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Buch

Die Demokratische Volksrepublik Laos ist stolz, im Jahr 1980 zum ersten Mal an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Natürlich boykottiert die Hälfte der Welt die Sommerspiele in Moskau, um gegen die jüngste sowjetische Invasion zu protestieren – aber das hat Platz für Athleten aus Ländern geschaffen, die normalerweise zu klein oder unterfinanziert sind, um wettbewerbsfähig zu sein – wie Laos. Der ehemalige staatliche Leichenbeschauer von Laos, Dr. Siri Paiboun, und seine Frau Madame Daeng würden so gut wie alles tun, um in Moskau dabei zu sein. Und so verschafft Siri ihnen mit einem Trick Jobs als medizinische Berater für die laotischen Dorfathleten, von denen die meisten noch nie im Leben Laufschuhe getragen haben. Als das Konkurrenzdenken schärfer wird und der Verdacht aufkommt, dass einer der Athleten nicht der ist, für den er sich ausgibt, beginnen Siri und seine Freunde zu ermitteln. Sie setzen sich heimlich mit Inspektor Phosy zu Hause in Laos in Verbindung, um zu sehen, ob der vermeintliche Athlet ein Attentat plant. Doch dann wird ein laotischer Olympiateilnehmer des Mordes beschuldigt, und Dr. Siri muss nicht nur ein, sondern zwei paranoide Regierungsmaschinen steuern, damit am Ende vor allem eines siegt: die Gerechtigkeit.

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Colin Cotterill

Dr. Siri und die
Spiele der Rattenfänger

Dr. Siri ermittelt – Band 12

Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Thomas Mohr

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Rat Catchers’ Olympics bei Soho Press, Inc., New York.


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Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2020

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Colin Cotterill

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Brigitte Helbling

mb · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-23463-8
V001

www.goldmann-verlag.de

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Gewidmet dem Andenken an Grant Evans, der für meine Bücher wenig übrighatte, ansonsten jedoch einen untadeligen Geschmack, ein grenzenloses Wissen und ein edles Gemüt sein Eigen nannte.

Mit wärmstem Dank an Micky M., Martin W., Martin S. F. Ulli, Magnus, Regina, Michael B., Daniel und Judy K., Sittixai, Simon C., K., Shelly, Randy, Peter J. Masha, Dr. Leila, David, Lizzie, Rachel, Paul, Dad, Bambina, Bob, Kate, Roman und Elmar.

FORMULAR A223-79Q

AN: Richter Haeng Somboun

p. A. Justizministerium
Demokratische Volksrepublik Laos

VON: Dr. Siri Paiboun

BETR.: Amtlicher Leichenbeschauer

DATUM: 13.06.1976

LEBENSLAUF:

1904 Plus/minus ein Jahr – das nahm man seinerzeit nicht so genau. Geboren in der Provinz Khammouan, angeblich als Sohn Hmong-stämmiger Eltern. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern.

1908 Ich werde zu einer bösen Tante abgeschoben, die mich …

1914 … der Obhut eines Tempels in Savannakhet und damit dem Wohlwollen des weisen Buddha überlässt.

1920 Abschluss der Tempelschule. Keine Glanzleistung.

1921 Die Buddha-Investition zahlt sich aus: Eine überaus großzügige französische Gönnerin schickt mich nach Paris, auf dass etwas aus mir werde. In Frankreich muss ich von neuem die Schulbank drücken, um zu beweisen, dass ich mir meine Zensuren nicht ergaunert habe.

1928 Besuch der Ancienne faculté de médecine

1931 In Paris eheliche ich Bouasawan und trete spaßeshalber in die Kommunistische Partei ein.

1934 Praktikum am Hôtel-Dieu-Krankenhaus. Ich beschließe, doch noch Arzt zu werden.

1939 Rückkehr nach Laos

1940 Spiel, Spaß und Spannung im Dschungel von Laos und Vietnam. Ich flicke kaputte Soldaten wieder zusammen und versuche, dem Bombenhagel zu entgehen.

