frau Zehnpfennig hüstelte. »Ich hoffe, ich muss meine Kundinnen nicht mehr lange vertrösten. Also … halt dich ran und überwinde diese … diese Blockade oder was auch immer.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie meine Geschichten am Ende … gut finden?«, fragte Carolin ungläubig.

Die Buchhändlerin gab einen verächtlichen Laut von sich. »Das habe ich nicht gesagt. Und nun fort mit dir, sonst musst du doch noch ein Buch kaufen.«

Seufzend wandte sich Carolin ab. Für heute hatte sie mehr als genug von Büchern und sozialen Kontakten.

Mit einem Klingeling! verließ sie den Laden und spürte den frischen Abendwind auf der Wange, die Lars’ Lippen zuvor noch berührt hatten. Dass er seine Rasierklingen bei ihr abholen wollte, hatte er wohl vergessen. Schade. Gott sei Dank!

Der Duft nach Frühlingsregen erweckte eine unerwartete Zuversicht ganz tief in Carolins Herz. Auf ihre unvergleichliche Weise hatte die Buchhändlerin ihr Mut zugesprochen. Vielleicht lag es ja auch an der ungewohnten Seite, die Frau Zehnpfennig heute hatte durchblitzen lassen. Nahbar. Unerklärlicherweise schenkte Carolin das Hoffnung. Und Kraft. Von beidem benötigte sie derzeit sehr, sehr viel.

Neben ihrer besten Freundin Moni war Hannibal die einzige Konstante in Carolins Leben. Das schwarz-weiß gefleckte Löwenkopfkaninchen schlief unter dem Schreibtisch wie ein Hund, während sie schrieb. Wenn Hannibal fand, sein Frauchen brauche eine Pause, – oder er eine kleine Zwischenmahlzeit – , reckte er sich, gähnte, putzte sich extrasüß und ausgiebig Ohren und Nase und hoppelte im Zimmer umher. Fühlte sich Carolin bis dahin immer noch nicht bemüßigt, Tee oder Kaffee für sich und einen Gemüsesnack für ihn aus der Küche zu holen, raste Hannibal wie von Sinnen durch das Büro. Dabei schlug er elegante Haken und knabberte im äußersten Notfall sogar das Ladekabel vom Laptop an. Vor drei Jahren hatte sie die verwahrloste und abgemagerte Handvoll Häschen neben dem Komposthaufen im Garten ihres Vermieters gefunden und bei sich aufgenommen. Sie war mit dem Tierchen zum Tierarzt gefahren, hatte es aufgepäppelt und vor Lars verteidigt, der auf einmal eine mysteriöse Allergie gegen Kaninchenhaare entwickelt hatte, bis er selbst dem Charme des putzigen Rammlers erlegen war. Es war sogar seine Idee gewesen, Pünktchen in Hannibal umzutaufen, denn er fand, der kleine Kerl könne es locker mit einer Herde Elefanten aufnehmen.

Heute waren Hannibal und Carolin beim Abendessen nicht allein – Moni hatte sich spontan eingeladen, nachdem Carolin ihr von der Begegnung mit Lars erzählt hatte. Sie nahm den Job als beste Freundin sehr ernst, hinzu kam die Vorliebe für Carolins selbst gemachte Schokoladenmousse, für die nach Weihnachten sämtliche Restbestände von Schokoosterhasen und -weihnachtsmännern eingeschmolzen wurden, die sie in den Schränken fanden. Alles, was schokoladig war, durfte da rein, und das, obwohl Carolin gar keine Schokolade mochte – was sie nicht daran hinderte, das Dessert Moni und ihrer Familie zuliebe zu machen, die nicht nur verrückt nach Schoki, sondern auch nach den Kuscheleinheiten mit Hannibal war. Trotz ihrer schlechten Laune wollte Carolin ihrer besten Freundin eine Freude bereiten.

»Findest du es nicht auch irre?«, fragte Moni.

»Was genau meinst du?«, fragte Carolin betont ahnungslos, räumte klirrend die Dessertschale weg und wischte der Freundin einen Schokofleck von der Wange. Das war okay, sie sorgten füreinander.

»Die Sache mit dem Kuss natürlich«, antwortete Moni. »Ich meine, es ist schon strange, seine Ex zu küssen.« Moni, die derzeit mit einem angespannten Verhältnis zu ihrer vierzehnjährigen Tochter Katharina kämpfte und offenbar versuchte, ihrer Sprache einen möglichst jugendlichen Touch zu verleihen, beäugte Carolin mit ihren blauen Augen, unter denen sich neuerdings dunkle Ringe abzeichneten. Die Ärmste!

