Cover

Die Geschichte einer hoch manipulativen Beziehung – hypnotisch, explosiv, obsessiv

Frank erkennt sie auf Anhieb. Die Haare, der Gang, das Lächeln – sie hat sich nicht verändert. In der Highschool war er unsterblich in dieses Mädchen verliebt. Damals hat sie ihn keines Blickes gewürdigt. Nun steht Miranda in ihrer gelben Gefängniskluft vor ihm, wegen kaltblütigen Mordes zu 52 Jahren Haft verurteilt. Frank ist ihr als Psychologe zugewiesen, müsste aber den Fall wegen Befangenheit abgeben. Doch Frank trifft eine fatale Entscheidung mit gefährlichen Konsequenzen für beide.

Debra Jo Immergut erzählt mit großem psychologischem Feingefühl davon, wie Frank und Miranda Gefangene ihrer schicksalhaften Vergangenheit sind. Ein faszinierender Roman über die Wechselwirkung zwischen Macht und Obsession, Manipulation und Gefahr – atemlos spannend!

DEBRA JO IMMERGUT ist Journalistin und war in den 1990ern Korrespondentin für das Wall Street Journal in Berlin. Zudem unterrichtet sie Kreatives Schreiben, u.a. in Gefängnissen. Ihre Erfahrungen haben sie zu ihrem Debüt, Die Gefangenen, inspiriert, das in den USA viele begeisterte Leserinnen und Leser fand und von der New York Times mit dem Prädikat »Bester Spannungsroman des Jahres« ausgezeichnet wurde. Die Gefangenen erscheint in einem Dutzend Länder.

»Bester Spannungsroman des Jahres.« The New York Times

»Faszinierend, wie Debra Jo Immergut uns in die Seelen zweier verletzter Menschen blicken lässt – ein unglaublich fesselnder Thriller voller überraschender Wendungen.« Daily Star

»Quälend, faszinierend, man kann dieses Buch nicht weglegen.« Glamour

»Debra Jo Immergut erzählt feinsinnig und mit großer Genauigkeit davon, wie Frank und Miranda Gefangene ihrer Vergangenheit, der Gegenwart und ihrer Zukunft sind. Dieses Debüt ist ein faszinierendes Porträt von zwei verletzten Menschen – und zugleich ein richtig guter Spannungsroman mit ungewöhnlichen und dabei doch glaubwürdigen Twists.« The Washington Post

»Der Roman beginnt als scharfsinniges Porträt von zwei Menschen in einem Augenblick der Schwäche, doch mehr und mehr nimmt er Fahrt auf – und das Ende ist wirklich verblüffend!« Vanity Fair

»Rasant und geschickt erzählt, einfühlsam und genau – ein Roman, der aufs Beste eine gute Schreibe mit großer Spannung vereint.« Washington Independent Review of Books

»Die Figuren sind so lebendig gezeichnet, die Spannung fast unerträglich und das Thema brillant umgesetzt. Ich konnte diesen Roman nicht weglegen!« The Independent

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Debra Jo Immergut

Die
Gefangenen

Roman

Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel
und Klaus Timmermann

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Die Originalausgabe erschien 2018

unter dem Titel The Captives

bei Ecco, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New York.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © der Originalausgabe: 2018 by Debra Jo Immergut.

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Stephen Carrol

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-22718-0
V002

www.penguin-verlag.de

All die Zeit – für John

ZUFALL

1

Übernehmen Sie keine therapeutische Funktion, wenn Objektivität nicht gewährleistet werden kann.

(Ethische Prinzipien und Verhaltenskodex des amerikanischen Psychologenverbands, Richtlinie 3.06)

Was mir passiert ist, ist universell. Ich kann es beweisen.

Denken Sie zurück an die Menschen, die Sie in der Highschool kannten. Konzentrieren Sie sich nun auf die eine Person, die in Ihren Tagträumen die Hauptrolle spielte. An den Menschen, der dieses Prä-Homo-sapiens-Gefühl in Ihnen auslöste, wenn Sie ihn auf dem Flur sahen, diesen Hirnstamm-Kick aus reinem Adrenalin. Anders ausgedrückt: Denken Sie an Ihren großen Schwarm.

Stellen Sie sich vor, wie diese Person jetzt auf Sie zugeht. Über den lauten, vollen Korridor näher kommt, näher, immer näher, und vorbeigeht. Die Haare, der Gang, das Lächeln.

Ihr Puls ist gerade ein bisschen angestiegen. Hab ich recht?

Das zeigt Ihnen, welche Macht dahintersteckt.

Jahre sind vergangen, und Sie denken an irgendeinen schlaksigen Teenager in der Schule, und doch kann das Bild dieses Teenagers vor Ihrem inneren Auge noch immer Ihre Hirnrinde stimulieren, Ihre Atmung beschleunigen.

Sie sehen also: In solchen Situationen wird etwas Unwillkürliches in Gang gesetzt.

Jetzt stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind ein zweiunddreißigjähriger Mann, und Sie sind Psychologe. Sie sitzen in Ihrem Souterrainbüro im Psychologischen Beratungszentrum einer Justizvollzugsanstalt des Staates New York. Ein Frauengefängnis. Sie sind an einem Montagmorgen leicht verspätet zur Arbeit gekommen und hatten keine Zeit mehr, Ihre Fallakten durchzusehen oder auch nur einen Blick auf Ihren Terminplan zu werfen. Und dann kommt die erste Insassin des Tages in ihrer gelben Gefängniskluft hereinspaziert.

Und sie ist diese Person.

Sieht dem Mädchen, das zwischen knallenden Spindtüren über den Flur auf Sie zukommt, noch immer erschreckend ähnlich. Die Haare, der Gang.

Würde Sie das nicht ziemlich aus der Fassung bringen?

Seien Sie ehrlich. Sie könnten unmöglich vorhersagen, wie Sie reagieren würden.