1975 Ich komme in der Hoffnung auf einen friedlichen Lebensabend nach Vientiane.

1976 Ich werde von der Partei zwangsrekrutiert und zum amtlichen Leichenbeschauer ernannt. (Bei dem Gedanken an die mir zuteilgewordene große Ehre vergieße ich nicht selten heiße Tränen.)

Hochachtungsvoll
Dr. Siri Paiboun

INHALT

1. MÄRZ 1980 – HAARLOSE LANDUNG

2. SZENEN ZWEIER EHEN

3. DIE RATTENFÄNGER-OLYMPIADE

4. MISSION MOSKAU

5. MUMIENSCHANZ

6. DIE FREUNDE DES SOZIALISMUS GEHEN ZUM BALL

7. ALTE KAMERADEN

8. DAS DORF IN DER STADT

9. TRAUMFRAUEN

10. PLAYBOY MIT PENTHOUSE

11. DAS SPIEL AN SICH

12. ELVIS LEBT

13. SCHARFE BILDER

14. ZWANZIG-KILOMETER-BUMMELN

15. DER SCHIEFE MANN

16. SIND SO KLEINE BOXER

17. DER GROSSE KNALL

18. EIN DUTZEND MARX-LENIN-ARMBANDUHREN

19. RATZFATZ

20. ZUM GUTEN SCHLUSS

21. WAS WIRKLICH GESCHAH

Dtui fühlte ihm den Puls.
»Er lebt«, sagte sie. »Er lebt.«

1


MÄRZ 1980 – HAARLOSE LANDUNG

Es herrschte eine jener seltenen Phasen der Entspannung, die man in Laos sabai nannte. Das Wetter war freundlich, auf den Märkten gab es frische Lebensmittel, und die Kinder spielten auf der Straße, ohne Gefahr zu laufen, überrollt zu werden. Nichts bewegte sich schnell genug, um Blessuren verursachen zu können. Alles schien so friedlich und idyllisch, dass man darüber glatt vergessen konnte, was unter der Oberfläche lauerte – das Inferno des Unmöglichen. Mit dem man jedoch erst Bekanntschaft machte, wenn man die trügerische Harmonie zu stören sich anschickte. Beantragte man einen laissez passer, um eine sieche Tante in der Nachbarprovinz zu besuchen, musste man so lange warten, dass Tantchen längst das Zeitliche gesegnet hatte, wenn man die Bewilligung erhielt. Selbst wenn es einem gelungen war, einen Platz auf einer Wohnraumwarteliste zu ergattern, blieb die Aussicht auf ein Dach über dem Kopf gering, denn wer über die entsprechenden Beziehungen verfügte, hatte Vorrang. Und ein Klinikaufenthalt endete in den meisten Fällen nicht etwa mit der Genesung, sondern dem Ableben des Patienten.

Aber das war noch nicht alles. Darunter lag ein weiterer Kreis der Hölle, so finster und so bodenlos, dass kein Licht ihn erhellen und kein Lot seine Tiefe ermessen konnte. Eine Unterwelt, in der schon der Anschein antisozialistischer Aktivität genügte. Wo Nachbarn verschwanden, getreue Parteimitglieder wegen Hochverrats ihrer Ämter enthoben wurden und die blanke Paranoia regierte. Genosse Noo, der thailändische Waldmönch, hatte sich in dieses Zwischenreich locken lassen, aus dem es kaum je ein Zurück gab. Er war verschwunden und erst nach zwei Wochen wieder aufgetaucht. Und dabei handelte es sich mitnichten um ein übernatürliches Verschwinden, wie Dr. Siri Paiboun es in jüngster Zeit des Öfteren erlebte – eher um ein bürokratisches, wie ein Schriftstück oder eine Akte, die im System verschüttgegangen ist. Ein Verlorener im wahrsten Wortsinn, für den sich niemand verantwortlich fühlte.

Die meisten waren sich einig, dass der thailändische Genosse Noo in erster Linie Umweltschützer sei, ein Mann, der sich bis zum Hals in der Erde vergrub, um einen Nationalpark vor der Vernichtung durch Planierraupen und Schaufelbagger zu bewahren. Andere sahen in ihm vor allem den Journalisten, der die Misshandlung von Mönchen in einem sozialistischen Staat anprangerte. Und für die laotischen Behörden war er vermutlich nichts weiter als ein illegaler Einwanderer, ein Unruhestifter und religiöser Eiferer. Aber das würde auf ewig ihr Geheimnis bleiben, denn die Verwaltung tat, als kenne sie ihn nicht.

