Das Buch
Die USA in den 1960er-Jahren: Harry Turner, ein geradezu fanatischer Verehrer von H. P. Lovecraft, verliebt sich in die Buchhändlerin Margaret. Sie heiraten, gründen eine Familie und leben in bescheidenen, aber glücklichen Verhältnissen, obwohl Margaret immer wieder von nächtlichen Schreckensvisionen heimgesucht wird, die direkt aus Lovecrafts Horrorgeschichten stammen könnten. Auch die drei Kinder Sydney, Eunice und Noah werden ständig von Albträumen geplagt. Selbst an Harry gehen die grausamen Bilder nicht vorüber, und so beschließt er eines Tages, auf seinem Grundstück ein Geisterhaus zu bauen, und zwar das größte und unheimlichste, das Amerika je gesehen hat. Was ihm leicht gelingt, denn die Monster, die darin ihr Unwesen treiben, sind echt. Der Einzige, der diese Tatsache akzeptiert, ist Noah. Als er eines Tages den Ungeheuern die Tür öffnet, wird das Leben der Turners zum Albtraum …
Der Autor
Shaun Hamill wurde in Arlington, Texas, geboren und verbrachte seine Kindheit mit jeder Menge Horrorromane und -filme. Er machte 2008 seinen Abschluss in Englischer Literatur an der University of Texas und absolvierte 2016 erfolgreich den renommierten Iowa Writers’ Workshop. Das Haus der finsteren Träume ist sein Debütroman. Shaun Hamill ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in den dunklen Wäldern Alabamas.
Shaun Hamill
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Jürgen Langowski
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
A COSMOLOGY OF MONSTERS
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Deutsche Erstausgabe 05/2020
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright © 2019 by Shaun Hamill
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung eines Motivs von alx_rmnwsky / Shutterstock
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-23644-1
V001
www.heyne.de
Dieses Buch widme ich meiner Mutter Patricia Hamill,
meiner Mentorin Laura Kopchick
und meiner Frau Rebekah H. Hamill.
Er war ein Mensch, der unser Innerstes auszuleben verstand. Irgendwie gelang es ihm, in die Schatten vorzustoßen, die tief in uns liegen, unsere geheimsten Ängste zu packen und sie auf die Leinwand zu werfen. Lon Chaneys Geschichte ist die Geschichte einer unerwiderten Liebe. Er bringt diesen Anteil in uns zum Vorschein, weil wir alle fürchten, nicht geliebt zu werden, weil wir fürchten, nie mehr geliebt zu werden, und weil wir fürchten, wir hätten etwas Groteskes an uns, von dem die Welt sich nur abwenden könne.
Ray Bradbury
Nachdem er eingeschlafen war, befiel ihn ein noch nie dagewesener Traum von riesigen Zyklopenstädten aus titanischen Blöcken und vom Himmel gestürzten Monolithen, die vor grünem Schlamm troffen und unheilvolle Schrecken bargen. Wände und Säulen waren von Hieroglyphen bedeckt, und von unten, unbestimmbar von wo, war eine Stimme erklungen, die keine Stimme war; eine chaotische Sensation, die nur der fantastischste Wahnsinn in Laute übersetzen konnte, die er durch die fast nicht aussprechbare Unordnung von Buchstaben, durch »Cthulhu fhtagn« wiederzugeben suchte.
H. P. Lovecraft, Cthulhus Ruf
Als ich sieben Jahre alt war, begann ich damit, die Abschiedsbriefe meiner älteren Schwester Eunice zu sammeln. Ich bewahre sie bis heute in einem schwarzen Schnellhefter in der untersten Schreibtischschublade auf. Sie gehörten zu den wenigen Dingen, die ich mitnehmen durfte, und ich habe sie in den letzten Monaten oft gelesen, als ich Trost, Weisheit oder wenigstens einen kleinen Fingerzeig dafür suchte, dass ich für uns alle die richtigen Entscheidungen getroffen habe.
Irgendwann fand Eunice heraus, dass ich ihre Briefe aufhob, und begann damit, sie direkt an mich zu richten. In einem meiner liebsten Abschiedsbriefe schreibt sie: »Noah, so etwas wie ein Happy End gibt es nicht. Es gibt nur gute Gelegenheiten zum Aufhören.«
Meine Familie ist eine Katastrophe, wenn es ums Aufhören geht. Mit solchen Situationen können wir nicht würdevoll umgehen. Mit Anfängen kommen wir allerdings auch nicht gut zurecht. Das erste Viertel dieser Geschichte habe ich beispielsweise erst vor Kurzem erfahren. Als Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich mich wie Jervas Dudley vor der versiegelten Grabstätte unserer Familiengeschichte herumgetrieben. Wer immer Sie auch sind, genau diesen Kummer will ich Ihnen ersparen. Damit dies gelingt, muss ich im Herbst 1968 am äußersten Rand der Schatten, die über meiner Familie liegen, mit meiner großen, hellhäutigen und rothaarigen Mutter Margaret Byrne beginnen.
Wie ich selbst war auch meine Mutter in der Ehe ihrer Eltern eine Nachzüglerin. Im Gegensatz zu mir konnte sie jedoch die Vorzüge eines wohlhabenden Elternhauses genießen. Ihr Vater Christopher Byrne arbeitete bei Dillard’s als Einkäufer für Damenmode und unterhielt eine enge persönliche Beziehung zum Inhaber William T. Dillard.
Margaret kannte ihren Vater nicht sehr gut; sie hielt ihn für einen adretten Fremden, der nach Zigaretten roch und von seinen Reisen nach New York immer Geschenke mitbrachte – meist Originalaufnahmen der Broadway-Musicals, die er dort gesehen hatte –, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Sie wuchs in einem Vorort von Memphis, Tennessee in einem geräumigen Haus auf, verfügte dauerhaft über ein großzügig bemessenes Taschengeld und bekam schöne Kleider, Autos sowie zu gegebener Zeit einen Studienplatz an der Alma Mater ihrer Eltern: an der Tilden University, einem kleinen, christlich-konservativen Institut in Searcy, Arkansas.