Ich erkannte sie auf Anhieb. Wie auch nicht? Eine wie sie vergisst man nicht so schnell. Jedenfalls ich nicht. Das Gesicht schon gar nicht. Ich könnte es mit der Blumensorte vergleichen, die meine Mutter in den Beeten an unserem Haus zog, hübsch, auf eine wenig überraschende, bodenständige Art, aber mit kleinen Hinweisen auf innere Vielschichtigkeit, wenn man genauer hinsah. Dieses Gesicht hatte sich fast fünfzehn Jahre lang am Rande meines Bewusstseins bewegt. Ab und zu wurde es von irgendetwas – einem Song aus der damaligen Zeit, dem Anblick einer Joggerin mit langem rötlichem Haar – wieder in den Vordergrund gerufen. Wenn ich jemand wäre, der auf Klassentreffen geht – was ich nicht bin –, ich wäre hingeflogen und hätte mir ein Namensschildchen angesteckt, bloß um irgendetwas über sie zu erfahren, zu sehen, ob sie aufkreuzen würde. Zu sehen, was aus ihr geworden war.

Jetzt sah ich es. Sie setzte sich in den türkisblauen Vinylsessel mir gegenüber, und quer über ihrer Brust prangte die Abkürzung für die Strafvollzugsbehörde des Staates New York, die verschwommen aufgedruckten schwarzen Buchstaben NYS DOCS.

Sie erinnerte sich nicht an mich. Das war klar. Ich sah nicht den Hauch eines Wiedererkennens.

Also brachte ich es nicht zur Sprache. Was hätte ich auch sagen sollen? Mit ihrem Namen herausplatzen, Menschenskind, wie geht’s dir, was machst du denn hier? Nein. Während ich noch dabei war, die Situation zu verarbeiten – sie? hier? –, wandte ich mich hastig dem Aktenschrank in der Ecke zu, auf dem sich meine provisorische Teeküche befand: kleiner roter Wasserkocher, Schachteln mit Oolong und Earl Grey, Pappbecher und Plastiklöffel. Meine kleine Teezeremonie sorgte stets für eine gewisse Behaglichkeit, die meine Patientinnen etwas entspannte, deshalb zelebrierte ich sie zu Beginn fast jeder Sitzung. Während ich zittrig zwei Becher vorbereitete, ließ ich meine übliche Einleitung vom Stapel, nämlich: Willkommen, danke, dass Sie gekommen sind, vorab ein paar Grundregeln, was Sie mir hier erzählen, ist absolut vertraulich. Eine Rede, die ich nach sechs Monaten in dem Job automatisch herunterspulen konnte. Ich reichte ihr einen dampfenden Tee, und sie nahm ihn mit einem Lächeln an, das mir durch und durch ging. Ich setzte mich wieder in meinen Sessel, ließ meine Hände um den warmen Becher zur Ruhe kommen. Aus einem an ihre Akte gehefteten Zettel ging hervor, dass sie soeben aus der Isolationshaft entlassen worden war. Also fragte ich sie danach. Aber ich bekam ihre Antwort nicht mit. Unwillkürlich überkam mich eine Erinnerung. Eine Erinnerung, die mir im Laufe der Jahre unzählige Male durch den Kopf gegangen war, wie einer von diesen Radiohits aus der Schulzeit, die man nie mehr loswird. Bei dem Gedanken daran, während sie in Fleisch und Blut vor mir saß, wäre ich vor Verlegenheit am liebsten im Boden versunken, doch es gelang mir, meine professionelle Fassade aufrechtzuerhalten und keine Miene zu verziehen.

Ich erinnerte mich an ihren nackten Rücken, eine weiße Bahn, wie eine Fahne, und dann der kurze Anblick einer Brust, als sie sich umdrehte, um ein Handtuch von der Bank zu nehmen. Ihre Haare – das Rot mit einem Stich ins Bräunliche – glitten nach unten über diese Brust und hatten genau die gleiche Farbe wie der Nippel. Jason DeMarea und Anthony Li kicherten. Aber ich blieb stumm, draußen an die Mauer der Mädchenumkleide geklammert, Fingerspitzen verkrampft auf dem Zementfenstersims, die Spitzen meiner Sneakers gegen das Mauerwerk gepresst. Das Ganze war meine Idee gewesen. Ich hatte gesehen, dass das Fenster einen Spalt offen stand, um die frische Luft dieses sonnigen, schon etwas kühlen Novembertags hereinzulassen, und ich hatte gesehen, dass sie, Mitglied des Mädchen-Leichtathletikteams, nach ihrem Lauf allein in die Umkleide gegangen war. Ich sollte für unsere Schülerzeitung, den Lincoln Clarion, einen Artikel über den Wettkampf schreiben. Mein Ressort waren die Sportveranstaltungen der Mädchenteams, und Anthony war der Fotograf bei diesen Veranstaltungen, was Ihnen eine ungefähre Vorstellung davon geben dürfte, welche Rolle wir beim Clarion und an der Lincoln High im Allgemeinen spielten. Jason DeMarea war bloß mitgekommen, weil er an einem Dienstag nach der Schule nichts Besseres zu tun hatte. Anthony und Jason kicherten und stupsten sich gegenseitig an, und sobald sie sich angezogen hatte (hellblaue Cordjeans, Shirt mit Glitzerblümchen drauf), sprangen die beiden von der Mauer runter. Aber ich hielt mich weiter fest, beobachtete sie. Sie saß auf der Bank und band ihre Stiefel zu. Dann nahm sie ihr zusammengeknülltes Sporttrikot und wischte sich damit über die Augen. Ich konnte nur einen schmalen Streifen ihres Gesichts und ein elegantes Ohr sehen – das Ohr mit dem faszinierenden Doppelpiercing, ein Silberdrahtreif und genau darüber ein winziger silberner Pegasus, den ich heimlich angestarrt hatte, während ich im Matheunterricht hinter ihr saß und mich fragte, ob er ein Symbol für ihre Liebe zu Pferden oder zu Drogen oder für irgendeine andere Leidenschaft von ihr war, die ich nie kennenlernen würde. Sie wischte sich mit dem Trikotbündel über die Augen und sah wirklich extrem verweint aus, keine Frage. Ihre Augenlider waren ganz verquollen. Und dann hob sie den Blick und schaute nach oben in ihren Spind. Sie warf die Sportsachen hinein und griff an die offene Tür. Da klebte irgendein Sticker. Von meiner Position vor dem Fenster aus konnte ich nicht erkennen, was für einer. Mit einer gewissen Forschheit zog sie an dem Ding, riss es komplett ab. Dann knallte sie die Tür zu und schüttelte die Hand, um den zerknitterten Aufkleber wegzuwerfen. Aber er haftete an ihren Fingern. Sie starrte den hartnäckigen Papierklumpen einen Moment lang an und heulte plötzlich richtig los. Dann öffnete sie ihren Spind wieder und legte das zerknüllte Ding behutsam innen auf den Boden. Sie schloss die Tür, drückte die Hände auf die Augen. Nach einer Weile verließ sie den Raum und verschwand aus meinem Blickfeld.

