Zum Roman
Zwei Monate Sabbatical: Nach einer katastrophalen Präsentation im Job wird Leena eine Auszeit verordnet. Ausgerechnet ihr, die Tag und Nacht arbeitet, um ihre verstorbene Schwester nicht zu vermissen. Zuflucht findet Leena bei ihrer Großmutter Eileen in Yorkshire. Eileen wünscht sich mit Ende 79 eine neue Liebe, nur leider ist die Auswahl an Kandidaten in ihrem kleinen Dorf begrenzt. Die Lösung: Leena kommt auf dem Land zur Ruhe, und Eileen stürzt sich in die Londoner Dating-Szene … Doch ist es wirklich eine so gute Idee, einfach die Leben zu tauschen?
Zur Autorin
Beth O’Leary schrieb ihren ersten Roman LOVE TO SHARE auf der täglichen Zugfahrt zu ihrem Job in einem Kinderbuchverlag und landete damit einen internationalen Bestseller. TIME TO LOVE ist ihr zweites Buch. Heute ist Beth freie Autorin und wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, macht sie es sich gerade irgendwo mit einem Buch, einer Tasse Tee und mehreren Wollpullovern (bei jedem Wetter) gemütlich. Sie lebt mit ihrem Partner und ihrem Hund auf dem Land nicht weit von London.
Beth O’Leary
TIME TO LOVE
Tausche altes Leben gegen neue Liebe
Roman
Aus dem Englischen
von Pauline Kurbasik und Babette Schröder
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Copyright © 2020 by Beth O’Leary
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
The Switch bei Quercus, London
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Übersetzung: Pauline Kurbasik (Leena),
Babette Schröder (Eileen)
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Favoritbüro GbR, München
Umschlagmotiv: © Sarah Wilkins
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-23570-3
V002
www.diana-verlag.de
Für Helena und Jeannine,
meine mutigen, großartigen
und inspirierenden Großmütter.
1
Leena
Ich finde, wir sollten tauschen«, erkläre ich Bee und recke mich, damit ich über meinen Computerbildschirm hinweg mit ihr reden kann. »Ich habe Schiss. Du solltest den Anfang machen, ich mache das Ende, und bis ich dann dran bin, bin ich nicht mehr so …« Ich fuchtele mit den Händen, um meinen geistigen Zustand zu verdeutlichen.
»Nicht mehr so am Herumzappeln?«, fragt Bee und schaut mich mit schräg gelegtem Kopf an.
»Komm schon. Bitte.«
»Leena. Meine liebe Freundin. Mein helles Licht. Meine Lieblingsnervensäge. Du bist viel besser als ich darin, mit Präsentationen anzufangen, und wir werden nicht jetzt, zehn Minuten vor dem Update für unseren wichtigsten Kunden und Stakeholder, die Reihenfolge ändern, so wie wir sie auch nicht bei der letzten Präsentation für den Vorstand oder bei der davor oder der davor verändert haben, denn das wäre einfach verrückt. Und ganz ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer, was sich auf den Folien am Anfang befindet.«
Ich lasse mich auf den Stuhl sinken. »Okay. Gut.« Dann schieße ich wieder empor. »Nur, dass mein Gefühl dieses Mal wirklich …«
»Mmmm«, sagt Bee und blickt nicht von ihrem Monitor auf. »Absolut. Es war noch nie schlimmer. Zitterig, schwitzige Handflächen, das volle Programm. Nur, dass du – sobald du angefangen hast – so charmant und brillant wie immer sein wirst und niemand etwas bemerken wird.«
»Aber was ist, wenn ich …«
»Das wirst du nicht.«
»Bee, ich glaube echt …«
»Ich weiß, dass du das tust.«
»Aber dieses Mal …«
»Nur noch acht Minuten, Leena. Versuch’s mal mit diesem Atemkram.«
»Welcher Atemkram?«
Bee hält inne. »Du weißt schon. Atmen?«
»Ach so, also einfach atmen? Ich dachte, du meintest irgendwelche Meditationstechniken.«
Sie schnaubt verächtlich. Dann entsteht eine Pause. »Du bist schon Hunderte Male mit schlimmeren Dingen fertiggeworden, Leena«, sagt sie.
Ich zucke zusammen, presse die Kaffeetasse fest zwischen die Handflächen. Die Angst umklammert meinen Magen, ich kann sie dort spüren – wie einen Stein, einen Knoten, etwas, das man mit einem Messer herausschneiden könnte.
»Ich weiß«, sage ich. »Ich weiß, das bin ich.«
»Du musst bloß dein Mojo zurückbekommen«, erklärt mir Bee. »Und das geht nur, wenn du im Ring bleibst. Okay? Komm schon. Du bist Leena Cotton, jüngste Senior Consultant bei Selmount Consulting – diese Frau sollte man 2020 im Auge behalten. Und …« Sie spricht leiser. »Bald schon – eines Tages, Chefin deiner eigenen Firma. Oder nicht?«
Ja schon. Nur, dass ich mich nicht wie diese Leena Cotton fühle.
Bee beobachtet mich jetzt, eine besorgte Stirnfalte gräbt sich zwischen ihre nachgezogenen Augenbrauen. Ich schließe die Augen und versuche, die Angst mittels meines Willens zu verbannen, was kurz auch funktioniert. Ich fühle mich wie ein Abklatsch des Menschen, der ich vor eineinhalb Jahren war, dieser Mensch hätte ohne mit der Wimper zu zucken eine solche Präsentation gehalten.
»Bee, Leena, seid ihr bereit?«, ruft uns der Assistent des CEO zu, während er durch das Büro von Upgo geht.
Ich stehe auf, mir ist schwummrig, mir wird übel. Ich halte mich an der Tischkante fest. Scheiße. Das ist neu.
»Alles okay?«, flüstert Bee.
Ich schlucke und presse die Hände so fest auf den Schreibtisch, dass meine Handgelenke schmerzen. Einen Augenblick lang glaube ich, ich schaffe das nicht – ich kann es einfach nicht, verdammt, ich bin so müde, doch dann überkommt mich wieder Mut.