Über Geld musst du dir niemals Sorgen machen, sagte Margarets Mutter ihr, und im Jahre 1965 schien das der Wahrheit zu entsprechen. Mein Großvater war bei Dillard’s so erfolgreich, dass er, als meine Mutter sich 1966 am College immatrikulierte, seine Anstellung im Kaufhaus aufgeben und einen eigenen Laden eröffnen konnte. Im Winter 1967 gingen die Geschäfte jedoch schlecht, und im Sommer 1968, als Margaret die Ferien daheim verbrachte, musste die Mutter ihr mitteilen, dass das Geschäft Bankrott gemacht hatte. Die Byrnes konnten ihr noch ein Jahr lang die Ausbildung bezahlen, mussten ihr aber das Auto, das Taschengeld und das Geld für die Unterkunft streichen.
Als Margaret ihre Eltern darauf aufmerksam machte, dass sie mindestens noch zwei Jahre brauchte, um den Bachelor in Anglistik zu erhalten, ganz zu schweigen vom angestrebten Master in Bibliothekswissenschaft, sagte ihre Mutter: »Ich würde vorschlagen, dass du die Arbeit an deinem MRS-Status beschleunigst, ehe du dir über den BA den Kopf zerbrichst.«
Einigermaßen eingeschüchtert bemühte Margaret sich, aus der unmöglichen Situation das Beste zu machen. Als sie im Herbst nach Searcy zurückkehrte, nahm sie einen Job bei Bartleby’s an, dem einzigen Buchladen des Ortes, und mietete ein Zimmer bei dessen Inhaberin Rita Johnson, deren einzige Religion das geschriebene Wort war und die sich politisch eher an Betty Friedan als an Richard Nixon orientierte. Mrs. Johnson lebte in einem gemütlichen zweistöckigen Haus in Campus-Nähe, verlangte an Miete kaum mehr als ein Almosen und stellte so gut wie keine Regeln auf. Es war ihr egal, wie lange Margaret aufblieb, solange sie keine Jungs in den ersten Stock mitnahm. Außerdem durfte Margaret nach Belieben den Fernseher und den Plattenspieler benutzen, solange sie den Ton nicht zu laut aufdrehte.
Diese neuen Freiheiten waren eine abrupte, fast erschreckende Veränderung gegenüber den strengen Regeln des Studentenwohnheims. Eigentlich hatte Margaret gar nicht auf die Tilden gehen wollen, wo man moralische Verpflichtungserklärungen unterschreiben und zwangsweise am Sonntagmorgen den Gottesdienst besuchen musste. Sie hatte sich nur dort eingeschrieben, weil es die einzige Universität war, für die ihr Vater zahlen wollte. In der Hoffnung auf den Collegeabschluss, einen Beruf und ein eigenständiges Leben hatte sie die frommen Rituale über sich ergehen lassen. Jetzt, bei Mrs. Johnson, bekam sie einen Vorgeschmack, wie dieses Leben aussehen könnte.
Margaret liebte ihr neues Quartier, die neue Freiheit und vor allem das schwache Licht und die schmalen Gänge im Bartleby’s. Es gefiel ihr, die Neuerscheinungen einzusortieren, Bücher nach Themen geordnet auszustellen und den Kunden, den verwandten Geistern, dabei zu helfen, die passenden Geschichten zu finden. Den einzigen Makel ihres Arbeitslebens bildete ein junger Mann namens Harry, der zweimal in der Woche vorbeikam und Fragen stellte, deren Antworten er ihrer Ansicht nach sowieso schon kannte: Wer schrieb Große Erwartungen? Wo stehen hier die Biografien? Stets bedankte er sich bei Margaret für die Informationen, doch unabhängig von dem, was ihn angeblich interessierte, trieb er sich in der Science-Fiction-Abteilung herum und las die Bücher, ohne jemals auch nur ein einziges zu kaufen.
Er war jung, etwa in Margarets Alter, und sie nahm an, dass er wie sie an der Tilden studierte. Sie fragte sich, wie er die Zeit fand, so viel zu lesen und trotzdem noch zum College zu gehen. Und wenn er schon die Tilden besuchte, konnte er es sich vermutlich auch leisten, die Bücher zu kaufen. Warum also hing er hier herum? Es ging ihr auf die Nerven, doch wann immer sie ihn darauf ansprach, stellte er das Buch einfach zurück ins Regal, entschuldigte sich und ging.
Eine Zeit lang arbeitete sie zweiunddreißig Stunden die Woche im Laden, besuchte den Unterricht und lernte in der Freizeit. Diese Einteilung erwies sich jedoch als unerwartet schwierig. Die Arbeit, selbst die relativ leichte Tätigkeit in der Beschaulichkeit bei Bartleby’s, war anstrengend. Nach einer vollen Schicht taten ihr die Füße weh, und ihr Kopf fühlte sich an wie ein ausgewrungener Schwamm. Danach wollte sie sich nur noch auf Mrs. Johnsons Sofa legen und fernsehen. Wenn sie sich abends doch einmal überwand und lernte, wurde es ein langsamer, mühsamer und von Wiederholungen geprägter Prozess. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, und musste viele Abschnitte (oder gar einzelne Sätze) mehrmals lesen, um wenigstens andeutungsweise deren Sinn zu erfassen. Die ganze Zeit über war sie müde und verschlafen, sie versäumte den Unterricht und reichte Hausarbeiten zu spät oder gar nicht ein. Ende September waren ihre Noten schlechter denn je.