Ich hatte ihre Akte aufgeschlagen. Meine Augen glitten über die Wörter, ohne sie zu registrieren. Ich erkundigte mich kurz nach ihrer gerade beendeten Isolationshaft, fing mit der üblichen Persönlichkeitsdiagnostik an. Ich spulte mechanisch ein paar Fragen ab, sie antwortete, und allmählich kehrte meine Konzentration zurück. Ich hörte zu und verlor kein Wort über die Lincoln High oder ihre nackte Brust oder den abgerissenen Aufkleber oder die Tatsache, dass ich der Junge aus der letzten Reihe im Matheunterricht war. Ich sagte nicht, dass ich in dem einen Sommer, als sie im Leichtathletikteam war, bei jedem ihrer Rennen zugesehen hatte, und dass ich wusste, dass sie nur einmal gewonnen hatte, damals, an jenem sonnigen Novembertag. Ich sagte nicht, dass ich wusste, dass ihr Vater für eine Amtszeit Kongressabgeordneter gewesen war, und ich sagte nicht, dass ich sie an jedem einzelnen langen und verwirrenden Tag meiner Highschoolzeit aus der Ferne angehimmelt hatte. Sie erinnerte sich offensichtlich nicht an mich. Machte mir das etwas aus? Auf eine äußerst leise, unterschwellige Art, vielleicht. Jedenfalls nahm ich es nicht bewusst wahr. So oder so, ich sagte nichts.

Wir beendeten den diagnostischen Teil, und dann erzählte sie mir, sie habe Schlafstörungen. Der Lärm, die nächtlichen Schreie in ihrem Zellentrakt. Sie faltete die Hände im Schoß, löste sie wieder und fragte zaghaft, ob sie nicht vielleicht Tabletten dagegen bekommen könnte. »Nur, damit ich für ein paar Stunden alles ausblenden kann«, sagte sie.

Mir fiel unwillkürlich auf, dass der tomatenrote Lack auf ihren Fingernägeln abblätterte. Wenn meine Patientinnen eines gemeinsam hatten, dann waren das makellos und meist wahnsinnig kunstvoll lackierte Nägel – mit Regenbögen und Kokospalmen und Namen von Geliebten, glitzernden Streifen und Sternen und Herzchen. Diese Frauen knibbelten oder kauten nicht an ihren Nägeln. Sie trugen sie zur Schau. Ihre hingegen waren kurz. Rissig.

Ohne nachzudenken, schrieb ich etwas auf ein blaues Formular, empfahl Zoloft. Ich erhob mich aus meinem Sessel, ging um den Schreibtisch und hielt ihr das Formular hin. Sie stand auf, einen Kopf kleiner als ich. Ihre niedergeschlagenen Augen, die langen Wimpern. Ein paar blasse Sommersprossen. Ich riss den Blick von ihr los, nahm die Schultern zurück, richtete mich zu voller Größe auf. »Zeigen Sie das bitte Dr. Polkinghornes Assistenten zwei Türen weiter.«

Sie warf einen Blick auf den Zettel und dankte mir leise. Wir blieben beide einen Moment so stehen. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr das zu sagen, was ich ihr eigentlich sagen müsste. »Ähm, wissen Sie was?«, setzte ich an. Dann sagte ich stattdessen etwas anderes. »Ich würde Sie gern auf meine Liste mit regelmäßigen Terminen setzen. Ich glaube, wir können einiges Positive für Sie erarbeiten.«

Sie verzog die Lippen zu einem klitzekleinen melancholischen Lächeln. »Großartig«, sagte sie, dann wandte sie sich ab. Ihr Pferdeschwanz pendelte sachte hin und her, als sie durch die Tür verschwand.

Sie so gehen zu lassen, ohne mein Wissen zu offenbaren, war ein Verstoß gegen ethische Grundsätze, der erste einer ganzen Reihe derartiger Verstöße, die ich seitdem begangen habe. Die Richtlinien des amerikanischen Psychologenverbands zu im Vorfeld bestehenden Beziehungen sind eindeutig. Derartige Beziehungen sollten thematisiert werden, und falls sie die Objektivität in irgendeiner Weise beeinträchtigen können, darf keine Therapie erfolgen. Das legen die Richtlinien unmissverständlich fest.

Das muss der Punkt gewesen sein, an dem ich aufhörte, mich an Richtlinien zu halten. Bis dahin war ich mehr oder weniger ein ganz normaler, gesetzestreuer, Richtlinien befolgender Mann gewesen.

Sie änderte das alles, obwohl sie es gar nicht wollte, diese Frau in der gelben Gefängniskluft, mit dem Gartenblumengesicht. Sie, die ich so deutlich als Mädchen in Erinnerung hatte. Sie, die man nicht vergessen konnte.

Ihren Namen muss ich hier verschweigen. Nennen wir sie M und fahren wir fort.

2

Mai 1999

Miranda Greene war in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren. Sie war zwar in Pittsburgh geboren, verbrachte aber den größten Teil ihrer Kindheit in einem Vorort von Washington, D. C., und im Mai ihres zweiunddreißigsten Lebensjahres, 1999, einem der herrlichsten Maimonate, den die Ostküste je erlebt hatte, fasste sie den Plan, in New York zu sterben. Genauer gesagt, in Milford Basin, New York. Noch genauer gesagt, in der Frauenstrafanstalt, die sich über 62 gerodete Hektar in den Wäldern aus Ahornbäumen und Büschen rund um die Kleinstadt Milford Basin erstreckte.

