Buch
Am Sockel des Idstedt-Löwen in Flensburg wird die Leiche des 73-jährigen Karl Bentien gefunden. Brutal zu Tode getreten und ausgeraubt. Ein zufälliges Opfer oder gezielter Mord? Der pensionierte Studienrat gehörte der dänischen Minderheit an, Medien und Behörden sehen nach dem Mordfall bereits das friedliche Zusammenleben im Grenzland in Gefahr. Hauptkommissarin Vibeke Boisen und ihr Kollege Rasmus Nyborg von der dänischen Polizei stehen unter Druck und müssen rasche Ergebnisse liefern. Dann stoßen sie im Keller des Toten auf eine versteckte Kammer mit brisantem Inhalt …
In diesem Fall hat Vibeke Boisen nicht nur mit einem perfiden Mörder zu kämpfen, die Ermittlungen wühlen auch unliebsame Kindheitserinnerungen auf, denen sie sich stellen muss.
Autorin
Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus. Mit »NORDLICHT«, ihrer Krimireihe um das deutsch-dänische Ermittlerteam Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg, begeistert Anette Hinrichs ihre Leser und landete auf Anhieb auf der Bestsellerliste.
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Boisen & Nyborg ermitteln in:
NORDLICHT – Die Tote am Strand
NORDLICHT – Die Spur des Mörders
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ANETTE HINRICHS
NORDLICHT
DIE SPUR DES MÖRDERS
Kriminalroman
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Copyright © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Getty Images/Martha Hoo/EyeEm; www.buerosued.de; privat (hintere Klappe)
Karte: Daniela Eber
WR · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23656-4
V002
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Für Anja
Die späte Nachmittagssonne warf lange Schatten auf die beiden einsam am Ackerrand stehenden Bäume und verwandelte sie in einen scharfkantigen Scherenschnitt. Kräftiger Wind fegte vom Meer bis an die Küste, trug das Salz bis weit ins Land hinein.
Der Junge wusste nicht, wie viele Stunden er schon an den Pfahl auf dem Hof festgebunden war, dort, wo der Hund die Nacht verbrachte. Er versuchte, tapfer zu sein und an etwas Schönes zu denken. An das kleine Kälbchen, das erst vor ein paar Tagen im Stall auf die Welt gekommen war. Doch er hatte schrecklichen Durst. Wenn er schluckte, schmerzte es tief hinten in seinem Hals. Deshalb sammelte er etwas Speichel im Mund, das machte das Schlucken für einen kurzen Moment erträglicher. Hinterher tat es genauso weh wie vorher.
Die Schnüre schnitten tief in die Haut seiner Handgelenke. Er wusste, später würden rote Rillen zurückbleiben, die zusammen mit den blasseren das Muster einer Spirale ergaben. Am schlimmsten brannten die Striemen auf seinem Rücken. Er hatte mitgezählt. Ganze sieben Mal hatte ihn der Gürtel getroffen. Zwei Schläge mehr als gestern. Vorausgesetzt, er hatte richtig gezählt.
Er wusste nicht, was die Mutter so in Rage gebracht hatte. Manchmal reichten ein umgestoßenes Glas oder ein paar Brotkrümel aus, die er während des Essens unabsichtlich auf dem Boden verteilte. An diesem Morgen hatte er sich große Mühe gegeben, dass ihm kein Malheur passierte, und es war alles gut gegangen. Trotzdem hatte er offensichtlich etwas falsch gemacht, denn die Mutter hatte ihn am Handgelenk gepackt und hinaus auf den Hof gezerrt. Dort hatte er zuerst sein Hemd ausziehen müssen, ehe er mit dem Strick an den Pfahl gebunden worden war. Bei jedem Schlag hatte sie dieselben Worte gezischt. Tysk bastard. Deutscher Bastard. Er wusste nicht, was das bedeutete, ahnte aber, dass es nichts Gutes war.
Er sehnte sich nach seinem Vater. Der arbeitete für gewöhnlich den ganzen Tag auf dem Feld oder in den Ställen und kam erst spät zurück ins Haus. Dann machte die Mutter den Ofen an, und sie aßen gemeinsam zu Abend. Anschließend durfte er auf den Schoß des Vaters klettern, und dieser las ihm ein Märchen vor.
Heute würde sein Vater nicht nach Hause kommen. Und auch morgen nicht. Er würde nie wieder heimkommen. Das hatte ihm die Mutter vor ein paar Tagen erklärt.
Heiße Tränen liefen ihm über die Wangen, vermischten sich mit dem Rotz aus seiner Nase. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit, die langsam näher kroch. Die Geschichte vom Nachttroll, der sich alle sechsjährigen Kinder holte, die nach Einbruch der Dunkelheit im Freien waren, spukte ihm unablässig im Kopf herum. Am nächsten Tag war sein sechster Geburtstag.