»Nein. Nie von ihm gehört.«

Was er tatsächlich getan hatte, spielte nicht die geringste Rolle, denn da er als Staatsfeind galt, war seine Vorgeschichte ohne jeden Belang. Die Partei hatte ihre Bluthunde, die nichts anderes taten, als Trophäen zu erbeuten, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Noo war eines schönen Tages auf sein Fahrrad gestiegen und von Schlägern der Armee gekidnappt worden. Es gab keine Anzeige, kein Gerichtsverfahren, keine Spuren. Sie hatten ihn einfach verschlungen, wie sie es mit allen taten, die sich gegen die Herrschenden zu stellen wagten. Doch aus irgendwelchen rätselhaften Gründen hatten sie ihn wieder ausgewürgt. Keiner seiner Freunde und Fürsprecher, die in dieser winzigen Betonzelle versammelt saßen, wusste, warum man ihn freigelassen hatte. So etwas war noch nie vorgekommen. Er war offensichtlich geschlagen worden und hatte sich beim Sturz von der Ladefläche des Lieferwagens schwer verletzt. Aber da er nach wie vor bewusstlos war, würden ihnen die Einzelheiten seiner Haft bis auf weiteres verschlossen bleiben. Seit drei Tagen bewegte er sich nun schon am Rand des Abgrunds, seine Wunden wollten sich nicht schließen, seine Knochenbrüche nicht verheilen, und er lag in einem tiefen Koma. Doch falls er starb, würde Genosse Noo nicht, wie so viele vor ihm, in Vergessenheit geraten. Er wurde geliebt und bewundert, und womöglich hatte er es allein dem festen Willen seiner Unterstützer zu verdanken, dass er noch am Leben war.

Schwester Dtui war da. Sie hatte seinen Puls gefunden, als er in jener Nacht vor Madame Daengs Nudelrestaurant vom Lastwagen geworfen worden war. Herr Geung war da. Seine geistige und körperliche Kraft überwand nicht selten alle Grenzen, die das Down-Syndrom ihm setzte. Er hatte den zerschmetterten Leib des Mönches die Treppe hinaufgetragen und auf die Matratze im ersten Stock gebettet. Tutka, seine Lebensgefährtin, war da, auch sie ein Mitglied des Geheimbundes derer mit Down-Syndrom. Sie war mit dem restauranteigenen Rad zur Mahosot-Klinik gefahren und mit Verbänden, Salben und Morphium zurückgekehrt, auch wenn niemand wusste, wie sie dieses Kunststück vollbracht hatte, ganz ohne Geld. Sie wollte es ihnen nicht verraten.

Schwester Dtui hatte ihr Bestes gegeben, aber sie war keine Ärztin. In der Klinik gab es vierzig approbierte Mediziner, doch denen traute sie nicht über den Weg. Der Einzige, der ihr wirklich helfen konnte, war Dr. Siri, der erste und letzte Leichenbeschauer des Landes.

»Und wo steckt er?«, fragte Gongjai, die geläuterte Prostituierte.

»So viel wir wissen, immer noch in Thailand«, antwortete Inthanet, der alte Puppenspieler.

»Wenn er hier wäre, wüsste er, was zu tun ist«, meinte Gongjai.

Ein Schweigen trat ein, so tief wie der Fluss.

»Dtui w-w-weiß, was zu tun ist«, sagte Herr Geung schließlich.