In den 1920ern hatten die Rockefellers oder Roosevelts oder irgendeine andere reiche Familie in Milford Basin ein Anwesen besessen, erzählten Immobilienmakler gern ihren Kaufinteressenten. Leider – aus Sicht der Immobilienmakler – hatte einer von ihnen sich leidenschaftlich für die Besserung gefallener Mädchen engagiert. So kam es, dass ein ehemaliger Jagdsitz in eine Besserungsanstalt umgewandelt worden war, und nun, rund siebzig Jahre später, war daraus ein reguläres Staatsgefängnis mit geringer bis mittlerer Sicherheitsstufe geworden. Man sprach nicht mehr von gefallenen Mädchen. Man sprach jetzt von Täterinnen, von Kriminellen, die einen gut vier Meter hohen Metallzaun, Schlingen aus Stacheldraht und bewaffnete Wachleute benötigten.

Das Gefängnis lag hinter zwei Hügeln, die es von dem einigermaßen malerischen Ortskern von Milford Basin trennten. Hinter diesen Hügeln erstreckte sich ein weitläufiger, eingezäunter Gebäudekomplex, und im Innern dieses Gebäudekomplexes saß Miranda und feilte an ihrem Plan. Sie wollte es mit einer Überdosis Tabletten versuchen. Tabletten gab es mehr als reichlich im System, über die Hälfte der Ladys von Milford Basin wurden vom Staat medikamentös ruhiggestellt: Xanax, Lithium, Librium und Prozac wurden täglich vom medizinischen Personal ausgegeben. Gewisse undurchsichtige Figuren boten sie auch zum Verkauf an – natürlich konnte man das Zeug kaufen, wie so viele andere Rauschmittel auch. Aber oft war es leichter, sich ein Rezept im Psychologischen Beratungszentrum zu besorgen, sich eine Depression oder eine schwere soziale Störung oder auch einfach nur eine soziale Phobie bescheinigen zu lassen. Medikamente wurden freigebig verteilt, weil Medikamente überall gut funktionierten.

Miranda hatte den Wunsch zu sterben, weil es ihr nach fast zweiundzwanzig Monaten in Haft sinnlos erschien, den restlichen Teil ihrer Strafe auch noch abzusitzen. Diese Strafe erstreckte sich über eine derart obszöne Anzahl von Jahren, dass sie sich davor scheute, in numerischen Kategorien über ihre genaue Länge nachzudenken, und sich stattdessen die Zeit lieber als eine Straße vorstellte, die im Nebel verschwand. Eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung war bei ihr ausgeschlossen, und sollte sie je wieder frei sein, wäre sie sehr viel älter als jetzt. Irgendwie fand sie, dass die Aussicht auf einen Hauch Freiheit, der gerade rechtzeitig käme, um sich der Gebrechen des fortgeschrittenen Alters zu erfreuen, nicht Grund genug war, sich an ihre sterbliche Hülle zu klammern. Sie wollte sie abstreifen.

Aus diesem Grund war Miranda in das Beratungszentrum gegangen. Der Gedanke, einen Psychologen aufzusuchen, behagte ihr nicht. Ihre Mutter hatte einmal einen Therapietermin für sie vereinbart, während der turbulenten Zeit in ihrer Pubertät nach Amys Tod. Sie hatte sich geweigert, ins Auto zu steigen. Kurz gesagt, sie war nie der introspektive Typ gewesen. In dieser Hinsicht schlug sie nach ihrem Vater. Aber in Milford Basin, wo sich unausgefüllte Zeit wie ein gähnendes Kraterloch vor ihr auftat, konnte sie es kaum vermeiden, über ihr Los nachzusinnen. Es gab sonst nichts zu tun. Und zwei Wochen im Isolationstrakt hatten ihr Denken geschärft. Je tiefer sie in sich hineinhorchte, desto größer wurde ihre Gewissheit. Sie würde keine schicksalhafte Wendung abwarten – hatte das Schicksal ihr nicht schon übel mitgespielt, sie brutal niedergestreckt? Nein, jetzt würde sie ihr Geschick in ihre eigenen kleinen, unbedeutenden, eingekerkerten Hände nehmen.

An einem Montagmorgen um 9.30 Uhr nahm Miranda den asphaltierten Fußweg, der zwischen Gebäude 2A&B und dem niedrigen, lang gestreckten Verwaltungstrakt verlief, wo auch der Besucherraum und das Beratungszentrum untergebracht waren. Sie kam an einer alten Lady namens Onida vorbei, die gerade ihren Frust in dem kleinen Garten abreagierte, der ihr von der Gefängnisleitung bewilligt worden war. Onida durfte kein Gartenwerkzeug benutzen – scharfkantige Gerätschaften aus Metall waren nicht gern gesehen –, deshalb wühlte sie leise summend mit ihren dunklen Händen und einer Schaufel aus einem Stück Pappe in der wurmreichen Frühlingserde. Neben ihr standen flache Kisten mit Petunien, die vom örtlichen Gartenverein gespendet worden waren. Als Miranda vorbeikam, blickte sie auf. »Gott ist gut, ja, das ist er«, sagte sie.

»Meinst du?«, erwiderte Miranda. Sie ging weiter. Sie hörte Onida hinter sich brabbeln. Der Himmel über ihr wölbte sich quälend blau. Der Geruch nach gemähtem Gras, die sanfte Brise, die ihre Haut wärmte. Sie konnte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen. Draußen zu sein, im Freien, nur die Kuppel des Universums über ihr. Kein Stahlbeton, keine eingesperrten Seelen. Sie war erst vor drei Tagen aus der Isolationshaft entlassen worden. Zwei Wochen im Isolationstrakt – die Ladys nannten ihn »den Iso« – hatten ihre Wahrnehmung irgendwie verflacht, als wäre sie gepresst und getrocknet worden wie eine exotische Pflanze. Konnte sie eingeweicht und wiederhergestellt werden? »Wohl kaum«, murmelte sie vor sich hin.