»Auf jeden Fall«, antworte ich. »Wir rocken das.«
Eine halbe Stunde ist nun vergangen. Das ist eigentlich kein besonders langer Zeitraum. Man kann in der Zeit keine ganze Folge Buffy schauen und keine große Ofenkartoffel garen. Aber man kann seine Karriere unwiderruflich zerstören.
Ich hatte große Angst davor, dass genau das passiert. Seit über einem Jahr murkse ich mich durch meine Arbeit, mache Flüchtigkeitsfehler und übersehe Dinge, was normalerweise gar nicht meine Art ist. Mir kommt es vor, als würde ich seit Carlas Tod die andere Hand benutzen und alles mit links und nicht mehr mit rechts machen. Aber ich habe mir so viel Mühe gegeben und mich durchgebissen und wirklich geglaubt, ich würde damit durchkommen.
Doch dem ist anscheinend nicht so.
Ich habe ernsthaft gedacht, ich würde in diesem Meeting sterben. Ich hatte an der Uni schon einmal eine Panikattacke, aber die war nicht so schlimm wie diese hier. Ich habe nie einen derartigen Kontrollverlust erlebt. Es war so, als hätte sich die Angst befreit: Sie war kein enger Knoten mehr, sie wucherte, und die Ranken umschlangen meine Handgelenke und Knöchel und wanden sich um meinen Hals. Mein Herz schlug so schnell – schneller und schneller –, bis es sich nicht mehr wie ein Körperteil von mir anfühlte, sondern wie ein unkontrolliert flatternder kleiner Vogel, der in meinem Brustkorb gefangen war.
Eine falsche Umsatzzahl hätte man mir noch vergeben können. Aber nachdem das passiert war, wurde mir übel, und ich verwechselte noch eine und dann noch eine, und dann atmete ich zu schnell, und in meinem Kopf war nur noch … Kein Nebel, eher ganz helles Licht. Zu hell, um noch etwas zu sehen.
Als Bee eingriff und sagte: »Lass mich mal«, meinte jemand anderes gleichzeitig: »Komm schon, das ist lächerlich.«
Und als der CEO von Upgo Finance sagte: »Ich glaube, wir haben genug gesehen, meinen Sie nicht«, war ich schon weg. Ich krümmte mich, schnappte nach Luft und war mir sicher, ich würde bald sterben.
»Es ist alles in Ordnung«, sagt Bee jetzt, ihre Hand drückt meine fest. Wir haben uns in einer Telefonkabine in den Büros von Upgo versteckt; Bee hat mich hierhergeführt, ich hyperventiliere immer noch und schwitze mein Shirt voll. »Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung.«
Ich keuche, kann nicht ruhig atmen. »Selmount hat wegen mir den Upgo-Auftrag verloren, oder nicht?«, bringe ich hervor.
»Rebecca hat gerade einen Call mit dem CEO. Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung sein wird. Komm schon, atme einfach.«
»Leena?«, ruft jemand. »Leena, alles okay mit dir?«
Ich öffne die Augen nicht. Wenn ich einfach so verharre, war das vielleicht nicht die Stimme der Assistentin meiner Chefin.
»Leena? Ich bin’s, Ceci, Rebeccas Assistentin.«
Muah. Wie war sie so schnell hierhergekommen? Zum Büro von Upgo braucht man von Selmount mit der U-Bahn mindestens zwanzig Minuten.
»Oh, Leena, was für ein Durcheinander!«, sagt Ceci. Sie kommt zu uns in die Kabine und rubbelt mir unangenehm an den Schultern herum. »Du armes Ding. So ist’s gut, lass einfach alles raus.«
Ich weine eigentlich gar nicht. Ich atme langsam aus und schaue zu Ceci, die ein Couture-Kleid und ein besonders fröhliches Lächeln übergezogen hat, und erinnere mich zum hundertsten Mal daran, wie wichtig es ist, andere Frauen im Berufsleben zu unterstützen. Das glaube ich von ganzem Herzen. Nach dieser Prämisse lebe ich, und auf die Weise will ich es bis ganz nach oben bringen.
Aber auch Frauen sind nun mal nur Menschen. Und einige Menschen sind einfach schrecklich.
»Was können wir für dich tun, Ceci?«, fragt Bee durch zusammengepresste Zähne.
»Rebecca hat mich hierher geschickt, um nach dir zu sehen«, sagt sie. »Du weißt schon, wegen deines …« Sie wackelt mit den Fingern. »Deines kleinen Aussetzers.« Ihr iPhone summt. »Oh! Sie hat gerade eine E-Mail geschrieben.« Bee und ich warten angespannt. Ceci liest die Mail unmenschlich langsam.
»Und?«, fragt Bee.
»Hmm?«, sagt Ceci.
»Rebecca. Was hat sie gesagt? Hat sie … Haben wir den Auftrag wegen mir verloren?«, bringe ich heraus.
Ceci neigt den Kopf und hat den Blick immer noch auf ihr Telefon gerichtet. Wir warten. Ich spüre, wie wieder Panik in mir aufsteigt und mich zu verschlingen droht.
»Rebecca hat es geklärt – ist sie nicht unglaublich? Sie behalten Selmount bei diesem Projekt an Bord, sie waren alles in allem äußerst verständnisvoll«, sagt Ceci schließlich mit einem kleinen Lächeln. »Sie will dich jetzt sehen, also solltest du dich schnellstens in ihr Büro begeben, meinst du nicht?«
»Wo?«, bringe ich heraus. »Wo will sie sich mit mir treffen?«
»Hmm? Oh, in Zimmer 5c, in der Personalabteilung.«
Natürlich. Wo sonst würde sie mich feuern.
Rebecca und ich sitzen uns gegenüber. Judy aus der Personalabteilung sitzt neben ihr. Ich nehme es nicht als gutes Zeichen, dass Judy sich auf ihrer und nicht meiner Tischseite befindet.
Rebecca streicht sich das Haar aus dem Gesicht und blickt mich mit gequältem Mitleid an, was nur ein sehr schlechtes Zeichen sein kann. Sie ist tough, die Meisterin des Beendens von Meetings mitten im Meeting. Sie hat mir einmal gesagt, dass man die besten Ergebnisse nur erzielt, wenn man Unmögliches erwartet.