Carolin räumte das Geschirr in die Spülmaschine und wartete mit ihrer Reaktion, bis alles der Größe nach verstaut war und sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, wo Moni auf der Couch lag und Hannibal es sich auf ihrem Bauch bequem gemacht hatte. Wenn er sich wohlfühlte, wuchs er von fünfunddreißig Komma acht auf über fünfzig Zentimeter, indem er die Hinterläufe nach hinten streckte und das Köpfchen zwischen den Vorderbeinen ablegte. Monis hellblondes Haar lag wie ein Heiligenschein auf der Armlehne.

»Es war ja kein Kuss«, sagte Carolin und entkorkte auf ihrem Weg zum Couchtisch eine Flasche Rotwein, die sie heute im Wandschrank entdeckt hatte. »Nur ein Küsschen unter Freunden.«

»Küsschen unter Freunden?« Spöttisch lachte Moni auf. »Hörst du dir zwischendurch eigentlich selbst zu?«

Carolin stellte die Flasche auf dem Tisch ab und setzte sich im Schneidersitz vor die Couch auf das Kunstlammfell. Das Original hatte sie bei eBay verkauft, nachdem Lars es angeschleppt hatte, und gegen dieses täuschend echte Modell getauscht. Sie wollte kein totes Tier auf dem Wohnzimmerfußboden liegen haben. »Er hat gesagt, ich sei ein guter Freund.«

»Nein.«

»Oh, doch.« Carolin schenkte großzügig Rotwein ein, nahm einen kräftigen Schluck und schob ein Lakritzdrops hinterher.

»Du kannst von Glück reden, dass du ihn los bist«, sagte Moni. Sie küsste Hannibal und fügte hinzu: »Vielleicht sollten wir uns auch ein Kaninchen anschaffen. Diese niedliche Wackelnase ist zum Knutschen.«

»Hast du vergessen, dass Kati Hannibal vor zwei Wochen als ›Ratte im Kuhfell‹ bezeichnet hat? Weiß nicht, wie ein neuer Mitbewohner bei ihr ankommen würde.« Sie hielt Moni das halb leere Tütchen hin. »Lakritze?«

Mit einem Kopfschütteln lehnte Moni ab und vergaß sogar den »Fachjargon«. »Dieses Kind macht mich wahnsinnig. Sie redet kaum noch mit mir, und wenn, dann keift sie mich an, was meist in einer fiesen Spirale aus Anfeindungen endet. Ich kann dann auch nicht an mich halten, sosehr ich mich bemühe. Jetzt habe ich überlegt, vielleicht ein bisschen mehr Freundin zu sein statt Mutter.« Moni seufzte und schüttelte abermals den Kopf. »Meinst du, es hilft, wenn ich versuche, so zu sein wie sie?«

Ratlos verzog Carolin den Mund. »Möglicherweise sind Kinder dazu da, Eltern an ihre Grenzen zu bringen? Oder umgekehrt. Je nach Perspektive.« Sie trank einen weiteren Schluck Wein. »Wenn ich daran denke, was du mir über deine Teenagerzeit erzählt hast …«

Moni schlug die Hände vors Gesicht, woraufhin Hannibal mit dem Schwänzchen zuckte. »Oh Gott, sie wird mich wirklich wahnsinnig machen. Habe ich dir schon erzählt, dass ich einmal aus Versehen unsere Gartenhütte angezündet habe, weil ich die Zigarette nicht richtig ausgedrückt hatte? Und mit zwölf bin ich für zwei Tage von zu Hause ausgerissen, habe mich in der Turnhalle einschließen lassen – schließlich wusste ich, wo die Getränkevorräte waren und wie ich das Schloss zum Kühlschrank knacken konnte. Jedem war bekannt, dass die Lehrerin nur den Haupteingang abschließt, weswegen ich keine Angst davor hatte zu verhungern und zu verdursten. Ein anderes Mal wollte ich heimlich mit diesem Jungen aus der Dreizehnten …« Sie machte eine eindeutige Handbewegung. »Du weißt schon. Knickknack.«

Gefühlsduselig vom Rotwein schwenkte Carolin ihr Glas. Die Flasche, die sie an Weihnachten in der Pizzeria geschenkt bekommen hatte, war der einzige Alkohol, den sie im Haus hatte. Und heute war definitiv ein Abend, an dem sie welchen brauchte. Dass sie ziemlich lange nicht mehr Knickknack gemacht hatte, war noch ihr kleinstes Problem.

Sie schwiegen einen Moment einträchtig, bis Moni vorschlug:

»Ich finde, du solltest dich an Lars dafür rächen, dass er sich so feige aus dem Staub gemacht hat. Und dafür, dass es ihm so gut geht und er so tut, als wäre nichts gewesen. Mir würden tausend Gründe einfallen.«

»Nicht mein Ding«, erwiderte Carolin und nahm den nächsten Drops.