Kannte sie ihn von irgendwoher? Auf den ersten Blick schien ihn eine vage Vertrautheit zu umflirren, das Gesicht – vielleicht hatte sie es schon mal gesehen, oder vielleicht sah er bloß jemandem ähnlich, den sie gekannt hatte. Graublaue Augen, volles blondes Haar, leicht zerzaust. Kräftige Kinnpartie unter hellen Bartstoppeln. Kein schlecht aussehender Mann, auf eine unaufdringliche Art. Man musste schon zweimal hinsehen, um es zu bemerken. Frank Lundquist, dachte sie bei sich, um den Namen im Kopf zu testen.

Abgesehen von Familienangehörigen und ihrem Anwalt war er seit fast einem Jahr der erste Mann, mit dem sie redete, der keine Wärteruniform trug. Vielleicht war das der Grund für das eigenartige Gefühl.

»Willkommen«, sagte er und schob zerstreut ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite. »Danke, dass Sie gekommen sind, um sich mit mir zu unterhalten.« Er sprach mit stockender, tiefer Stimme. Er stand jäh auf, und sie sah, dass er recht groß war. Ein kleiner Wasserkocher summte auf einem Aktenschrank in der Ecke und dampfte. Er wandte ihr den Rücken zu und hantierte ziemlich lange mit Bechern herum, erzählte irgendetwas von Grundregeln. »Was Sie hier sagen, ist absolut vertraulich.« Der Tee tat jedenfalls gut. Vielleicht hatte sich der Besuch schon allein deshalb gelohnt. Er setzte sich und öffnete einen Aktenordner, starrte lange hinein. Miranda ließ sich vom Teedampf die Nase wärmen und betrachtete die Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, glatt wie der Flügel eines Vogels. Sie überlegte, wie sie das Thema Tabletten anschneiden sollte.

Schließlich blickte er von seinem Aktenordner auf und sagte: »Hier steht, dass Sie kürzlich aus der Isolationshaft entlassen wurden. Würden Sie mir erzählen, warum Sie dort waren?«

Sie war erstaunt. »Steht das nicht in Ihren Unterlagen?«

»Ich würde gern Ihre Sicht der Dinge hören.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Seine Augen huschten ständig hin und her, zu ihrem Gesicht, dann wieder weg, zu ihrem Gesicht, dann wieder weg.

Das könnte mir auf die Nerven gehen, dachte sie.

»Meine Sicht der Dinge.« Sie erlaubte sich ein dünnes Lächeln. »Ich wusste gar nicht, dass ich noch eine haben darf.«

Er nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen.« Rieb sich das Kinn. Ein schabendes Geräusch. »Denken Sie in Ruhe nach. Lassen Sie sich Zeit.«

Sie beobachtete die Wolkenfetzen, ausgefranste, zarte Streifen aus Weiß, die an einem schmalen Fensterspalt zweieinhalb Meter über ihrem Kopf vorbeiglitten. Sie lag in einer Ecke ihrer Iso-Zelle und versuchte, aus einem Fenster zu blicken, das so gestaltet war, dass es nichts preisgab. Und während sie die Wolken betrachtete, nahm sie allmählich ein rhythmisches Grollen wahr. Einen tiefen, sich wiederholenden Ton, der irgendeinen primitiven Bereich ihrer Psyche an die frühe Kindheit erinnerte. Sie konnte sich das Geräusch nicht erklären.

Sie stand auf, ging zur Tür und spähte durch die kleine Luke, ein Stück Panzerglas von der Größe eines Küchenschwamms, durch das sie lediglich die Zellentür gegenüber sehen konnte: Dahinter war Patti, die bei einem Streit um Krankenversicherungszahlungen einen Chirurgen ermordet hatte.

Sie drückte ein Ohr an die kleine Metallklappe, die dreimal täglich aufsprang, wenn Essen gebracht wurde. Durch den dünnen Stahl hielt das Grollen an.

Sie legte sich auf den ständig eiskalten Boden, der mit klumpiger grauer Farbe gestrichen war, und drückte den Mund an den fingerbreiten Spalt unter der Tür. »Patti.«

Keine Antwort. Sie versuchte es erneut. Und dann begriff sie plötzlich, was dieses grollende Geräusch war. Patti schnarchte, tief und verschnupft. Sie schnarchte genauso, wie Mirandas Dad geschnarcht hatte, wenn sie als kleines Mädchen nachts aus einem Traum aufgewacht war. Patti schlief. Patrizia Melvoin, HIV-positiv, Transgender, Betrügerin aus dem Morrisania-Viertel in der Bronx, schnarchte in genau der gleichen Tonart und genau dem gleichen Rhythmus wie Edward Greene, der eine Amtszeit lang Pennsylvanias 28. Wahlbezirk als Kongressabgeordneter vertreten hatte.

Miranda setzte sich auf und kicherte. Sie kicherte, und da ihr eigenes Kichern ihr fremd in den Ohren klang, verstummte sie wieder. Das Schnarchen dauerte an.

Es war ihr letzter Tag in der Isolationszelle, und er zog sich unendlich hin. Sie schielte zu dem kleinen Stück Himmel hinauf. Es war eindeutig schon Nachmittag.

Normalerweise wurden Insassen vormittags aus der Iso entlassen. Warum die Verspätung? Sie dachte an ihre Fotos, ihre Kleidung, ihre Instantsuppen, die in ihrem Trakt in einem verschlossenen Behälter auf sie warteten. Sie löste den Gürtel an ihrem Flanellkittel, der mattgelb war und sie an die Bademäntel erinnerte, die sie und Amy zu Weihnachten von Grandma Rosalie geschenkt bekamen – immer zu ihrer großen Enttäuschung. Viel lieber hätten sie diese Puppen bekommen, die man frisieren und schminken konnte, oder Taktstöcke für den Spielmannszug oder Zwergkaninchen. Den Kittel hatte sie anziehen müssen, als man ihr die gelbe Standardkluft weggenommen hatte, bevor sie in Isolationshaft kam. Sie zog ihn aus und streifte den obligatorischen Schlüpfer ab. In der Iso durftest du keine eigene Kleidung tragen, deshalb stand NYS DOCS sogar quer auf deinem Hintern.

Sie betrachtete die Stahltoilette, ohne Deckel, ohne Brille, ein klaffender, kalter Schlund. Sie setzte sich darauf. Und fing an, auf und ab zu hüpfen. Schnell.