Wenn sie nett zu mir ist, heißt das im Grunde, dass sie aufgegeben hat.
»Leena«, setzt Rebecca an. »Alles okay mit dir?«
»Ja, natürlich. Mir geht es wirklich gut«, antworte ich. »Bitte, Rebecca, ich würde es gern erklären. Was in dem Meeting passiert ist, war …« Ich spreche nicht weiter, weil Rebecca abwehrend die Hand hebt und die Stirn runzelt.
»Schau mal, Leena, ich weiß, dass du diese Rolle sehr gut spielst und Gott weiß, dass ich dich dafür liebe.« Sie blickt kurz zu Judy. »Ich meine, Selmount weiß deine draufgängerische Macherinnenart zu schätzen. Aber lass uns zum Punkt kommen: Du siehst verdammt furchtbar aus.«
Judy hustet tonlos.
»Wir fragen uns, ob du vielleicht ein wenig erschöpft bist«, sagt Rebecca gleich anschließend. »Wir haben uns deine Personalakte angeschaut – weißt du noch, wann du zum letzten Mal Urlaub genommen hast?«
»Ist das … eine Fangfrage?«
»Ja, ist es, Leena. Denn im vergangenen Jahr hast du keinen Urlaub genommen.«
Rebecca starrt Judy an. »Etwas, das eigentlich nicht möglich sein sollte.«
»Ich habe dir doch schon gesagt«, zischt Judy, »dass ich nicht weiß, wie sie durchs Raster fallen konnte!«
Ich weiß, wie ich durchs Raster gefallen bin. Die Personalabteilung versichert immer glaubhaft, darauf zu achten, dass jeder seinen Jahresurlaub nimmt, allerdings schicken sie einem dann bloß zweimal im Jahr eine E-Mail, in der sie aufführen, wie viele Urlaubstage man noch übrig hat, und schreiben etwas Ermutigendes über »Wellness« und »unseren holistischen Ansatz« und »mehr offline sein, um sein Potenzial zu erhöhen«.
»Wirklich, Rebecca, mir geht es gut. Es tut mir sehr leid, dass mein – dass ich heute früh das Meeting unterbrechen musste, aber wenn du mich kurz erklären lassen würdest …«
Weiteres Stirnrunzeln und noch mehr abwehrende Handbewegungen.
»Leena. Es tut mir leid. Ich weiß, dass die Zeit unglaublich schwer für dich war. Dieses Projekt ist total stressig, und ich habe schon eine Zeit lang das Gefühl, wir haben dich dort falsch eingesetzt. Ich weiß, dass ich das normalerweise nur so dahinsage, aber deine Gesundheit ist mir wirklich wichtig, verstehst du? Deswegen habe ich mit den Partnern gesprochen, und wir werden dich vom Upgo-Projekt abziehen.«
Plötzlich zittere ich, ein lächerliches, übertriebenes Beben, mein Körper erinnert mich daran, dass ich immer noch keine Kontrolle über ihn habe. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber Rebecca ist schneller.
»Und wir haben außerdem entschieden, dass wir dich in den nächsten beiden Monaten in gar keinem Projekt mehr einsetzen«, spricht sie weiter. »Sieh es als Sabbatical. Ein zweimonatiger Urlaub. Du darfst erst wieder in die Selmount-Zentrale, wenn du ausgeruht und entspannt bist und nicht mehr wie jemand aussiehst, der ein Jahr in einem Kriegsgebiet verbracht hat. Okay?«
»Das ist unnötig«, sage ich. »Rebecca, bitte. Gib mir die Gelegenheit zu beweisen, dass ich …«
»Das ist verdammt noch mal ein Geschenk, Leena«, sagt Rebecca erschöpft. »Bezahlter Urlaub! Zwei Monate lang!«
»Ich will das nicht. Ich will arbeiten.«
»Wirklich? Denn dein Gesichtsausdruck sagt mir, dass du schlafen willst. Glaubst du, ich weiß nicht, dass du diese Woche jeden Tag bis zwei Uhr morgens gearbeitet hast?«
»Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich weniger arbeiten sollte – aber es gab eben einige …«
»Ich kritisiere dich nicht dafür, wie du deine Arbeit strukturierst, ich frage mich, wann zum Henker du dich mal ausruhst, meine Liebe.«
Judy hustet daraufhin noch einige Male leise. Rebecca blickt sie irritiert an.
»Eine Woche«, sage ich verzweifelt. »Ich nehme mir eine Woche frei, und wenn ich zurückkomme, werde ich …«
»Zwei. Monate. Ich diskutiere nicht darüber, Leena. Du brauchst das. Ich will dir nicht die Personalabteilung auf den Hals hetzen.« Beim letzten Satz nickt sie abschätzig in Judys Richtung. Judy zuckt zusammen, als hätte jemand vor ihr in die Hände geklatscht.
Ich bemerke, wie ich schneller atme. Ja, ich hatte ein paar Probleme, aber ich kann nicht zwei Monate freinehmen. Ich kann es einfach nicht. Bei Selmount ist ein guter Ruf alles, und wenn ich nach diesem Meeting dem Laden acht ganze Wochen lang den Rücken kehre, werde ich eine Lachnummer sein.
»In den acht Wochen ändert sich hier nichts«, erklärt mir Rebecca. »Okay? Wir sind immer noch hier, wenn du zurückkommst. Und du wirst immer noch Leena Cotton sein, die jüngste Senior, die am härtesten Arbeitende, der hellste Kopf von allen.« Rebecca blickt mich durchdringend an. »Jeder braucht mal eine Pause. Selbst du.«
Ich verlasse dieses Meeting, und mir ist schlecht. Ich dachte, sie wollten mich feuern und hatte mir Sätze über unfaire Kündigungen zurechtgelegt. Aber … Freizeit?