Ihr Sicherheitsnetz, das ihre Mutter ihr so spöttisch eingeflüstert hatte, der Status als »Mrs.«, erschien in Gestalt von Pierce Lombard, der wie sie das Seminar über Europäische Kulturgeschichte belegt hatte. Der große dürre Bursche mit einem Kurzhaarschnitt, der seit zehn Jahren aus der Mode war, den dicken Lidern und den dunklen Ringen unter den Augen wirkte ewig schläfrig und sah ein Jahrzehnt älter aus, als er tatsächlich war (zwanzig), doch er lud Margaret mindestens einmal in der Woche ein, und er stammte aus einer Hähnchendynastie. Wenn man Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts irgendwo im Süden der USA im Supermarkt einkaufte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ein Hähnchen von Lombard erwarb. Manchmal versuchte Pierce, Margaret die Branche zu erklären, doch jedes Mal, wenn er damit anfing, schweiften ihre Gedanken ab.
Sie gingen nicht oft ins Kino, weil Pierce die meisten Filme nicht mochte (er war selbst nach den Maßstäben der Tilden sehr konservativ und gläubig), und wenn sie doch einmal hingingen, saß er wie in Habachtstellung da und lächelte, aber lachte nie. Manchmal beobachtete Margaret im Dunkeln lieber ihn, als den Film anzuschauen. Jetzt sah er aus wie dreißig. Wie mochte er in zehn oder zwanzig Jahren aussehen, wenn der Druck auf den Erben des Hähnchenimperiums allmählich seine Spuren hinterließ?
Er war höflich, hielt ihr immer die Tür auf und sagte »bitte« und »danke«. Wenn sie mit seinem Mercedes irgendwohin zum Knutschen fuhren, wirkten seine Küsse mathematisch berechnet, um genau auf der Grenze zwischen Leidenschaft und guten Manieren zu bleiben, während er sie an der Hüfte, am Bauch und im Gesicht berührte. Margaret war ein »braves Mädchen«, immer noch Jungfrau und stellte sich vor, die wahre Liebe müsse wie ein heftiger und gefährlicher Kampfsport sein. Etwas, das man auf Eisenbahngleisen oder auf dem Waldboden tat. Zwei Körper, die miteinander rangen, um der Reinheit des Geistes Ausdruck zu verleihen. Sie fragte sich, ob Pierce, der ebenfalls ein »braver Junge« war, darauf wartete, dass sie spirituelle Verbundenheit zeigte, ehe er diese Art Leidenschaft an den Tag legte. Eines Abends Anfang Oktober griff sie ihm in den Schritt und drückte kräftig. Er fuhr auf, stieß sie weg und zog sich zur anderen Seite des Fahrersitzes zurück.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.
»Weil ich es wollte«, antwortete sie.
»Darum geht es nicht«, erwiderte er. »Wir sollten das nicht tun.«
Danach fuhr er sie heim und küsste sie nicht zum Abschied.
Sie hatte immer angenommen, Religion sei etwas, das man in höflicher Gesellschaft tat, aber nicht im Privatleben. Den Unsinn, dem man sich sonntags unterwarf, konnte doch niemand tatsächlich glauben. Pierce war ein Junge. Sollte er sie nicht ein wenig bedrängen und herausfinden, was sie ihm gerade noch durchgehen ließ? Glaubte wirklich irgendjemand, Jesus Christus interessierte sich auch nur einen Dreck dafür, was sie mit ihren Geschlechtsteilen anstellten? Pierce sollte doch überglücklich sein, dass sie ein wenig Interesse an seinem Penis gezeigt hatte, oder nicht?
Nachdem Margaret ihn begrabscht hatte, rief er nicht mehr an und suchte sich im Kursraum und im Gottesdienst immer einen Platz, der möglichst weit von ihrem entfernt war. Die neu gefundene Freizeit trug allerdings nicht dazu bei, dass ihre Noten besser wurden. Sie fiel nacheinander bei drei Prüfungen durch. Als der Mathematiklehrer ihr die Halbjahresprüfung mit einer fetten Sechs auf dem Titelblatt zurückgab, murmelte er: »Miss Byrne, reißen Sie sich zusammen.«
Sie empfand eine vage Wut, weil alles so unfair war. Warum bekam sie Probleme, wenn ihr Vater ein schlechter Geschäftsmann war? Warum war sie dafür zuständig, eine vertrottelte Schnarchnase zu überreden, ihren Körper zu genießen? Wie sollte man denn unter diesen Umständen Erfolg haben?
An dem Tag, als sie die Mathematikprüfungsarbeit zurückbekam, nahm sie die Wut in ihre Schicht bei Bartleby’s mit. Mrs. Johnson erfasste die emotionale Großwetterlage und teilte sie dazu ein, allein die Science-Fiction-Abteilung zu bestücken. An sich wäre das in Ordnung gewesen, doch Harry hockte mit dem Rücken zum Regal mitten im Gang und hatte ein aufgeschlagenes gebundenes Buch auf den Knien. Direkt über seinem Kopf hing das Schild: »Dies ist kein Lesesaal!«
Mit verschränkten Armen funkelte sie ihn an. Durch das Fenster hinter ihr schien die Sonne herein, und ihr Schatten wanderte den Gang hinab, bis Harry im Dunkeln hockte.
»Hallo, Margaret«, sagte er und lächelte sie an. »Haben Sie vielleicht etwas von Philip Roth?« Als sie das Lächeln nicht erwiderte, fragte er: »Was ist los?«
»Können Sie lesen?«, gab sie zurück. »Verstehen Sie die Worte auf den Seiten, die Sie umblättern? Oder sind Sie nur hier, weil Sie für die Passanten klug aussehen möchten?«
»Ich kann lesen«, antwortete er.