»Ich weiß«, sagte Gongjai. »’tschuldigung, ich wollte niemandem …«

»Schon gut«, sagte Dtui. »Auch ich wünschte, er wäre hier.«

Sie saßen im Vorderzimmer des Hauses, das Siri von der Regierung zugewiesen worden war, nur einen Steinwurf vom That-Luang-Denkmal entfernt. Unterdessen beherbergte das Gebäude so viele Gestalten, das man sie sich unmöglich alle merken konnte. Selbst der Doktor hatte die Übersicht verloren und brachte ständig ihre Namen durcheinander. Die Bewohner hatte er in den herzlosen Straßen und ideologischen Gossen der Stadt aufgelesen. Ihre einzige Gemeinsamkeit: Sie passten nicht ins System. Da war der Verrückte Rajid, der obdachlose Inder, der in den letzten vier Jahren nur drei Mal gesprochen hatte. Da war Inthanets vollschlanke Verlobte Jit, die in die Stadt geflohen war, um der Landwirtschaftskooperative zu entkommen, in der ihre Familie Hunger litt. Hier lebten Jung und Alt, Genie und Wahnsinn in trauter Zwietracht unter einem Dach. Zu dem kleinen Kreis rings um die Bettstatt des Patienten gehörten auch zwei Mönche, die eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, ohne zu erklären, wie sie vom Martyrium des Genossen Noo erfahren hatten.

Schwester Dtuis Töchterchen Malee schlief in ihrer Wiege, die ihr Vater Phosy selbst gezimmert hatte. Zumeist nahm auch er an diesen Kerzenwachen teil, doch heute Abend musste er in einem Fall ermitteln. Ein leitender Polizeibeamter kannte keine geregelten Arbeitszeiten.

Ebenfalls abwesend war Siris bester Freund, Genosse Civilai, seines Zeichens Ex-Politbüromitglied. Immer wenn die Ankunft einer Maschine aus Bangkok bevorstand, fuhr er mit seinem alten Citroën hinaus zum Flughafen Wattay, in der vagen Hoffnung, dass Siri und seine Gattin Madame Daeng einer der wenigen Lao-Aviation-DC3s entsteigen würden. Als ranghoher Parteifunktionär im Ruhestand durfte Civilai auf dem Rollfeld Posten und Position beziehen, gleich neben dem Einwinker, dessen Signale die russischen Piloten im Allgemeinen mit Nichtachtung straften.

Die Märznächte waren herrlich lau. Zwar ächzten sie noch immer unter der Last der drückend heißen Tage, doch die Luft war frisch und angenehm. An diesem Abend quoll Civilai der Schweiß aus allen Poren, als die 15-Uhr-40-Maschine aus Don Muang endlich zur Landung ansetzte. Es war nach acht. Der Gepäckträger rollte die Gangway zum Ausstieg, kletterte die Stufen hinauf und schlug mit der Faust gegen die Luke. Dann lief er die Stufen wieder hinunter und zerrte die Gangway vom Rumpf des Flugzeugs fort, damit die Stewardess die Tür öffnen konnte. Der Schlendrian, der Civilai tagtäglich begegnete, stellte ihn vor immer neue Rätsel.

Eine Reihe älterer Männer in dunklen Anzügen gingen als Erste von Bord. Sie wurden von kleinen Delegationen in Empfang genommen, die sie im Eilschritt zu wartenden Zil-Limousinen eskortierten. Es folgte eine Gruppe von Ausländern, ihrer unmodernen Kleidung nach zu urteilen osteuropäische »Experten«. Strenggenommen war ein Experte jemand, der mehr wusste als die Laoten, also praktisch die gesamte zivilisierte Welt, wie Civilai sich zähneknirschend eingestehen musste. Er beobachtete die Sowjets, Ostdeutschen und Polen, eine Handvoll Kubaner sowie den einen oder anderen vietnamesischen Berater, die quer über das Rollfeld auf die baufällige Ankunftshalle zuhielten. Sie waren zum Shopping nach Bangkok geflogen und trugen ihre Duty-free-Tüten prahlerisch zur Schau. Aber auch im laotischen Inland ließ es sich dieser Tage trefflich einkaufen, sofern man über das nötige Kleingeld verfügte, was leider kaum jemand von sich behaupten konnte. Die Grenzen nach Thailand waren offen, die Märkte voll, Konsumartikel überall zu haben. Und da die Einheimischen wussten, dass diese grenzübergreifende Romanze nicht allzu lange währen würde, hamsterten sie um die Wette, bevor die Schleusen wieder geschlossen wurden und die Warenflut versiegte.