»Und?«, fragt Bee, die sich mir so überraschend in den Weg stellt, dass ich stolpernd anhalte. »Ich habe dir aufgelauert«, erklärt sie. »Was hat Rebecca gesagt?«
»Sie meinte, ich … müsse Urlaub nehmen.«
Bee schaut mich kurz an. »Lass uns gleich zum Mittagessen gehen.«
Während wir Touristen und Geschäftsleuten auf unserem Weg über die Commercial Street ausweichen, klingelt das Telefon in meiner Hand. Ich blicke auf das Display und taumele, renne fast in einen Mann, dem eine E-Zigarette wie eine Pfeife aus dem Mund hängt.
Bee blickt über meine Schulter auf den Bildschirm. »Du musst jetzt nicht drangehen. Du kannst es einfach klingeln lassen.«
Mein Finger schwebt über dem Symbol mit dem grünen Hörer. Ich rempele einen vorbeigehenden Mann im Anzug an; er meckert, während ich über den Bürgersteig stolpere und Bee mich stützen muss.
»Was würdest du mir raten, wenn ich jetzt in dieser Situation wäre?«, startet Bee einen Versuch.
Ich gehe ans Telefon. Bee seufzt und öffnet die Tür zu Watson’s Café, wo wir immer hingehen, wenn sich eine der spärlich gesäten Gelegenheiten ergibt, das Büro von Selmount zu einem Essen zu verlassen.
»Hi, Mum«, sage ich.
»Leena, hi!«
Ich zucke zusammen. Sie macht auf lässig, als hätte sie vor dem Anruf die Begrüßung geprobt.
»Ich will mit dir über Hypnotherapie reden«, erklärt sie.
Ich setze mich Bee gegenüber. »Wie bitte?«
»Hypnotherapie«, wiederholt Mum, dieses Mal etwas weniger überzeugend. »Hast du davon gehört? In Leeds bietet es jemand an, und ich glaube, das wäre was für uns, Leena, und ich dachte, vielleicht könnten wir bei deinem nächsten Besuch zusammen hingehen?«
»Ich brauche keine Hypnotherapie, Mum.«
»Dabei geht es nicht darum, Menschen zu hypnotisieren wie Derren Brown oder so. Es ist vielmehr …«
»Ich brauche keine Hypnotherapie, Mum.« Ich klinge scharf, ich höre an der darauffolgenden Stille, dass sie verletzt ist. Ich schließe die Augen und zwinge mich erneut, langsamer zu atmen. »Du kannst es gerne ausprobieren, ich möchte lieber nicht.«
»Ich denke nur, dass es uns vielleicht guttun würde, etwas gemeinsam zu unternehmen, es muss ja nicht unbedingt etwas Therapeutisches sein, aber …«
Mir fällt auf, dass sie die Vorsilbe »Hypno-« dieses Mal weggelassen hat. Ich streiche mir die Haare glatt, spüre die gewohnte steife Klebrigkeit des Haarsprays unter meinen Fingern und vermeide es, Bee anzusehen.
»Ich denke, wir sollten vielleicht irgendwo miteinander sprechen, wo … wir keine verletzenden Sachen sagen können. Wo wir in einen ausschließlich positiven Dialog treten können.«
Mums neustes Selbsthilfebuch sickert durch ihre Worte. Ich erkenne es an der vorsichtigen Verwendung des Passivs, dem gemäßigten Ton, dem positiven Dialog und den verletzenden Dingen. Aber als ich ins Wanken gerate, als ich einfach sagen will, ja, Mum, wenn es dir hilft und du dich besser fühlst, denke ich daran, wie meine Mutter Carla bei ihrer Entscheidung unterstützt hat. Wie sie es zuließ, dass sich meine Schwester für ein Ende der Behandlung entschieden hat, um – ja, um aufzugeben.
Ich denke, nicht einmal Hypnotherapie nach Derren Brown könnte mir bei der Verarbeitung helfen.
»Ich denke darüber nach«, sage ich. »Tschüss, Mum.«
»Tschüss, Leena.«
Bee beobachtet mich über den Tisch hinweg und gibt mir kurz Zeit, mich zu sammeln. »Alles okay?«, fragt sie schließlich. Bee hat im letzten Jahr mit mir beim Upgo-Projekt gearbeitet – sie hat mich also seit Carlas Tod jeden Tag gesehen. Sie weiß so viel über die Beziehung zu meiner Mum wie mein Freund, wenn nicht sogar mehr – ich bekomme Ethan nur an Wochenenden und unter der Woche ab und zu mal abends zu Gesicht, wenn wir es beide pünktlich aus dem Büro schaffen, wohingegen Bee und ich etwa sechzehn Stunden am Tag zusammen sind.
Ich reibe mir fest über die Augen, danach habe ich Mascarakrümel an der Hand. Ich muss völlig daneben aussehen. »Du hattest recht. Ich hätte den Anruf nicht annehmen sollen. Ich bin damit völlig falsch umgegangen.«
»Für mich hörte es sich so an, als hättest du alles gut gemacht«, sagt Bee.
»Bitte, sprich mit mir über etwas anderes. Etwas, das nichts mit meiner Familie zu tun hat. Oder mit der Arbeit. Oder mit etwas anderem ähnlich Desaströsen. Erzähl mir von deinem Date gestern.«
»Wenn du nichts Desaströses hören willst, sollten wir uns nach einem anderen Thema umschauen«, sagt Bee und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.
»O nein, so schlimm?«, frage ich.
Ich blinzele, um die Tränen zurückzuhalten, aber Bee brettert einfach weiter und tut so, als würde sie nichts bemerken.
»Widerlich trifft es besser. Ich wusste, dass er nicht infrage kommt, als er mich auf die Wange geküsst hat und ich nur ein ranziges, schimmliges Männerhandtuch gerochen habe, das er wohl zum Gesichtabtrocknen genommen hatte.«
Das funktioniert – das ist widerlich genug, um mich wieder in die Gegenwart zu katapultieren. »Ihh…«, sage ich.
»Er hatte ganz viel Schlaf im Auge, wie Augenrotz.«
»Oh, Bee…« Ich versuche, den richtigen Ton zu finden, um ihr mitzuteilen, sie solle Menschen nicht so schnell abschreiben, aber scheinbar kann ich keine beschwingten Reden halten, und die Handtuchgeschichte ist ja auch widerlich.