Moni richtete sich auf, woraufhin sich Hannibal aufrappelte und zum Absprung bereit machte. »Du bist einfach viel zu nett.« Schon wieder dieses »nett«! »Hör auf, ihn in Schutz zu nehmen.«

»Mach ich gar nicht.«

»Ach, nein? Küsschen unter Kumpels? Der spinnt doch. Du hast wirklich etwas Besseres verdient.«

»Ich mag’s nun mal friedlich.«

Moni brummte. »Würdest du nicht gern einmal anders reagieren, als die Leute es von dir erwarten?«

»Fang du nicht auch noch an. Das Gleiche hat Anette heute Morgen schon gemeint.«

»Siehste. Vielleicht hörst du ja auf sie. Hat Anette denn auch gesagt, dass du dich mal entspannen solltest?«

»Nicht ich. Ella, meine Protagonistin«, gab Carolin ironisch zurück.

»Aha!«, rief Moni. »Die kann das aber nicht, wenn du es nicht tust.«

»Was ist bloß los mit euch?«, schimpfte Carolin, sodass Hannibal endgültig von Monis Schoß hopste und Reißaus nahm. »Den ganzen Tag über bekomme ich Ratschläge, wie dieser verfluchte Roman endlich gut wird.«

»Er ist nicht verflucht.«

»Ich hasse ihn. Er lässt sich einfach nicht fertig schreiben.«

»Vielleicht brauchst du Urlaub. So eine Trennung steckt man nicht so einfach weg. Hast du Lars’ kleine Abschiedsnachricht übrigens verbrannt, wie ich es dir geraten habe?«

»Nein.«

»Soll ich sie für dich verbrennen? Ich verspreche auch, nicht das Haus abzufackeln.«

Als Antwort schwieg Carolin.

»Warum hältst du daran fest? Lars hat mit dir Schluss gemacht. Du weißt doch selbst, wie feige das ist.«

»Diese Notiz ist die einzige Verbindung, die mir zu ihm bleibt, nachdem ich sonst alles von ihm verbannt habe«, rechtfertigte sich Carolin schwach.

»Aber … er will dich nicht mehr.«

»Ich weiß. Danke.«

»Und trotzdem würdest du ihn mit Kusshand zurücknehmen.« Wissend sah Moni sie an. Sie kannte Carolin eben zu gut.

Diese leerte das Glas in einem Zuge und fixierte den schwarzen Bildschirm des Fernsehers.

»Dachte ich’s mir doch«, sagte Moni und beugte sich zu ihr wie zu einem Kind, dem sie etwas erklären wollte. »Er hat den Köderhaken ausgeworfen, und du hast angebissen. Jetzt zappelst du im Netz, bis er genug von lieben, netten Delfinen hat und lieber Fische fängt, mit denen er was erleben kann.«

Carolin schnaubte. »Mit denen er was erleben kann? Was für Fische sollen das bitte sein? Aber danke, dass du mich als Delfin bezeichnest. Ich mag Delfine.«

»Jeder mag Delfine. Sie sind nett.«

»Anette findet meinen Roman nett«, sagte Carolin frustriert. »Im Übrigen ist Lars nicht so. Klar, er tut immer überlegen, aber im Grunde weiß ich, dass er eigentlich unsicher ist.«

»Du klingst wie eine Mutter, die rechtfertigt, warum ihr Sohn seine Mitschüler verprügelt.« Moni seufzte. »Ich will ihm ja gar nicht unterstellen, dass er einen durchweg miesen Charakter hat. Aber du musst schon zugeben, dass das so eine Kleiner-Junge-Masche von ihm ist: Er macht einen Fehler, er wird bestraft, aber weil ihm niemand lange böse sein kann, kriegt er am Ende sein Spielzeug zurück. Ich habe mir lange genug angesehen, wie du seinetwegen zurückgesteckt hast. Sei ihm gegenüber nicht immer derart rücksichtsvoll. Er hat dir sehr wehgetan und sich kindisch verhalten, und anstatt sich zu entschuldigen, spielt er mit deinen Gefühlen, weil er genau weiß, dass er nur ein bisschen warten muss, bis du klein beigibst.«

»Das ist überhaupt nicht wahr. Ich habe nicht klein beigegeben und werde es auch nicht tun. Ich frage mich lediglich, ob …«

»Du solltest dich diesbezüglich gar nichts mehr fragen, Caro. Einen Mann wie Lars, der ständig deine Gutmütigkeit ausnutzt und dich jetzt auch noch so provoziert, hast du einfach nicht verdient.«

»Aber ich kann einfach nicht mehr schreiben, und es würde mir möglicherweise besser gehen, wenn wir …«, setzte Carolin zu einer Erklärung an.