»Warum können Sie dann nicht …« Sie riss das Schild mit dem Hinweis, dass dies kein Lesesaal sei, vom Regal ab und wollte es ihm vor die Nase halten. Das dünne Papier flatterte wie ein fallendes Herbstblatt zwischen ihnen und sank schlaff auf den Boden. Harry beobachtete es, bis es gelandet war, und sah sie erneut an.
»Was kann ich?«
»Warum können Sie nicht … Sie … wenn Sie es lesen, müssen Sie es kaufen!« Sie packte ihn an der Schulter. »Aufstehen!«
Von ihrem Wutausbruch überrascht, gehorchte Harry und ließ sich widerstandslos von Margaret zu Mrs. Johnson an der vorderen Theke führen. Das Buch hielt er offen in den Händen.
»Harry möchte bezahlen«, sagte Margaret. Sie schubste ihn zur Kasse.
Er warf ihr einen gequälten Blick zu, legte jedoch das Buch auf die Theke. Es war ein großer glänzender Band, wie man ihn vielleicht auf dem Kaffeetisch zur Schau stellte.
Mrs. Johnson nahm das Buch und betrachtete das Preisschild auf dem vorderen Einband. »Sind Sie sicher, Harry?«
Er grunzte zustimmend. Mrs. Johnson bediente die Kasse. Er schnitt eine Grimasse, als er den Preis sah, zückte jedoch die verschlissene, rissige Geldbörse und zahlte. Mrs. Johnson steckte das Buch in eine Tragetasche. Er bedankte sich murmelnd und ging.
Sie wartete, bis er draußen war, ehe sie sich an Margaret wandte. »Was war das denn jetzt?«
»Nichts weiter«, antwortete Margaret.
»Wirklich nichts oder nichts, über das Sie reden wollen?«
»Das können Sie sich aussuchen, Mrs. Johnson.«
»Junge Dame, hüten Sie Ihre Zunge!«
Margaret machte sich wieder daran, die Regale aufzustocken. Im Laufe der Schicht flaute der Ärger ab und verflog, bis sie sich selbst über ihren heftigen Ausbruch wunderte. Einige Einzelheiten fielen ihr immer wieder ein. Dinge, die sie vorher nie bei Harry bemerkt hatte: der ausgefranste Ärmel am Button-down-Hemd, wo der Stoff nach viel zu vielen Waschgängen ausfaserte, die ausgebleichten Knie der Jeans, ein leicht fettiger Geruch, den sie nicht einordnen konnte, der aber alles zu durchdringen schien, wenn man ihm nahe kam.
Am Ende ihrer Schicht empfand sie eine dumpfe Scham, die sich noch verstärkte, als sie sah, dass Harry auf dem Parkplatz auf sie wartete. Er hockte im Schneidersitz auf der Haube eines verbeulten alten Chevys und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Derart alte Autos sah man kaum auf dem Campus. Vielleicht war er ein Stipendiat? Oder er versuchte wie sie, seine Ausbildung mit eigener Arbeit zu finanzieren. Mit heißem Gesicht überwand sie sich und ging zu ihm.
»Das Buch war ziemlich teuer«, sagte er.
»Sie können es zurückbringen. Wenn Sie die Quittung haben, bekommen Sie das Geld zurück.«
Er schnitt eine Grimasse. »Das könnte ich Mrs. Johnson nicht antun. Sie ist immer so nett zu mir.«
»Soll ich es bezahlen?« Schon suchte sie die Geldbörse in der Handtasche.
Er bewegte den Kopf hin und her, als sei er mit sich selbst uneins. »Ich wollte heute Abend ins Kino. Wenn Sie wirklich etwas in Ordnung bringen wollen, könnten Sie die Karten kaufen.«
»Ich soll mit Ihnen ins Kino gehen?«
»Ich fahre«, sagte er. »Sie kaufen die Tickets.«
»Was wollen Sie denn anschauen?«
»In Little Rock ist gerade Rosemary’s Baby angelaufen«, erklärte er.
Margaret hatte von dem Film gehört. Der Prediger hatte ihn letzte Woche in der Kirche mit gewaltigen, aufregenden Begriffen geschmäht. Blasphemisch, vulgär, grässlich. Jeder Schüler, der den Film sah (oder den Roman von Ira Levin las, auf dem er beruhte), würde von der Schule verwiesen. Aber weder Dr. Landons Warnung noch den Zetteln, die überall auf dem Campus hingen, konnte man Einzelheiten über den Film entnehmen. Warum war er so vulgär? Und warum blasphemisch?
Hätte Margaret noch im Wohnheim gelebt, dann hätte sie nicht einmal darüber nachgedacht. Doch Mrs. Johnson würde sie nicht verraten. Die Inhaberin von Bartleby’s war der Ansicht, alle Geschichten sollten allen Menschen ohne Rücksicht auf irgendwelche Moralvorstellungen zugänglich sein. Sie wäre stolz darauf gewesen, dass Margaret sich selbst ein Bild machen wollte.
Allerdings war Little Rock fünfzig Meilen von Searcy entfernt, und Margaret hatte die Chemieaufgaben noch nicht erledigt, was sie Harry auch sagte.
»Ich fahre auf dem Hinweg und dem Rückweg extra schnell«, versprach er ihr.
Sie betrachtete ihren schlichten Pullover und den Rock, den sie schon am Morgen im Unterricht getragen hatte. Nicht gerade ein herausragendes Ensemble für ein erstes Date, aber es ging schließlich um Wiedergutmachung und nicht um Romantik. Die Kleidung half sogar, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.
»Dann lassen Sie uns fahren«, willigte sie ein.
Es war ein Horrorfilm mit dem Mädchen aus Glut unter der Asche über ein junges Ehepaar, das in eine neue Wohnung zog und von den älteren, scheinbar sehr zugewandten Satanisten nebenan umgarnt wurde. Margaret kaufte die Karten, Harry bezahlte Popcorn und Limonade. Während des Films berührten sich ihre Finger einige Male im Popcornbecher, doch Harry versuchte nicht, ihre Hand zu halten oder sie in den Arm zu nehmen. Vielmehr starrte er entrückt die Leinwand an.