»Ich bin kurz davor, aufzugeben und mich bis in alle Ewigkeit als alleinerziehende Mutter durchzuschlagen«, sagt Bee und versucht, die Aufmerksamkeit des Kellners zu erlangen. »Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass Dating viel schlimmer ist als Einsamkeit. Wenn man alleine ist, hat man zumindest keine Hoffnung, oder?«
»Keine Hoffnung?«
»Ja. Keine Hoffnung. Das ist toll. Wir wissen alle, wie es um uns steht – wir sind allein auf die Welt gekommen und werden sie auch allein verlassen, und so weiter … Beim Dating allerdings dreht sich alles nur um Hoffnung. Dating ist eigentlich eine lange, schmerzhafte Übung darin, zu entdecken, wie enttäuschend andere Menschen sind. Jedes Mal, wenn man denkt, man hätte einen guten, aufrichtigen Mann gefunden …« Sie wackelt mit den Fingern. »Dann kommen schon die Mutterkomplexe und die zerbrechlichen Egos und die seltsamen Käse-Fetische.«
Endlich schaut der Kellner in unsere Richtung. »Wie immer?«, ruft er durch das Café.
»Ja! Mit Extrasirup auf ihren Pancakes«, ruft Bee zurück und zeigt auf mich.
»Hast du was von Käse-Fetisch gesagt?«, frage ich.
»Nur so viel: Ich habe Bilder gesehen, die mir Brie wirklich verleidet haben.«
»Brie?«, frage ich entsetzt. »Aber mein Gott, Brie ist so lecker! Wie könnte einem jemand Brie vermiesen?«
Bee tätschelt meine Hand. »Ich denke mal, das wirst du nie herausfinden müssen, meine Liebe. Also, wenn ich dich aufheitern soll, könnten wir doch auch über dein so perfektes Liebesleben reden, oder? Ethan wird doch sicher bald die Frage stellen, oder?« Sie sieht meinen Gesichtsausdruck. »Nein? Willst du da auch nicht drüber reden?«
»Ich spüre gerade nur …« Ich winke nervös ab, meine Augen brennen wieder. »Wie der Horror über mich hereinbricht. O Gott. O Gott. O Gott.«
»Wegen welcher Lebenskrise wendest du dich an den lieben Gott, nur damit ich Bescheid weiß?«, fragt Bee.
»Wegen der Arbeit.« Ich drücke mir die Fingerknöchel so fest gegen die Augen, dass es wehtut. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich zwei ganze Monate nicht arbeiten soll. Es ist, als hätten sie mich ein bisschen gefeuert.«
»Also, ich würde es eher als einen zweimonatigen Urlaub bezeichnen.«
»Ja, aber …«
»Leena, ich liebe dich, und ich weiß, dass du gerade viel um die Ohren hast, aber versuche auch mal, das Gute darin zu sehen. Denn es wird sehr schwer, dich weiter lieb zu haben, wenn du dich die nächsten acht Wochen über den zweimonatigen bezahlten Urlaub beschwerst.«
»Oh, ich …«
»Du könntest nach Bali fliegen! Oder den Regenwald im Amazonas erkunden! Oder um die Welt segeln!« Sie runzelt die Stirn. »Weißt du, was ich für diese Art von Freiheit geben würde?«
Ich schlucke. »Ja. Du hast recht. Sorry, Bee.«
»Ist schon gut. Ich weiß, dass es um mehr geht als die Zeit, in der du nicht arbeitest. Denk doch mal kurz an diejenigen unter uns, die ihren Jahresurlaub in einem Dinosauriermuseum voller Neunjähriger verbringen, okay?«
Langsam atme ich ein und aus und versuche, das zu mir durchdringen zu lassen. »Danke«, sage ich, während der Kellner zu unserem Tisch kommt. »Das musste mir mal jemand sagen.«
Bee lächelt mich an, dann schaut sie auf ihren Teller. »Weißt du«, sagt sie beiläufig, »du könntest die Zeit nutzen, um weiter an unserem Businessplan zu arbeiten.«
Ich zucke zusammen. Bee und ich planen schon seit einigen Jahren unser eigenes Consultingunternehmen – wir waren fast schon so weit, als Carla krank wurde. Nun hat sich alles etwas … verzögert.
»Ja«, antworte ich so fröhlich wie möglich. »Absolut.«
Bee zieht eine Augenbraue hoch. Ich lasse die Schultern hängen.
»Es tut mir so leid, Bee. Ich will es, wirklich, aber im Augenblick fühlt es sich unmöglich an. Wie wollen wir uns mit einem Unternehmen selbstständig machen, wenn es mir schon schwerfällt, meinen Job bei Selmount zu behalten?«
Bee kaut auf einem Bissen Pfannkuchen und sieht nachdenklich aus. »Okay«, sagt sie. »Dein Selbstbewusstsein hat in letzter Zeit arg gelitten, das verstehe ich. Ich kann warten. Aber selbst wenn du in den nächsten Wochen nicht an dem Businessplan arbeitest, solltest du sie dazu nutzen, um an dir zu arbeiten. Meine Leena Cotton spricht nicht darüber, dass sie ›einen Job behält‹, als wäre das das Beste, was sie machen kann, und sie nimmt ganz sicher nicht das Wort ›unmöglich‹ in den Mund. Und ich will meine Leena Cotton zurück. Deswegen«, sie zeigt mit dem Messer auf mich, »hast du nun zwei Monate Zeit, sie mir zurückzubringen.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
Bee zuckt die Schultern. »›Sich selbst finden‹ ist nicht so sehr meine Stärke. Ich gehe an das Thema nur theoretisch ran – du hingegen musst liefern.«
Das bringt mich zum Lachen. »Danke, Bee«, sage ich plötzlich und greife nach ihrer Hand. »Du bist so toll. Wirklich. Du bist phänomenal.«
»Mmm, nun. Erkläre das bitte den Single-Männern aus London, meine Liebe«, sagt sie, tätschelt mir die Hand und nimmt dann wieder ihre Gabel.