Civilai wollte eben in die Ankunftshalle zurückkehren, als die letzten Passagiere die Maschine verließen. Ein seltsames Pärchen gaben die beiden ab. Sie standen auf der obersten Treppenstufe, winkten königlich und warfen Kusshände in die nicht vorhandene Menge. In ihren grellen Hosen und noch schrilleren Polohemden sahen sie wie Golfspieler aus. Am merkwürdigsten aber dünkte Civilai, dass sie völlig haarlos waren, glatt und kahl wie hartgekochte Eier. Dr. Siris dichte weiße Mähne und seine buschigen Augenbrauen waren verschwunden. Und auch Madame Daeng war von den Schultern bis zum Scheitel splitternackt. Was die beiden jedoch nicht weiter zu kümmern schien. Als sie Civilai erblickten, strahlten sie über alle vier Backen.

Mit dem verhaltenen Schwung eines Fünfundsiebzigjährigen stürzte Civilai auf seine Freunde zu, die mit ähnlich gebremsten Enthusiasmus die Gangway hinunterstiegen. Es folgte ein wirres Durcheinander von Küssen und Umarmungen.

»Bonsoir, mon copain«, sagte Siri.

»Ich habe ihm prophezeit, dass Sie uns abholen würden«, sagte Daeng.

»Und ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt«, sagte Siri.

»Ihr seht noch grotesker aus, als ich euch in Erinnerung hatte«, sagte Civilai und löste sich aus dem Knäuel von Extremitäten.

»Warum auch nicht?«, erwiderte Siri. »Schließlich wären wir um ein Härchen vor dem Erschießungskommando gelandet. Aber jetzt sind wir zurück in unserem geliebten Laos.«

»Und wir kommen nicht mit leeren Händen«, setzte Daeng hinzu und überreichte ihm einen Riegel Schokolade.

»Wie geht es Noo?«, fragte Siri.

»Seit unserem letzten Telefongespräch ist sein Zustand unverändert«, sagte Civilai. »Aber er lebt. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als ihr euch nicht mehr gemeldet habt.«

»Wir waren leicht verhindert«, sagte Siri. »Die Thais haben klammheimlich ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt. Sie haben unseren Steckbrief zwar nicht in allen Postämtern aufhängen oder gar in der Presse abdrucken lassen, dafür aber sämtliche Späher, Spitzel und Militärkontrollpunkte in Alarmbereitschaft versetzt. Weswegen auf dem Landweg natürlich kein Durchkommen mehr war.«

»Also sind wir geflogen«, ergänzte Daeng.

»Braucht man für internationale Flugreisen denn keinen Pass mehr?«, fragte Civilai.

»Das ist eine lange Geschichte, die sich am besten bei einem guten Schluck erzählen lässt«, sagte Daeng.

»Aber du hast ganz recht, es gebricht uns an gewissen Dokumenten, weshalb ich es unbedingt begrüßen würde, wenn wir um die Passkontrolle einen möglichst großen Bogen machen könnten.«

»Unsere Papiere sind, äh, nicht ganz echt«, ergänzte Daeng.

Sie ließen die Ankunftshalle links liegen und steuerten auf den VIP-Ausgang zu. Ein Wachposten, dessen Uniform ihm ein paar Nummern zu klein war, rief: »He, Genosse. Hier geht’s lang.« Er wies in Richtung Ankunftshalle. Civilai ignorierte ihn. Zwei Träger versuchten vergeblich, den vollbeladenen Gepäckwagen zu schieben, dessen Räder sich diametral gegenüberstanden. Es würde mehrere Tage dauern, bis die Passagiere ihre Koffer entgegennehmen konnten.

»Ihr habt hoffentlich kein Gepäck aufgegeben«, sagte Civilai.

Lächelnd tätschelten Siri und Daeng ihre Umhängetaschen. Sie würdigten den Wachmann am VIP-Ausgang keiner Silbe. Stattdessen funkelte Civilai ihn voller Verachtung an, worauf der Beamte die Tür eilfertig einen Spaltbreit öffnete. In Laos war Arroganz ein Ausweis der Macht.

Keine fünf Minuten später saßen sie im Wagen und nahmen Kurs auf That Luang. Civilai zog eine Flasche Chardonnay nebst Korkenzieher aus dem Handschuhfach.