Der Film arbeitete nicht mit billigen Schockeffekten, sondern war auf einer tiefen, urerlebnishaften Ebene verstörend. Margaret identifizierte sich mit der Hauptdarstellerin, die von ihrem Mann und den Nachbarn herumgestoßen und isoliert und vom Teufel vergewaltigt wurde, bis sie völlig hilflos war und nichts mehr sein konnte außer der Mutter eines Sprösslings aus einer unheiligen Vereinigung. Als Rosemary das Baby in der schwarzen Wiege schaukelte und der Nachspann lief, saß Margaret benommen auf ihrem Platz. Durfte ein Film wirklich so enden? Nachdem der Teufel triumphiert hatte und die Heldin besiegt war?
Der Bann des Films hielt an, bis Harry auf dem Parkplatz das Schweigen brach. »Wenn wir uns beeilen, kann ich Sie um halb elf zu Hause absetzen.«
Margaret ließ sich von ihm den Wagenschlag aufhalten und betrachtete sein Gesicht. Er hatte eine große Nase, einen kleinen Mund und ein spitzes Kinn, dichte und dunkle Augenbrauen über braunen Augen. Auf einer Party hätte sie ihn von der anderen Seite des Raumes aus kaum bemerkt, aber er war angenehm und charmant. Die Dunstschleier des Films verflogen.
»Wollen wir etwas essen?«, fragte sie. »Ich verhungere.«
»Ich könnte auch etwas gebrauchen«, antwortete er.
Er fuhr mit ihr zu einem McDonald’s-Restaurant, das nur ein paar Blocks entfernt und anscheinend das einzige geöffnete Lokal der Stadt war. Als sie ausstiegen, nahm Margaret den Beutel von Bartleby’s mit, der zwischen ihnen lag.
»Ich möchte mir ansehen, was mich heute Abend so viel Lernzeit gekostet hat«, erklärte sie.
»Vielleicht warten Sie lieber bis nach dem Essen, ehe Sie sich darin vertiefen«, sagte Harry. »Es ist ziemlich krass.«
Er bat sie, sich einen Platz zu suchen, während er bestellte. Sie entschied sich für eine Nische an einem Fenster, zog das Buch hervor und legte es flach auf den Tisch: Visionen Cthulhus: Illustrationen nach H. P. Lovecraft. Das Titelbild zeigte ein großes, grässliches Scheusal, annähernd von menschlicher Gestalt, mit dicken, muskulösen grünen Armen und Beinen. Die Hände und Füße liefen in langen Krallen statt in Fingern und Zehen aus. Es hatte einen Kopf wie ein Tintenfisch, der einem Albtraum entsprungen schien, klobig und mit vielen Augen sowie einer Unmenge Tentakel, die bis über den Brustkorb und den gewaltigen runden Bauch des Wesens herabhingen. Auf dem Rücken entsprangen zwei gezackte, irgendwie zerbrechlich wirkende Flügel. Margaret fragte sich, wie ein so übergewichtiges Geschöpf überhaupt fliegen konnte.
»Ich hoffe, Sie haben immer noch Appetit auf diese Sachen.« Harry stand mit einem Tablett mit Burgern, Fritten und Mineralwasser neben ihr.
Margaret tippte auf den Bucheinband. »Ist das Cthulhu?« Sie sprach es wie Kit-huluh aus und entnahm seinem Lächeln, dass sie den Namen falsch ausgesprochen hatte.
»So stellt ihn sich ein Künstler vor, ja«, antwortete er. »Man sagt übrigens Kah-thu-lu.«
Sie zog das Buch zu sich herüber und schuf Platz, damit er das Essen servieren konnte. »Er sieht nicht beängstigend aus. Nur irgendwie eklig wie die Monsterversion eines fetten Buddhas in einem Chinarestaurant.«
Er lachte und neigte den Kopf, um das Bild näher zu betrachten. »Ja, das trifft es irgendwie.«
»Soll er denn beängstigend sein?«
Er setzte sich ihr gegenüber. »In der Geschichte ist er furchtbar. Aber vielleicht ist das eines dieser Dinge, die man nicht in Worte kleiden kann, ohne etwas Wesentliches zu verlieren. Möglicherweise funktioniert es nur in der Fantasie.«
Sie öffnete das Buch, schlug aufs Geratewohl eine Seite auf und entdeckte das Abbild eines anderen Ungeheuers. Dieses Exemplar besaß keine klaren Konturen und war eher amorph, im Grunde ein Fleischbrocken mit vier schwarzen Augen und einem glühenden, wie eine Vulva geformtem Maul voller spitzer Zähne. Auf dem Rücken saß ein Gestrüpp von Tentakeln. Das Wesen schwebte zwischen den Sternen, ein Stern im Vordergrund wirkte daneben winzig.
»Und das ist sein Freund?«, fragte sie.
»Azathoth.« Er nahm einen Cheeseburger und wickelte ihn aus.
Mit einem gewissen Widerstreben klappte Margaret das Buch zu und legte es neben sich auf den Sitz. Sie zupfte eine Fritte aus einer fettigen kleinen Tüte auf dem Tablett. »Demnach beruht jedes Bild in dem Buch auf einer Geschichte von diesem Lovecraft?«
Harry nickte kauend.