2
Eileen
Vier wundervolle lange Monate ist es nun her, dass mein Mann sich mit der Leiterin unseres Tanzkurses davongemacht hat, und bis zu diesem Moment habe ich ihn nicht ein einziges Mal vermisst.
Mit zusammengekniffenen Augen mustere ich das Glas mit der Spaghettisoße auf dem Sideboard. Mein Handgelenk lärmt vor Schmerz, nachdem ich eine Viertelstunde versucht habe, den Deckel aufzudrehen, aber ich gebe nicht auf. Manche Frauen leben ihr ganzes Leben lang allein und essen trotzdem Lebensmittel aus Gläsern.
Wütend mustere ich die Spaghettisoße und rede mir gut zu. Ich bin neunundsiebzig Jahre alt. Ich habe ein Kind geboren. Ich habe mich an eine Planierraupe gekettet, um einen Wald zu retten. Ich habe Betsy widersprochen, als es um die neuen Parkvorschriften auf der Lower Lane ging.
Ich kann dieses Glas mit Spaghettisoße öffnen.
Von der Fensterbank aus beobachtet Dec, wie ich in der Küchenschublade nach etwas suche, das die Aufgabe meiner zunehmend nutzlosen Finger übernehmen könnte.
»Du hältst mich für eine verrückte, alte Frau, stimmt’s?«, sage ich zu der Katze.
Dec schlägt mit dem Schwanz. Es ist ein sardonisches Schlagen. Alle Menschen sind verrückt, sagt diese Bewegung. Du solltest dir ein Beispiel an mir nehmen. Ich lasse meine Gläser öffnen.
»Na, sei bloß froh, dass dein Essen für heute Abend in einer Tüte ist«, sage ich und schwinge einen Spaghettilöffel in seine Richtung. Eigentlich mag ich Katzen nicht besonders. Wir haben die beiden im letzten Jahr auf Wades Wunsch hin angeschafft. Nachdem er jedoch Miss Cha-Cha-Cha kennengelernt hatte und ihm Hamleigh auf einmal zu klein wurde, verlor er das Interesse an Ant und Dec und fand, Katzen wären etwas für alte Menschen. Du kannst sie behalten, sagte er mit großzügiger Geste. Sie passen besser zu deinem Lebensstil.
Arroganter Dreckskerl. Er ist älter als ich – wird im September einundachtzig. Und was meinen Lebensstil angeht … Nun ja. Wart’s nur ab, Wade Cotton. Wart’s nur ab.
»Hier wird sich einiges ändern, Declan«, erkläre ich der Katze und schließe die Finger um das Brotmesser hinten in der Schublade. Dec blinzelt träge und gibt sich unbeeindruckt, doch als ich mit beiden Händen das Messer hebe, um es in den Deckel des Glases zu rammen, macht er große Augen und verschwindet aus dem Fenster. Mit einem kleinen Ha! stoße ich das Messer in den Deckel. Ich brauche ein paar Versuche, wie ein Amateurmörder in einem Agatha-Christie-Stück, doch nun lässt sich der Deckel problemlos drehen. Triumphierend summe ich vor mich hin und fülle den Inhalt in einen Topf.
So. Sobald die Soße aufgewärmt ist und die Nudeln gar sind, setze ich mich mit meinem Abendessen an den Tisch und gehe die Liste durch.
Basil Wallingham
Pro:
– wohnt gleich die Straße runter – nicht weit zu gehen
– eigene Zähne
– hat noch genug Schwung, um Eichhörnchen vom Vogelfutter zu verscheuchen
Kontra:
– unglaublich langweilig
– trägt immer Tweed
– wäre gut möglich, dass er Faschist ist
Mr. Rogers
Pro:
– erst 67
– noch volles Haar (sehr beeindruckend)
– tanzt wie Pasha bei Let’s Dance (noch beeindruckender)
– freundlich zu allen, auch zu Basil (was am beeindruckendsten ist)
Kontra:
– äußerst religiös. Sehr fromm. Wahrscheinlich langweilig im Bett?
– kommt nur einmal im Monat nach Hamleigh
– interessiert sich nur für Jesus
Dr. Piotr Nowak
Pro:
– Pole. Wie aufregend!
– Arzt. Praktisch, wenn man krank wird
– ein sehr interessanter Gesprächspartner und außerordentlich gut im Scrabble
Kontra:
– deutlich zu jung für mich (59)
– ziemlich sicher noch in seine Exfrau verliebt
– sieht ein bisschen aus wie Wade (nicht seine Schuld, aber beunruhigend)
Ich kaue langsam vor mich hin und nehme den Stift in die Hand. Ich habe diesen Gedanken den ganzen Tag verdrängt, aber … ich sollte wirklich alle ungebundenen Männer im richtigen Alter berücksichtigen. Schließlich habe ich auch Basil aufgeführt, oder?
Arnold Macintyre
Pro:
– wohnt nebenan
– das richtige Alter (72)
Kontra:
– widerlicher Kerl
– hat meinen Hasen vergiftet (bislang nicht bewiesen, zugegeben, aber ich weiß, dass er es war)
– hat meinen Baum beschnitten, der voller Vogelnester war
– verdirbt der Welt jede Freude
– verspeist vermutlich Katzen zum Frühstück
– stammt wahrscheinlich von Menschenfressern ab
– hasst mich fast so sehr wie ich ihn
Nach einem Moment streiche ich stammt wahrscheinlich von Menschenfressern ab, weil ich seine Eltern da nicht mit hineinziehen will – was weiß ich, sie könnten ganz reizend gewesen sein. Den Punkt mit den Katzen lasse ich jedoch stehen.
Fertig. Eine vollständige Liste. Ich lege den Kopf schief, doch aus diesem Winkel sieht sie genauso trostlos aus. Ich muss der Wahrheit ins Auge sehen: das Angebot in Hamleigh-in-Harksdale mit seinen einhundertachtundsechzig Einwohnern ist sehr mager. Wenn ich in meinem Alter noch einen Partner finden möchte, muss ich den Kreis erweitern. Zum Beispiel bis rüber nach Tauntingham. Tauntingham hat mindestens zweihundert Einwohner, und es ist nur dreißig Minuten mit dem Bus entfernt.