»Sieht ganz so aus, als wären die Grenzen wieder offen«, sagte Daeng.

»Bei Importen haben wir alten Polithasen quasi das Vorkaufsrecht«, sagte Civilai. »Dieser gar köstliche Tropfen allerdings ist ein Präsent aus dem privaten Weinkeller der Familie des thailändischen Putschistenführers an das laotische Politbüro. Da meine unwerten Ex-Kollegen allesamt Weinverächter sind, haben sie mir eine ganze Kiste von dem Stöffchen überlassen. Bedauerlicherweise ungekühlt.«

Sie stießen auf ihre Rückkehr an.

»Ich glaube, ich habe eine Geschichte verdient«, sagte Civilai.

»In der Tat«, sagte Siri. »Und wie du wohl weißt, begann alles damit, dass wir in einem Ruderboot aus PVC über den Fluss gepaddelt sind und folglich schon auf dem Hinweg sämtliche Passkontrollen erfolgreich umgangen haben. Dann hatten wir in Udon zu tun.«

»Und zwar reichlich«, sagte Daeng.

»Ich erzähle die Geschichte«, sagte Siri.

»Entschuldige, mein Schatz.«

»Daeng hatte sich immer schon einmal Bangkok ansehen wollen«, fuhr Siri fort.

»Davon habe ich geträumt, seit ich ein kleines Mädchen war«, sagte Daeng. »Leider waren wir etwas knapp bei Kasse.«

»Um nicht zu sagen blank wie ein Babyhintern.«

»Also hatte mein Mann die genialische Idee, sich als der Oberste Patriarch auszugeben und zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Bangkok zu reisen.«

Civilai war so perplex, dass er den Wagen aus Versehen auf die Gegenspur lenkte. Was jedoch ohne Folgen blieb, denn um diese Zeit war weit und breit kein anderes Fahrzeug unterwegs.

»Nein!«, rief er.

»Doch«, sagte Daeng. »Sie hatten den echten Obersten Patriarchen erwartet, und wir haben ihn sozusagen unwürdig vertreten. Wir wussten ja, dass er nicht kommen würde. Ich spielte Siris persönliche Sekretärin-Schrägstrich-Nonne. Daher die fesche Frisur.«

»Und das haben sie euch abgenommen?«, fragte Civilai.

»Du glaubst gar nicht, was man sich alles erlauben kann, solange man die Erwartungen der Leute nur erfüllt«, sagte Siri.

»Und so kam ich doch noch in den Genuss meiner Stadtrundfahrt«, sagte Daeng. »Sowie einer Suite im Dusit Thani, mit sämtlichen Schikanen und allem Pipapo.«

»Und Schokolade«, ergänzte Siri.

Bei jedem anderen hätte Civilai derlei Räuberpistolen als lachhaft abgetan. Für Siri und Daeng hingegen hatten menschliche Regeln keine Gültigkeit.

»Moment mal«, sagte Civilai, »das hat nicht zufällig etwas mit Noos überraschender Freilassung zu tun?«

»Schwer zu sagen«, meinte Daeng.

»Das will ich doch stark hoffen«, sagte Siri. »Schließlich habe ich den Premierminister der Militärregierung persönlich um diesen winzigen Gefallen ersucht.«

»Ihr hattet eine Audienz beim Premierminister?«, fragte Civilai, und der Wagen geriet schon wieder ins Schlingern.

»Selbstverständlich«, sagte Siri. »Ich war der Oberste Patriarch. Er wollte, dass ich überlaufe und meine antisozialistische Haltung publik mache. Wie du weißt, ist der Kommunismus für das thailändische Militär ein, pardon, rotes Tuch.«

»Ihr seid wirklich und wahrhaftig nicht ganz bei Trost«, sagte Civilai, konnte sein Entzücken jedoch nur schwer verbergen.

»Merci«, sagte Siri.

»Und sie haben nicht einmal eure Papiere überprüft?«

»Wenn Margaret Thatcher einem Düsenjet entsteigt, kommt schließlich auch niemand angerannt, um ihren Pass zu kontrollieren«, sagte Siri.