»Du hattest doch schon lange vorher Probleme mit dem Manuskript beziehungsweise mit deiner Fantasie. Weißt du noch?« Moni beugte sich vor und streichelte über Carolins Schulter. »Es ist nicht einfach, plötzlich allein zu sein, das weiß ich. Dennoch bezweifle ich, dass ausgerechnet Lars der Schlüssel zum Ende deines Manuskripts ist.«

»Ich weiß einfach nicht, ob ich je wieder schreiben kann wie früher«, sagte Carolin verzweifelt und stellte das Glas auf den Tisch. Kurz bevor Lars ihr den Zettel geschrieben hatte, war ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass sie Tage hatte, an denen es ihr schwerfiel, sich zu konzentrieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie kurzzeitig das Gefühl gehabt, den Roman in eine Einbahnstraße zu schreiben, dieser Vorahnung allerdings keinen Raum gelassen. Dass Lars dann von jetzt auf gleich aus ihrem Leben verschwunden war, hatte die Sache natürlich nicht verbessert. Zuerst hatte sie ihre kleine Schreibkrise auf den Trennungsschmerz geschoben und darauf vertraut, dass es ihr schon bald wieder gelingen würde, kreativ zu sein. Sie hatte gehofft, das Beziehungsende ihrer Protagonistin noch wahrheitsgetreuer darstellen zu können, weil sie ja nun am eigenen Leib erlebt hatte, wie es sich anfühlte. Fehlanzeige. Täglich stieg sie die Treppen hinauf in ihr Büro, aber die Worte kamen nicht zurück. Mittlerweile waren sie sogar so weit weg, dass Carolin sie nicht einmal mehr greifen konnte, als ob sie vor einem Apfelbaum voller roter, saftig-süßer Äpfel stand, unfähig, den schönsten zu pflücken.

»Caro«, sagte Moni eindringlich. »Du weißt es vielleicht nicht. Aber ich.« Moni angelte sich Carolins Handy, das auf dem Couchtisch lag. »Allerdings musst du dafür ein paar Dinge tun. Erster Schritt zurück zum Erfolg: eine neue Frisur. Ja, ich sehe in deinem Blick, was du sagen willst, aber eine Ausrede lasse ich nicht gelten. Morgen komme ich vorbei, und damit basta. Zweiter Punkt«, fuhr sie ohne Pause fort. »Lars’ Nummer. Lösch sie. Du brauchst Abstand, um zu dir selbst zurückzufinden. Der Kontakt zu ihm ist nur unnötiger Ballast.«

»Auf keinen Fall werde ich das tun.« Vehement schüttelte Carolin den Kopf, woraufhin Moni das Telefon mit Nachdruck in Carolins Schoß legte.

»Du musst dich endlich von ihm lösen. Und von seiner Mutter. Vor allem von seiner Mutter.«

»Aber ich mag sie. Wir verstehen uns.«

»Du wirst ihn nie vergessen, wenn ständig etwas von ihm Teil deines Lebens ist. Wie ich sie kenne, redet sie doch von nichts anderem als von ihrem Larsi, oder? Also. Lösch die Nummer. Jetzt.«

»Na gut«, lenkte Carolin ohne weitere Gegenwehr ein und entfernte Lars’ Eintrag, woraufhin Moni sie verdattert anlinste.

»Ähm. Das war einfach.«

Zu einfach. Sie beide wussten es, doch zu Carolins Erleichterung beließ Moni es dabei, obwohl ihre Freundin ihr gutes altes Adressbuch kannte und genau wusste, dass Lars’ Nummer dort noch stand und sie ihn später wieder ihren Kontakten hinzufügen würde. Nein, Carolin war nicht bereit, auf Lars’ Statusmeldungen bei WhatsApp zu verzichten, der einzigen Möglichkeit, an seinem Leben teilzuhaben. Egal, wie erbärmlich sie auch wirken musste, sie schaffte es noch nicht, ihn loszulassen.

Ihr Manuskript hingegen hätte sie liebend gern gelöscht. Klick und weg, mitsamt den Sicherheitskopien. Alle siebzigtausendvierhunderteinunddreißig netten Wörter. Futsch. Doch das Schreiben war ihr Leben, Romane nun mal ihr Job, in dem sie gut war. Richtig gut. Sie musste bloß ein wenig mehr Carolin zwischen all den Sätzen unterbringen. Und ganz nebenbei den einen Ort finden, der die Geschichte perfekt machte.