Das Telefon klingelt. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es ins Wohnzimmer.
»Hallo?«
»Grandma? Hier ist Leena.«
Ich strahle. »Warte, ich setze mich eben.«
Ich lasse mich in meinem Lieblingssessel nieder, dem grünen mit dem Rosenmuster. Dieser Anruf ist stets der beste Teil des Tages. Auch wenn es schrecklich traurig war, als wir nur von Carlas Tod gesprochen haben – oder über alles, nur das nicht, weil es zu schmerzhaft war –, selbst damals haben mich Leenas Anrufe aufgebaut.
»Wie geht’s dir, Schätzchen?«, frage ich.
»Gut, und dir?«
Ich kneife die Augen zusammen. »Dir geht’s nicht gut.«
»Ja, es ist mir nur so rausgerutscht, tut mir leid. Wie wenn jemand niest und man ›Gesundheit‹ sagt.« Ich höre sie schlucken. »Grandma, ich hatte – ich hatte im Büro eine Panikattacke. Man hat mir eine zweimonatige Auszeit verordnet.«
»Ach, Leena!« Ich presse die Hand aufs Herz. »Aber dass du ein bisschen freihast, ist nicht schlecht«, füge ich schnell hinzu. »Eine kleine Pause von allem wird dir guttun.«
»Die setzen mich auf die Ersatzbank. Ich war nicht in Form, Grandma.«
»Nun, das ist verständlich, wenn man überlegt …«
»Nein«, sagt sie, und ihre Stimme bricht, »ist es nicht. Gott, ich … ich habe es Carla versprochen. Ich habe gesagt, ich würde mich nicht davon aufhalten lassen, dass ich sie verliere, und sie hat immer gesagt … Sie hat immer gesagt, sie wäre so stolz, aber jetzt bin ich …«
Sie weint. Ich klammere mich in meine Strickjacke wie Ant oder Dec, wenn sie auf meinem Schoß sitzen mit ihren Krallen. Schon als Kind hat Leena fast nie geweint. Anders als Carla. Wenn Carla aufgebracht war, riss sie die Arme in die Luft, das personifizierte Unglück, wie eine Schauspielerin in einem dramatischen Theaterstück – es war schwer, nicht zu lachen. Doch Leena machte nur ein finsteres Gesicht, senkte den Kopf und sah unter ihren langen dunklen Wimpern vorwurfsvoll zu einem hoch.
»Ach was, Schätzchen. Carla hätte gewollt, dass du Urlaub nimmst«, erkläre ich.
»Ich weiß, ich sollte es als Urlaub betrachten, aber das kann ich nicht. Es ist einfach … Es macht mich fertig, dass ich es vermasselt habe.«
Ich nehme die Brille ab und reibe mir den Nasenrücken. »Du hast es nicht vermasselt, Schätzchen. Du bist gestresst, das ist alles. Warum kommst du nicht hoch und bleibst übers Wochenende? Bei einem Becher heißer Schokolade sieht alles gleich viel besser aus. Und wir können uns anständig unterhalten. Hier oben in Hamleigh kannst du mal eine kleine Pause von allem machen …«
Es folgt langes Schweigen.
»Du warst schrecklich lange nicht mehr hier«, sage ich vorsichtig.
»Ich weiß. Tut mir leid, Grandma.«
»Ach, schon in Ordnung. Du bist gekommen, als Wade mich verlassen hat. Dafür war ich dir sehr dankbar. Und ich bin froh, dass meine Enkelin mich so oft anruft.«
»Aber Telefonieren ist nicht dasselbe, das weiß ich. Und es hat nichts damit zu tun, dass ich … Weißt du, ich würde dich wirklich gern besuchen.«
Kein Wort über ihre Mutter. Bevor Carla gestorben ist, ist Leena mindestens einmal im Monat gekommen, um Marian zu besuchen. Wann hat dieser schreckliche Kleinkrieg zwischen ihnen bloß ein Ende? Ich umschiffe das Thema stets sorgsam – ich will mich nicht einmischen, das geht mich nichts an. Aber …
»Hat deine Mutter dich angerufen?«
Wieder langes Schweigen. »Ja.«
»Wegen der …« Wofür hat sie sich am Ende entschieden? »Hypertherapie?«
»Hypnotherapie.«
»Ach ja.«
Leena sagt nichts. Sie ist eisern, unsere Leena. Wie wollen die beiden nur jemals wieder zueinanderfinden, wenn beide so verdammt stur sind?
»Okay. Ich halte mich da raus«, sage ich in die Stille.
»Tut mir leid, Grandma. Ich weiß, wie schwer das für dich ist.«
»Nein, nein, mach dir um mich keine Sorgen. Aber überleg doch mal, ob du übers Wochenende herkommst. Es ist schwer, dir aus dieser Entfernung zu helfen, Schätzchen.«
Ich höre sie schniefen. »Weißt du was, Grandma? Ich komme. Das hatte ich sowieso demnächst vor, und … und ich würde dich schrecklich gern sehen.«
»Na also!« Ich strahle. »Das wird schön. Ich koche eins deiner Lieblingsgerichte und erzähle dir den neuesten Klatsch. Roland ist auf Diät, weißt du? Und Betsy hat versucht, sich das Haar zu färben, aber das ist schiefgelaufen. Ich musste sie mit einem Geschirrhandtuch um den Kopf zum Friseur fahren.«
Leena schnaubt vor Lachen. »Danke, Grandma«, sagt sie nach einem Moment. »Du weißt immer, wie du mich aufmuntern kannst.«
»Das machen Eileens«, sage ich. »Sie kümmern sich umeinander.« Das hatte ich früher als Kind immer zu ihr gesagt – Leena heißt mit vollem Namen auch Eileen. Marian hat sie nach mir benannt, als wir Anfang der Neunziger alle dachten, ich würde an einer schweren Lungenentzündung sterben. Als klar war, dass ich doch noch nicht das Zeitliche segnen würde, wurde es mit den Namen etwas verwirrend, und so wurde Leena zu Leena.
»Hab dich lieb, Grandma«, sagt sie.