»Aber es muss doch jemand bemerkt haben, dass zwischen dem Original und dir keinerlei Ähnlichkeit besteht.«

»Civilai, hättest du dich in safrangelbe Gewänder gehüllt und dir eine Nickelbrille aufgesetzt, hätte man dir denselben huldvollen Empfang bereitet. Die meisten Männer über siebzig sehen gleich aus.«

»Wenn sie euch auf die Schliche gekommen wären, hätte das euren sicheren Tod bedeutet.«

»Hach, wie romantisch. Bangkok sehen … und sterben«, seufzte Daeng.

»Wir haben Thailand keine Minute zu früh verlassen«, sagte Siri. »Unser Anruf bei dir war sozusagen unsere letzte Amtshandlung. Wir hatten eine Audienz beim Obersten Patriarchen Thailands, und der war dem unsrigen bereits ein paar Mal begegnet. Wir mussten also schnellstmöglich verschwinden. Wir borgten uns die Kleider des golfbesessenen japanischen Ehepaars, das die Suite unter uns bewohnte, überlisteten die Sicherheitsleute und tauchten im Trubel auf den Straßen Bangkoks unter.«

»Wir schlugen uns zur Khaosan Road durch«, sagte Daeng, »wo selbst der bunteste Rucksacktourist nicht weiter auffällt. Dort fanden wir einen freundlichen, aber überaus geschäftstüchtigen Chinesen, der versprach, uns binnen vierundzwanzig Stunden laotische Pässe zu besorgen. Wofür er ein Vermögen verlangte.«

»Das wir nicht hatten«, sagte Siri.

»Also sind wir noch in derselben Nacht in sein Büro eingestiegen und haben unsere Pässe und genug Geld für den Flug gestohlen«, sagte Daeng. »Dass er deswegen zur Polizei gehen würde, war eher unwahrscheinlich.«

»Et voilà, hier sind wir«, sagte Siri.

»Bravo«, sagte Civilai.

Obwohl Noo übel zugerichtet war, fiel Siris Prognose positiv aus.

»Wie es scheint, ist alles mehr oder weniger intakt und in betriebsfähigem Zustand«, sagte er. »Mehr als Dtui hätte ich auch nicht tun können.«

Die Hausbewohner klatschten Beifall.

»Und warum wacht er dann nicht auf?«, fragte die junge Mee.

Die Kleine hauste mit ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder und diversen anderen Illegalen unter Siris Dach. Es war nicht leicht, den Überblick zu behalten. Siri und Daeng hatten ihre staatlicherseits zugewiesene Residenz in so etwas wie ein Heim für Hilf- und Obdachlose umgewandelt, eine funktionierende Kommune im Herzen eines funktionsuntüchtigen kommunistischen Staates. Siri und Daeng selbst wohnten über ihrer Nudelküche.

»Der Fachmann nennt das ein Trauma«, sagte Siri. »Manchmal passieren so schreckliche Dinge, dass die Seele es nicht mehr ertragen kann. Sie macht quasi den Laden dicht und hängt ein ›Geschlossen‹-Schild ins Fenster. Der Genosse Noo ist da drin, und langsam, aber sicher erholt sich zwar sein Körper, aber sein Geist ist noch nicht so weit. Ich kann und möchte mir nicht vorstellen, was sie ihm angetan haben, aber Zeit braucht er jetzt mindestens genauso dringend wie Arznei.«

Bei sage und schreibe elf Flaschen laotischen Reiswhiskys sowie Bergen von Schweine-laap und scharfem Salat lauschten die Bewohner Siris und Daengs fantastischen Thailand-Abenteuern. Das Einzige, was das Pärchen ausließ, waren Geschichten von Besessenheit, Séancen und heißen Schlachten mit bösen Geistern, obwohl sie allesamt der Wahrheit entsprachen. Ebenso wie es bürokratische Höllenkreise des Unmöglichen gab, gab es übernatürliche Dimensionen, von deren Existenz gebildete, aufgeklärte Menschen im Westen keinen Schimmer hatten.