Vor vierzehn Tagen konnte Miranda das noch nicht. Als Patti ihr von diesem speziellen Zeitvertreib erzählt hatte, hatte sie geantwortet: »So ausgehungert nach Abwechslung werde ich nie im Leben sein.«

Patti hatte gelacht. »Hier gibt’s kein Kabelfernsehen. Keine Illustrierten.«

Aber die ersten paar Tage waren ganz okay gewesen – sie hatte vier Schlaftabletten eingeschmuggelt, die Lu ihr aufgedrängt hatte, als klar wurde, dass Miranda in die Iso musste. Je zwei winzige Pillen in jedes Nasenloch gesteckt – sie hatte damit gerechnet, dass sie auffliegen würde, weil sie nur durch den Mund atmete, aber keiner hatte was gemerkt. Die Tabletten hatten sie schön ausgeknockt. Aber jetzt hatte sie keine mehr, und ihr blieb nichts anderes zu tun, als das Stück Himmel anzustarren, über dem plötzlich Fetzen von Lewis Patterson trieben, von Duncan und noch Schlimmerem, und nach kurzer Zeit war sie in einer quälenden Endlosschleife gefangen und sehnte sich nach irgendwas, um ihren Geist zu beschäftigen, ihn zu füllen und alle Gedanken auszulöschen.

Also hockte sie auf der Toilette und hopste. Sie hüpfte. Anfangs noch skeptisch. Sie lachte sogar. Wie albern. Sie lachte, aber sie machte weiter. Als würde sie in einem Sportsattel reiten, wie sie das mit neun Jahren im Ferienlager in den Appalachen getan hatte. Und dann hörte sie einen lauten Rülpser, und tatsächlich: Das Hüpfen hatte einen Sogeffekt erzeugt, und das Wasser war nach unten aus den Leitungen gesaugt worden, hatte sie leer zurückgelassen. Sie kniete sich neben das Klo, schloss fest die Augen, hielt sich die Nase zu und senkte den Kopf in die Schüssel.

Sie hörte Stimmen.

Dunkle Maßanzüge, bunte italienische Krawatten, aus schwerer Seide gewebt und mit dicken Knoten gebunden. Dazu passende Einstecktücher. An einem Tag pfauenblau, am nächsten dunkelrot mit goldenen Lilien. Miranda fragte sich manchmal, ob sie deshalb dieses irrwitzige Urteil bekommen hatte. Ihr Anwalt roch förmlich nach Geld. Die Geschworenen – der Hilfskoch in einer Pizzeria, der Schneepflugfahrer – bildeten sich ein, sie würden eine Prinzessin zu Fall bringen, die auf einem riesengroßen Berg Zaster saß. Sie wussten nicht, dass das in den Zeitungen hochgespielte geerbte Kapital, das Vermögen der Greenes aus Pittsburgh, das sie über Jahrzehnte mit ausziehbaren Esstischen, mit Klappsofas und Gartenstühlen mit Rundlehne gemacht hatten, schon längst aufgebraucht war, dass der größte Teil im letzten erfolglosen Wahlkampf ihres Vaters für Wahlwerbung draufgegangen war. Alan Bloomfield, Liebhaber auffälliger italienischer Krawatten und Einstecktücher, war ein alter Freund der Familie, ein Kommilitone ihres Vaters und verliebt in ihre Mutter, und er gewährte einen satten Rabatt für seine Dienste.

Bethanne Bloomfield, Alans Tochter, war im selben Alter gewesen wie Mirandas Schwester Amy. Sie waren eine Zeit lang eng befreundet, gingen oft zusammen in die Tower Oaks Mall, ins Kino, schlossen sich gern in Amys Zimmer ein. Zwei vierzehnjährige Abenteurerinnen. Miranda erinnerte sich, wie sie einmal in der Tür von Amys Zimmer stand, während die beiden sich für eine Schulparty aufhübschten. Föhne, Lockenstäbe – der Raum hörte sich an wie eine kleine Fabrik und roch auch so. Die Erwachsenen waren nicht da. Die Aufhübscherinnen beschlossen, Barbara Greenes Frisiertisch mit den schweren Parfümflacons zu plündern. Sie lasen fasziniert die geheimnisvollen Namen, Opium und Skin Musk. Dann fing Bethanne an, in Edward Greenes Kommode zu stöbern, und entdeckte eine Schachtel Kondome in der untersten Schublade. Sie kreischte: »Die benutzen Gummis?«

Amy schnappte sich die Schachtel. Sie studierte sie und sagte dann stirnrunzelnd: »Ich glaub, meine Mom hat die Spirale.« Bethanne riss ihr die Schachtel wieder aus der Hand, holte eins von den kleinen Päckchen heraus und steckte es ein. Dann nahm sich auch Amy eins, ehe sie die Schachtel wieder zurück in ihr Versteck schob.

Miranda wusste nicht, was »die Spirale« war, und als sie Amy später danach fragte, wollte die es ihr nicht verraten.

Miranda konnte Stunden damit verbringen, Momente aus ihren frühesten Jahren auszugraben, Szenen aus einem sicheren Abschnitt der fernen Vergangenheit. Aber manchmal schweiften diese Erinnerungen in gefährliches Terrain ab. Bethanne war inzwischen selbst Anwältin und mit einem Anwalt verheiratet, und sie wohnten in einem Townhouse in Bethesda zur Miete. Von Bethanne sprang sie gedanklich zurück zu Alan Bloomfield, wie er steif zu ihrer Linken saß, sachte mit einem Stift auf seinen Notizblock klopfte und ihren Fall den Bach runtergehen ließ.

Und von da, obwohl sie versuchte, dagegen anzugehen, sprang sie wieder zu der Frau im Zeugenstand, ihrer durchdringenden, aber bebenden Stimme, ihrem kerzengeraden Körper, einem Standbild aus Nervosität und Trauer. »Mein Bruder war unverheiratet. Er war Sachbearbeiter beim Militär in Saigon. Kommandant bei der freiwilligen Feuerwehr. Mein Bruder war ein guter Mensch.« Die Frau brach in Tränen aus. Die Frau blickte kein einziges Mal in Mirandas Richtung.