Er wimmerte, rief erst leise, dann immer lauter nach der Mutter, damit sie ihn hereinholte, ehe der Nachttroll kam, doch nichts geschah. Ein dünnes, warmes Rinnsal lief sein Bein entlang, während das Tageslicht weiter abnahm.
Als viele Stunden später die Sonne über den Getreidefeldern aufging und der Morgen anbrach, war der Junge am Pfahl verschwunden. Er würde nie wieder in sein Zuhause zurückkehren.
In der Stille war nur das Rauschen des Windes zu hören. Die angrenzenden Häuser waren in spätabendlicher Ruhe versunken, das Mondlicht versteckte sich hinter dicken Wolken.
Rudi wankte mit einer Weinflasche in der Hand den von Bäumen geschützten Weg im nördlichen Teil des Alten Friedhofs entlang. Hin und wieder blieb er stehen, setzte die Flasche an die Lippen und genehmigte sich einen großzügigen Schluck. Der Alkohol war diese Nacht vermutlich sein einziger Freund.
Die Geschäfte liefen schlecht. Die Konkurrenz machte ihm sein Revier streitig, zusätzlich erschwerte ihm das ständige Auftauchen der Bullen die Arbeit. Auch die Senioren waren nicht mehr so vertrauensselig wie früher. Sie schauten Sendungen wie Aktenzeichen XY, lasen in der Zeitung Artikel über Betrüger und servierten ihm ihre Wertsachen nicht länger auf dem Silbertablett. Während er früher den gleichen Trick in einem Stadtteil mehrfach hintereinander abziehen konnte, musste er sich jetzt ständig neue Maschen ausdenken.
Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch mit Rita gestritten und deshalb für die Nacht kein Dach über dem Kopf. Wenigstens waren die Temperaturen Anfang September noch immer mild, und er konnte sich ein Plätzchen im Freien suchen. Sein Ziel war nun der Christiansenpark. Dort standen zahlreiche Bänke, auf denen er seine müden Glieder ausstrecken konnte. Hier auf dem Hügel gab es nur Gräber und Denkmäler und lauter Tote. Allein der Gedanke, bei denen zu schlafen, gruselte ihn.
In der Nähe wurden Stimmen laut. Jemand schrie auf. Stille. Rudi blieb stehen, überlegte, ob er lieber zurückgehen und einen Umweg machen sollte. Weiteren Ärger konnte er jedenfalls nicht gebrauchen.
Ein dumpfes Geräusch drang an sein Ohr, das er nicht zuordnen konnte. Einmal, zweimal, dreimal … Als er mit dem Zählen bei zwölf angelangt war, hörte es auf.
Rudi lauschte in die Dunkelheit, doch alles blieb still. Er genehmigte sich einen weiteren Schluck aus der Weinflasche und setzte seinen Weg fort.
Kurz darauf trat er aus dem Schutz der Bäume. Vor ihm auf der Rasenfläche erhob sich ein riesiger Schatten. Er zuckte erschrocken zusammen. Im nächsten Augenblick begriff er, dass es sich um den Idstedt-Löwen handelte. Er kicherte erleichtert.
In der Nähe schlug eine Autotür zu, und ein Motor wurde angelassen. Rudi torkelte ein paar Schritte bis zum nächsten Gebüsch, stellte die Weinflasche neben sich auf den Boden und öffnete wankend den Schlitz seiner Hose. Während er sich erleichterte, beobachtete er durch eine Lücke im Gestrüpp auf der dahinterliegenden Straße die Rückleuchten eines davonfahrenden Wagens. Er zog den Reißverschluss seiner Hose wieder zu, trank den restlichen Wein und stellte die leere Flasche auf den Boden zurück, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Der Mond löste sich von den Wolken, und schwaches Licht fiel auf die Parkanlage und den Idstedt-Löwen. Am unteren Sockel des Denkmals lag eine Gestalt.
Ein etwas unbequemer Ort zum Schlafen, schoss es Rudi durch den Kopf. Er ging näher heran, blieb schließlich direkt davor stehen und registrierte trotz seines benebelten Gehirns, dass der Mensch, der dort lag, nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Sein erster Impuls war wegzulaufen, doch stattdessen drehte er sich langsam um die eigene Achse und ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Dabei klopfte sein Herz wie verrückt. In der Gewissheit, allein zu sein, beugte er sich leicht schwankend über die Leiche. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den leblosen Körper. Als Rudi wieder auf die Beine kam, waren seine Hände voll mit Blut.