»Ich dich auch, Schätzchen.«
Nachdem sie aufgelegt hat, merke ich, dass ich ihr nicht von meinem neuen Projekt erzählt habe. Ich verziehe das Gesicht. Ich hatte mir fest vorgenommen, es ihr beim nächsten Anruf zu erzählen. Es ist mir nicht gerade peinlich, dass ich nach einem Partner suche. Aber junge Leute finden es in der Regel lustig, wenn alte Leute sich verlieben wollen. Sie meinen es nicht böse, sie denken nicht darüber nach, so wie man über Kinder lacht, die sich wie Erwachsene benehmen, oder über Ehemänner, die versuchen den Wocheneinkauf zu übernehmen.
Ich gehe zurück ins Esszimmer und sehe dort auf meine traurige kleine Liste von infrage kommenden Männern aus Hamleigh. Jetzt erscheint mir das alles ziemlich unbedeutend. Ich denke nur noch an Carla und versuche, mich abzulenken – mit Basils Tweedsakkos, Dr. Piotrs Exfrau – aber es hat keinen Zweck, also setze ich mich und gebe mich meinen Erinnerungen hin.
Ich sehe Carla als kleines Mädchen mit wildem Lockenkopf und aufgeschürften Knien vor mir, das die Hand ihrer Schwester umklammert. Ich sehe sie als junge Frau im verwaschenen Greenpeace-T-Shirt, zu dürr, aber grinsend und voller Energie. Und dann denke ich an die Carla, die in Marians Wohnzimmer gelegen hat. Abgemagert und verhärmt, die mit all ihrer Kraft gegen den Krebs ankämpfte.
So sollte ich sie nicht beschreiben, als hätte sie schwach gewirkt – sie war immer noch ganz Carla, immer noch voller Feuer. Selbst bei Leenas letztem Besuch, nur wenige Tage vor ihrem Tod, hat sie ihrer großen Schwester die Stirn geboten.
Sie lag in ihrem Krankenhausbett, das ein paar nette Leute vom Gesundheitsdienst eines Abends mit erstaunlicher Geschicklichkeit in Marians Wohnzimmer aufgebaut hatten. Sie waren schon wieder weg, ehe ich ihnen überhaupt eine Tasse Tee anbieten konnte. Marian und ich standen im Eingang. Leena saß neben dem Bett in einem Sessel, den wir einmal dort hingestellt und nicht wieder verrückt hatten. Das Zentrum des Wohnzimmers bildete nun nicht länger der Fernseher, sondern das Bett mit dem cremefarbenen Gitter auf beiden Seiten der Matratze. Mit einer grauen Fernbedienung konnte man die Höhe verstellen, wenn Carla aufrecht sitzen wollte. Immer war dieses Ding unauffindbar irgendwo unter der Decke vergraben.
»Du bist unglaublich«, sagte Leena mit tränenfeuchten Augen zu ihrer Schwester. »Ich finde, du bist … du bist unglaublich, so tapfer und …«
Schneller als ich es ihr in diesem Zustand zugetraut hatte, streckte Carla die Hand aus und boxte ihre Schwester gegen den Arm.
»Hör auf. Wenn ich nicht sterben würde, würdest du so etwas nie sagen«, behauptete sie. Auch wenn ihre Stimme schwach und trocken klang, konnte man die Belustigung heraushören. »Du bist jetzt viel netter zu mir. Das ist schräg. Es fehlt mir, dass du mir vorwirfst, ich würde mein Leben vergeuden.«
Leena schreckte zurück. »Ich habe nicht …«
»Schon okay, Leena, ich will dich doch nur ärgern.«
Leena bewegte sich unruhig im Sessel, und Carla verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Ach, Mensch. Damals hatte ich mich an den Anblick ihres Gesichts ohne Augenbrauen gewöhnt, doch ich weiß noch, wie fremd es zuerst gewirkt hat – in gewisser Weise fremder als der Verlust ihrer langen braunen Locken.
»Schon gut, schon gut. Ich bin jetzt ernst«, sagte sie.
Sie sah zu Marian und mir und nahm dann Leenas Hand, ihre Finger waren so blass gegen Leenas gebräunte Haut.
»In Ordnung? Ernstes Gesicht machen.« Carla schloss einen Moment die Augen. »Ich wollte dir etwas sagen, weißt du? Etwas Ernstes.« Dann öffnete sie die Augen und richtete den Blick auf Leena. »Weißt du noch, wie wir zelten waren? In dem Sommer, als du von der Uni zurück warst? Und wie du meintest, mit Unternehmensberatung könnte man die Welt verändern, und ich gelacht habe? Und wie wir uns dann über Kapitalismus gestritten haben?«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Leena.
»Ich hätte nicht lachen sollen.« Carla schluckte und verzog vor Schmerz das Gesicht – sie kniff leicht die Augen zusammen, ihre ausgetrockneten Lippen zitterten. »Ich hätte dir zuhören und dir sagen sollen, dass ich stolz auf dich bin. In gewisser Weise prägst du die Welt – du machst sie besser, und die Welt braucht Menschen wie dich. Ich will, dass du es all diesen spießigen alten Männern zeigst. Gründe deine eigene Firma. Hilf den Menschen. Und versprich mir, dass du dich nicht davon aufhalten lässt, dass du mich verlierst.«
Daraufhin schluchzte Leena mit hochgezogenen Schultern. Carla schüttelte den Kopf.
»Leena, hör auf, ja? Herrgott, das kommt dabei heraus, wenn man ernst ist! Muss ich dich erst wieder boxen?«
»Nein«, sagte Leena und lachte unter Tränen. »Nein, bitte nicht. Das hat echt wehgetan.«
»Also. Eins muss dir klar sein: Jedes Mal, wenn du dir eine Gelegenheit entgehen lässt, jedes Mal, wenn du dich fragst, ob du etwas wirklich schaffen kannst, jedes Mal, wenn du überlegst, irgendetwas aufzugeben … boxe ich dich aus dem Jenseits.«
Und das war Carla Cotton.
Sie war temperamentvoll, und sie war albern, und sie wusste, dass wir es ohne sie nicht schaffen konnten.