Der Staat kannte sie als 0068-N-97, weil sie die achtundsechzigste Insassin war, die in jenem Jahr, 1997, in die Justizvollzugsanstalt N der Strafvollzugsbehörde des Staates New York eingeliefert worden war, besser bekannt als Strafanstalt Milford Basin. Sie war in Abteilung 109C in Zelle 34 untergebracht, der letzten Zelle auf der Südseite des Ostflügels.

Dort war Oberwärterin Beryl Carmona ihr alttestamentarischer Gott, streng, aber oft auch liebevoll, allmächtig und entsetzlich unberechenbar. Lu hatte sich an Mirandas erstem Tag in der Abteilung an sie rangeschlichen, ihr einen Arm um die Schulter gelegt und zugeflüstert: »Carmona ist auf ziemlich schlaue Art dumm. Nimm dich in Acht.«

Ludmilla Chermayev, ursprünglich aus Moskau, in jüngerer Vergangenheit aus Sheepshead Bay in Brooklyn, lag nicht nur damit richtig, sondern überhaupt mit fast allem, was Milford Basin betraf, wie Miranda feststellte. Schon im ersten Monat in der Abteilung bekam Miranda zwölf Verweise von Carmona erteilt.

Für Barb Greene war es ein Rätsel, wie ihre Tochter so viele Disziplinarverstöße hatte ansammeln können, dass sie beim nächsten in der Iso landen würde. »In der Schule hab ich immer nur gehört, wie brav du bist. Die Beste in Betragen in der vierten Klasse«, hatte sie nach vorn gebeugt im Lärm des Besucherraums geschluchzt und eine Papierserviette zerrupft. Mirandas Mutter hatte sich redlich bemüht, diesmal nicht zu weinen, es dann aber doch wieder getan. Jede Menge Taschentücher, verrutschte Kontaktlinsen. »Kannst du dich nicht einfach an die Regeln halten, Schätzchen?«, hatte Barb gefleht. »Versuch es doch bitte.«

Aber Miranda hielt sich an die Regeln, sie versuchte es wirklich. Nicht verrückt werden, Ärger aus dem Weg gehen, sich nur um ihren eigenen Kram kümmern und die Zeit absitzen: Das hatte sie sich in der ersten Woche geschworen. Hatte es sogar in April Nicholsons Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments geschrieben, weil April, die die Zelle gegenüber von Mirandas in der Zugangsabteilung belegt hatte, das so wollte. »Du bist genau wie ich«, hatte sie in jener ersten grässlichen Nacht gesagt, mit einem todernsten Ausdruck in ihrem rundlichen Gesicht, das mit den glänzend bronzefarbenen Wangen, den hübschen dunklen Augen und dem mattroten Mund ein bisschen Trost, ein bisschen Schönheit über den schummrigen Gang hinweg spendete. »Ich bin keine Asi, war es nie und werd’s auch nie sein«, hatte April mit dieser Stimme gesagt, die für Miranda immer wichtiger wurde, tiefe Töne mit einem leichten Südstaatensingsang. »Mach einfach alles genau wie ich, dann kriegst du hier keinen Ärger.«

Und Miranda machte keinen Ärger. Den Ärger machte Beryl Carmona. Gleich am ersten Abend, als sie aus der Zugangsabteilung entlassen wurde und ihre Gefängniskluft in einem schwarzen Plastiksack hinter sich herzog, während April mit ihren Büchern und Schreibutensilien nachkam, hatte Carmona sie in 109C erwartet. »Vor dir steht die Oberwärterin dieser Abteilung«, sagte sie und zeigte auf ihr Dienstabzeichen. Braune Locken umrahmten ein langes Kinn, und wenn sie ging, wippten Handschellen und Taschenlampe auf ihren breiten Hüften, und die Vordertaschen ihrer Khakihose klappten auf wie kleine Ohren. Sie musterte kurz den Stapel auf Aprils Arm, dann wandte sie sich mit einem Grinsen an Miranda. »Du liest? Ich auch. Das ist toll. Wir können uns über Bücher unterhalten. Aber ich will dich nie wieder mit diesen Badelatschen an den Füßen sehen.« Sie deutete auf Mirandas blaue Gummiflipflops.

»Die habe ich bei der Kleiderausgabe bekommen.«

»Die sind fürs Duschen. Ich guck mir nicht gern Zehen an.«

Mehrere Frauen standen um sie herum und schauten freundlich interessiert zu. Alle trugen sie Flipflops an den Füßen. Im Trakt war es heiß und stickig.

Carmona folgte Mirandas Blick und stieß dann einen theatralischen Seufzer aus. »Lass dich bloß nicht von diesen Ladys inspirieren. Die sind jämmerlich, keine Frage, aber schon jämmerlich zur Welt gekommen. Dich halte ich für was Besseres.« Sie zwinkerte Miranda zu und schwang ihren riesigen Schlüsselbund. »Ich glaube, du gefällst mir. Ehrlich. Und jetzt zeig ich dir dein Zimmer.«

Carmona nannte Miranda oft Missy May. Andere Wärter nannten sie Miss Lady. Die Ladys nannten sie meistens Miss Revlon oder Lady Revlon. »Die hat Revlon-Haare«, stellte Chica während Mirandas erster Woche in der Abteilungsküche fest. Sie hörte auf, in dem blubbernden Topf Bohnen zu rühren, drehte sich um und deutete mit ihrem Holzlöffel auf Mirandas volles, schimmerndes, rotbraunes Haar. Es war lang geworden, hing ihr zu dem Zeitpunkt schon weit den Rücken hinunter. »Wie mein Bruder«, sagte Chica. »Glänzende Revlon-Haare. Wäscht sich zweimal am Tag die Haare. Immer mit Revlon. Immer.«

»Die nimmt Revlon, das sieht man«, sagte eine andere.