»Das ist ein dickes Buch«, fuhr sie fort. »Anscheinend hat er ziemlich viele Monster erfunden.«
Harry hielt sich eine Hand vor den Mund und antwortete, ehe er alles hinuntergeschluckt hatte. »Eine ganze Menge, ja. Und sie stehen alle miteinander in Verbindung.«
»Heißt das etwa, sie sind verwandt wie Familienangehörige?«
Er schluckte und trank etwas Mineralwasser. »Einige von ihnen schon. Ich meinte damit aber eher, dass sie in ein und derselben Welt existieren. So ähnlich wie die Filme, wo Dracula auf Frankensteins Monster trifft, verstehen Sie?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kenne nur den Film, in dem Abbott und Costello dem Wolfsmenschen begegnen.«
»Das ist im Grunde das Gleiche. Sie leben alle in einem Reich und atmen dieselbe Luft. Genau wie viele Bücher von William Faulkner in ein und demselben Land spielen.«
»Haben Sie diesen Vergleich mal im Englischunterricht erwähnt?«
»Schon länger nicht mehr«, antwortete er. »Ich habe meine Lektion gelernt.«
»Die Lehrer mochten es wohl nicht, was?«
Er setzte an, als wollte er etwas sagen, schob sich aber nur eine Fritte in den Mund.
Kurz vor Mitternacht hielten sie vor Mrs. Johnsons Haus an, saßen im Auto und wussten nicht recht, was sie sagen sollten.
»Also«, begann Harry schließlich, »danke für den Film.«
»Danke, dass Sie ein teures Buch gekauft haben«, erwiderte Margaret. »Wir stehen Ihnen immer gern zu Diensten.« Sie lachte über ihren eigenen Scherz. Es klang ein wenig schrill und zu laut.
Er starrte geradeaus und lächelte schief. »Dann sehen wir uns wohl im Laden.«
»Gute Nacht, Harry.« Sie rutschte hinüber und küsste ihn auf die Wange. Sie war rau von nachgewachsenen Bartstoppeln.
Dann stieg sie aus, lief die Zufahrt hinauf und überlegte, ob sie erleichtert oder froh war, dass er nichts versucht hatte. Dieser Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als ihr die Hausaufgaben einfielen – sie hatte mit der Arbeit zur amerikanischen Literatur noch nicht einmal angefangen, und die chemischen Reaktionsgleichungen waren alles andere als gelöst.
»He!«
Sie drehte sich um. Harry lief ihr hinterher, er hatte etwas in der Hand. Einen halben Schritt vor ihr blieb er stehen und reichte ihr ein kleines Taschenbuch mit rissigem Rücken: Das Grab und andere Kurzgeschichten von H. P. Lovecraft. Der Einband war schwarz mit weißer Schrift, und darauf prangte das Gesicht eines Mannes, dessen Stirn in der Mitte gespalten war. Aus dem Inneren des Kopfes, wo das Gehirn hätte sein sollen, krabbelten rote Käfer.
»Sie können es ja mal probieren«, bot Harry an. »Meine Mutter hat mir das Buch zum dreizehnten Geburtstag geschenkt.«
Margaret nahm es entgegen. »Danke, das klingt nett …«, setzte sie an. Er unterbrach sie, indem er den letzten Schritt machte, die Hände auf ihre Wangen legte und sie küsste. Ehe Margaret überhaupt begriff, wie ihr geschah, war es schon wieder vorbei. Er trabte zum Auto zurück, während sie verblüfft die Treppe zum Haus hinaufstieg, mit den Schlüsseln nestelte und sich wünschte, sie hätte einen Burger ohne Zwiebeln bestellt.
Margaret blieb die ganze Nacht auf und las Das Grab, als sei in dem Buch mit seinen Genies, den Verrückten und den fast unbeschreiblichen Schrecken ein Schlüssel verborgen, der ihr half, diesen jungen Tunichtgut zu durchschauen, mit dem sie einen kurzen, nach Zwiebeln schmeckenden Kuss ausgetauscht hatte.
Das Buch half ihr nicht. Harry war gewiss kein Irrer und kein Monster, und wohl auch – bei aller Freundschaft – kein Genie. Sie erfuhr nicht mehr über ihn, als dass er eine Vorliebe für makabre Geschichten hegte und eine außerordentliche Geduld mit einem trockenen, überladenen Schreibstil an den Tag legte. Sie fand Lovecraft beinahe unlesbar. Die Personen in den Geschichten waren farblos und blass, sie wuchsen nicht, sie veränderten sich nicht und zeigten keinerlei menschliche Regungen. Wenn sie sprachen, klang es nach einem Lehrbuch für Menschlichkeit aus einer anderen Dimension. Meist drehten sich die Erzählungen um einen einsamen Überlebenden, der von einer Expedition in uralte Ruinen berichtete, wo er den Verstand verloren hatte, als sich herausstellte, dass die Ruinen von irgendeiner vorzeitlichen Schreckgestalt erbaut worden waren, die immer noch dort hauste. Es war eine schwülstige Sprache voller Adjektive, die sich nicht einmal annähernd mit dem hinreißenden Grauen der Bilder in Visionen Cthulhus messen konnte.
Andererseits drehten sich viele Erzählungen um faszinierende düstere Enthüllungen und die allmähliche Erkenntnis des Erzählers, dass die behagliche »reale Welt« der Menschen lediglich ein dünner Schleier war, hinter dem sich, wenn man ihn fortriss, jederzeit ein Abgrund voller namenloser Schrecken auftat. In gewisser Weise war es das Gegenteil von Moses und dem brennenden Busch oder Paulus auf der Straße nach Damaskus. Die grundlegenden Ideen waren denen der Religion ähnlich – die Welt ist nicht die Welt –, nur eben verzerrt.
Als sie am nächsten Morgen in den Kurs über Europäische Kulturgeschichte stolperte, rang sie immer noch so heftig mit dieser Idee, dass sie zunächst nicht bemerkte, wie Pierce herüberkam und sich neben sie setzte.
»Oh, redest du wieder mit mir?«, fragte sie.
Er seufzte, die Nasenflügel bebten. »Ich muss zugeben, dass ich überreagiert habe. Aber was du getan hast …«
Sie lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen hoch. Das versprach interessant zu werden.