Der gemeine Laote, der in einer dörflichen Gemeinschaft aufgewachsen war, zweifelte indes keinen Augenblick am Sein und Wirken der Geister. Bei ihnen suchte er Trost, Rat und Vergebung. Selbst die Geschäftsleute in der Hauptstadt stellten Geisterhäuser auf, um die Ätherwesen zu besänftigen. Viele behaupteten, die Phantome mit eigenen Augen gesehen zu haben, doch nur wenige standen mit ihnen auf so vertrautem Fuß wie Dr. Siri. Trotz seiner wissenschaftlichen Ausbildung musste Siri wohl oder übel zugeben, dass es Geister wirklich gab. Auch wenn es ihm anders lieber gewesen wäre, war er ohne Zweifel besessen, von einem tausendjährigen Schamanen namens Yeh Ming. Der alte Hmong war mit Siri zwar noch nie in direkten Kontakt getreten, fungierte jedoch als eine Art Magnet für eine ganze Menagerie von Geistern, die im Leben des Doktors gleichsam aus und ein gingen. Dieser Zwiespalt zwischen Wissenschaft und Übernatürlichem faszinierte und verblüffte ihn zu gleichen Maßen.

Die Grundlagen der Kommunikation mit den Toten hatte Siri vor kurzem erst erlernt. Wenn er die Zeichen richtig deutete, würde er seine angeborenen Fähigkeiten eines Tages in den Griff bekommen. Aber er war fünfundsiebzig – fast sechsundsiebzig, um genau zu sein – und lebte in einem Land, dessen Einwohner die fünfzig nur selten überschritten. Allmählich fragte er sich, was eigentlich gegen das Totsein sprach. Es würde auf jeden Fall so einiges erleichtern. Denn: Gab es eine bessere Methode, mit den Geistern zu kommunizieren, als einer von ihnen zu werden?

Bis dahin war sein einziger funktionierender Geisterführer ein hitzköpfiger Transvestit und Wahrsager namens Tante Bpoo. Die beiden waren einander nicht besonders grün. Sie war ungehobelt und sarkastisch, und obwohl sie die Zukunft sehen konnte, behielt sie selbige für sich. Außerdem kritisierte sie den Doktor ständig, weil er als Medium nur schleppend Fortschritte machte.

In letzter Zeit pflegte Siri ungewohnten Umgang. Er suchte immer häufiger die Nähe von Heilern und Schamanen. So hatte er sich beim Besuch einer Hexe im Norden auf einen dubiosen Handel eingelassen, der sowohl für ihn selbst als auch für Daeng nicht ohne Folgen geblieben war. Die Frau braute Zaubertränke, die ein Gebrechen durch ein anderes ersetzten. Und so hatte sie Madame Daengs chronische Arthritis – zu Daengs Freude und Entzücken – mit einem Schwanz vertauscht. Wogegen Siri gar nichts einzuwenden hatte. Er fand ihren neuen Steißbeinfortsatz, ganz im Gegenteil, sogar erotisch.

Die Behandlung von Siris Problem – seinem Unvermögen, mit den Geistern in Kontakt zu treten – hatte hingegen zu ernsthaften Komplikationen geführt. Seit er das Hexenelixier getrunken hatte, verschwand er dann und wann und fand sich unversehens an Orten wieder, die nur in seiner Einbildung existierten. Wenn Daeng sich dann im Bett umdrehte, war der Platz neben ihr zwar warm, aber leer. Dennoch hatte er in letzter Zeit, wenn er nicht in derselben Dimension weilte wie seine Frau, Portale zur anderen Seite entdeckt. Er hatte festgestellt, dass ihre Bewohner glaubten, Siri komme seinerseits von »drüben«. Ziemlich verwirrend, das Ganze, nicht zuletzt für den Doktor, und alles andere als hilfreich, wenn es um sein Steckenpferd ging. Dr. Siri war nämlich ein äußerst gewiefter Hobbydetektiv, für den es, so sollte man jedenfalls meinen, von unschätzbarem Wert war, überall Geisterzeichen sehen zu können. Leider war es ihm bislang nur einmal gelungen, sie vor des Rätsels Lösung richtig zu deuten. Und so musste er auch weiterhin auf seine irdischen Fähigkeiten vertrauen und den oder die Täter nach der althergebrachten Methode seines Helden Inspektor Maigret dingfest machen.