Die Ladys redeten auch dann so über andere, wenn diese dabei waren. Miranda wusste, dass von ihr keine Wortmeldung verlangt oder gewünscht wurde. Sie hatte gerade eine Fliege von ihrem Traubengelee-Sandwich gescheucht und las weiter in Tess von den d’Urbervilles. Es hatte ihr nichts ausgemacht, Lady Revlon genannt zu werden, nicht das Geringste. Sie war zugegebenermaßen schon immer ein wenig stolz auf ihr Haar gewesen und ziemlich froh, dass es noch glänzte. Seit Wochen hatte sie keine Haarspülung mehr benutzt. Die Gebrauchsanweisung – großzügig einmassieren, durchkämmen, nach fünf Minuten ausspülen – ließ sich in einem Gefängniswaschraum schlecht umsetzen.

Chica war die Lady mit der Badematte, und die brachte Miranda dann auch den dreizehnten Verweis ein, der sie in der Iso landen ließ. Puderrosa und flauschig und nur an den Rändern leicht angeschmuddelt. Miranda war vom ersten Moment an scharf auf diese Matte gewesen, weil sie sie an das Hotel Flora in Rom erinnerte. Sie war zwölf Jahre alt, und ihr Vater sollte eine Rede auf irgendeiner Tagung halten. Sämtliche Reisekosten wurden übernommen. Dad, Mom, Amy und Miranda wohnten also gratis in einem Hotel mit dunkelgrünen Marmorböden und geflügelten Babys aus weißem Stuck, die an der Zimmerdecke schwebten. Jeden Abend kam ein Zimmermädchen herein, schlug die Bettdecken zurück und legte ein dickes rosa Handtuch auf den kühlen Boden neben ihrem Nachttisch. »Für deine Füße«, sagte ihre Mutter. »Damit du abends als Letztes und morgens als Erstes etwas Weiches unter den Sohlen spürst.« Als Miranda diese Badematte sah, dachte sie, wenn sie nur etwas Weiches unter den Sohlen spüren könnte, hätte sie vielleicht eine Chance, wenigstens teilweise bei Verstand zu bleiben.

Sie sprach das Thema eines Tages beim Mittagessen an. Wie üblich hatten sich alle Spanischsprechenden um die Mikrowelle versammelt, und eine Frau namens Mami, eine faltige Lady, die für irgendein Kartell in Inwood einen geheimen Unterschlupf betrieben hatte, teilte eine Mahlzeit aus Dosentomaten und Kochbeutelreis aus. Die Latinas aßen nie im Speisesaal, dem sogenannten Zoo, eine Ausnahme machten nur einige aus der Marcy-Truppe. Miranda wurde im Küchenkreis geduldet, und dafür war sie dankbar. Das Essen war ganz passabel, und sie wünschte nur, sie hätte in der Schule Spanisch gelernt anstatt Französisch und Deutsch, weil sie dann den Gesprächen besser hätte folgen können.

Jedenfalls erfuhr sie an diesem Tag, dass Chicas Berufung erfolgreich gewesen war und sie in einer Woche entlassen werden sollte. Ohne zu überlegen, meldete Miranda sich zu Wort: »Könnte ich dann deine Badematte haben, Chica?« Die Ladys kicherten.

»Lady Revlon will deine Matte haben, Chica«, sagte eine von ihnen.

Chica lächelte sie an, ein sehr freundliches, zahnlückiges Grinsen. »Komm an dem Tag in meinem Zimmer vorbei. Ich glaub schon.«

Die Ladys und sogar die Wärter nannten die Zellen »Zimmer«, als wären sie alle im Hotel Flora.

An dem Tag, als Chica entlassen wurde, herrschte eine ungewöhnliche Anspannung, weil eine Frau in Abteilung D nachts mit Krämpfen aufgefunden worden war, nachdem sie eine vergorene Mischung aus zerrupftem Toastbrot, Zuckerwürfeln, Schalen von Red-Delicious-Äpfeln und einem Schuss Körperspray mit Pfirsichduft zu sich genommen hatte. Den ganzen Vormittag war Einschluss gewesen, und sämtliche Zellen waren durchsucht worden. Bei vier Ladys war das gleiche Gebräu gefunden worden, und sie kamen zur Strafe in Isolationshaft. Zorn pulsierte am Nachmittag durch die Flure, als Miranda ans Ende des Blocks ging, wo Chica dabei war, ihre Sachen zusammenzupacken. Auf der anderen Seite des Flurs tat eine Frau namens Dorcas, hoch aufgeschossen und kräftig, das Gesicht hart und glänzend wie eine Kastanie, ihre Meinung kund. »Der Richter hat meine Berufung abgelehnt. Und Chica lässt er laufen. Aber die Schließer hätten ja auch einen Scheißdreck zu tun, wenn Dorcas raus wär.«

»Stimmt genau, Dorcas«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte Cassie, einer fülligen Frau, die ihr nie von der Seite wich. Sie lungerte auf Dorcas’ Bett herum und bemalte ihren pummeligen Fuß mit einem Kugelschreiber. »Du bist bloß hier, damit die Schließer was zu tun haben.«

»Chica«, sagte Miranda, »weißt du noch, worüber wir neulich gesprochen haben?«

»Guck sich bloß einer die Arme von der an. Total dünne Ärmchen«, sagte Dorcas und musterte sie verächtlich.

»Die hält sich für was Besseres«, sagte Cassie.

Chica hob die Badematte beinahe traurig auf. »Ich hab sie sogar für dich gewaschen, Lady. War ein Geschenk von meiner Schwester. Richtig schönes Teil.« Sie streichelte die flauschige rosa Matte, als wäre sie ein Haustier, und reichte sie Miranda.

»Ich bin so froh, dass du endlich verschwindest, Chica«, murmelte Dorcas. »Kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Chica blickte finster und zog mit einem ärgerlichen Ruck die verkratzte Plastikplane vor ihre Tür – eine Art Trennvorhang, den die Frauen als Lappen bezeichneten und der eigentlich durchsichtig sein sollte, aber die Ladys fanden immer eine Möglichkeit, die Sicht zu verschleiern. Sie griff hinter ihr Bett und holte eine kleine Rasierklinge hervor. »Manchmal wird sie zottelig. Hab sie dann hiermit wieder gestutzt.« Sie drückte die Klinge in Mirandas Hand. »Halt die gut versteckt«, flüsterte sie.