Er schlug sich die Hand vor das Gesicht. »Ich möchte mich entschuldigen.« Dann legte er die Stirn in Falten. Es kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Du bist wirklich erstaunlich darin. Spektakulär.«
»Darf ich dich heute Abend einladen? Damit wir uns unterhalten können wie Erwachsene?«
Zum ersten Mal seit fast einer Woche hörte Margaret die unangenehme, fordernde Stimme ihrer Mutter im Hinterkopf. Die Buchstaben »MRS« standen vor ihrem inneren Auge wie ein Brandzeichen. Sie war zu müde, um die Einladung abzulehnen.
Er führte sie in das teuerste Restaurant von Searcy, das Fisch und Fleisch anbot. Es hieß Captain Bill’s, und an den Decken und Wänden hingen alte Fischernetze und Harpunen. Er forderte sie auf, sich zu bestellen, was sie wollte, und wählte selbst den Hummer, um ihr zu zeigen, dass er es ernst meinte. Margaret nahm einen Salat. Hummer hatte sie noch nie gegessen. Wenn sie ihren Eltern dabei zusah, fand sie es ekelhaft – die Lätzchen, die Menge an Flüssigkeit, die geknackten Schalen mit den Fleischbröseln darin. Einfach widerlich. Ihre Mutter und ihr Vater hätten ebensogut große rote Käfer essen können. Sie musste an das Titelbild von Das Grab denken und war unendlich dankbar, dass sie sich für den Salat entschieden hatte.
Sie war längst fertig, als Pierce noch eifrig mit Knacken, Stochern, Dippen und Mampfen beschäftigt war. Sogar im schwachen Licht des Restaurants sah man seine Stirn glänzen. Sie überlegte, ob er jetzt schon kahl wurde. Außerdem fragte sie sich, ob er wirklich wegen eines Hummers ins Schwitzen geriet. Das konnte doch nicht sein, oder?
Als der Kellner die Rechnung brachte, legte Pierce sie mitten auf den Tisch, während er die Geldbörse aus der Jacke zog. Sie blickte zwischen der Rechnung und Pierce hin und her. Ihr entging keineswegs, dass er aufpasste, ob sie die Summe auch wirklich gesehen hatte. Er tat so, als wäre nichts weiter dabei, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und sagte dem Kellner, er könne den Rest behalten.
Er gibt sich Mühe, schalt sie sich selbst.
Nach dem Essen (und nach einer Handvoll Pfefferminzbonbons als Dreingabe) fuhren sie zu einem Parkplatz am Stadtpark. Es war eine sternenklare Nacht. Die Sternbilder erinnerten Margaret an Azathoth aus Visionen Cthulhus, das Vagina-Monster, das mithilfe von Tentakeln durch den Weltraum segelte. Schläfrig fragte sie sich, was Harry gerade tat, und wünschte, sie hätte vor der Verabredung ein wenig geschlafen.
Sie war beinahe schon eingenickt, als Pierce sagte: »Du musst nicht so weit weg sitzen.« Sie fuhr auf, als er neben sich auf den Sitz klopfte.
Sie rutschte hinüber. Er nahm sie in den Arm, und sie lehnte sich an. Es war gar nicht so unangenehm. Es hatte etwas Tröstendes. Etwas Menschliches.
»Bist du noch böse auf mich?«, fragte er.
»Nein.«
»Ich könnte verstehen, wenn du es wärst. Ich habe mich benommen wie ein Idiot.«
»Schon gut.« Sie tätschelte seine Brust. Im Grunde, das wurde ihr jetzt bewusst, war es ihr herzlich gleichgültig.
Er holte tief Luft. »Die Wahrheit ist, dass ich ein bisschen Angst hatte, als … als du es gemacht hast. Wir kennen uns noch nicht so lange, und es kam so früh. Ich habe mich nicht wie ein Mann verhalten. Ich bin weggelaufen wie ein kleiner Junge und habe mich vor dir versteckt. Ich habe Gott gefragt: ›Warum hat sie das getan? Sie ist ein braves Mädchen.‹ Und endlich hat er mir geantwortet: Sie hat es getan, weil sie dich liebt.«
Margaret erstarrte. »Redest du oft mit Gott?« Abgesehen vom Gottesdienst oder von Mahlzeiten mit anderen Christen betete sie nie, und selbst dann neigte sie nur den Kopf, schloss die Augen und sagte Amen, wenn es so weit war. Sie nahm an, dass es alle so hielten, auch wenn es sich nicht gehörte, es auszusprechen.
»Jeden Tag, den ganzen Tag«, antwortete er. »Jedenfalls hat Gott mir erklärt, dass du mich liebst, und außerdem, dass ich weggelaufen bin, weil ich dich auch liebe, und dass ich noch nicht bereit war, es zuzugeben.« Er rutschte auf seinem Sitz herum und spähte zu ihr hinab. Seine Stirn blendete beinahe im Mondlicht. Am Haaransatz hob sich eine Ader ab. Pochte sie? Ging es ihm nicht gut? »Ich liebe dich, Margaret. Ich weiß, es kommt schnell, aber meine Eltern sagen, wenn man es weiß, dann weiß man es eben. Wenn du es wirklich ernst meinst, dann bin ich bereit. Ich möchte, dass du zu Thanksgiving zu mir nach Hause kommst, damit ich dich meiner Familie vorstellen kann.«
Margaret richtete sich auf. Pierce lächelte sie mit einer Art Wohlwollen an – ein Ausdruck, den sie mit der Miene ihres Vaters am Weihnachtsmorgen in Verbindung brachte. Das Gehabe eines Mannes, der jemandem ein großes Geschenk machte.
»Das … das ist ein gewaltiger Schritt«, sagte sie.
»Ich liebe dich, Margaret.« Er beugte sich vor und küsste sie. Sie ließ zu, dass er sie auf den Sitz drückte und auf sie kroch. Sie nahm die Küsse und die ungeschickten Handgreiflichkeiten hin. Während er sie in die Ohren und in den Hals biss, bemerkte sie etwas aus den Augenwinkeln – etwas in Pierce’ Fenster. Als sie sich bewegte, um es genauer zu betrachten, war es fort. Sie versuchte, sich wieder auf die Zärtlichkeiten zu konzentrieren, legte ihm die Hände auf die Wangen, küsste ihn und ließ zu, dass er ihr die Zunge in den Mund schob wie einen dicken, schmierigen Wurm. Sie öffnete die Augen, und dieses Mal pulsierte die Ader auf seiner Stirn tatsächlich, während er auf ihrem überwiegend passiven Körper seine Leidenschaft entwickelte. Sie hob den Kopf, blickte in die Ferne und sah draußen etwas anderes, dieses Mal auf ihrer Seite des Wagens – eine große Gestalt mit breiten, gebeugten Schultern und zwei Augen, die hinter der Scheibe orangefarben glommen.
Erschrocken gab sie ein leises Geräusch von sich und legte Pierce die Hände auf die Schultern, um ihn wegzuschieben, damit er die Zunge aus ihrem Mund nahm und sie ihn warnen konnte. Er stöhnte jedoch nur und fummelte umso heftiger. Die Ader hatte sich mittlerweile über die ganze Stirn ausgedehnt und teilte diese in zwei getrennte Flächen schwitzender Haut. Sie wand sich, um sich zu befreien. Auf der Stirn bewegte sich etwas unter der Haut. Die Ader pochte einmal, zweimal und barst.
Pierce’ Kopf platzte auf, und Hunderte von winzigen roten Insekten krabbelten auf ihr Gesicht, in ihre Haare, in die Falten zwischen ihrem Kleid und der Haut. Tausend winzige Beine kämpften zappelnd um die Freiheit. Sie stieß Pierce mit dem Knie von sich, kreischte, fuhr zurück und klopfte sich dabei ab. Sie musste die Insekten abschütteln, sie musste aus dem Auto raus, sie würde sterben, wenn sie nicht nach draußen kam …
Endlich packte sie den Türgriff und zog. Die Tür sprang auf, sie stürzte hinaus. Pierce kroch über den Sitz auf sie zu. Sie wollte sich aufrichten und weglaufen, nur weg von ihm, ehe sie wieder sein Gesicht sehen musste, ehe sie die Spinnen sah, die sich in seine Augen wühlten, die in seine Nasenlöcher strömten und in seinen Mund rannten, um ihn von innen heraus zu fressen. Doch sie war zu müde, nachdem sie die ganze Nacht gelesen hatte, zu erschöpft vom Kreischen, und sie bewegte sich zu langsam. Als das Mondlicht sein Gesicht traf, musste sie hinschauen.
Er war ein wenig verschwitzt und verlegen, das Gesicht von der gestörten Erregung und vielleicht vor Schreck gerötet, aber sonst in Ordnung. Die Ader war verschwunden, die wächserne Stirn glatt und eben.
»Was ist denn los?« Er stieg aus und kniete sich vor sie.
Keuchend blinzelte sie einzige Male. »Es geht mir gut«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. »Alles in Ordnung.«
Sie erklärte ihm, sie hätte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen und womöglich eine Art Albtraum gehabt. Er spielte den besorgten Freund und stellte nicht allzu viele Fragen. Allerdings hatte sie schon wieder Hunger und fragte Pierce, nicht zuletzt um weiteren Fummeleien zu entgehen, ob sie vielleicht einen Imbiss zu sich nehmen könnten.
Bald darauf war sie zum zweiten Mal an zwei Abenden bei McDonald’s und starrte aus dem Fenster des Autos, während Pierce für sie Fritten und einen Milchshake bestellte. Ihr Gesicht fühlte sich wund an, als hätte sie mit Sandpapier geschmust. Sie wollte nicht reden, sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte nur aus dem Fenster starren und sich treiben lassen. Sollte Pierce sich mit der körperlosen Stimme herumschlagen, die aus dem Lautsprecher des Drive-in kam. Trotzdem fand sie diese unschuldige Unterhaltung, diesen Austausch von weniger als fünfzig Worten, beunruhigend. Was war nur los mit ihr? Woher kam diese diffuse Panik, die sie in der Brust spürte? Sie drehte sich auf dem Sitz um und betrachtete das Innere des Autos, um die Quelle des Unbehagens zu entdecken, verstand es aber erst, als sie an der Ausgabe anhielten. Harry öffnete das Schiebefenster, um das Geld in Empfang zu nehmen.
Als sein Blick Margaret traf, öffnete er überrascht den Mund.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragte er lächelnd, während er ihr den Milchshake reichte. »Da könnten Tanniswurzeln drin sein.«
»Wie bitte?«, fragte Pierce.
Margaret schüttelte leicht den Kopf. Harry wandte sich wieder an Pierce.
»Nichts weiter, es tut mir leid«, sagte Harry.
»Was macht das noch gleich?«, fragte Pierce.
Harry sagte es ihm, und Pierce bezahlte. Harry zählte das Geld ab und schloss das Fenster, Pierce fuhr weiter. Auf dem Weg zu Mrs. Johnsons Haus hielt Margaret den Milchshake mit beiden Händen fest, konnte sich aber nicht überwinden, einen Schluck zu trinken. Als sie im Haus war, brachte sie das Getränk in die Küche und kippte es in den Ausguss, ehe sie nach oben ging. Vielleicht waren es wirklich Tanniswurzeln.
Sie schlief fast auf der Stelle ein und träumte von Gebell, als litte ganz in der Nähe ein Wolf oder ein Hund große Schmerzen.